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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 878 Bewertungen
Bewertung vom 05.05.2018
Speicher 13
McGregor, Jon

Speicher 13


weniger gut

Trau, schau, wem?

Der Klappentext von Jon McGregors Roman «Speicher 13» lockt den Leser in ein narratives Labyrinth, aus dem es lange keinen Ausweg zu geben scheint, in dem man sich anfangs fühlt wie «im falschen Kino». Unwillkürlich denkt man dabei «Trau, schau, wem?», denn den üblichen genretypischen Signalen zum Trotz ist dieses neue Buch des britischen Autors eben kein Krimi, sondern ein veritabler Gesellschaftsroman, der den sozialen Mikrokosmos einer kleinen, ländlich geprägten Gemeinde zum Gegenstand hat. Der in Deutschland bisher weitgehend unbekannte, kreative Schriftsteller benutzt dafür eine ausgeklügelte Erzähltechnik, die ganz ohne bedeutungsschwere Symbole und gängige Klischees auskommt und so gekonnt Atmosphäre erzeugt, dass man sich erstaunlicherweise bald schon als Mitbewohner des namenlosen englischen Dorfes fühlt.

Was vordergründig als Plot dient, ist schnell erzählt. Ein dreizehnjähriges Mädchen wird während des Urlaubs nach einer Wanderung mit ihren Eltern als vermisst gemeldet. Sie bleibt trotz intensiver Suche unauffindbar, und es kursieren bald allerlei Gerüchte unter den Dorfbewohnern. Fast schon sadistisch den Krimifans gegenüber streut der auktoriale Erzähler immer wieder mal einige knappe Sätze über die Suche nach der Vermissten mit ein in seine Geschichte, die aus dem Leben der Dorfbewohner berichtet. Denn genau das, nicht die Tragödie selbst, ist sein eigentliches Thema, der Alltag einfacher Menschen also im Ablauf der immer größer werdenden zeitlichen Distanz von dem albtraumhaften Ereignis.

Den dreizehn Kapiteln des Romans entsprechen dreizehn Jahre Erzählzeit. Gleich im ersten Kapitel findet sich schon der Satz «Um Mitternacht wurde das Neue Jahr in der Stadt hinter den Bergen mit einem Feuerwerk begrüßt», der dann jeweils variiert auch in sämtlichen folgenden Kapiteln als erster Satz fungiert, und zyklisch wiederholt sich hier auch vieles andere, Jahr um Jahr. Bevölkert wird diese Erzählung von mehreren dutzend Figuren, die wie beiläufig in den Erzählfluss eingeführt werden und vom Leser erst nach und nach, mit den sich allmählich ansammelnden Details zur Person, stimmig in das soziale Geflecht eingeordnet werden können. Ein Spickzettel ist unabdingbar, will man den Durchblick behalten über die verschachtelten Beziehungen der vielen Figuren. Wobei anzumerken ist, dass dieses üppige Figurenensemble keine signifikanten Unterschiede Einzelner in der Bedeutung für das Erzählte aufweist, es gibt nur dutzende Nebenfiguren, - oder Hauptfiguren, ganz nach Gusto! Das Kollektiv als solches also steht im Fokus des Autors, und es wird kein Aspekt des Lebens ausgespart dabei. Alle Generationen sind vertreten, Geburt, Liebe, Alter, Krankheit, Tod sind die ständigen Begleiter. Breiten Raum nimmt die Natur ein, immer wiederkehrend wird von Flora und Fauna berichtet, letztere wird von Füchsen, Dachsen, Rehen, Bussarden, Reihern und anderem Getier bevölkert. Ergänzt durch die allgegenwärtigen Schafe natürlich, man lebt von Schafzucht in diesem mittelenglischen Landstrich. Manche Details, manche Bräuche des dörflichen Lebens sind schwer zu verstehen ohne vertiefte regionale Kenntnisse.

