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Havers
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Insgesamt 1378 Bewertungen
Bewertung vom 18.02.2020
Milchmann
Burns, Anna

Milchmann


ausgezeichnet

2018 ging der Man Booker Prize für Belletristik an „Milkman“, und Anna Burns war damit die erste Preisträgerin aus Nordirland. Die Handlung des Romans ist dortverortet, der zeitliche Rahmen nicht näher bestimmt. Man weiß nur, dass sich die Ereignisse während des Bürgerkriegs, der „Troubles“, abgespielt haben, einer Zeit geprägt von Gewalt und Misstrauen.

Schießereien, Autobomben und Molotow-Cocktails, letztere gerne bis zu ihrem Einsatz in Milchkisten deponiert. Eine Zeit die Ängste schürt, Unsicherheit verbreitet. Nur nicht auffallen ist die Parole, die auch die achtzehnjährige Erzählerin verinnerlicht hat, denn gar zu schnell gerät man in das Visier, wird selbst zum Ziel, zum Täter oder zum Kollateralschaden. Kein einfaches Leben für die Heranwachsenden, die sich aus diesen ganzen Verwicklungen raushalten wollen.

„Milchmann“ ist keine einfache Lektüre. Es irritiert, dass sämtliche Personen namenlos sind und lediglich nach ihren Beziehungen zur Protagonisten bezeichnet werden. Irgendwer McIrgendwas, Schwager, Schwester und natürlich Milchmann. Letzterer ein unangenehmer Zeitgenosse, dessen obsessives Verhalten nicht nur die Erzählerin verunsichert. Ein Stalker, der immer dann auftaucht, wenn man es am wenigsten erwartet, permanent präsent ist. Latent bedrohlich.

Dieses Empfinden wird durch die verwendete Erzähltechnik verstärkt, die darauf verzichtet, eine durchgehende Handlung zu entwickeln, zu beschreiben und zu erklären. Es ist quasi ein innerer Monolog, dem wir hier folgen. Die Gedanken und Sichtweisen der Erzählerin, die uns Innen- und Außenwelt präsentiert. Nicht gradlinig sondern sprunghaft und willkürlich.

Entlarvend. Fordernd. Außergewöhnlich. Ein Roman, für den man ein gewisses Maß an Leseerfahrung mitbringen sollte.

Bewertung vom 14.02.2020
Young God
Faw, Katherine

Young God


ausgezeichnet

„Young God“, der erste Roman aus der neuen Taschenbuch-Reihe des Polar-Verlags ist heftig. Richtig harte Kost. Nikki heißt die „junge Göttin“, gerade einmal dreizehn Jahre alt. Aufgewachsen in den Hügeln North Carolinas, wo die Landschaft so trostlos wie das Leben ihrer Bewohner ist. Ein typisches Rural-Noir-Setting, das wir nicht nur aus David Joys „Wo alle Lichter enden“ (ebenfalls Polar Verlag) kennen.

Beschissene Kindheit, abgeschoben ins Heim. Dann verunglückt die Mutter tödlich. Nach einem kurzen Intermezzo mit deren Lover klaut sie dessen Auto und fährt in die Berge zu ihrem Vater, ehemals der größte Koksdealer der Gegend. Der wurde erst kürzlich aus dem Knast entlassen, haust jetzt in einem heruntergekommenen Trailer und finanziert seinen Lebensunterhalt damit, junge Mädchen auf den Strich zu schicken. Auch wenn sie von ihm enttäuscht ist, sie will ihm gefallen, will von ihm geliebt werden. Dafür tut sie alles, führt ihm sogar eines der Mädchen, das sie aus dem Heim kennt, zu.

Aber sie hat Pläne, will nicht den üblichen Weg der jungen Frauen in diesem Milieu gehen und ihren Körper für ein paar Dollar und ein bisschen Sicherheit verkaufen. Will der Perspektivlosigkeit entkommen, genug Geld für ein selbstbestimmtes Leben haben, weshalb sie fest entschlossen ist, in den Drogenhandel einzusteigen und das Unternehmen wieder hin zu alter Stärke zu führen. Und wehe, es stellt sich ihr jemand in den Weg. Dann geht sie über Leichen und kennt weder Freund noch Feind noch Familie.

