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Buchdoktor
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Deutschland
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Romane, Krimis, Fantasy und Sachbücher zu sozialen und pädagogischen Tehmen interessieren mich.

Bewertungen

Insgesamt 612 Bewertungen
Bewertung vom 03.01.2017
Garamonds Lehrmeister
Cuneo, Anne

Garamonds Lehrmeister


ausgezeichnet

In Form eines von ihm verfassten Manuskripts, das die Zeit von 1515 bis 1535 umfasst, erzählt Claude Garamond das Leben seines Meisters Augereau. Im 16. Jahrhundert war ein Drucker zugleich Verleger und Buchhändler. Für jeden Schrifttyp mussten die einzelnen Buchstaben geschnitten, Matritzen hergestellt und die Lettern gegossen werden. Ein Drucker musste damals Handwerker und Buchhändler zugleich sein. Er druckte im Kunden-Auftrag, war aber auch immer auf der Suche nach Texten, die er drucken und verkaufen konnte. Zur Zeit Garamonds und Augereaus waren Drucker meist vielseitig gebildete Universaltalente, die nicht nur handwerkliche Kenntnisse hatten, sondern lesen und schreiben konnten, sowie über sehr gute Lateinkenntnisse verfügten. Garamond ist 10 Jahre alt, als er mit dem Drucker-Handwerk in Kontakt kommt und sich entscheidet nicht Tuchhändler wie sein Vater zu werden. Der Junge verfolgt seinen Weg hartnäckig und trifft in Augereau auf einen ebenso zielstrebigen geduldigen Lehrmeister, der das außergewöhnliche Talent seines Lehrlings erkennt und fördert.
Mit Garamond und Augereau lässt Anne Cuneo zwei liebenswerte, offene Persönlichkeiten aufeinandertreffen. Während Garamond lebenslang daran arbeitet, ein erstklassiger Drucker zu werden und sich als reinen Handwerker ansieht, befasst sich Augereau auch mit dem Inhalt der gedruckten Texte und den gesellschaftlichen Veränderungen der neuen Zeit. Selbst vielseitiger Generalist und stark in den Traditionen seines Metiers verwurzelt, nimmt Augereau im Buch die Rolle des Visionärs ein und empfiehlt Garamond, sich auf das Schriftschneiden zu spezialisieren. Auch Bocard, der Vater von Augereaus verstorbener erster Frau, entwickelt im Roman eine Vision. Sein Ziel ist es die Schriften lesbarer zu machen, damit gedruckte Texte allen Menschen zugänglich werden.
Bis zum Beginn der Handlung in der Mitte des 16. Jahrhunderts wurden Bücher nicht in der Sprache des Volkes gedruckt sondern in den Sprachen der Wissenschaft, Latein oder Griechisch. Die durch Martin Luther in Deutschland ausgelöste Auseinandersetzung um die von der Pariser Sorbonne als Ketzerei gebrandmarkte Übersetzung des Neuen Testaments ins Französische ziehen Garamond und Augereau in einen Religionskrieg, der Augereau am Ende das Leben kosten wird.
Wer sich für die Schwarze Kunst begeistern kann, erhält von Anne Cuneo Einblick in die traditionelle Ausbildung im Druckerhandwerk und kann verfolgen, mit welch immenser Geduld Augereau als väterlicher Lehrmeister auf die Begabung und die Persönlichkeit seiner Lehrlinge eingeht. Am Beispiel der Reisen nach Venedig zu Manutius und nach Poitiers, in die Heimat Augereaus, können wir den regen Austausch unter Handwerkern innerhalb Europas miterleben.
In ihrem Roman "Garamonds Lehrmeister" lässt die Autorin Anne Cuneo Claude Garamond über seine Lehrzeit bei Antoine Augereau berichten und vermittelt ihren Lesern so ein lebendiges Bild des Druckhandwerks im 16. Jahrhundert. Mit Liebe zum historischen Detail rückt Cuneo die vergessene Persönlichkeit Augereau zurück ins Rampenlicht. Die aus Garamonds Erinnerungen erzählte Geschichte hat mich wegen dieser Erzählperspektive außergewöhnlich gefesselt. Als Mann, der beinahe am Ende seines Lebens angekommen ist, erinnert sich Garamond in dem Bewusstsein an seine Lehrzeit, dass seine Erinnerungen ihn in einigen Fällen auch täuschen könnten. Fasziniert hat mich besonders die Darstellung der Druckerzunft in Frankreich, die meinen stark auf Gutenberg zentrierten Blick auf unser Nachbarland erweiterte. Mit einem erklärenden Vorwort, der Bibliographie der Drucke Augereaus, einem Quellenverzeichnis und ausführlichen Erläuterungen, wie Cuneo ihre Quellen genutzt hat, ist dieser biografische Roman eine runde Sache. Im Anhang wird deutlich, wie die Autorin von den wenigen verfügbaren Fakten zu ihrer persönlichen Darstellung der Ereignisse gelangt ist.