Diese Chronik von der Monotonie des heutigen Dorflebens jenseits der ländlichen Idylle wird in einem auffallend distanzierten Ton erzählt. In strenger Form zudem, geradezu simpel im Satzbau, damit dem Leben ähnelnd, über das da mit zumeist kurzen Hauptsätzen trocken und wortkarg berichtet wird. Typische Merkmale dieser sehr zurückgenommenen Erzählweise sind darüber hinaus die ständigen, teilweise wörtlichen Wiederholungen von bereits Erzähltem, außerdem die schnellen erzählerischen Wechsel, die im gleichen Absatz oft mehrere Szenen ohne jedweden Kontext abrupt aneinanderreihen. Er wolle zeigen, hat der Autor erklärt, «wie sich Menschen ändern». Dafür aber sind äußerst aufmerksame Leser erforderlich, die sich von der sprachlichen Monotonie und den vielen bloßen Andeutungen McGregors nicht entmutigen lassen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 01.05.2018
Prawda
Hoppe, Felicitas

Prawda


gut

The fear starts here

Was der Buchtitel «Prawda» verheißt, «Wahrheit» nämlich, das findet sich in den eigenwilligen Romanen der Büchner-Preisträgerin Felicitas Hoppe eher selten, ihr literarisches Markenzeichen ist vielmehr ihre mit Komik angereicherte, überbordende Phantasie, - «Eine amerikanische Reise» ist also alles andere als ein touristischer Bericht. Auf den Spuren zweier russischer Schriftsteller, Ilja Ilf und Jewgeni Petrow, folgt Hoppe achtzig Jahre später deren von der Zeitung «Prawda» initiierten Reise durch die USA. Die beiden waren damals als Autorenduo mit ihren satirischen Romanen überaus populär, und nach ihrer viermonatigen Amerikatour verfassten sie das amüsante Buch «Einstöckiges Amerika» sowie einen Fotoband. Ihnen zu Ehren wurde 1982 ein neu entdeckter Kleinplanet «3668IlfPetrow» benannt.

«Red Ruby» tauft die reiselustige Felicitas Hoppe im September 2015 den rubinroten Ford Explorer (nomen est omen), mit dem sie in weniger als sechzig Tagen die USA durchqueren will, den beiden Russen folgend, etwa zehntausend Meilen liegen vor ihr. Mit an Bord sind drei in einem skurrilen Auswahlverfahren selektierte Reisegefährten, deren Schrulligkeit allein dem Roman schon eine amüsante Färbung gibt. Da ist zunächst mal Foma, der einzige Mann der Gruppe, ein Landschaftsgärtner mit russischen Wurzeln «auf der Suche nach dem größten Kaktus der Welt». Er wechselt sich mit MsAnnAdams am Steuer ab, einer sich geradezu zwanghaft an ihre Handtasche klammernden und den «Distanzplan» in Händen haltenden Kettenraucherin aus Wien, die mit wahrhaft enzyklopädischem Wissen gesegnet ist. Jerry Miller aus Halle schließlich arbeitet an einem fotografischen Projekt mit dem beziehungsreichen Arbeitstitel «Bräute am Wegrand». Die zwar nicht führerscheinlose, aber fahrunwillige Autorin, die sich «Frau Eckermann» nennt, sitzt hinter dem Fahrer auf der Rückbank des geräumigen SUVs, in ihrem «Torcqueville-Erker», und zitiert immer wieder mal den französischen Historiker Alexis de Torcqueville, dessen berühmtes Hauptwerk «De la démocratie en Amérique» sich ebenfalls auf eine Amerikareise gründet.

Zu den Sehenswürdigkeiten, die das muntere Quartett ansteuert, gehören unter anderen die Niagarafälle, die Werkstatt von Thomas Edison, die Ford-Werke in Detroit, ein elektrischer Stuhl, der Zaun von Tom Sawyer, das kuriose Museum für den Wirbelsturm Katrina, zwischendurch hält Hoppe Vorträge bei «Radio Goethe». Sie besucht auch Frankensteins Haus, über dessen Eingang es aus dem Maul einer schaurigen Maske tönt: «The fear starts here», - ein Slogan, der sich noch öfter findet im Roman. Unfreiwillig verbringt die Ich-Erzählerin eine Nacht in einem Bergwerksstollen, trifft den Maler Brueghel den Allerjüngsten, den «Pharao» Barak Obama im Weißen Haus, schließlich die Regie-Legende Quentin Tarantino. «Schriftsteller halten sich niemals an Fakten», heißt es beziehungsreich im Roman, und so ist denn diese mit Skurrilem üppig angereicherte Reise in jeder Hinsicht weit eher ein Ausflug in poetische Sphären denn ein faktenbasierter Bericht.