Auffällig an diesem Roman sind Stil und Sprache. Knapp, hart, heftig, roh und auf das Wesentliche reduziert, haut uns die Autorin die Story um die Ohren. Die Sprache ist dementsprechend rau und derb, die Sätze kurz und knackig, prasseln stellenweise wie Trommelfeuer auf den Leser ein. Da wird nichts beschönigt oder romantisiert, niemand hat Gewissensbisse, so etwas wie persönliche Moral schon überhaupt nicht. Das eigene Verhalten in Frage stellen? Niemals. Emotionen? Könnten ja als Schwäche ausgelegt werden. Das Leben ist hart und muss bewältigt werden. Und deshalb darf man nicht zimperlich in der Wahl der Mittel sein.

„Young God“ ist keine Unterhaltungslektüre, nichts für Zartbesaitete. Ein Buch, das an die Nieren geht. Lesen!

Bewertung vom 12.02.2020
Das Haus der Frauen
Colombani, Laëtitia

Das Haus der Frauen


ausgezeichnet

Der „Palais de la Femme“ ist eine Institution in Paris, ein historisches Gebäude im 11. Arrondissement und wird noch heute von der Heilsarmee betrieben. Ein Haus, das Frauen, die aus den verschiedensten Gründen an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden, Obdach bietet und den Hintergrund für Laetitia Colombanis zweiten Roman bildet.

Es ist die Geschichte der Blanche Peyron, einer Frau aus bürgerlichen Verhältnissen, die ihre Berufung im Kampf gegen die soziale Ungerechtigkeit findet. Als Mitglied der Heilsarmee kommt sie in jungen Jahren nach Paris, wo sie sich gegen alle Widerstände behauptet und in der Organisation ihren späteren Mann kennenlernt, der sie in all ihren Belangen vorbehaltlos unterstützt. Das Elend der obdachlosen Frauen in den Straßen der französischen Metropole lässt sie nicht los, und so fasst sie den utopischen Plan, genug Geld aufzutreiben, um ein zum Verkauf stehendes Gebäude mit 743 Zimmern (!) zu erwerben und zu renovieren. Gegen alle Widerstände kann sie mit Hilfe ihrer Organisation und zahlreichen Spenden dieses utopische Projekt realisieren, sodass 1926 der „Palais de la Femme“ seine Tore öffnet und ab dieser Zeit bis heute Frauen ein Zuhause bietet.

Zurück in die Gegenwart: Solène, eine erfolgreiche Anwältin, erleidet nach dem Selbstmord eines Mandanten einen Nervenzusammenbruch. Nach längerem Aufenthalt in der Psychiatrie quält sie sich noch immer mit Selbstvorwürfen. Ihren Beruf hat sie aufgegeben, isoliert sich und kann trotz Medikamenten ihren Alltag kaum bewältigen. Um sie ins Leben zurück zu führen, rät ihr Therapeut ihr zu sozialem Engagement. Widerwillig lässt sie sich auf diesen Vorschlag ein und nimmt eine ehrenamtliche Stelle als Schreiberin im Haus der Frauen an. Anfangs eher zögerlich setzt sie sich mit den Lebensgeschichten der Bewohnerinnen auseinander. Allesamt Frauen, die schwere Zeiten hinter sich haben, deren Leben von Flucht, Misshandlungen, Obdachlosigkeit, Vergewaltigungen geprägt war, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden und nun hier einen Zuflucht gefunden haben. Diese Arbeit zwingt sie dazu, gegen alle Widerstände ihre Komfortzone zu verlassen, Empathie zu entwickeln, Solidarität zu spüren und auf diesem Weg auch wieder zu sich selbst zu finden.

Der Originaltitel des Buches lautet „Les Victorieuses“, die Siegerinnen, und ja, starke Frauen sind sie allesamt. Blanche, Solène, die Frauen im Palais. Sie waren zwar nicht auf Rosen gebettet und wurden von widrigen Lebensumständen in die Knie gezwungen, aber sie haben nicht aufgegeben, sich gestellt, gewehrt, Unterstützung gefunden. Natürlich lief es nicht immer glatt, gab es Rückschläge, aber dennoch sind sie als Siegerinnen aus dem Kampf hervorgegangen.