Bewertung vom 03.01.2017
Das Ende der Geduld
Heisig, Kirsten

Das Ende der Geduld


sehr gut

Simple und wirkungsvolle Vorschläge
Für ihr aufrüttelndes Plädoyer, Kinder, besonders aus Familien mit Migrationshintergrund, vor einer Karriere als Schulabbrecher und Intensivtäter zu bewahren, zieht Kirsten Heisig Daten aus ihrer Tätigkeit als Jugendrichterin im Berliner Bezirk Neukölln heran. Der Stadtteil mit 300.000 Einwohnern, die aus mehr als 160 Nationen stammen, gelangte durch das engagierte Auftreten des Bezirksbürgermeisters Heinz Buschkowsky in den Mittelpunkt öffenlichen Interesses. Die Autorin konzentriert sich auf beispielhafte kriminelle Karrieren von Jugendlichen aus anonymisierten abgeschlossenen Strafverfahren, die sich auch bei Kindern deutscher Herkunft meist schon sehr früh abzeichnen. Am Schicksal der Kevins und Kimberleys in Berlin-Pankow zeigt sie die Kombination aus Vernachlässigung, Alkoholkonsum der Eltern, Schulabbruch und Gewalt auf. Schon an ihrem ersten Arbeitsplatz erlebte Heisig das Durchreichen von gefährdeten Kindern zwischen Familie, Pflegefamilie und Heim, bis sie auf der Straße landeten. Der Blick in den Alltag einer Jugendrichterin zeigt, was eine zügige Strafverfolgung verhindert und entlarvt die Forderung nach neuen Gesetzen oder strengeren Strafen durch Politik und Medien als Populismus. Die deutschen Gesetze sind nach Heisigs Erfahrung ausreichend, sie müssten nur konsequent und bei Jugendlichen zügig umgesetzt werden. Eine schnelle Reaktion sei gerade bei noch nicht strafmündigen Jugendlichen wichtig, die durch Sachbeschädigung oder Beleidigung zum ersten Mal die "Muskeln spielen lassen". - ... Studien mit dem Ergebnis, die Kriminalität Jugendlicher sei in Deutschland inzwischen rückläufig, widersprechen laut Heisig dem Erleben der Bürger. Dass die befragten Neuntklässler allein dadurch, dass sie es überhaupt bis zur 9. Klasse geschafft haben, schon keine repräsentative Auswahl aus ihrer Alterskohorte sein können, lässt Heisig an der Aussagekraft einer dieser Studien zweifeln. - Heisig moniert, dass 20% der Hauptschüler in Neukölln die Schule schwänzen, ohne dass Eltern oder Behörden einschreiten, obwohl der Zusammenhang zwischen Schuleschwänzen und Straftaten belegt ist. ... Eines der größten Hindernisse bei der Bekämpfung von Gewaltkrimminalität unter Jugendlichen ist nach Heisig die mangelhafte Kommunikation zwischen Jugendamt, Polizei und Gerichten. Datenschutz wirke hier längst als Täterschutz. Als Grund für die erschreckende Gewaltkriminalität Jugendlicher, die mit den Mitteln der Strafjustiz nicht mehr zu bewältigen sei, führt Heisig das Versagen der Eltern, sowie eine von Armut und Drogenkonsum geprägte Kindheit an. Den ursächlichen Zusammenhang zwischen Computernutzung und Gewalt kann sie nicht belegen. Heisigs reflexartiges Gleichsetzen eines Lebens unter der Armutsgrenze mit Gewalt und Alkoholkonsum empfand ich als einseitig populistisch. - ... Politiker, die sich zukünftig zur Jugendkriminalität äußern, werden sich daran messen lassen müssen, wie sie es mit einer verbesserten Polizeipräsenz in der Öffentlichkeit und einer Personalausstattung der Gerichte halten, die die von Heisig geforderte zügige Strafverfolgung sicherstellt. (In Berlin stehen 48 von 326 rechnerisch vorhandenen Staatsanwalts-Planstellen in der Praxis nicht zur Verfügung.) - Heisigs Streitschrift ist dort überzeugend, wo sie konkret aus ihrer täglichen Praxis berichtet und mit Zahlen aufwarten kann. Ihr Ton klingt desillusioniert, beinahe zynisch. Wenn Heisigs weit über ihre tägliche Arbeitszeit hinaus engagierte Tätigkeit als Statsanwältin und Jugendrichterin in "ihrem Kiez" in der scherzhaften Bemerkung eines Rektors gipfelt "Frau Heisig, den Elternabend halten wir beide dann in einer Telefonzelle, da sind wir wenigstens zu zweit," versteht man, wie ihre kompromisslose Schelte unverbesserlicher Sozialromantiker zustande gekommen ist.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 03.01.2017
Ich hatte vergessen, dass ich verwundbar bin
Vigan, Delphine de