Diese hoppesche Sicht der Dinge, ausschließlich literarisch bestimmt also, ist eine Art Gegenwelt zur schnöden, so gar nicht froh machenden Realität, ihre poetisch gefärbte Perspektive ist nur von eigenen Phantasien befeuert und artikuliert sich in einer kreativen, mit Sinnsprüchen, Neologismen und Zitaten durchsetzten Sprache. «Notieren Sie das bitte, Gentlemen!» fordert Hoppe schnippisch immer wieder ihre Leser auf. Erfreulich ist auch die komödiantische Intertextualität des Romans, deren amüsanteste für mich das immer wieder neu abgewandelte Zitat des berühmten ersten Satzes aus Tolstois «Anna Karenina» ist. Nicht alle Besonderheiten ihres spezifischen Schreibstils aber haben mich überzeugt, ihr «wirklich (tatsächlich)» beispielsweise hat mich sogar ziemlich genervt, manchen Leser dürfte zudem auch der furiose Wirbel mit wilden Phantasmagorien und Assoziationen schwindelig machen. The fear starts here?

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 26.04.2018
Ragtime
Doctorow, E. L.

Ragtime


ausgezeichnet

Und das war gut so

Hoch geehrt, mit Preisen überhäuft geradezu, gehört Edgar Lawrence Doctorow zu den Maßstab setzenden Autoren Amerikas, ihm gelang 1975 der Durchbruch mit «Ragtime», dem besten seiner zwölf Romane, der Charly Chaplin zum Weinen brachte und vom ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama als sein Lieblingsbuch genannt wurde. Doctorow wurde von seinen Eltern dezidiert nach einem anderen literarischen Giganten benannt, Edgar Allen Poe nämlich, - nomen est omen! Zu seinen deutschen Fans zählt insbesondere Daniel Kehlmann, - auch kein literarisches Leichtgewicht übrigens -, der E. L. Doctorow in einem FAZ-Artikel so überschwänglich gelobt hatte, dass ich mich, neugierig geworden, spontan an die Lektüre von «Ragtime» machte. Und das war gut so!

Den Gattungsbegriff «Historischer Roman» hat der Autor abgelehnt für sein Buch, gleichwohl ist es mit seinen vielen realen Figuren eine ebenso informative wie amüsante Zeitreise durch das Amerika der Epoche zwischen Jahrhundertwende und Erstem Weltkrieg. Zu den prominenten Protagonisten zählen der Autopionier Henry Ford und der Banker J. P. Morgan ebenso wie die Anarchistin Emma Goldman und der Entfesselungskünstler Harry Houdini, aber auch der Polarforscher Robert Edwin Peary und der Pionier der Psychoanalyse Siegmund Freud. Ein nicht in die Handlung einbezogener, namenloser Ich-Erzähler berichtet in der Rahmenhandlung vom stereotypen Leben seiner Familie in der Kleinstadt New Rochelle unweit von New York, sein Vater ist Fabrikant von Fahnen und Feuerwerkskörpern. Held des Romans ist ein farbiger Jazzpianist, den der Autor, - offensichtlich nach erfolgter Kleist-Lektüre -, Coalhouse Walker jr. nennt, ein amerikanischer Michael Kohlhaas. Dessen Furor wird ausgelöst durch eine demütigende Begegnung mit einem rassistischen weißen Pöbel, den Männern der Feuerwehr, die seinen funkelnagelneuen Ford Model T in purer Bosheit übel zurichten. Und auch hier findet der gnadenlos Gedemütigte, wie sein deutsches Vorbild, keine Unterstützung, wird sein Verlangen nach Gerechtigkeit, nach Bestrafung der Täter und Wiedergutmachung des Schadens, höhnisch abgewiesen. «Ein Mann sieht rot» lautet der Titel eines Spielfilms mit ähnlicher Thematik, und auch Coalhouse rächt sich auf unglaublich raffinierte und ebenso fürchterliche Weise.

Die leider heute noch bestehende Rassenproblematik und die skandalösen gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten im «Land der unbegrenzten Möglichkeiten», - welche ja auch im Negativen unbegrenzt sind -, stehen thematisch im Mittelpunkt des Romans. Sprachlich dem Titel folgend wird die Geschichte in einfachen Sätzen rhythmisch vorangetrieben, den Synkopen eines Scott Joplin vergleichbar, stakkatoartig eng aufeinander folgend. Die Charaktere sind stimmig beschrieben, sie stehen plastisch vor dem Auge des Lesers in parallelen Erzählsträngen, die klug ineinander verwoben den Plot voranbringen, wobei sich die Spannung, dramaturgisch geradezu mustergültig, ständig steigert bis hin zum letzten Kapitel. Dem bis dorthin geradezu zwingend vorgezeichneten und Amerika-typischen Showdown folgt ein kurzer, versöhnlicher Ausblick auf das weitere Schicksal der Figuren.