Ist „Das Haus der Frauen“ deshalb ein feministischer Roman? Ja, in der Tat, das ist er. Colombani rückt unterschiedliche Themen durch die persönlichen Geschichten der Bewohnerinnen in den Fokus: Die Bereitschaft der Frauen, den Erwartungen/Wünschen von Eltern und Partnern bis hin zur Selbstverleugnung zu entsprechen. Ihre eigenen Träume zu vergessen. Sie spricht die Vergewaltigungen obdachloser Frauen und die Nicht-Wahrnehmung dieser Verbrechen in der Öffentlichkeit an. Die rituellen Verstümmelungen kleiner Mädchen. Die Misshandlungen in der Ehe, die mit einem Schulterzucken abgetan werden. Die Namenlosigkeit derer, denen man einen Platz in der Gesellschaft verwehrt.

Ein Roman, der die Leserin nachdenklich zurücklässt. Sehr empfehlenswert

Bewertung vom 11.02.2020
London Calling
Dittert, Annette

London Calling


ausgezeichnet

Bis Herbst 2018 hatte ich noch Hoffnung. Hoffnung, dass ein zweites Referendum den Brexit verhindern würde. Hat sich leider nicht erfüllt. Nun bleiben nur noch die Erinnerungen an die britische Insel, aber vor allem an die Themse-Metropole, an die ich wie die Autorin mein Herz verloren habe.

In „London Calling“ nimmt uns die ARD-Korrespondentin und Wahl-Londonerin mit in ihre Wahlheimat, und obwohl die Hardcover-Ausgabe des Buches bereits 2017 erschienen ist, hat diese Sicht auf das Vereinigte Königreich, dessen Menschen und den Brexit nichts von der Aktualität verloren, wobei die kürzlich erschienene Taschenbuch-Ausgabe um ein ausführliches Vorwort ergänzt wurde, das auf die politischen Ereignisse Bezug nimmt und deutlich zu verstehen gibt, was sie von dem aktuellen Premierminister hält. Und ja, ihre Einschätzung kann ich in sämtlichen Punkten teilen.

Annette Ditterts zeigt uns ihre Wahlheimat zwar aus der liebevollen Sicht einer Insiderin, aber als „Zugereiste“ immer mit der nötigen und auch scharfsichtigen Distanz. Es geht ihr dabei nicht um die touristischen Sehenswürdigkeiten, im Gegenteil. Es sind Innenansichten. Über das Leben in London, über die Eigenarten und Weltsicht der Engländer, über die Veränderungen, die die Planlosigkeit der Brexiters mit sich bringen wird, über Ängste und Hoffnungen. Sie zeigt uns eine Gesellschaft, die noch immer von nahezu undurchlässigen Klassenschranken qua Herkunft und Besitz geprägt ist. Ein Land, das sich noch immer nicht von seiner glorreichen Vergangenheit als Kolonialmacht verabschiedet hat.

Sie nimmt uns unter anderem mit auf eine Reise in den Norden, nach Hull, ehemals prosperierend, mittlerweile aber das Armenhaus Englands. Wo die Menschen den Raubtierkapitalisten, „denen da unten“ einen Denkzettel verpasst haben. Und in den Peak District, wo ein verarmter Baronet mit ausgeprägtem Standesdünkel Münzen aus dem Brunnen fischt, um seine Verbindlichkeiten bei der Bank zu reduzieren.

Die Autorin schaut hinter die Kulissen, spart bewusst die Hot Spots aus, richtet ihr Augenmerk auf die Londoner Viertel, die sich noch etwas von ihrer Ursprünglichkeit bewahrt haben, die glücklicherweise noch nicht gentrifiziert sind und/oder von Touristen überrannt werden (bestes Beispiel hierfür Notting Hill). Das East End, Spitalfields, die Brick Lane, hier spürt man noch am ehesten die Vergangenheit jenseits von dem Schwelgen in den Kolonialismus- und Empire-Fantasien vieler Engländer.

Natürlich ist die Brexit-Thematik allgegenwärtig, und wenn das Buch zuschlägt, hat man zumindest eine Ahnung, was zum Ausgang des Referendums und auch zur Wahl Boris Johnsons geführt hat. Aber auch wenn man versteht, bleibt die Wehmut. Und der Abschiedsschmerz.

