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Buchdoktor
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Deutschland
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Romane, Krimis, Fantasy und Sachbücher zu sozialen und pädagogischen Tehmen interessieren mich.

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Insgesamt 612 Bewertungen
Bewertung vom 03.01.2017
Die Hälfte des Himmels
WuDunn, Sheryl;Kristof, Nicholas D.

Die Hälfte des Himmels


ausgezeichnet

Nicholas D. Kristof ist bekannt für seine unerschrockenen Reportagen aus China und aus Krisenregionen Afrikas in der New York Times. In der Tradition von Kristofs Kolumnen, mit denen er an Einzelschicksalen soziale Missstände entlarvte, nehmen er und seine Frau Sheryl WuDunn zur Lage der Frauen in Asien und Afrika kein Blatt vor den Mund. Kristof will die in den USA verbreitete Unkenntnis über andere Länder lindern. Er kritisiert das ausschließlich auf Ereignisse im Inland beschränkte Bildungssystem und fordert junge Amerikaner auf, nicht nur in die Metrolen Europas zu reisen, sondern für kurze Zeit in Afrika oder Indien zu arbeiten. - Kristof/WuDunn beschreiben, wie sie bei Recherchen in Asien realisierten, dass Prostituierte häufig nicht aus freiem Willen in diesem Metier tätig sind. Sie trafen Frauen und sehr junge Mädchen, die verkauft, unter Drogen gesetzt und wie Sklavinnen gehalten werden. Gegenüber dem Menschenhandel besteht bei Freiern und Bordellbesitzern kein Unrechtsbewusstsein; denn es handelt sich "nur" um die Kinder armer Bauern. Als Korrespondent hat Kristof schon immer kritisch hinter die ihm vorgeführten Fassaden geblickt. Die Autoren benennen die Verantwortung auch von Frauen für die Unterdrückung anderer Frauen; denn Frauen festigen frauenfeindliche Strukturen, indem sie ihre Wertvorstellungen an die nächste Generation weitergeben. Frauen erziehen, sie verkaufen Töchter, sie betreiben Bordelle, sie misshandeln ihre Schwiegertöchter, sie führen Klitorisbeschneidungen durch. - Kristofs Fazit lautet, dass sich als erfolgreichste Armutsbekämpfung die Förderung von Geschlechtergleichheit erwiesen hat. Er begründet sein Urteil mit dem industriellen Fortschritt in Europa, der nur durch die Offenheit der Gesellschaft für neue Ideen und die Wertschätzung von Frauen stattfinden konnte. Im Gegensatz dazu lägen in Staaten, in denen Frauen traditionell als wertlos angesehen werden, Intelligenz und Resourcen der Hälfte der Bevökerung brach; der Glaube an ihre biologische Überlegenheit untergrabe den Leistungswillen junger Männer. Im Vergleich zwischen Japan und China werden junge berufstätige Frauen als entscheidender Faktor für den wirtschaftlichen Erfolg eines Landes hervorgehoben. - Was kann ein kritisches Buch eines amerikanisch-chinesischen Autoren-Paars zur Lage der Frauen bewirken? "Die Hälfte des Himmels" ist für den amerikanischen Leser in seinem bequemen Lehnstuhl geschrieben, der möglicherweise noch nie im Ausland war. Wir erfahren, dass unsere Strategien für Hilfsprojekte kulturgeprägt und den Sitten vor Ort meist nicht angemessen sind. Hilfsgelder erden zu oft in repräsentative Bauten versenkt, ohne dass eine langfristige Begleitung des Projekts sich um die alltäglichen Fragen kümmert. Im Fall eines Bildungsprojekts genügt es nicht, die Schule zu bauen und evtl. öffentlichkeitswirksam Lehrmaterialien zu überreichen. Gefragt werden sollte: sind die Kinder gesund und ausreichend ernährt, um sich auf den Unterricht zu konzentrieren? Haben sie etwas anzuziehen? Gibt es eine Toilette? Kommt der Lehrer regelmäßig zur Arbeit? Trägt die Familie der Kinder den Schulbesuch mit? - Auf leicht lesbare Weise gelingt es den Autoren, kulturelle Besonderheiten wahrzunehmen, aber nicht zu verklären. Nicht jede Schlamperei muss mit kulturellen Eigenheiten entschuldigt werden. Besonderes Lob verdient die respektvolle Art, in der das Autorenpaar über Erlebnisse von Frauen berichtet, die in deren Kulturen extrem schambesetzt sind. Wer bis zum Ende liest, wird weniger pathetisch darauf reagieren als die ersten Pressemeldungen zum Buch. Es ist ähnlich wie mit dem afrikanischen Sprichwort: 'Du wirst Afrika nicht verändern, aber Afrika verändert dich'. Kristofs Berichte verändern den Leser. Hoffentlich werden sie langfristig auch Strukturen verändern.