Ich hatte vergessen, dass ich verwundbar bin


sehr gut

Der Tag, an dem sich alles ändern sollte
Was gerade mit Mathilde passierte, konnte sie nur mit ihren heranwachsenden Söhnen besprechen; es Außenstehenden mitzuteilen, war für Mathilde völlig unmöglich. Sowie ihr ältester Sohn in die Vorschule eingeschult wurde, hatte sich die früh verwitwete Mathilde um eine Stelle beworben. Jacques gegenüber, der sie für den verantwortungsvollen Job in einem internationalen Nahrungsmittelkonzern eingestellt hatte, fühlte sich Mathilde seit jener Zeit zu besonderer Loyalität verpflichtet. Nachdem Mathilde ihrem Chef bei der Präsentation einer Kundenumfrage öffentlich widersprochen hatte, wird sie von ihm geschnitten. Ihre Aufgaben erhält Mathilde nur noch auf unpersönlichem Weg. Jacques entzieht sich jedem Versuch eines Gesprächs, kontrolliert Mathilde, kritisiert sie aus banalsten Anlässen. Jacques mobbt Mathilde. Wenn ihr ständig erklärt wird, sie sei erschöpft, sei eine schwierige Kollegin, wird Mathilde bald wirklich erschöpft oder schwierig sein. Mathilde behandelt Jacques zunächst nachsichtig als sei er ein übel gelauntes Kind, versucht durch besonderen Fleiß ihre Situation zu verbessern. Doch schon bald ist nicht zu übersehen, dass sich Mathildes Kollegen von ihr zurückziehen. Statt der besonderen Begegnung mit einem Mann, die Mathilde von einer Wahrsagerin prophezeit wurde, sitzt eine Praktikantin an Mathildes Abeitsplatz. Mathilde muss in ein fensterloses Kabuff direkt neben den Toiletten umziehen; ihr Zugang zu den Firmendaten ist blockiert. Ihre Kollegen sehen betreten zur Seite, niemand wagt, sich auf ihre Seite zu stellen. So kann es nicht weitergehen.

Auch in Thibaults Leben muss sich dringend etwas ändern. Der junge Arzt arbeitet als angestellter Notarzt. Thibault hetzt von einem Einsatz zum anderen durch den Großstadtverkehr, erledigt die Galeerenjobs, die unangenehmen Aufträge. So manches Mal wird er von alten oder einsamen Menschen gerufen, die seit Wochen mit niemandem mehr gesprochen haben. An seinen freien Wochenenden trifft Thibault sich mit Lila, die sich ihm hingibt, ohne ihn zu lieben. Thibault müsste sich endlich von Lila trennen.

Thibault und Mathilde sind jeder in seiner Weise in einer düsteren Ecke der französischen Metropole eingesperrt (der Originaltitel lautet Les heures souterraines, die Stunden unter der Erde). Mathilde ist auf besondere Art mit der Welt der Tunnel und Unterführungen verbunden. Sie fürchtet in der ohnehin gespannten Situation, morgens den Zug zu verpassen und zu spät zu kommen. Thibault wird regelmäßig zu Notarzteinsätzen in die U-Bahn gerufen. Werden die Wege des Notarztes und der im Beruf kaltgestellten Mathilde sich kreuzen? Könnte Thibault die besondere Begegnung sein, die Mathilde prophezeit wurde?