Bewertung vom 06.02.2020
Feindesland
Sansom, Christopher J.

Feindesland


sehr gut

Wie hätte sich die Historie entwickelt, wenn Nazi-Deutschland den Krieg gewonnen hätte? Diese Frage scheint im englischsprachigen Raum so manchen Autor zu beschäftigen, man denke nur an Robert Harris‘ „Vaterland“. Nun also auch C.J. Sansom, den Lesern hierzulande vor allem durch seine Tudor-Krimis mit Matthew-Shardlake bekannt.

„Feindesland“ spielt in England Anfang der fünfziger Jahre. Noch ist die Welt nicht aufgeteilt, Russland befindet sich noch immer im Krieg mit Deutschland. England hingegen hat kapituliert und steht unter deutscher Besatzung. Deren Kontrolle ist allgegenwärtig, die Repressalien nehmen zu, nicht nur gegenüber der jüdischen Bevölkerung. Die Regierung hat keinerlei Entscheidungsbefugnis mehr, ihre Vertreter verkommen zu Marionetten der Nationalsozialisten. Einzig Winston Churchill will sich mit diesen Umständen nicht abfinden. Er ergreift die Initiative und organisiert im Geheimen den Widerstand. Immer mehr Menschen scharen sich um ihn, auch ein Beamter der Regierung, nicht wissend, dass ihnen bereits die Häscher der Nazis auf den Fersen sind.

Sansoms Romane, sowohl die Shardlake-Reihe als auch „Winter in Madrid“, zeichnen sich immer wieder durch die atmosphärischen Beschreibungen aus, und bereits nach wenigen Seiten fühlt man sich an den jeweiligen Handlungsort versetzt. So auch hier, zumal der Autor auch reale Ereignisse wie z.B. den Londoner „Todesnebel“ von 1952 einbezieht, wodurch die Schilderungen wesentlich anschaulicher erlebt werden.

Auch die verschiedenen Protagonisten und ihre Motivationen sind allesamt sehr gut und detailliert ausgearbeitet, jeder mit seiner besonderen Geschichte und Funktion in diesem Roman. Ob das nun der desillusionierte Beamte ist, der zum Spion wird, seine Frau, die um jeden Preis ein Geheimnis bewahren muss, der in der Psychiatrie festgehaltene Freund, dessen Wissen, so es denn in falsche Hände gerät, verheerende Folgen haben könnte, oder der Menschenjäger der Gestapo, der sie aufspüren soll.

Die Geschichte ist nicht linear erzählt, sondern wechselt zwischen einzelnen Personen, Ereignissen und Zeit hin und her. Zum einen erfordert das die erhöhte Konzentration des Lesers, zum anderen hemmt es leider auch immer wieder den Erzählfluss. Aber das ist Mäkeln auf hohem Niveau, denn alles in allem ist „Feindesland“ ein spannender und interessanter Roman darüber, inwieweit bestimmte Entscheidungen den Lauf der Historie beeinflussen und gegebenenfalls ins Gegenteil hätten verkehren können.

Bewertung vom 03.02.2020
Was sie nicht wusste
French, Nicci

Was sie nicht wusste


sehr gut

Eine Frau hat eine Affäre, wird per SMS von ihrem Liebhaber in dessen Wohnung gebeten, findet ihn dort tot in einer Blutlache vor. Polizei informieren ist keine Option, denn überall in der Wohnung gibt es Hinweise auf ihre Anwesenheit. Was macht sie? Schnappt sich den Eimer und die Bleiche und fängt an zu putzen. Beseitigt Fingerabdrücke, verstaut ihre dort deponierten Klamotten und Toilettenartikel in einer Mülltüte, damit keine Verbindung zu ihr hergestellt werden kann. Aber natürlich entwickelt sich die gesamte Aktion völlig anders als beabsichtigt.