Bewertung vom 03.01.2017
Mama ist Geheimagentin
Heinlein, Sylvia

Mama ist Geheimagentin


sehr gut

Lu ist ein ungewöhnlicher Junge. Von Computer oder Playstation ist in seinem Leben bisher keine Rede, auch nicht von Sport oder Autos. Weil Lu recht ängstlich ist und sich schnell gruselt, hat seine Mutter bisher seinen Filmkonsum streng reglementiert. Filme für Zuschauer ab 12 darf Lu nicht sehen - Ende der Diskussion. Bei einer Geburtstagsfete sieht Lu bei einem Klassenkameraden den ersten Agenten-Film seines Lebens. Plötzlich fällt es ihm wie Schuppen von den Augen. Agenten haben ungewöhnliche Arbeitszeiten und geben am Telefon merkwürdige Antworten wie "Ich komme durch den Hintereingang!". Bisher hatte er geglaubt, dass seine Mutter Putzfrau mit mehreren Arbeitsstellen ist. Eine so vielseitige, sportliche Frau wie Hanna kann man sich doch viel besser als Fassadenkletterin vorstellen. Lu und seine Freundin Tomma, das einzige Mädchen übrigens, das zu Jungenspielen zugelassen ist, beginnen Hanna zu beschatten. Auch Tomma ist ein ungewöhnlich phantasievolles Kind. Sie nimmt an, wenn Lus Mutter etlarvt wird und ihre Agententätigkeit mit dem Wischmopp nicht mehr verheimlichen muss, ginge es ihr sicher viel besser. Gesagt, getan. Mit Hilfe von Tommas älter Schwester Ina machen die beiden sich an die Überwachung von Hanna. Die schwingt sich in hochhackigen Schuhen, elegant hochgesteckten Haaren und dem Putzmittel-Koffer auf ihr Rennrad. Komplikationen gibt es durch Jason, der Lu und Tomma bei ihrer Spionagetätigkeit beobachtet und unbedingt mit in den Detektiv-Club aufgenommen werden will. Wer einmal mit dem Nachspionieren begonnen hat, sieht natürlich überall verdächtige Dinge und Personen. Fehlte nur noch, dass Hanna tatsächlich eine ihrer Putzstellen über den Balkon entert. Das war der endgültige Beweis für Lu und Tomma, dass sie als Agentin tätig ist. Warum Hanna Dinge tut, die sonst kein normaler Mensch tun würde, kommt schließlich mit Inas Hilfe ans Licht. Falls Ihnen eine elegante, sportliche Frau mit hochgesteckten Haaren und einem Putzkorb auf dem Rennrad entgegenkommen sollte, kann das nur Lus Mutter sein.

Mit Lu hat Sylvia Heinlein einen ungewöhnlich zeitlosen Helden erdacht und ihm als Gegenpart eine erfrischend unternehmungslustige Freundin an die Seite gestellt. Ein humorvolles Lesevergnügen für Leser ab 8 Jahren.

Bewertung vom 03.01.2017
Das innere Auge
Sacks, Oliver

Das innere Auge


ausgezeichnet

1985 beschrieb Oliver Sacks in Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte ungewöhnliche und bis dahin kaum beachtete neurologische Krankheitsbilder in Fallgeschichten. Der in England geborene Neurologe beeindruckte durch seine Anteilnahme am Schicksal seiner Patienten und durch sein Talent, medizinische Zusammenhänge einem breiten Publikum verständlich zu vermitteln. Der Tag, an dem mein Bein fortging zeigte den Autor in der Rolle des Patienten, der sich in einem fensterlosen Zimmerchen seinen Ärzten ausgeliefert fühlt. Sacks Sichtweise hat sich seitdem nicht nur durch eigenes Erleben als Patient verändert. Die ungewöhnlichen Krankengeschichten seiner Patienten von damals lassen sich inzwischen durch bildgebende Untersuchungsverfahren (CT, MRT) konkreten Hirnarealen zuordenen. Mit "Das innere Auge" setzt Sacks Reihe der Patientengeschichten fort. "Vom Blatt spielen", das berührende Schicksal der Pianistin Lilian Kallir, die Noten zwar sehen, aber ihre Bedeutung nicht mehr lesen konnte (musikalische Alexie, Notenblindheit), zeigt Lilians weit über eine bloße Bewältigung ihrer Erkrankung hinausgehende Strategien, um trotz ihrer Behinderung weiter ihren Beruf ausüben zu können. "Ins Leben zurückgerufen" erzählt von Patricia, die als Folge eines Schlaganfalls einen vollständigen Verlust der Sprache (Aphasie) erlitt. Nach geduldiger Therapie kann Pat, die Frau die nach Ansicht ihrer Töchter 24 Stunden am Tag redete, inzwischen mithilfe ihrer ausdrucksvollen Gestik und eines Bildlexikons erstaunlich intensive Gespräche führen. Der kanadische Schriftsteller Howard Engel verarbeitete seine Schriftblindheit (Alexie) nach einem Schlaganfall, der die Sehrinde beeinträchtigte, indem er auch seinen Krimihelden Benny Cooperman eine Alexie erleiden lässt. Engel setzt inzwischen zum "Schreiben" Geschichten aus den Bildern in seinem Kopf zusammen; er kann seine Texte selbst jedoch nicht lesen (The Man Who Forgot How to Read). Oliver Sacks selbst leidet unter einer seltenen Wahrnehmungsschwäche, er ist gesichtsblind (Prosopagnosie) und kann sich nur schwer räumlich orientieren. Gesichtsblindheit, bei der die Betroffenen sich selbst kaum im Spiegel erkennen können, wurde zunächst von anderen als bloße Exzentrik abgetan. Dass Sacks Bruder Markus ebenfalls gesichtsblind ist, (wie auch die bekannte Primatenforscherin Jane Goodall), lässt vermuten, dass die meisten Fälle angeboren und nur wenige erworben sind. 2005 erkrankte Sacks an einem Melanom des Sehnervs. Während der Behandlung musste der Autor sich mit der Entscheidung für die Behandlung der Krebserkrankung mit dem Verlust der Sehfähigkeit des betroffenen Auges abfinden. Der Verlust der Sehfähigkeit eines Auges beeinträchtig die Tiefenwahrnehmung. Gegenstände scheinen dem betroffenen Patienten überraschend entgegenzuspringen oder die Person gießt z. B. den Wein eine Armlänge vom Glas entfernt auf den Boden. Sacks füllte in der Zeit seiner Erkrankung mehrere Tagebücher mit seinem Erlebnissen als Patient. Ängste, Ungeduld, Selbstvorwürfe, Schmerzen, Hilflosigkeit wechseln in seiner minutiösen Selbstbeobachtung miteinander ab. Das abschließende Hörbuch-Kapitel "Das innere Auge" verdeutlicht, warum der Autor so ausführlich von der eigenen Gesichtsblindheit berichtet hat. Ein Gesichtsblinder kann sich anders als andere Erblindete keine Bilder oder Gesichter in Erinnerung rufen. Während andere Blinde ganze Landschaften und auch Farben vor ihrem inneren Auge entstehen lassen, herrscht für einen Gesichtsblinden, der seine Sehfähigkeit verliert, nur Schwärze. Oliver Sacks Geschichten lehren uns, wertzuschätzen was anderen fehlt und mit den Augen dieser anderen zu sehen.

