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SimoneF

Bewertungen

Insgesamt 318 Bewertungen
Bewertung vom 24.04.2024
Der Killer in dir
Reiter, Max

Der Killer in dir


gut

Da ich vom selben Autor letztes Jahr „Erinnere Dich“ gelesen hatte und das Buch sehr spannend und psychologisch interessant fand, war ich neugierig auf „Der Killer in dir“.

Der Ex-Polizist Alex ist ein absoluter Familienmensch. Als Hausmann kümmert er sich um die Tochter, während seine Frau arbeiten geht. Eines Tages spricht ihn in einem Cafe ein geheimnisvoller Fremder an. Er hält ihn für einen berüchtigten Auftragskiller und beauftragt ihn mit einem Mord. Weigert er sich, wird seiner Familie etwas zustoßen. Alex befindet sich in einer Zwickmühle. Er möchte einfach nur ein ruhiges Leben mit Frau und Kind führen, und um seine Familie zu schützen, würde er alles tun. Doch kann er wirklich zu Mörder werden? Und was ist das für eine elektrisierende Erinnerung, wenn er an den tödlichen Schuss denkt, den er als Polizist einmal abgeben musste?

Das Buch ist in Form eines Tagebuchs geschrieben. Dies ist ungewöhnlich und ein interessanter Ansatz, führt jedoch auch dazu, dass die Handlung eher in Berichtsform wiedergegeben wird und wenig lebendig wirkt. Auch die Spannung leidet deutlich. Die Geschichte konnte mich inhaltlich leider nicht überzeugen, wirkte sie doch arg konstruiert und in einigen Punkten sehr unglaubwürdig. Die meisten Charaktere blieben eindimensional und blass. Der Protagonist wurde mir mit fortschreitender Handlung immer unsympathischer, seine Rechtfertigungsgründe für sein Handeln immer fragwürdiger, so dass mir am Ende völlig egal war, was mit ihm passieren würde.

Von der Grundidee des unversehens in die Kriminalität schlitternden Normalbürgers erinnerte mich das Buch an „Achtsam morden“ von Karsten Dusse, jedoch ohne dessen Humor und sprachliche Brillianz.

Insgesamt konnte „Der Killer in dir“ meine Erwartungen leider nicht erfüllen.

Bewertung vom 24.04.2024
Die Schwabengängerin
Lampert, Regina

Die Schwabengängerin


ausgezeichnet

Da sich meine Urgroßeltern ebenfalls ab dem Kindesalter als Magd und Knecht auf einem schwäbischen Bauernhof verdingen mussten (wenn auch erst um 1915), interessierten mich die Lebenserinnerungen der „Schwabengängerin“ Regina Lampert sehr.

Es ist beeindruckend, wie lebendig und inhaltlich detailliert Regina Lampert noch über 60 Jahre später ihre Erlebnisse erinnert und in insgesamt acht Heften zu Papier bringt (Das neunte Heft ist nicht Teil dieses Buches). Dass hierbei nach so langer Zeit an mancher Stelle die zeitliche Abfolge etwas durcheinander gerät und nicht genau mit den historisch überprüfbaren Fakten aus den Matrikelbüchern und Chroniken übereinstimmt, ist nur allzu natürlich.

Sehr erstaunt war ich über die Hilfsbereitschaft der Leute damals – stets fand Regina einen Fuhrmann, der sie umsonst mitfahren ließ, und die Familien halfen sich bei Notlagen gegenseitig aus. Oft erhielt Regina großzügige Kleiderspenden, Speis und Trank, auch selbst bedachte sie stets Freunde und Verwandte, sooft es ihr möglich war. Reginas Erinnerungen zeugen von der harten Arbeitsbedingungen, denen bereits Zehnjährige ausgesetzt waren, fernab der Heimat und ohne Freizeit. Auch der enorme Einfluss der katholischen Kirche und die feste Verankerung des Glaubens im Alltag werden deutlich. Regina Lamperts Erinnerungen sind trotz des schweren Arbeitsalltags geprägt von Zuversicht und Lebensfreude, und ich hatte beim Lesen den Eindruck, dass sie sich bei der Niederschrift vor allem an die guten Erlebnisse erinnern wollte. Die negativen Erfahrungen werden häufig nur angedeutet oder in wenigen kurzen Sätzen abgehandelt, etwa die Drangsalierungen der Schwabenkinder durch die älteren Knechte am Hof oder die freudlose und grausame Zeit als Magd im Kloster. Auch das wohl schwierige Verhältnis zum Vater, für den hauptsächlich Reginas Arbeitskraft zählte und der sehr streng gewesen zu sein scheint, klingt nur leise an. Ausführlicher geschildert werden vor allem die schönen Erlebnisse, insbesondere in den ersten der insgesamt acht Hefte.