Soweit, so bekannt. Schon zigmal gelesen. Auf den ersten Blick nichts Neues. Aber was Nicci Gerard und Sean French aus diesem Ausgangsszenario machen, verdient in der Tat einen zweiten Blick, und das liegt vor allem an der Hauptfigur Neve. Eine ganz normale Frau, Ende vierzig, doppelt belastet durch Beruf und Familie, quasi Alleinverdienerin, verheiratet mit einem mäßig erfolgreichen Illustrator, drei pubertierende Kinder, deren geregeltes Leben durch den Tod des Liebhabers und ihre nachfolgende Vertuschungsaktion gehörig auf den Kopf gestellt wird, denn eine Lüge zieht die nächste nach sich. Die Situation gerät außer Kontrolle, und ihr altes Leben steht auf der Kippe. Wusste vielleicht doch jemand aus ihrem nahen Umfeld Bescheid? Familienmitglieder? Freunde?

Ein wesentliches Kennzeichen der Thriller des Autorenduos ist zum einen die detaillierte und glaubwürdige Charakterisierung der Personen, zum anderen der sezierende Blick auf das Verhalten derselben in Extremsituationen. Dazu dann noch, wie bereits aus anderen Büchern der beiden bekannt und erwartet, das Versprechen, gänzlich unerwartete Wendungen zu beschreiben, die zusätzlich Spannung generieren. Das lösen sie ohne Frage ein, und zwar so gekonnt, dass selbst ein*e Vielleser*in ziemlich lange braucht, um die Zusammenhänge zu erkennen. Gut gemacht!

Bewertung vom 01.02.2020
Wie Frau Krause die DDR erfand
Aehnlich, Kathrin

Wie Frau Krause die DDR erfand


sehr gut

Isabella Krause ist vom Fach. Nein, sie betreibt keine Casting-Agentur, sie ist eine eher erfolglose Schauspielerin, aufgewachsen in der ehemaligen DDR, die sich mit kleinen Rollen über Wasser hält. Die Rolle der fürsorglichen Mutter bekommt sie bei einem Vorsprechen nicht, dafür überträgt ihr der Produktionsleiter eine Aufgabe, die so schwer nicht sein kann. Im Rahmen einer Dokumentation anlässlich des dreißigsten Jahrestages der Wiedervereinigung hätte er gerne Statements von Zeitzeugen aus dem Osten, und Frau Krause soll diese ausfindig machen. Nur dumm, dass die Menschen, die sie in ihrer ehemaligen Heimat findet, so gar nicht dem Klischee der Westdeutschen entsprechen. Keine Berichte über Mangel und Indoktrination, sondern eher wehmütige Rückblicke auf den Alltag vor dem Mauerbau.

Kathrin Aehnlich ist eine versierte Autorin, die mit viel Empathie und Augenzwinkern die Klischees, die noch immer in den Köpfen existieren, aufs Korn nimmt. Kommentare von Unten zu individuellen Lebensläufen, zu einem normalen Alltag, der sich dann doch nicht so gravierend von dem der Menschen im Westen unterschieden hat. Ein kleiner Roman, der für das bessere Verstehen auf beiden Seiten wirbt.

Bewertung vom 30.01.2020
Long Bright River
Moore, Liz

Long Bright River


ausgezeichnet

Kensington, der Stadtteil im Nordosten von Philadelphia, gilt als einer der größten Drogenumschlagplätze der Vereinigten Staaten. Ehemals ein irisches Arbeiter-Viertel, mittlerweile verwahrlost, mit hoher Kriminalitätsrate, fest in der Hand von Dealern und Junkies.

Hier verortet die Autorin Liz Moore ihren Roman „Long Bright River“, der von zwei Schwestern erzählt, Mickey und Kacey Fitzpatrick. Die drogenabhängige Mutter gestorben, der Vater nicht existent, aufgewachsen bei der Großmutter, die den Mädchen zwar Nahrung und Obdach aber keine Liebe gibt. Kacey, die Unbeschwerte, Kontaktfreudige, während Mickey eher verschlossen und nachdenklich ist. Früh übernimmt sie Verantwortung für ihre Schwester, kümmert sich all die Jahre um sie. Bis diese als Sechzehnjährige anfängt Drogen zu nehmen. Es kommt zu einem Zerwürfnis, Kacey verschwindet in den Straßen Kensingtons, taucht immer wieder mal auf, ist wieder weg, prostituiert sich, um ihren Drogenkonsum zu finanzieren.