Delphine de Vigan zeigt in "Ich hatte vergessen, dass ich verwundbar bin" ihr Talent, alltägliche Ereignisse in eben dem Moment zu schildern, in dem beinahe unmerklich die Normalität in eine Katastrophe umzukippen droht. Die Summe der Kleinigkeiten, die sich erst in der Menge als bösartig erweisen, die Alltagsroutine, die sich wie ein ein unüberwindlicher Berg vor den Protagonisten auftürmt, vermittelt de Vigan meisterhaft. Thibault meint an dem geschilderten besonderen Tag im Mai, alles habe sich gegen ihn verschworen. Mathilde hat sich durch den Zuspruch ihrer Freundin Laetitia darin bestätigt gefühlt, dass "es aufhören muss". Wie Mathilde durch die Isolierung am Arbeitsplatz jede Lebensfreude verliert, was Mobbing für den Betroffenen bedeutet, auch wie zermürbend die tägliche Routine für Thibault wirkt, bringt die Autorin uns mit knapp gesetzten Worten nahe. In ihrem kurzen Text lässt de Vigan die Gefühlswelt ihrer Figuren verblüffend lebendig werden.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 03.01.2017
Rabenliebe
Wawerzinek, Peter

Rabenliebe


ausgezeichnet

Ein Vater, der seine eigene Rolle nicht reflektiert
Der Mann erinnert sich an sich als kleinen Jungen, der aus dem Fenster Raben und Schnee beobachtete. In den wichtigen Momenten in Wawerzineks Leben muss es immer geschneit haben. Bilder - das Kind spricht von sich in der dritten Person, es beschreibt was es sieht und nicht was es fühlt. Die Mutter war eines Tages verschwunden, hatte ihre Kinder unversorgt zurückgelassen. Das Kind sprach nicht; denn mit ihm wurde nicht gesprochen, die Erwachsenen sprachen nur über ihn, er wurde transportiert, abgeliefert, mit Essen versorgt. Essen war damals wichtig, gut genährt wurde mit gesund gleichgesetzt. So war es auch die Köchin des staatlichen Kinderheims, die dem viel zu dünnen kleinen Peter Extraportionen zusteckte, die bemerkte, dass er als einziges Kind keinen Besuch und keine Pakete von Zuhause erhielt. Die Köchin machte den ersten mißlungenen Versuch, den kleinen Jungen selbst aufzuziehen. Ein weiterer Versuch misslingt, weil die adoptierenden Eltern den langersehnten Stammhalter erwarten, ein perfektes Kind, und nicht darüber nachgedacht hatten, wie ein Heimkind ihren Ansprüchen genügen soll. Auch die dritte Familie hatte ein Bild, dem sich das Kind fügen musste. Hier lernt Peter "das Handwerk des Adoptivsohnes". Der Junge verweigert sich durch seine Wortwahl, indem er grundsätzlich nicht von Adoptivmutter und -vater, sondern von Adoptionseltern spricht. Das Lehrerehepaar verbietet dem Jungen jeden Kontakt zu anderen Kindern aus dem Heim und nimmt dem, der keine Wurzeln hat, seine Identität. Auch hier wird Beziehung durch Essen hergestellt, die Großmutter, die den Haushalt führt, ist Peters wichtigste Bezugsperson. Dass man Kinder wie Peter damals über ihre leiblichen Eltern belog, war nicht ungewöhnlich. - Wawerzinkes Kindheitserinnerungen gehen abrupt in Kinderverse über, die für ihn damals nur auswendig gelernte Worte gewesen sein werden, ohne Bezug zu seinem Leben. Aus dem, was dem kleinen Peter in seiner Kindheit gefehlt hat, lässt sich ableiten, was ein Kind braucht, um glücklich heranzuwachsen. Unterbrochen wird der Text von Pressemeldungen über vernachlässigte und von den Eltern getötete Kinder. Jeder einzelne Fall von Vernachlässigung der letzten 10 Jahre wird hier aufgeführt, jeder dieser Fälle wird Wawerzinek persönlich getroffen haben. Die Auflistung demonstriert, dass nicht nur Mütter wegen Vernachlässigung vor Gericht gestellt werden, sondern auch Väter oder Partner der Mütter. Die Dokumentation von Vernachlässigung muss auch dem Autor deutlich gezeigt haben, dass seine lebenslange Suche nach der Mutter das vaterlose Aufwachsen in den ersten zehn Lebensjahren vernachlässigt. Versorgt und erzogen wird entweder vom Staat und von Mutti. Als ein Mitpatient im Krankenhaus Wawerzinek Jahre später mitteilt, sein Lebenstier sei der Kolkrabe, schließt sich für ihn ein Kreis. - Wawerzinek hat das Stimmungsbild einer Kindheit in den 50ern komponiert, Kohlenkeller, Einmachgläser, mit dem Finger angetaute Löcher in den zugefrorenen Fensterscheiben, Teppichklopfer - Ost und West waren sich damals noch sehr nahe. Erst mit dem Bau der Mauer, den Grenzposten, die er an der Ostsee trifft, und dem Wehrdienst des Autors entsteht das Bild einer DDR-Jugend. Ein bewegendes Bild ist das Salz auf den Lippen - obwohl die Heim-Kinder in Sichtweite des Meeres aufwuchsen, wussten viele von ihnen noch nicht, was Meerwasser ist. Sprachlich ist Rabenliebe ein Buch mit Ecken, Kanten und kräftigen Widerhaken, das es dem Leser nicht leicht macht. - Dass man mit Kindern sprechen muss, damit sie sprechen lernen, dass jede Persönlichkeitsentwicklung unbedingt das Wissen über die eigene Kindheit und Familiengeschichte voraussetzt, sind allgemeingültige Einsichten. Die Allgemeingültigkeit versöhnt damit, dass Wawerzinek in seinem biografischen Roman die Auseinandersetzung mit seinem Vater bewusst vermeidet, die Grundlage der Reflektion seiner eigenen Vaterrolle hätte werden können.