Die aktuelle Neuausgabe wurde behutsam editiert und ausführlich kommentiert, auch ein Glossar mit einigen Dialektausdrücken fehlt nicht. Das sehr ausführliche Vorwort und die interessanten Erläuterungen zu Regina Lamperts Manuskript helfen, die Lebenserinnerungen richtig einzuordnen und geben wertvolle Hintergrundinformationen.

„Die Schwabengängerin“ ist ein einzigartiges Zeitzeugnis und äußerst lebendig, informativ unterhaltsam geschrieben. Unbedingt lesenwert!

Bewertung vom 16.04.2024
Wo die Asche blüht
Que Mai, Nguyen, Phan

Wo die Asche blüht


ausgezeichnet

„Wo die Asche blüht“ war mein erstes Buch einer vietnamesischen Autorin, und ich war sehr gespannt auf Ihre Sichtweise. Der Blick auf den Vietnamkrieg ist im Westen ja sonst vor allem durch amerikanische Literatur und Filme geprägt. Da ich zur Zeit des Krieges noch nicht geboren war und mich bisher wenig damit auseinandergesetzt hatte, hat mich dieser Roman auch dazu veranlasst, immer wieder im Lesen innezuhalten und mich zu manchen historischen Ereignissen noch genauer zu informieren.
Der Roman besteht aus drei Erzählsträngen auf zwei Zeitebenen. So schildert er anhand der Schwestern Trang und Quynh die damalige Situation vieler junger vietnamesischer Frauen, die sich als Barmädchen und Prostituierte verdingen mussten, um zu überleben. Aus diesen Beziehungen gingen tausende Kinder hervor, die oft geächtet wurden, in Waisenhäusern aufwachsen mussten und auch als Erwachsene noch immer ausgegrenzt werden. Eines dieser Kinder ist Phong, der Jahre später auf der Suche nach seinen Wurzeln ist und gegen alle behördlichen Widerstände nach Amerika auswandern möchte. Anhand des Veteranen Dan, der 2016 mit seiner Frau nach Vietnam reist, um seine Kriegstraumata zu überwinden, und der sich dort auch auf die Suche nach seiner damaligen vietnamesischen Freundin macht, lernen wir auch die Seite der damaligen Gis kennen.
Nguyễn Phan Quế Mai schreibt einfühlsam und berührend, und ich wollte dieses Buch gar nicht mehr aus der Hand legen. Sie zeigt das Leid, das die Umstände und Folgen des Krieges auf allen Seiten gebracht haben, und das sich bis in die heutige Zeit auswirkt. Mir hat das Buch vieles ins Blickfeld gerückt, das mir bisher nicht bewusst war. Das Thema und auch der Schreibstil der Autorin haben mich so sehr bewegt, dass ich mir gleich anschließend „Der Gesang der Berge“ in der Bibliothek ausgeliehen habe.