Bewertung vom 03.01.2017
So oder so ist das Leben
Murail, Marie-Aude

So oder so ist das Leben


ausgezeichnet

Dr. Baudoin fühlt sich so hilflos wie unter Aliens, wenn er erschöpft in die abendliche Rush-Hour seiner Familie (berufstätige Eltern, Tochter, Sohn, Tochter) platzt. Vom häuslichen Lärmpegel überfordert fragt der Allgemeinarzt sich, warum seine Kinder, die er doch früher vergötterte, nun am liebsten jedes für sich vor dem Computer hocken. MSN, Onlinespiele, das volle Programm. Baudoin fühlt sich ausgebrannt; seine redseligsten Patienten schiebt er am liebsten an seinen jungen Assisten Chasseloup ab. Doch wenn ängstliche Patienten lieber bei Dr. Chasseloup bleiben wollen, weil er sich Zeit für sie nimmt, ist es dem Chef wieder nicht recht. Die 17-jährige Violaine Baudoin vermutet, dass sie vom ersten eher widerwilligen Sex "mit Aufpassen" schwanger geworden ist. Ein Schwangerschaftstest zeigt unübersehbar als Ergebnis positiv, doch Violaine traut sich nicht, ihrem in Gedanken stets abwesenden Vater und Hausarzt das Ergebnis mitzuteilen. Als Violaine und ihre Freundin Adelaide jünger waren, dachten sie sich gern Namen für die Kinder aus, die sie später haben wollten - die eine wünschte sich sechs, die andere gleich acht. Ein Jahr vor dem Abitur muss Violaine nun entscheiden, ob sie von einem Jungen ein Kind möchte, mit dem sie geschlafen hat, damit er sie nicht zickig findet. Violaine ist übel, ihr Körper fühlt sich fremd an. Abtreiben? - Nein. Ihr Kind zur Welt bringen? - Auch nein. Einen Rat vom eigenen Vater? - Ebenfalls nein. - Freundin Adelaide ergreift die Initiative und schleppt Violaine zu ihrer eigenen Ärztin (die keine Gynäkologin ist). Die putzt die junge Patientin forsch herunter. Ein Termin im Zentrum für Familienplanung, das ein armseliges Dasein in einer abgelegenen Ecke eines Krankenhauses fristet, endet ähnlich katastrophal. Die Mädchen haben den Tag erwischt, an dem nur die Eheberaterin Dienst hat. Die Beraterin Annie nähert sich dem Problem auf Umwegen; auch hier fühlt sich Violaine nicht ernstgenommen. Während Vater Baudoin erst durch einen Alptraum aus seiner familienbezogenen Lethargie geweckt wird, hat seine älteste Tochter längst einen Termin für einen medikamentösen Schwangerschaftsabbruch verabredet. In genau diesem Zentrum für Familienplanung arbeitet Chasseloup ohne Wissen seines Chefs an zwei Nachmittagen der Woche. Für Violaine wird dieser Zufall lebensrettend sein; denn beim Schwangerschaftsabbruch kommt es zu Komplikationen. Das ernüchternde Fazit aus Violaines Erlebnissen: Verlass' dich nicht auf Erwachsene; denn sie sind nur mit sich selbst beschäftigt. Helfen wird dir im Notfall zuerst deine gleichaltrige Freundin. Das Beratungs-Desaster bleibt leider unkommentiert und die märchenhafte Auflösung der Verwicklungen scheint eher Wunschvorstellung einer älteren Autorin zu sein. - Marie-Aude Murail trifft die Atmosphäre in einer Familie, in der alle gestresst aneinander vorbeihetzen, auf den Punkt und zeigt dabei verblüffenden Sprachwitz, der eher Erwachsene als Jugendliche schmunzeln lassen wird. Das Thema Schwangerschaftsabbruch, die Übermacht erwachsener Protagonisten und die Sprache des Textes richten sich m. A. an routinerte Leser, die sich unter "Niederkommen" oder "unpässlich sein" einer Frau noch etwas vorstellen können. Für den Ethikunterricht oder im Original (La fille du Docteur Baudoin) im Französisch-Unterricht kann ich mir die Geschichte sehr gut vorstellen. Warum französischen Jugendlichen anspruchsvolle Themen der Jugendliteratur in sehr viel jüngerem Alter als deutschen Lesern zumutbar sind, ist eine interessante Frage. - Abweichend von der Altersempfehlung des Verlags und der Artikelbeschreibung empfehle ich das Buch erst ab 16 Jahren.