Bewertung vom 03.01.2017
Die Kinder der Elefantenhüter
Høeg, Peter

Die Kinder der Elefantenhüter


ausgezeichnet

Nebentätigkeiten eines Pfarrer-Ehepaars
Peter ist vierzehn und wächst in einem protestantischen Pfarrhaus auf der dänischen Insel Finø auf. Die Insel ist so klein, dass dort alle Kinder gemeinsam in einen Kindergarten und in eine Schule gehen können. Viele der üben mehr als einen Beruf aus. Bermuda ist Hebamme und zugleich für die Beerdigungen zuständig, Peters Mutter spielt die Orgel und sorgt als Pyrotechnikerin auf der Insel für Feuerwerkszauber. Fein ziselierte Spitznamen der Inselbewohner verdeutlichen, dass der Erzähler nicht der einzige fabulierfreudige Insulaner ist. Mit der Gelassenheit, die ein Pfarrerskind zum Überleben braucht, berichtet Peter von seiner 93-jährigen buckligen Urgroßmutter, die sich noch an den Ersten Weltkrieg und an die Spanische Grippe erinnern kann. Nach Meinung des jungen Erzählers sind er selbst und sein Hund die einzig Normalen in der Pfarrersfamilie. Einen Eindruck von Peters Talenten zum Spinnen von Seemannsgarn erhalten Sie auf www . tiltes-insel . de. Um den Tourismus anzukurbeln, erfanden Peter und seine Schwester Tilte für den Insel-Prospekt Tierarten, die es nirgendwo sonst auf der Welt gibt. - Peters altkluge, bildhafte Erzählweise hat mich sofort gefesselt. Peter bezeichnet seine Eltern als Elefantenhüter; denn im Leben des Pfarrer-Ehepaars gibt es Ereignisse oder Sehnsüchte, die selbst Eltern nicht unter Kontrolle haben. Peters Mutter hat zuletzt an einem Stimmerkennungsmechanismus getüftelt, mit dem sich Türen öffnen oder Lampen anschalten lassen. Nun sind beide Eltern verschwunden. Dass die Gemeindeverwaltung die kurzfristig elternlosen Peter und Tilte in Obhut genommen hat, passt den beiden gar nicht; denn sie wollen dringend mit Unterstützung eines weiteren Bruders eigene Ermittlungen zum Verschwinden der Eltern anstellen. Schwester Tiltes Interessen drehen sich alle um den Tod; Tilte hat in der Familie die Rolle der religiösen Zweiflerin übernommen, die mit Vater Konstantin Grundatzdiskusisonen über Fragen der Religion führte. In einer Nebenrolle der ältere Bruder Hans, Student der Astrophysik. Zu klären ist nun, ob Peters Eltern etwa religiöse Scharlatane sind, Anlagebetrüger oder sogar in eine weltweite Verschwörung verwickelt wurden? Mit ausgeprägt makabrem Humor erzählt Peter von der märchenhaften Villa Kalle Kloaks, des Kanalisations-Baumeisters, und schleicht sich schließlich als blinder Passagier auf die "Weißen Dame", bevor das Schiff in Richtung Kopenhagen ablegt. Als das Figurenarsenal Zuwachs durch eine saudische Prinzessin und eine gut gekühlte Leiche erhielt, hing meine Aufmerksamkeit kurze Zeit durch, doch Peter bekam die Sache schnell wieder in den Griff. Beim Verfassen des Touristen-Prospekt hatte der Erzähler ja gelernt, wie man sein Publikum fesselt und manipuliert. - Peter Høeg lässt seine abenteuerliche Geschichte von einem hinreissenden Erzähler mit Anspielungen auf Religion, Fundamentalismus und Hirnforschung untermalen. "Wenn ein Erzähler den Leser erreicht, öffnet sich eine Tür", teilt Peter uns aus seinem reichen Erfahrungsschatz mit. Peter erreicht seine Leser mit dem Bild von den elefantengroßen Geheimnissen, die seine Eltern zu verbergen haben. Høegs jugendlicher Ich-Erzähler kokettiert schamlos mit seiner Jugend und verkündet zugleich erstaunlich tiefgründige philosophische Gedanken. Der makabre Humor des Ich-Erzählers, verknüpft mit übersprudelnder Lust am Fabulieren, haben mich in Peter Høegs neuem Roman sofort in ihren Bann gezogen. Die enge Geschwisterbeziehung und die spürbaren Liebe der Kinder zu ihren exzentrischen Eltern holen den Leser aus den Höheflügen ins Absurde immer wieder auf den Boden der Realität zurück. -
Wenn Sie auf groteske Ereignisse in protestantischen Pfarrhäusern empfindlich reagieren, sollten Sie diese temporeiche Geschichte meiden. Wer sich von Larsens Die Karte meiner Träume oder Chabons Die Vereinigung jiddischer Polizisten gut unterhalten fühlte, sollte dagegen unbedingt zugreifen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 03.01.2017
Der Erziehungstest
Rogge, Jan-Uwe