Bewertung vom 14.04.2024
Der entmündigte Leser
Möller, Melanie

Der entmündigte Leser


gut

Bereits der Titel „Der* ent_mündigte Lese:r“ ist provokant, und Melanie Möller kämpft in ihrer Streitschrift vehement für die kompromisslose Freiheit der Literatur, gegen zeitgeistkonformes Weichspülen und Abschleifen vermeintlicher Kanten. Die willkürliche Verwendung der Wortbinnenzeichen geschlechtergerechter Sprache im Titel deutet bereits darauf hin, dass Melanie Möller diesen wenig abgewinnen kann und auch im Buch überwiegend auf das generische Maskulinum setzt.
Man spürt sehr deutlich, dass die Autorin Professorin für Latinistik ist, da sie in jedem Kapitel einen antiken römischen oder griechischen Dichter einem klassischen oder moderneren Pendant gegenüberstellt. Bei letzteren zieht sie den Bogen von der Bibel über Shakespeare und Goethe bis Astrid Lindgren, wobei Annie Ernaux die einzige noch lebende Autorin ist. Ich muss gestehen, dass ich trotz großen Latinums und damit verbundener Lektüre der Klassiker des Altertums hier an meine Grenzen kam. Wer Freude an diesem Buch haben möchte, sollte sehr fit in den Werken von Catull, Vergil, Euripides, Sappho und Co. sein. Dies war mir nach der Kurzbeschreibung des Buches so nicht klar, und ich hatte hier eine etwas allgemeinverständlichere Abhandlung erwartet, die sich stärker an allseits bekannten Werken orientiert.
Melanie Möller tritt vehement für die Trennung von Künstler und Werk ein, und stellt sich hiermit gegen den Ansatz vieler Kollegen und Kolleginnen, die im Leben der Künstler nach Anhaltspunkten für ihr Werk suchen. Häufig bedient sie sich leider selbst immer wieder genau der Polemik, die sie ihrerseits andersdenkenden Kollegen und Kolleginnen vorwirft. In vielen Punkten kann ich als Laie den Standpunkt der Autorin nachvollziehen, auch mir gehen viele Auswüchse im Literatursektor wie ausufernde Triggerwarnungen, Sensitivity Readings und vorauseilender Gehorsam gegenüber dem Zeitgeist inzwischen zu weit, und ich schätze Literatur, die einen als Leser oder Leserin fordert, provoziert, aufwühlt und auch an die Grenzen bringt.
Insgesamt hatte ich mir unter diesem Buch etwas anderes erwartet, Freunde der Altphilologie kommen hier vermutlich eher auf ihre Kosten.

Bewertung vom 12.04.2024
Die Farbe Lila
Walker, Alice

Die Farbe Lila


ausgezeichnet

Nach ca. 40 Jahren erschien der weltberühmte Klassiker „Die Farbe Lila“ von Alice Walker in einer neuen Übersetzung, die dem heutigen Bewusstsein sensibler Sprache entspricht und diskriminierende Begriffe umschreibt. Ich kenne die alte Übersetzung nicht, finde jedoch die neue sehr gelungen und überaus lesenwert.
„Die Farbe Lila“ ist ein Briefroman, in dem die Afroamerikanerin Celie ab ihrem 15. Lebensjahr und über einen Zeitraum von gut 30 Jahren in Briefen, die sie an den Lieben Gott richtet, aus ihrem Leben schreibt. In der zweiten Hälfte kommen noch an Celie gerichtete Briefe ihrer Schwester hinzu. Celies Sprache spiegelt ihren niedrigen Bildungsstand wieder, statt „an einen Mann und dessen Frau“ sagt sie beispielsweise „an einen Mann und dem seine Frau“, den Komparativ bildet sie mit „wie“ statt „als“. Dennoch liest sich der Roman sehr angenehm und besitzt einen sehr eingängigen Sprachrhythmus.
Die Romanhandlung ist nicht genauer datiert, spielt aber in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dies zeigt sich etwa daran, dass gegen Ende beiläufig der zweite Weltkrieg erwähnt wird. Celies Lebenswelt ist hart, geprägt von patriarchalen Strukturen, Misogynie, Inzest und Gewalt. Frauen werden behandelt wie Ware, ihr Leben zählt nichts, sie sind ihrem Mann auf Leben und Tod ausgeliefert und haben bedingungslos zu gehorchen. Doch im Laufe ihres Lebens begegnet Celie starken Frauen, die – obwohl sie teils hart dafür bezahlen – für ihre Unabhängigkeit kämpfen und sich widersetzen. Diese Frauen setzen auch bei Celie eine Entwicklung in Gang, und insbesondere die Liebe zu Shug Avery hilft ihr, ihre eigene Stärke zu erkennen. Die Freundschaft und der Zusammenhalt zwischen den Frauen untereinander, die trotz wechselnder Familien- und Beziehungskonstellationen zusammenhalten und letztlich mit- und aneinander wachsen, ist ein zentrales Element dieses Romans.
Auch Rassismus und Diskriminierung spielen eine wesentliche Rolle, ebenso wie die Suche der afroamerikanischen Bevölkerung nach ihrer Identität. Anhand der Briefe von Celies Schwester wird auch die Missionarsarbeit in Afrika und die Ausbeutung der nativen Bevölkerung durch die Kolonialherren und Plantagenbesitzer thematisiert, die die dort seit Jahrhunderten siedelnden Stämme ihres Lebensraums und ihrer Lebensgrundlage berauben.
Ein sehr berührender, nachdenklich stimmender Roman, der noch lange im Gedächtnis bleibt.