Bewertung vom 03.01.2017
Eskandar
Shakib, Siba

Eskandar


sehr gut

Ein Jahrhundert persische Geschichte
Als eines Tages das Wasser versiegte, glaubte Eskandars Mutter, dass sie einen Fluch auf ihr Dorf gezogen hat, als sie einen Fremden ansah. Wir sind im südlichen Persien (heute Iran), im Jahr 1908. Seit Generationen sind die Dorfbewohner als Leibeigene des Stammesfürsten gewohnt, dass ihr Herr sich nimmt, was er braucht, auch Frauen und kleine Mädchen. Der kleine Eskandar wagt sich eines Tages als erster aus dem Dorf auf die hohe Sanddüne, die für die Menschen hier bisher das Ende ihrer Welt bedeutete. Eskandar berichtet, dass hinter der Düne Menschen mit gelben Haaren Löcher in den Boden graben. Diese Fremden haben Wasser, der Stammesfürst hat schlicht das Wasser zu ihnen umgeleitet und dem Dorf damit die Lebensgrundlage entzogen. Als Eskandars Mutters stirbt, schleicht der Junge sich ins Lager zu Mister Richard, der wegen seines Berufs schon seit Jahren von seiner Familie getrennt lebt. Eskandar lernt schnell und weiß sich im Lager der Erdölprospektoren nützlich zu machen. Eskandar erlebt als Augenzeuge die erste erfolgreiche Bohrung nach Erdöl auf persischem Staatsgebiet mit. Der Junge schnappt die Sprache der Fremden mühelos auf und saugt wie ein Schwamm Geschichten und Informationen auf. Mister Richard ermöglicht seinem wissbegierigen Pflegesohn Unterricht. Der Mullah dort, der Eskandar u. a. unterrichtet, wird als Richter, Hakim und Vorbeter respektiert. Je mehr Eskandar selbst lernt, umso klarer wird ihm, dass viele der Mullahs kaum etwas darüber wissen, was außerhalb ihres Dorfes geschieht. Nicht nur Eskandar weiß, dass man die richtigen Worte finden muss, um die Menschen zu erreichen. Der Khan will die Geschichten der großen persischen Helden aus Eskandars Fundus zur militärischen Ausbildung nutzen. - Eskandar arbeitet als Diener, Schreiber, Händler und lernt - wieder durch einen glücklichen Zufall - von einem Fremden das Fotografieren und Entwickeln von Fotos. Aus dem elternlosen Jungen ist ein gebildeter Mann geworden, der darin aufgeht, die Zeitgeschichte Persiens in Wort und Bild zu dokumentieren. So ist es Eskandars Aufgabe, den Lesern die Motive der ausländischen Mächte zu erklären, die den schwachen persischen König gegen die Demokratiebewegung im Land stützten, um das Erdölgeschäft in der Hand zu behalten. - Mit dem Fortschreiten der Handlung ist mir der wissbegierige kleine Junge entglitten; denn Eskandar dient nun der Dramaturgie der Autorin, die eine Zeitspanne von 70 Jahren beschreiben und die persische Geschichte bis in die Gegenwart abhandeln will. Mit jedem Kapitel, das ich aufschlug, hatte ich den Eindruck, einer Geschichten-Erzählerin in einem Teehaus zu lauschen. Die Autorin weckt Verständnis für einige Sitten, die Europäern fremd erscheinen mögen. Wer gelernt hat, dass nur Frauen selbst einkaufen gehen, die keine Diener, Brüder oder Söhne haben, wird nichts Negatives daran finden können, wenn Frauen das Haus nicht verlassen. Eskandar erkennt bei seiner Hochzeitsfeier, dass der Mullah die Hochzeitsformel falsch spricht, weil er den Text nur auswendig aufsagt, ohne selbst Arabisch lesen oder verstehen zu können. Ein subtiler Hinweis auf die dem Islam vorgeworfene mangelnde Reformbereitschaft. - Krieg, Armut und fehlende Schulbildung werden wie Naturgesetze geschildert. Eskandars häufiges zufälliges Zusammentreffen mit wohltätigen Gönnern wirkt doch sehr unwahrscheinlich. Am fesselndsten fand ich Szenen aus den Haushalten, in denen Eskandar diente, und die entschiedene Stellungnahme seiner Frau zum Verbot der Verschleierung im Zuge der Reformen durch Reza Schah Pahlavi. In Aftabs Urteil, dass sie als moderne Frau Diskussionen über Bekleidung nicht fortschrittlich findet, können sich vermutlich noch heute viele muslimische Frauen wiederfinden. Mich hat das Vermitteln von Geschichte in Geschichten nicht bis zum Ende der Handlung begeistert, obwohl mich Eskandars Erlebnisse sehr berührt haben.

Bewertung vom 03.01.2017
Wer bin ich, wenn ich online bin...
Carr, Nicholas

Wer bin ich, wenn ich online bin...