Mittlerweile ist Mickey selbst Mutter, alleinerziehend und täglich von ihrem schlechten Gewissen geplagt. Ihren Lebensunterhalt verdient sie als Streifenpolizistin, ihr Einsatzort sind die Straßen von Kensington. Tagtäglich rechnet sie damit, ihre Schwester bei einem Einsatz tot im Rinnstein zu finden, ein Gedanke, der sie nicht mehr los lässt. Vor allem, seit im Viertel immer wieder die Leichen drogenabhängiger Prostituierter auftauchen. Ermordet und wie Abfall entsorgt. Das könnte auch Kacey passieren, und es ist diese Angst die Mickey antreibt, sie ruhelos auf der Suche nach ihrer Schwester durch die Straßen treibt…

Erzählt wird aus der Ich-Perspektive von Mickey, wobei sich Kapitel unterschiedlicher Länge, „damals“ und „jetzt“ überschrieben, abwechseln. In diesem persönlichen Filter macht sie den Leser mit ihrer Sicht vertraut, zeigt uns ihre Zweifel, ihren täglichen Kampf mit widrigen Lebensumständen. Aber wir sollten nie vergessen, dass wir durch ihre Brille schauen, ihren Aussagen vertrauen müssen, denn hier ist niemand ohne Fehl und Tadel.

Obwohl die Suche nach einem Mörder Thema ist, wäre die Bezeichnung Kriminalroman viel zu kurz gesprungen. Natürlich ist es die Beschreibung einer dysfunktionalen Familie und ihren zerstörten Beziehungen, aber im Wesentlichen ist es eine schonungslose Bestandsaufnahme der Opioidkrise in den USA, ihren Auswirkungen auf Gesellschaft und Familien. Moore ist eine gute Beobachterin, sieht hin, beschönigt nichts. Besonders beeindruckend sind ihre Beschreibungen des verwahrlosten Viertels, aber auch der differenzierte Blick auf die individuellen Schicksale, die Opfer, Täter und diejenigen, die versuchen, im Rahmen ihrer Möglichkeiten das Leben dort ein bisschen besser zu machen, um damit dem „langen, leuchtenden Fluss verstorbener Seelen“ Widerstand zu bieten.

Dieser facettenreiche Roman ist beeindruckend, bewegend, er schmerzt in seiner Schonungslosigkeit. Lest ihn, ihr werdet es nicht bereuen.

Bewertung vom 28.01.2020
Aus dem Ofen
Henry, Diana

Aus dem Ofen


gut

Diana Henry ist eine der beliebtesten britischen Food-Autorinnen. Ihre sämtlichen Kochbücher wurden mit Preisen ausgezeichnet. So auch „Aus dem Ofen“ („From the oven to the table“), das von fast allen namhaften Zeitschriften in Großbritannien als bestes Kochbuch des Jahres genannt wurde. Meine Neugier war geweckt, die Erwartungshaltung hoch, da ich ihre anderen Kochbücher sehr schätze.

Die Gliederung des Buches orientiert sich überwiegend an den Zutaten, die ersten beiden Kapitel sind Fleisch, Fisch, Wurst und Hähnchenschenkeln gewidmet, wobei diese aber auch bei den Gemüsegerichten zum Einsatz kommen. Es folgen Frühjahrs- und Sommer- sowie Herbst- und Wintergemüse. Danach Getreide und Hülsenfrüchte, Wochenende und besondere Anlässe und als Abschluss Desserts und Kuchen.

In der Praxis funktionieren die Rezepte, werden allerdings dem Untertitel „Einfache Gerichte schnell zubereitet“ leider nicht gerecht. Zum einen sind die Zutatenlisten ellenlang, zum anderen sind viele der benötigten Bestandteile, wie beispielsweise Nduja, eine italienische Rohwurst, weder im italienischen Feinkostladen noch im italienischen Supermarkt verfügbar. Hier sollte man auf die eigene Erfahrung zurückgreifen und beherzt nach einem Ersatz suchen, dann klappt es auch.

Die „schnelle Zubereitung“ bezieht sich anscheinend lediglich auf das Garen im Backofen, denn nicht nur bei den Gemüse- sondern auch bei den Fleischgerichten sollte man schon einiges an Zeit für die Vorbereitung mitbringen. Da muss geputzt, gewaschen, geschnippelt, vorgekocht und mariniert oder in relativ kurzen Abständen gewendet, gerührt und gerüttelt werden. Also nichts mit in den Ofen schieben und beim Signal des Timers zum Essen kommen.