Bewertung vom 12.04.2024
Der Hamster mit der Löwenmähne
Garma-Berman, Nicolas

Der Hamster mit der Löwenmähne


gut

Da dieser Roman marketingseitig mit dem Charme des Films „Die fabelhafte Welt der Amelie“ verglichen wurde und dies einer meiner absoluten Lieblingsfilme ist, wollte ich „der Hamster mit der Löwenmähne“ unbedingt lesen. Gewisse Parallelen zeigen sich durchaus. Die Protagonistin Eva, eine Tierpräparatorin, hat ebenfalls früh ihre Mutter verloren, sie ist introvertiert, melancholisch, lebt sehr zurückgezogen und hat Angst davor, auf ihr Glück zu vertrauen. Doch anders als Amelie fehlt Eva das Leichtfüßige, die innere Zugewandtheit gegenüber ihren Mitmenschen und die lebensbejahende Einstellung. Bei Eva überwiegt das Eigenbrötlerische, Abweisende, die depressive Grundhaltung. Amelies Rolle als findige Glücksstifterin übernimmt in gewisser Weise eine andere Person im Buch, die ich hier nicht verraten möchte.
Ich hatte generell Schwierigkeiten, zu den Figuren des Buches eine Beziehung aufzubauen. Sie wirkten auf mich sehr konstruiert, mehr künstlich als lebendig, und es gelang mir nicht, mit Ihnen wirklich mitzufühlen. Insbesondere die beiden Polizisten waren zu abstrus und albern, um noch glaubwürdig zu sein. Der sechsjährige Junge des Nachbarn war für mich ebenfalls nicht authentisch, da seine Sprache viel zu erwachsen klang („Sensationell!“/“Majestätisch!“/“Beachtlich!“). Zudem fragte ich mich, wie es Eva gelingen konnte, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, nachdem ihre Präparationswerkstatt nicht gerade einträglich lief. Am besten gefielen mir die Momente, in denen Eva und ihr Nachbar Marco aufeinandertrafen und sich zwischen den beiden schlagfertige, ironisch-humorvolle Dialoge ergaben.
Insgesamt eine unterhaltsame, ungewöhnliche Geschichte, verzaubern konnte sie mich allerdings nicht.

Bewertung vom 12.04.2024
Der Tunnelbauer (MP3-Download)
Nielsen, Maja

Der Tunnelbauer (MP3-Download)


ausgezeichnet

2024 jährt sich die Gründung der beiden deutschen Staaten zu 75. Mal, und es sind genau 60 Jahre vergangen, seit durch den erfolgreichsten aller Fluchttunnel 57 Menschen in den Westen gelangten. Passend hierzu erscheint das Hörbuch "Der Tunnelbauer" von Maja Nielsen, in dem die bewegende Geschichte von Joachim (Achim) Neumann erzählt wird, der selbst kurz nach dem Mauerbau mit 18 Jahren in den Westen floh und am Bau mehrerer Fluchttunnel beteiligt war, unter anderem an dem erwähnten Tunnel 57.