sehr gut

Je klüger die Software, desto dümmer der Nutzer
Die Entstehung der Schrift und des Buchdrucks, wie auch die Entwicklung einer exakten Zeitmessung führt Carr als Beispiele für entscheidende Änderungen des menschlichen Bewusstseins durch neue Technologien an. Der Autor, dessen eigene PC-Karrriere 1986 begann, stellte bei sich selbst ein Nachlassen seiner Konzentrationsfähgigkeit und häufig abschweifende Gedanken beim Lesen fest. Den Grund vermutet er im Multitasking und in ständiger Ablenkung durch eingehende Nachrichten während der Arbeit am PC. Selbst Wissenschaftler und Studenten geisteswissenschaftlicher Fächer lesen inzwischen keine Bücher mehr, Zeitungen werden abbestellt, wenn die Abonnennten den Eindruck haben, die Inhalte längst zu kennen, beklagt Carr. Dass das Zeitungs-Layout dem von Webseiten angepasst wurde - die Meldungen sind kürzer, oberflächlicher, mehr Fotos füllen die Seiten - kann die Abwanderung von ehemaligen Zeitungslesern zu Online-Medien nicht mehr stoppen. - Nachdem man lange glaubte, das Gehirn eines Erwachsenen würde sich nicht mehr verändern, ist inzwischen dessen Neuroplastizität bekannt und anschaulich zu erklären (Taxifahrergehirn). Carr führt zahlreiche Untersuchungen von Online-Aktivitäten an, die beweisen, dass die Gehirne geübter Internet-Nutzer anders arbeiten als die ungeübter Personen und dass diese Veränderung sehr schnell zu bewirken ist. Unsere Konzentrationsfähgikeit hängt entscheidend vom Arbeitsgedächtnis ab, das er sich wie einen Fingerhut vorstellt, der bei Überlastung schnell überlaufen kann, noch ehe sein Inhalt ins Langzeitgedächtnis umgefüllt werden konnte. Auch das Entziffern des Hypertexts auf Webseiten, das Bewerten von Links und die Wahrnehmung von Werbung am Rand einer Webseite schwächen anders als reiner Text die Fähigkeit, das Gelesene zu verstehen und zu behalten. Untersuchungen der Blickbewegung hätten gezeigt, dass online gelesene Texte anders gelesen werden und die Verweildauer auf einer Seite zu kurz sei, um den Text komplett lesen zu können. - Am Beispiel Googles, für das selbst der Blauton der Werkzeugleiste genauestens an Versuchspersonen erforscht wurde, setzt sich Carr kritisch mit einer seiner Ansicht nach neuen Form des Taylorismus auseinander (Suchprozesse seien in Einzelschritte zerlegbar und optimierbar). Am Beispiel Google Books verdeutlicht Carr eigenwillige Ansichten des Konzerns zu den Rechten noch lebender Autoren, die einzeln Widerspruch gegen das Einlesen ihrer Werke einlegen müssen. Für Google sei ein Buch kein geschlosssenes Werk, sondern allein eine wirtschaftlich nutzbare Datenmenge. Warum das Gleichsetzen von Intelligenz mit effizienter Datenverarbeitung durch Google ein Irrtum ist, belegt Carr ausführlich und mahnt, dass die Auslagerung von Problemlösungen, z. B. durch die Nutzung unterstützender Software, die Problemlösungskompetenzen von Teams vermindert. - Die Beschreibung des Status Quo an der Schnittstelle zwischen zwei technologischen Welten und die generelle Erklärung der Hirntätigkeit nehmen die Hälfte von Carrs Buch ein. Die angeführten Beispiele (Taxifahrergehirn, Aufgabe des Hippocampus) können bei interessierten Lesern als bekannt vorausgesetzt werden. In der zweiten Hälfte setzt Carr sich mit der Wirkung elektronischer Medien auf unser Denken auseinander. Dass die Nutzung elektronischer Medien die Konzentrations- und Urteilsfähgikeit der Nutzer nachhaltig beeinträchtigt, kann der Autor anhand mehrer Untersuchungen belegen - die Befürchtung ist also keine reine Projektion. Seine Quellen führt er übersichtlich im Anhang auf. Für mich enttäuschend war, wie sehr das Buch in der ersten Hälfte dem von Maryanne Wolf ähnelt, das in den USA bereits 2007 erschienen ist.