Die raffinierte Verknüpfung von historischen Fakten, die als Versatzstücke in den Roman eingebaut sind, mit den fiktionalen Erzählmotiven des Romans ist wahrhaft meisterlich, die deutlich durchscheinende Ironie gibt häufig Anlass zum Schmunzeln. Mit seiner in Episoden erzählte Geschichte ist der Roman eine kluge Abrechnung mit dem «American Dream», jenem laut Sigmund Freud «gigantischen Irrtum», dem die vielen Figuren gleichwohl unbeirrt nachjagen. Dieses breit angelegte Panorama mit New York als zentraler Bühne ist nicht nur beste Unterhaltung, ein Stimmungsbild dieser Epoche, es bietet auch einiges Wissenswerte. «Das Leben eines Schriftstellers ist so riskant, dass alles, was er tut, schlecht für ihn ist», soll Doctorow gesagt haben. Wie auch immer, «Ragtime» zu schreiben war jedenfalls gut für den Leser.

Bewertung vom 21.04.2018
Nur ein Spielmann
Andersen, Hans Chr.

Nur ein Spielmann


gut

Ein verkannter Poet

Wer Andersen sagt, meint Märchen, - und versäumt durch diese ebenso weit verbreitete wie voreilige literarische Zuordnung womöglich, auch den Romancier Hans Christian Andersen kennen zu lernen. Der dritte seiner insgesamt sechs Romane, 1837 erschienen, brachte ihm vor allem in Deutschland literarisch den Durchbruch, «Nur ein Spielmann» wurde ein Riesenerfolg. Es waren seine Romane, die den Dänen in Europa und im englischsprachigen Raum überhaupt erst bekannt machten, nicht seine 156 Märchen. Erfreut berichtet er 1852 in einer Tagebuchnotiz von einer Begegnung mit Amerikanern, die ihm erzählt hätten, «dass ich so weit verbreitet in Amerika gelesen werde, dass alle meine Romane an den Bahnhöfen verkauft werden». Vermutlich verdankt Andersen diese Popularität dem damals neuartigen Typus des Gegenwartsromans, die den ausländischen Lesern einen Einblick in das Alltagsleben eines fremden Landes ermöglichte, das zu jenen Zeiten die meisten niemals selbst würden bereisen können. Der Roman hat in seiner Modernität, in seiner Abkehr von der bis dahin üblichen, retrospektiv erzählten, biedermeierlicher Romantik, einen berühmten Landsmann auf den Plan gerufen, den Philosophen Søren Kierkegaard, der dem Werk einen wütenden, achtzigseitigen Verriss hat angedeihen lassen. Aber das war vor 180 Jahren!

Wir haben es mit einem melancholischen Entwicklungsroman zu tun, dessen beide Protagonisten ganz unterschiedliche Schicksale haben. Mit biografischen Bezügen zur eigenen Vita erzählt Andersen von Christian (sic!), dem Sohn eines armen Schneiders, der davon träumt, mal Musiker zu werden. Im herrschaftlichen Nachbarhaus wohnt ein reicher Jude, der seine Enkelin Naomi bei sich aufzieht. Der schüchterne Christian verliebt sich heftig in das schöne Mädchen. Auf dem Dach ihres Hauses nistet ein Storchenpärchen, und als das Haus eines Tages bis auf die Grundmauern abbrennt und auch die Störchin hoch oben im Nest verbrennt, weil sie ihre Jungen nicht verlässt, wird nur Naomi gerettet, - der Schneider nimmt die Waise vorerst bei sich auf. Leitmotivisch begegnet uns der Storch bis zum Ende immer wieder mal in dieser Geschichte, und zwar als Symbol für Reisen, für die Sehnsucht nach fernen Ländern, aber auch für Treue. Aus Christian und Naomi jedoch wird nie ein Paar, zu verschieden sind ihre äußeren Prägungen. Da ist die bittere Armut, in der Christian aufwächst und aus der er sich als mäßig begabter Geiger letztendlich nicht befreien kann. Auch zum Seemann taugt er nicht, wie er schnell erkennen muss, ihm fehlt ganz einfach der Mut zur kühnen Tat. Naomi hingegen, der das behütete Leben in Wohlstand zu langweilig wird, brennt mit einem Kunstreiter vom Zirkus durch und reist durch halb Europa, trennt sich schließlich aber von ihm. Der reiseerprobte Autor baut neben Kopenhagen auch die Metropolen Wien und Paris - kontrapunktisch zum einfachen Landleben - als Handlungsorte mit ein in seinen elegischen Roman. Weniger spektakulär und komfortabel hingegen ist Christians Weg, er schlägt sich recht und schlecht durchs Leben und ist am Ende des Romans «nur ein Spielmann».