Die Geschichte wird abwechselnd aus der Perspektive von Achim und seiner Freundin Christa, der Achim von Westberlin aus zur Flucht aus der DDR verhelfen möchte, erzählt. Im Hörbuch werden beide von unterschiedlichen Sprecher*innen dargestellt: Mio Lechenmeyer verstimmlicht Achim und Diana Gantner liest Christa. Beide haben eine sehr angenehme Stimme und ein gutes Sprechtempo, so dass ich ihnen sehr gerne zugehört habe. Ihr Vortrag lässt die Risiken einer Flucht, die dramatischen Umstände der Fluchttunnel und die emotionale Belastung und Anspannung aller Beteiligten lebendig werden. Besonders gut gefällt mir, dass der echte Achim Neumann am Anfang und Ende selbst zu Wort kommt (auch eine ganz tolle Stimme, ich hätte ihm gerne noch länger zugehört!). Im Nachwort erzählt er, was aus den realen Vorbildern der im Hörbuch erwähnten Fluchthelfer geworden ist (Alle im Hörbuch vorkommenden Personen hat es tatsächlich gegeben, aus Datenschutzgründen werden sie aber bis auf Christa und Achim nicht mit ihrem richtigen Namen genannt.). Dies rundet das Buch hervorragend ab.

Maja Nielsen hat den Inhalt perfekt auf eine jugendliche Zielgruppe ab ca. 14 Jahren abgestimmt. Geschickt verwebt sie Informationen über die ideologische Ausgangssituation in der DDR, das gesellschaftliche Klima und die Gefahren einer Republikflucht für den Flüchtenden und seine Angehörigen mit einer spannend erzählten Geschichte.

Fazit: Gleichzeitig lehrreich und sehr lebendig erzählt "Der Tunnelbauer" ein beeindruckendes Stück deutscher Geschichte. Ich möchte es jedem Jugendlichen und auch allen Lehrern der Mittel- und Oberstufe dringend ans Herz legen.

Bewertung vom 07.04.2024
Lil (eBook, ePUB)
Gasser, Markus

Lil (eBook, ePUB)