Bewertung vom 03.01.2017
Der Professor
Katzenbach, John

Der Professor


gut

Wettlauf gegen das Vergessen
rofessor Adrian Thomas leidet an schnell fortschreitender Lewy-Körper-Demenz, zu deren Krankheitsbild starke Halluzinationen gehören. Thomas hat keine Angehörigen mehr, seine Frau und sein Sohn leben nicht mehr, und ist deshalb entschlossen, sich das Leben zu nehmen. Er wird auf keinen Fall abwarten, bis er kein bekanntes Gesicht mehr zuordnen kann und nicht mehr weiß, ob er an diesem Tag schon gefrühstückt hat. Als Psychologieprofessor, der in der Forschung tätig war, weiß Adrian nur zu gut, wie die Krankheit die Vorgänge in seinem Stirnlappen aus dem Ruder laufen lässt - Adrian wird aus dem Fenster seines Hauses zufällig Zeuge, wie direkt vor seinen Augen völlig überraschend ein Mädchen von einem Mann und einer Frau in einen Transporter gezerrt wird. Zurück bleibt eine pinkfarbene Kappe. Indem Adrian den Vorfall bei der Polizei gemeldet hat, sorgte er unbewusst für vollendete Tatsachen. Er kann sich jetzt kaum noch umbringen, während die Polizei ihn als Zeugen braucht. - Jennifer, das Mädchen, das in so entschlossenem Schritt an Adrians Haus vorbeimarschierte, wird kurze Zeit später von ihrer Mutter und deren Lebensgefährten vermisst gemeldet. Niemand fordert für Jennifer Lösegeld. Ein sehr schlechtes Zeichen; denn es bleibt nur wenig Zeit, um Jennifers Spur aufzunehmen. Zuständig für den Fall ist Terri Collins, die perfekt organisierte alleinerziehende Mutter zweier kleiner Kinder. Terri war als Ermittlerin bisher nur mit alltäglichem Kleinkram befasst und muss nun in einem unlösbar scheinenden Fall ermitteln. Terris einziger Zeuge ist ein alter Mann in so erbärmlichem Gesundheitszustand, dass die Ermittlerin sich fragt, wie Adrian überhaupt noch Autofahren kann. - Jennifer wird unterdessen mit verbundenen Augen gefangen gehalten und bewusst darüber getäuscht, wo sie sich befindet, um ihren Willen zu brechen. Kameras verfolgen rund um die Uhr jede Regung der Gefangenen. Als jjennifers Kreditkarte gefunden wirde, ahnt Terri, dass jemand mit großem Aufwand Spuren zu verwischen sucht. Adrian fühlt sich von den Stimmen seiner verstorbenen Frau Cassandra, seines Bruders und seines Sohnes angestachelt, sich mit Hilfe seines Wissens als Forscher in mögliche Täter zu versetzen. Ein spannender Wettlauf um Jennifers Leben und gegen Adrians geistigen Verfall beginnt. - John Katzenbachs Psycho-Thriller lebt von der Gedankenwelt seiner beiden Hauptfiguren Adrian und Jennifer, deren Gedanken der Autor mit bemerkenswerter Einfühlung beschreibt. Adrian Thomas ist Wissenschaftler und Patient in einer Person. Seine sehr eigene Logik eines Demenzkranken arbeitet der Autor eindrucksvoll heraus. Auch Jennifers disziplinierter, entschlossener Kampf sich von ihren Entführern nicht zum Objekt, zur Nummer, degradieren zu lassen hat mich stark fasziniert. Dagegen konnte Katzenbach mich mit der restlichen Handlung kaum fesseln, weil mich weder die vielen Nebenfiguren interessierten noch Adrians verstorbene Familienangehörige, deren Stimmen ihn ständig belästigen. Der filmreife und für mich überraschende Schluß leidet m. A. unter sprachlichen und logischen Mängeln. In einer dramatischen Schlußszene geht niemand mal eben zu einem Punkt, da rennt jeder um sein Leben. - Die unangemessene Wortwahl/Übersetzung fällt vorher schon in anderen Szenen auf, zum dramatischen Schluss passt die in diesem Fall betuliche Sprache gar nicht. - Die Idee, einen in seiner geistigen Leistungsfähigkeit beeinträchtigten Mann zur Hauptfigur eines Psychothrillers zu machen, hat mich für dieses Buch gewonnen, die Ausführung hat mich nicht überzeugt. Ich konnte dem Autor nicht abnehmen, dass ein Demenzkranker, der schon längst daran scheitert, seinen Alltag zu organisieren, so zielgerichtet handelt wie Adrian. Seine Angehörigen, die Adrian in seinen Halluzinationen zu sich sprechen hört, treiben ihn dazu an, sich für ihn völlig neue Informationen zu beschaffen; er arbeitet mit diesen Stimmen wie in einem Ermittlerteam.

Bewertung vom 03.01.2017
Muslim Girls
Masrar, Sineb El

Muslim Girls


ausgezeichnet

Junge muslimische Frauen von heute
... sind ehrgeizig, modebewusst, sie wollen sich stärker in den Medien und in der Werbung repräsentiert sehen, schreibt Sineb El Masrar, 1981 als Tochter marokkanischer Einwanderer in Deutschland geboren. Muslim Girls pauken für die Schule und verbringen Freizeit in Online-Communities. Selbstverständlich gibt es unter muslimischen Mädchen Beauty Girls, It-Girls, Natural Muslim Girls, die Beruf und Familie miteinander verbinden möchten, und ehrgeizige High Potential Muslim Girls. Das Bild vom Leben muslimischer Frauen gründet sich bei Nichtmuslimen noch immer auf klischeelastige Filme wie "Nicht ohne meine Tochter" und auf Abbildungen in vermeintlich kritischen Magazinen, die vollständig schwarz verschleierte Frauen in der Ansicht von hinten zeigen. Dass muslimische Frauen nicht den ganzen Tag weinend und unterdrückt zu Hause herumsitzen, will El Masrar mit gezielten Nadelstichen verdeutlichen. Die Gründerin des multikulturellen Magazins Gazelle stellt klar, dass ein Kopftuch für eine verheiratete muslimische Frau ein angemessenes Kleidungsstück ist, NUR ein Kleidungsstück und deshalb deren persönliche Angelegenheit. Wir erfahren, was genau eine Burka, ein Nijab, Hidschab und Tschador sind, die alle aus der Golfregion stammen. Deutlich wird, dass die als Rechtfertigung für Unterdrückung und Gewalttaten angeführte Angst um den Ruf muslimischer Familien nicht zu den Regeln des Islam gehört. Die Zuwanderung hochqualifizierter Akademiker aus dem Iran nach Deutschland (und die erfolgreiche Integration ihrer Kinder) zeigt, dass nicht pauschal alle Muslime als Türken etikettiert werden dürfen, wie ja auch nicht alle Migranten aus den Nahen Osten Muslime sind. "Staatsangehörigkeit heisst, man will an der Gesellschaft teilnehmen, dort wo man sich befindet" stellt El Masri für sich fest und untersucht, warum nur 20% der Muslime in Deutschland sich als Deutsche betrachten. Der deutsche Pass allein genügt dazu offenbar noch nicht. - Die Biografie der Autorin ist ein Paradebeispiel für den Bildungserfolg junger muslimischer Frauen, der häufig erst auf Umwegen erreicht wird. Sie lobt ihren weltoffenen Vater, stellvertretend für viele ehrenamtliche Hausaufgabenhelfer die Mutter einer Klassenkameradin, die mit beiden Mädchen für die Schule übte, Öffentliche Bibliotheken, die den Wissenshunger ihrer Generation stillten, und nennt ihren eigenen Ehrgeiz, zur Realschule zu gehen, um Französich zu lernen. Sparmaßnahmen zu Lasten der Einrichtungen, die Bildung und Chancengleichheit von Kindern mit Migrationshintergrund fördern, widersprechen der derzeit von Politikern vehement eingeforderten Verpflichtung zur Integration. - Eine klare Stellungnahme gibt Sineb Al Masrar für Deutsch als gemeinsame Sprache aller in Deutschland lebenden Menschen ab. Öffentliche Mittel sieht sie am Sinnvollsten in die frühkindliche Erziehung investiert, wo alle Kinder davon profitieren können, statt sie direkt den Eltern in die Hand zu geben. - Mit ansteckendem Humor, teils auch erfrischend respektlos, teilt die Autorin eine Fülle wissenswerter Details aus dem Alltag muslimischer Familien mit. Sie nimmt zum Klassenfahrtsverbot für muslimische Mädchen Stellung, lobt muslimische Frauen als Wirtschaftsfaktor (173 000 Betriebe werden in Deutschland von Frauen mit Migrationshintergrund geführt), informiert über Mode, Kosmetik und türkische Web-Communitys. Eine mediale Parallelwelt, die aktuell als Ursache misslungener Integration beklagt wird, sieht El Masrar nicht, da Migranten laut einer aktuellen Befragung mehrere Fernsehsender nutzen, auch deutsche. Unerwartet für mich war, wie hier eine junge Muslimin offen beschreibt, dass es wegen der Ungleichbehandlung von Mädchen und Jungen in muslimischen Familien heftigen Streit geben kann. - Ein Buch, das das Lebensgefühl junger muslimischer Frauen in flotter Sprache vermittelt und das ich mit Gewinn gelesen habe.