Der Erziehungstest


ausgezeichnet

Rogges großes Erziehungsquiz
"Das kindliche Handeln spiegelt seine Entwicklung." Dieser wichtige Satz steht im Nachwort des Buches. Die Reifung ihres Kindes müssen Eltern lernen zu erkennen und anzunehmen. Jan-Uwe Rogges Erziehungs-Test soll den Lesern Spaß machen, er soll nicht aufzeigen, welche Fehler Eltern in der Erziehung machen oder welche Defizite an ihren Kindern zu beklagen sind. In lockerer Reihenfolge fragt der Autor nach bekannten Erziehungsproblemen vom Trotzalter bis zur Pubertät und bietet zu jeder Frage drei Möglichkeiten an, wie Eltern reagieren könnten. Wenn man die Seite umblättert, erfährt man auf der Rückseite, welches Verhalten Rogge für angemessen hält. Meist stellt er eine Lösung für gute Tage vor und zeigt in einer anderen Antwort Verständnis dafür, dass nicht immer gelingt, was Eltern theoretisch wissen. Seine Botschaft: Sie wissen selbst, dass Sie konsequent handeln sollen; ich als Autor weiß, dass die Tagesform leider oft nur für den weniger anstrengenden Weg in der Erziehung reicht. Indem der Autor das angestrebte Verhalten als Möglichkeit aufzeigt, regt er seine Leser an, ihr Verhalten zu überdenken.

Eltern bei der schwierigen Aufgabe zu unterstützen, ihre Kinder ins Leben zu begleiten, gelingt Rogge in gewohnt humorvoller Art. Er erinnert daran, dass Kinder nur das Verhalten zeigen können, das ihrer Entwicklung entspricht. Aufgabe der Eltern ist es, die kindliche Logik nachzuvollziehen und sich zu fragen: Kann mein Kind das, was ich von ihm erwarte, überhaupt schon? Rogge betont die Bedeutung von Ritualen im Familienalltag und mahnt, Kinder nicht zu überfordern. Wie auch in seinen anderen Büchern erklärt er den Unterschied zwischen Strafe und Konsequenz. Wir lernen, wie man angemessen Kritik am Verhalten seiner Kinder übt und wie am besten Grenzen aufgezeigt werden. Mütter, die sich den Mund fusslig reden anstatt konsequent zu handeln, stellt der Autor - auch wie gewohnt - überzeichnet dar.