gut

Lil Cutting, eine – rein fiktive – Geschäftsfrau im New York um 1880, ist durch ihre „unweiblichen“ Eigenschaften – Durchsetzungsvermögen, Geschäftssinn, Eigenständigkeit und Unabhängigkeit – vielen in der „besseren Gesellschaft“ ein Dorn im Auge, insbesondere ihrem eigenen Sohn, der ebenso untalentiert wie moralisch verkommen ist und nach dem Tod seines Vaters an das Familienvermögen kommen möchte. Mithilfe eines ehemaligen Studienfreundes, der inzwischen Direktor einer psychiatrischen Privatklinik ist, will er seine Mutter, die durch die Trauer um ihren Mann geschwächt ist, für geistesgestört erklären und für den Rest ihres Lebens wegsperren lassen. Doch er unterschätzt Lils Kampfgeist und ihre Freunde…
Der Roman besteht aus zwei Erzählebenen. In der Rahmenhandlung erzählt Sarah, Ururururenkelin Lils und schwer krebskrank, im Jahr 2018 die Geschichte ihrer Ahnin ihrem Hund Miss Brontë (ein literarischer Gruß an die drei britischen Schriftsteller-Schwestern, die alle unter männlichem Pseudonym veröffentlichten?). Die Binnenerzählung um Lil Cutting spielt überwiegend in den Jahren 1880 und 1881.
Der Schreibstil ist sehr ungewöhnlich, und ich musste mich zunächst etwas einfinden. Konnte ich mich mit Miss Brontë als sprechendem Dobermann noch abfinden bzw. dies als eine Illusion Sarahs interpretieren, waren mir die sprechenden Pflanzen dann doch etwas zuviel. Insgesamt wäre etwas weniger Skurillität mehr gewesen, und gelegentlich driftet die Handlung zu sehr ins Alberne. Auch der Sprachduktus vieler Personen, u.a. der Sandbergs, passt für mich nicht ins ausgehende 19. Jahrhundert. Die Figurenzeichnung bleibt mir generell zu sehr im Gut-Böse-Schema verhaftet, mir fehlen Zwischentöne und Ambivalenz (auch wenn Zuspitzungen natürlich zur Satire gehören). Inhaltlich überzeugt mich die Handlung stellenweise nicht, viele Ereignisse folgen zu schnell aufeinander, die aus Gründen der Logik besser über einen größeren Zeitraum verteilt hätten werden sollen, hinzu kommen inhaltliche Ungenauigkeiten (eine Person stirbt 1882 an einer Fischgräte, doch bereits im Frühjahr 1881 wird darauf Bezug genommen). Lils Figur bleibt merkwürdig blass, tritt selbst kaum in Erscheinung und wird vor allem aus der Sicht Dritter beschrieben.
„Lil“ ist eine scharfzüngige und bitterböse Satire auf die verlogene, dekadente Gesellschaft der „Erlauchten Vierhundert“ und wirft ein grelles Licht auf den Antisemitismus, den Rassismus und die Misogynie der damaligen Zeit sowie auf den entwürdigenden Umgang mit psychisch erkrankten oder körperlich beeinträchtigten Menschen. Lils Erlebnisse in der Psychiatrie ließen mich an die Erfahrungen der Mutter im Film „Der fremde Sohn“ denken (gespielt von Angelina Jolie), und die Vorstellung davon, wie viele Frauen unter fadenscheinigen Begründungen psychisch pathologisiert und für immer weggesperrt wurden, ist schwer erträglich. Die Kritik an den wenig wissenschaftlichen und von Willkür geprägten Anfängen der Psychologie und Psychiatrie nimmt im Buch einen großen Raum ein und ist auch historisch belegbar. Zweifelhaft hingegen ist Sarahs pauschale Kritik an psychiatrischen Einrichtungen und Ärzt*innen der Gegenwart. Auch heute gibt es sicher noch immer schwarze Schafe und schwerwiegende Fehldiagnosen (wie in anderen Fachrichtungen auch), doch das undifferenzierte Abqualifizieren einer gesamten Fachrichtung erscheint mir nicht gerechtfertigt und hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack.

Bewertung vom 04.04.2024
Die Zeit im Sommerlicht
Laestadius, Ann-Helén

Die Zeit im Sommerlicht


ausgezeichnet

Vor einiger Zeit habe ich eine Reportage über das Volk der Samen gesehen, und so hat mich die Beschreibung des Romans "Die Zeit im Sommerlicht" sofort interessiert. Sehr gefühlvoll erzählt Ann-Helen Laestadius, selbst Samin,  anhand der Protagonist*innen Else-Maj, Marge, Jon-Ante, Nilsa und Ann-Risten von den Nomadenschulen und den lebenslangen psychischen und auch körperlichen Folgen, an denen die ehemaligen Schüler und Schülerinnen dieser Einrichtungen litten. Bis in die 1960er Jahre hinein mussten Kinder samischer Rentierzüchter gesonderte Nomadenschulen besuchen, auf denen sie nur nach vereinfachtem Lehrplan unterrichtet wurden und wo Ihnen die samische Sprache und Kultur verboten war. Die Personen des Romans sind fiktiv, doch die Autorin schreibt in ihrem Nachwort, dass ihre Mutter noch eine solche Schule besuchen musste und die erzählte Geschichten auf realen Begebenheiten beruhen. Demnach waren die Kinder auf den Internaten der Nomadenschulen systematischer  Diskriminierung, Rassismus, Willkür und körperlicher Gewalt ausgesetzt. 