Bewertung vom 03.01.2017
Nie so wie du
Lichtenstein, Olivia

Nie so wie du


sehr gut

Aussöhnung mit der Mutter
Als Ros verstorbene Mutter Lillian zu ihrer Tochter spricht und ihr wie zu Lebzeiten Vorschriften macht, Ros sogar durch ein Medium Kontakt zu Lillian aufnimmt, hätte ich das Buch am liebsten ungelesen zurückgestellt. Doch Olivia Lichtenstein hat eine so trockene Art, ihre Figuren zu charakterisieren und handeln zu lassen, dass ich mich trotzdem in der Mutter-Tochter-Geschichte festgelesen habe.

Als Kind fand Ros ihre Mutter mit den ewigen Anekdoten über afrikanische Musik und exotische Lebensmittel extrem peinlich. Roz Freundinnen hingen dagegen gespannt an Lillians Lippen. Ros wollte einfach eine Mutter haben, Freundinnen hatte sie in der Schule, nicht dieses ständige Generve, Lillian sei die beste Freundin ihrer Tochter. Lillians Ratschläge schienen Ros so nutzlos, schließlich lebte sie in der Gegenwart und nicht in den 50er Jahren in Kapstadt. Lillians jüdisches Erbe war offenbar der Grund, dass sie in Gedanken immer nur das Schlimmste erwartete - und ihre Tochter davor warnen wollte. Dennoch hatte Lillian sämtliche Binsenwahrheiten ihrer Mutter exakt abgespeichert. Dazu gehörte, dass Mike nicht der richtige Mann für Ros sei.

Die erwachsene Ros ist Mitte vierzig als ihre Mutter überraschend stirbt. Ros und ihr Mann Mike sind mit Lillians Tod die Elterngeneration in der Familie geworden. Besonders Ros fällt es schwer die neue Rolle anzunehmen. Das familiäre Gleichgewicht gerät vollends aus dem Takt, als Mike sich von Ros trennt und die erwachsenen Zwillingssöhne das Haus verlassen. Ros und Mike können sich nur mit Mühe auf ein gemeinsames Sorgerecht für ihren Hund einigen.

Mit dem drohenden Klimakterium im Nacken tritt Ros jeden Tag mutig ihren pubertierenden Schülern entgegen. Die Kluft zwischen den Generationen löst sich an der Schule offenbar gerade auf, treffen sich doch die frisch tätowierte Lehrerin und gepiercte schlägernde Schülerinnen zum Rapport auf derselben Bank vor dem Zimmer der Direktorin. Ros tritt an, um ihre Midlife-Krise mit einem umfassenden Veränderungsprogramm in Schach zu halten. Esokokolores nennt sie es: Frisör, Yogakurs, Bachblüten, Nahrungsergänzungsmittel, Tattoo. Ros probiert alles aus, was die Kassen der Wellness-Branche füllt. Als Ros sich bei LovingNew.com, einem Internet-Dating-Portal anmeldet, wird ihr klar, dass eine berufstätige Frau wie sie kaum Zeit für einen neuen Lover aufbringen kann. Charlie, der treue schwule Freund der Familie, Pate der beiden Söhne, versteht offensichtlich mehr von Ros Gefühlen als sie selbst. Charlie weiß, dass Gelegenheitssex Frauen nicht glücklich machen kann.

Ein Koffer mit Lillians Erinnerungsstücken aus der Zeit um 1950 konfrontiert Ros damit, dass ihre Mutter als junge Studentin für den ANC in Südafrika arbeitete und einen Schwarzen liebte. Ein ungewöhnlicher Lebenslauf für eine weiße Südafrikanerin - eine völlig andere Person als die nörgelnde Stimme Lillians, die Ros noch im Ohr hat. Ein Brief von Gloria, der Jugendfreundin der Mutter, enthält den ersten Teil eines umfangreichen Manuskripts, das Lillian für die Wahrheits- und Versöhnungskommission in Südafrika über die politische Arbeit ihrer Gruppe geschrieben hat. Ros benötigt erst einen kräftigen Anstoß anderer, um zu erkennen, wie einsam Lillian in England war und wie wenig Ros sich bisher für das Leben ihrer Mutter interessiert hat.