Wut, Geschwisterstreit, kindliche Ängste, Hilfe im Haushalt, Tischmanieren, Fernsehen und Computernutzung, Schulprobleme, Klauen und Petzen, Faszination von Spielzeugwaffen, Grenzüberschreitungen der Pubertät, sexuelle Aufklärung, Markenfimmel, Konflikte um die Erziehung zwischen Vater und Mutter/Eltern und Großeltern, Umgang mit dem Tod, Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Rogge deckt mit seinen Tipps die gesamte Kindheit ab.

Die Idee, Erziehungsfragen in sehr kurze Kapitel zu packen, gefällt mir. Die Nutzung des Buches wäre durch ein alphabetisches Register stark zu vereinfachen. Jede Form von Quiz ermuntert Kinder, ihre Eltern abzufragen, was sie z. B. denn über das Trotzalter wissen. Eine bessere Eröffnung zu einem Gespräch über Erziehung kann ich mir kaum vorstellen.

Bewertung vom 03.01.2017
Buchbinden - vom Handwerk zur Kunst
Weston, Heather

Buchbinden - vom Handwerk zur Kunst


ausgezeichnet

Eine lohnende Anschaffung
Heather Weston, die einen Master of Arts in Buchkunst am Londoner College of Arts erwarb, führt vom Einfachen zum Anspruchsvollen in die Kunst des Buchbindens ein. Zahlreiche Abbildungen zeigen die nötigen Werkzeuge, Papiere, Einbandmaterialien und Kleistervarianten. Die einfache Heftung wird anhand eines Ganzleinenbandes mit einer Lage gezeigt; die aussagekräftigen Abbildungen benötigen zur Erklärung nur einen knappen Text. Die Proportionen von Buchblock, Einbandpappe und Überzugsmaterial sind deutlich zu erkennen. Ein Deckenband mit mehreren Lagen wird als Halbleinenband gefertigt. Übersichtlich ist das benötigte Material aufgelistet und anschaulich wird gezeigt, wie ohne Heftlade an der Tischkante geheftet werden kann. Eine einfache Klebebindung, eine Bindung mit Buchschrauben und die japanische Blockheftung werden vorgestellt. Wer die klassischen Modelle beherrscht, kann sich am Doppelbuch versuchen oder an Flaggenbuch und Karussellbuch, die beide auf der Leporelloform basieren. Die Mappe mit Klappen und Bändern wird plausibel erklärt, alle Einzelteile und ihre Maße übersichtlich aufgelistet. Eine besondere Herausforderung bietet ein Buch mit einer Landschaft auf hintereinanderliegenden Ebenen, die mit dem Papiermesser geschnitten und als gefaltetes Leporello in die Buchdecke eingehängt wird. Während Reliefs zum Schmuck der Einbanddecke selbst aus Pappe geschnitten werden können, muss der ambitionierte Buchbinder Klischees oder Stempel aus Metall zur Verzierung der Buchdecke im Fachbetrieb anfertigen lassen. Spiralfalz und einfaches Pop-Up bilden den Übergang zu Objekten der Autorin und weiteren Buchkünstlern, die auf der Grenze zwischen Buch und Kunstobjekt angesiedelt sind. Das Infinity Book von Anne Rizk (hier als Kunstobjekt abgebildet), das auf einer Leporellofaltung beruht, kann auch von Anfängern gearbeitet werden. Die Literaturliste im Anhang empfiehlt ausgewählte Klassiker der Buchbindeliteratur und führt vier bewährte Bezugsquellen für Buchbindematerial auf.

Heather Weston zeigt, wie Anfänger mit einfachen Mitteln selbst Bücher in zeitgemäßem Design binden können und regt Könner an, sich an neue Formen zu wagen. Die meisten Arbeitsgänge werden schon durch die zahlreichen Abbildungen von selbst erklärt. An Stellen, an denen besonders sorgfältig gearbeitet werden muss (z. B. die Ecken der Buchdecke), wären weitere Detailzeichnungen hilfreich gewesen - wie eine andere Rezentin schon feststellte. Besonders zu loben sind die Auflistung des benötigten Materials und der Maße der einzelnen Komponenten für jedes Werkstück. Insgesamt eine lohnende Anschaffung.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 02.01.2017
Glückstadt
Jaskulla, Gabriela