Der Roman springt immer wieder zwischen zwei Zeitebenen hin und her: In den frühen 50er Jahren begleitet er die noch jungen  Protagonist*innen auf die Nomadenschule, und 1985/1986 zeigt er das Leben der inzwischen ca. 40jährigen Erwachsenen und ihrer Familien. Die Erfahrungen der Schulzeit haben bei allen tiefe Spuren hinterlassen, wirken bis in die nächste Generation hinein, und jede*r versucht auf seine eigene Weise damit umzugehen. In jedem der 54 Kapitel steht eine/einer der fünf Protagonist*innen im Mittelpunkt, und wir erleben die Geschehnisse aus seiner bzw. ihrer Sicht. Besonders ans Herz gewachsen sind mir hier Marge und Jon-Ante. Mit viel Liebe beschreibt die Autorin den Familienzusammenhalt der Samen und die tiefe Zuneigung zwischen Eltern, Großeltern und Geschwistern, die ohne große Worte auskommt. Ebenso deutlich wird, welch hohen Stellenwert die Rentiere nicht nur wirtschaftlich, sondern auch emotional und kulturell für die Samen haben. Die Bedrohung des Lebensraums der Rentiere durch Bergbau, Forstwirtschaft, Tourismus und Umweltverschmutzung ist daher für die Samen von existenzieller Bedeutung und klingt auch im Roman immer wieder an. So führt Jon-Antes Tätigkeit als Bergmann zu  innerfamiliären Diskussionen, und auch die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl wird thematisiert. 

Der Schreibstil des Romans hat mir sehr gut gefallen. Er ist voller Wärme und Zuneigung für die Figuren und das Volk der Samen, und dabei gleichzeitig klar und direkt. Deutlich spürbar ist die Kritik an den Verantwortlichen der Nomadenschulen und der schwedischen Kirche, die Trägerin der Schulen war. Das Schicksal der Kinder hat mich sehr bewegt, und die Misshandlungen der Kinder erinnern an ähnliche Berichte aus Kinderheimen und Internaten auch in Deutschland. Es macht mich immer wieder sprachlos, mit welcher Gefühlskälte sogenanntes pädagogisches Personal den  Kindern begegnet ist. 

Ein sehr lesenswertes Buch, das die Minderheit der Samen und ihre systematische Unterdrückung in den skandinavischen Ländern bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts in den Mittelpunkt rückt.

Bewertung vom 31.03.2024
Italien
Maas, Annette

Italien


ausgezeichnet

Mein Sohn und ich sind große Fans der Länderreihe von ars Edition und kennen bereits die Bücher zu Island und Japan. Der neue Band zu Italien wurde also mit Spannung erwartet, zumal in der Schule gerade die Länder Europas durchgenommen wurden.
Auf 80 Seiten nimmt uns das Buch mit auf eine spannende Reise durch Italien, wobei sich jeweils eine Doppelseite einem bestimmten Landesaspekt widmet. Das Buch ist durchgehend ganzseitig farbig illustriert und bereits das Durchblättern macht viel Freude. Die Themen sind vielseitig gewählt und reichen von den Gebirgen, Seen und Vulkanen über Design, Sprache, Oper, Speisen und diversen Städten bis hin zur Schule und typisch italienischen Traditionen. Hierbei gibt sich die Autorin Annette Maas sehr viel Mühe, auch Überraschendes und weniger Bekanntes zu thematisieren wie etwa die Tuffsteinhöhlen von Matera, die Beziehung Friedrichs II. zu Italien und sein Castel del Monte oder das Dorf Tellaro, das der Sage nach von einem Tintenfisch gerettet wurde. Auch Anekdoten aus Goethes Italienreise werden mehrmals eingeflochten. Bemerkenswert ist auch, dass sich zwei Kapitel großen und zum Teil wenig bekannten Frauen widmen. Hierfür fehlen im Gegenzug bekannte italienische Attraktionen wie etwa das Colosseum oder der Archäologiepark von Pompeji, die man vielleicht erwartet hätte.
Das Buch bietet einen ausgewogenen und sehr vielseitigen Mix an interessantem und teilweise erstaunlichem Wissen zu Italien und eignet sich perfekt für Kinder ab ca. 10 Jahren. Auch als Erwachsene hatte ich wieder viel Freude daran, dieses Sachbuch zusammen mit meinem Sohn zu entdecken. Wir hoffen sehr, dass diese Reihe noch weiter fortgesetzt wird. Sie ist eine echte Bereicherung für jedes Bücherregal ab der 4./5. Klasse und auch eine tolle Geschenkidee!