Die Gefahr, dass die Handlung durch Lillians Stimme aus dem Jenseits ins Melodramatische kippt, bekommt Olivia Lichtenstein mit ihrem ausgeprägten Sinn für Ironie in den Griff. Ros Midlife-Krise, die Dialoge, sämtliche Nebenfiguren (Schüler, der Hundetyp, der Babysimulator) wirken mitten aus dem Leben gegriffen - von herrlich exzentrisch (Charlie) bis herrlich bescheuert (Versace). Trotz eines vorhersehbaren Schlusses und einer Hauptfigur, die sich für ihr Alter ab und zu recht blöd anstellt, empfehle ich Ros Spurensuche voller Überzeugung für Ihr Bücherregal "Hühnersuppe für die Seele".

Bewertung vom 03.01.2017
Das Haus Nire
Kita, Morio

Das Haus Nire


ausgezeichnet

Momoko, die dritte Tochter der Familie Nire, strolcht gern auf dem Gelände der Nervenklinik herum, die ihr Vater Kiichiro Nire in der Nähe von Tokyo leitet. Am liebsten hält sich Momoko in der Nähe der Küche auf, wo sie unbemerkt Gespräche mitanhört, die nicht für Kinderohren bestimmt sind. Die Handlung des üppigen Familienromans beginnt 1918 zum Ende des Ersten Weltkriegs und endet mit Japans Niederlage im Zweiten Weltkrieg. Kiichiro, der Patriarch, wurde von seinen Eltern einer anderen Familie zur Adoption überlassen. Bei der ersten Gelegenheit lief er seinen Adoptiveltern weg. Der alte Nire setzt die Tradition der Adoption fort, indem er begabte junge Männer aus seiner Heimatprovinz fördert und ihnen in seiner Klink eine Beschäftigung verschafft. Wer sich anstrengt, kann in den erweiterten Clan aufgenommen werden, vorausgesetzt er ordnet sich dem System Nire unter. Einige von Kiichiros Schützlingen werden später Medizin studieren und als Arzt in die Klinik zurückkehren. Kiichiros Frau Hisa bleibt zunächst in der Rolle der Kapitalgeberin im Hintergrund; ihre traditionellen Wertvorstellungen prägen das Familienleben und den Betrieb der Klinik entscheidend. - Aus der Sicht der fünf Kinder Kiichiros laufen bei Nao Shimoda, dem Kindermächchen, alle Fäden zusammen. Nanny Shimoda erzieht Momoko und ihre Geschwister, in späteren Jahren auch die folgende Generation von Nires. Auf der zweiten Tochter Seiko liegen hohe Erwartungen; denn sie soll sich wie schon die Älteste der ehrgeizigen Heiratspolitk ihrer Mutter unterordnen. Warum die schwer zu bändigende Tochter Momoko sich weitgehend selbst überlassen bleibt, gibt beim Lesen Rätsel auf. Als Erwachsene wird sich Momoko fragen, ob ihre Eltern sie deshalb nicht beachteten, weil man auf sie nicht stolz sein konnte. Einer der beiden leiblichen Söhne, Oshu, studiert bereits, der Adoptivsohn Zaosan soll aufgrund seiner Statur Karriere als Sumo-Ringer machen. - Tetsukichi, Ehemann der ältesten Tochter Ryuko verfolgt nach seiner Rückkehr aus Japan das Entstehen des Nationalsozialismus und den Beginn des Zweiten Weltkriegs. Shunichi, der älteste Sohn, sieht sich hohen Erwartungen gegenüber. Shunichi und die führungsstarke Tochter Aiko werden im Mittelpunkt des dritten Teils des Buches stehen. Sohn Oshu wird von Ryoku im Dienste der Familie verheiratet. Shuji, der jüngste Sohn, zeigt schon früh alle Merkmale eines Sorgenkindes. - Der alte Nire war überzeugt davon, dass die Patienten nur ihrem Arzt vertrauen müssen, um geheilt zu werden. Behandelt wurden psychische Erkrankungen mit Bädern und der Gabe von Placebos. Auf die Veränderungen in der japanischen Gesellschaft und in der Psychiatrie kann sich Kiichiro in seinem Alter kaum noch einstellen. Dass es zu Konflikten zwischen leiblichen, adoptierten und angeheirateten Kindern des Familien-Clans kommen wird, ist abzusehen. Während seine Kräfte nachlassen, sieht sich Kiichiro mit der Nachfolgeregelung für sein Lebenswerk konfrontiert. Charakteristisch ist die Konstellation für asiatische Kulturen, in denen einem Mitglied der erweiterten Familie stärker vertraut wird als einem qualifizierten Fachmann von außerhalb. - ... Das kränkelnde System einer Nervenklinik, der die Vaterfigur abhanden gekommen ist, beschreibt Morio Kita mit Charme und Ironie. ... Seine kritisch-liebevollen Personenbeschreibungen umfassen die Gedanken kleiner Mädchen wie die von Soldaten, die stärker im Kampf gegen Hunger und Läuse aktiv sind als in der Kriegsführung. Sein Blick aus Japan nach Europa verknüpft die Handlung mit dem zeitgeschichtlichen Hintergrund. In die Erlebnisse der vielen Personen aus zwei Generationen findet man sich trotz ihrer ungewohnten Namen leicht hinein. Der Kontrast zwischen drinnen und draußen, äußerem Schein, Illusion und Wirklichkeit wird von Mori Kita mit einem ironischen Unterton entlarvt, der mich bei einem japanischen Autor sehr überraschte (ein Nachttopf als importiertes Symbol deutscher Kultur).