Glückstadt


ausgezeichnet

Johannes - Diagnose: Muskeldystrophie Typ Duchenne - Lebenserwartung 20 Jahre
Ein toter junger Mann wird im Müll gefunden, dessen Körper von zahlreichen Operations-Narben bedeckt ist. Sein Name: Johannes Grundig, seine Mutter: Sabine Harms. Die Erklärung für den von Krankheit gezeichneten Körper: Johannes litt an Muskeldystrophie vom Typ Duchenne, einer unheilbaren Erbkrankheit, die zur Verhärtung und Verkümmerung aller Muskeln führt. Die Erkrankten haben eine Lebenserwartung von ungefähr 20 Jahren. Johannes Grundig hat zuletzt in einer Behinderteneinrichtung gelebt. Der Fund des Toten trifft Sabine Harms unvorbereitet - sie ahnte nicht, dass auch ihr Sohn in Glückstadt lebte. Als Trägerin des defekten Gens wurde der Mutter die Schuld an Johannes Behinderung zugeschoben. - Bei der Räumung von Johannes Zimmer im Heim findet Sabine im PC ihres Sohnes eine Reihe von Dateien mit dem Titel "Das Dreamteam", die den Dialog des Schwerkranken mit seinem Pfleger Stephan dokumentieren. Johannes Mutter sieht sich in den Aufzeichnungen damit konfrontiert, wie ihr behinderter Sohn der Welt allmählich verloren ging. Sabine, die Außenstehenden gegenüber nie zu erkennen gab, dass sie einmal ein Kind hatte, liest nun, was sie nie wissen wollte. Kurz vor Johannes Tod waren seine an Stephan gerichteten Texte möglicherweise der einzige Weg, auf dem er sich noch mitteilen konnte. Als Journalistin und ehemalige Setzerin, die am Arbeitsplatz täglich mit Texten zu tun hat, ist Sabine mit Johannes hinterlassenen Texten besonders zu verletzen. - Gabriela Jaskulla legt unscheinbare Köder aus, die als kritische Anmerkungen zur Mutterrolle verstanden werden könnten. Sie weist kaum verschlüsselt auf Marianne Bachmeier hin, die den Mörder ihrer Tochter erschoss, und auf Monika Widmer, die beschuldigt wurde, ihre Töchter ermordet zu haben. Auch wenn die Autorin den Ausdruck abgebende Mutter verwendet, taucht im Kopf des Lesers der Begriff Rabenmutter aus dem Märchen auf. Wie war es möglich, dass eine Mutter so komplett den Kontakt zu ihrem Kind verlieren kann wie Sabine? Man fragt sich, wie Johannes Vater seinen Sohn völlig ignorieren kann und warum wir keinen Begriff für Väter kennen, die ihre Frau und und ihr behindertes Kind verlassen; ein in betroffenen Familien sehr häufiges Ereignis. - ... Aus den Erinnerungen des Pflegepersonals an Johannes und den von ihm hinterlassenen Texten trägt Sabine Harms allmählich mosaikartig das kurzes Leben ihres Sohnes zusammen. Wer sich nicht mehr bewegen kann, muss mit dem Kostenträger um die Finanzierung jeder kleinsten Handreichung kämpfen, hat aber auch unendlich viel Zeit, absurden Ideen nachzuhängen. Sabine sieht sich damit konfrontiert, wie ein Behinderter durch körperliche Einschränkungen und seine Pflegebedürftigkeit zum Objekt wird. "Ein Objekt, das für die anderen auf einem Objektträger zugerichtet wird", nennt es Johannes. Wie kann ein Körperbehinderter seine Intimsphäre wahren und wie hat jemand, der sich nicht einmal selbst am Kopf kratzen kann, Sex? Die Auflösung des Rätsels, wie Johannes aus seinem Leben verschwand und ausgerechnet in den Müll gelangte, fügt sich schließlich in seine unangepasste, unwillkommene Existenz. - "Glückstadt" habe ich als verstörenden Roman über einen unheilbar kranken, sehr schwierigen Mann und seine Mutter empfunden. Die Lebensbedingungen von körperbehinderten Heimbewohnern hat Gabriela Jaskulla beeindruckend exakt recherchiert. Ihre Danksagungen an ihre Informanten vermitteln eine Ahnung davon, wie eine gesunde Autorin sich der Gedankenwelt eines Körperbehinderten annähern kann. Keine der Figuren macht es dem Leser in ihrer Unangepasstheit leicht. Dass Gabriela Jaskulla mir die zunächst so unnahbar wirkende Sabine in ihrer Rolle als Nicht-Mutter im Laufe der Handlung sehr nahe brachte, macht ihr Buch zu einem unvergesslichen Erlebnis - wie auch ihre ungeschminkte Darstellung der Sexualität eines Behinderten.