Neben den Rezepten lebt ein Kochbuch auch von dem fotografischen Anschauungsmaterial, und das ist leider ist für mich das große Manko. Sehr viele Fotos wirken durch die dunkle Tönung wenig appetitanregend und verleiten nicht unbedingt zum Nachkochen. Man hat eher den Eindruck, dass hier Fleisch und/oder Gemüse im Backofen vergessen wurde und deshalb verbrannt ist.

Verglichen mit „Change your appetite“, „Simple“ und „Alle meine Hähnchen, den Kochbüchern der Autorin, die ich gerne und ausgiebig nutze, hat „Aus dem Ofen“ sein Versprechen nicht eingelöst und meine Erwartungen leider nicht erfüllt.

Bewertung vom 23.01.2020
Kälter als der Tod / Der Mongole Bd.2
Manook, Ian

Kälter als der Tod / Der Mongole Bd.2


sehr gut

Winter in der Mongolei. Eisige Winde, meterhohe Schneewehen, Temperaturen unter minus 20 Grad. Herausforderungen, mit denen Yeruldelgger und sein Team, die Polizisten aus der mongolischen Hauptstadt Ulaanbaatar, in ihrem neuesten Fall zu kämpfen haben, der wesentlich komplexer ist, als es auf den ersten Blick scheint.

Einmal mehr lässt Ian Manook (hinter diesem Pseudonym verbirgt sich der französische Journalist Patrick Manoukian) seine Leser am privaten und beruflichen Leben dieser Truppe teilhaben. Und ganz nebenbei vermittelt er sowohl Einblicke in die mongolische Kultur als auch in die Probleme, mit denen dieses Land, nicht zuletzt wegen seiner geografischen Lage zwischen China und Russland, zu kämpfen hat. Ein Land zwischen Tradition und Moderne, in dem die schamanische Vergangenheit allmählich von westlichen Einflüssen überlagert wird. Die Jungen begrüßen es, die Alten sehen es mit Wehmut. Ein Land mit vielen Wunden, unglaublich reich an Bodenschätzen, in dem Städte für 50.000 Menschen wegen eines Uran-Vorkommens aus dem Boden gestampft werden. Orte, die verfallen, wenn die Minen erschöpft sind. Schamlos ausgebeutet, nicht nur von ausländischen Geschäftemachern sondern auch von den Einheimischen, die ihr Stück vom Kuchen abhaben wollen.

Fast alle bekannten Gesichter des ersten Bandes sind wieder mit an Bord: Kommissar Yeruldelgger, Solongo, die Gerichtsmedizinerin, Oyun und Billy, die Assistenten sowie Gantulga, der ehemalige Straßenjunge, dessen spurloses Verschwinden das Team in Atem hält. Eine interessante Ergänzung ist der Armenier Zarzavadjian, genannt „Zarza“, ein Kommissar oder Bahnpolizist oder doch Geheimagent in Le Havre, quasi ein Yeruldelgger 2.0 und natürlich jede Menge korrupte Gestalten, oft verborgen unter dem Mantel der Rechtschaffenheit sowie ein Oberschurke, den der Leser bereits aus dem ersten Band kennt.

Die Story ist spannend, aber komplex, es geht um Menschenhandel und Korruption, um Rache, sehr verschachtelt durch zahllose Handlungsorte, die von der Hauptstadt über postsowjetische Geisterstädte bis ins französische Le Havre führen. Die Landschaftsbeschreibungen sind wie immer intensiv, aber im Gegensatz zu dem Vorgänger nehmen diesmal leider testosterongesättigte Action und Gewaltszenen wesentlich mehr Raum ein als die Schilderung schamanischer Riten und mongolischer Traditionen. Schade, denn gerade dieses Alleinstellungsmerkmal hatte mich bei dem ersten Band der Reihe begeistert.

Natürlich ist es kein Muss, aber zum besseren Verständnis sollte man „Der Mongole“ gelesen haben, weil doch immer wieder auf die dortige Handlung Bezug genommen wird.

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