Andersen erzählt seine berührende Geschichte mit ihrer Vielfalt an Motiven in einer betulichen Sprache und mit zeitbedingtem Pathos, durch die Neuübersetzung von 2005 ist sie aber flüssig lesbar. Immer wieder sind darin ziemlich naive religiöse Bezüge und nicht immer überzeugende, philosophische Reflexionen eingewoben, es finden sich aber auch wunderbar plastische Natur- und Landschaftsbeschreibungen, seine Figuren sind zudem sehr lebensecht beschrieben. Der linear und erfreulich stringent erzählte Plot lässt keine Langeweile aufkommen, die große Stärke jedoch ist das uns Heutigen zumeist unbekannte Lokal- und Zeitkolorit dieses Romans. Als hilfreich erweisen sich die fast zweihundert vom Autor selbst eingefügten Fußnoten und ein äußerst informatives Nachwort mit nützlichen Infos zu diesem sozialkritischen Roman und seinem als Romancier völlig verkannten Autor.

Bewertung vom 13.04.2018
Hain
Kinsky, Esther

Hain


gut

Codierte Verlusterfahrung

Das Genre «Nature Writing» möchte Esther Kinsky nicht gelten lassen für ihr als «Geländeroman» apostrophiertes neues Prosawerk «Hain», das mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2018 prämiert wurde. Denn obwohl Landschaft und Natur darin einen breiten Raum einnehmen, dienen sie ihr vornehmlich als meditativer Hintergrund für einen Prozess der Trauerbewältigung, in dem die Möglichkeiten hinreichender verbaler Verarbeitung von individuellen Wahrnehmungen und Erinnerungen für sie das eigentliche Thema bilden. Handlung, ein irgendwo hinführender Plot gar, sind so gut wie nicht vorhanden bei dieser in sich gekehrten Prosa, die von ihrer schieren Beschreibungskunst lebt wie kaum ein anderer Roman, den ich je gelesen habe.

«In Olevano Romano lebte ich auf einige Zeit in einem Haus auf einer Anhöhe», beginnt eine namenlose Ich-Erzählerin, die um ihren Lebenspartner trauert, ihre dreiteilige Erzählung, «zwei Monate und ein Tag nach M.s Beerdigung». Der Roman ist in 59 kurze Kapitel mit jeweils aus nur einem Wort bestehenden, wunderbar deskriptiven Titeln unterteilt. Eine mosaikartige Erzählung mithin, die sich jedoch hier nicht zu einem Ganzen fügt, vielmehr schlaglichtartig nur die Sinneseindrücke einer melancholischen Hinterbliebenen aneinanderreiht. Und es sind Reisen nach einem Italien, das nicht als Sehnsuchtsland dargestellt ist, ganz im Gegenteil. Wobei dann auch noch die Jahreszeiten so unspektakulär wie möglich gewählt sind, es ist frostig, neblig, stürmisch, regnerisch, verschneit, alles andere als das Wetterklischee von Bella Italia also. Im zweiten Teil wird als zeitlicher Einschub von Erinnerungen an die Kindheit erzählt, hauptsächlich an Italienreisen in den siebziger Jahren mit der Familie, wobei der italophile Vater mit seinem sehr speziellen Faible für etruskische Nekropolen dominant im Blickpunkt steht, Mutter und Bruder werden kaum erwähnt. Im dritten Teil «Comacchio» reist die einsame Ich-Erzählerin ins Podelta, und auch dort sind es wieder die Dinge, das Gelände, die weite Lagune, die erzählerisch im Fokus stehen. Die schmuddeligen Ortschaften werden ungeschönt in ihrer wenig einladenden Alltäglichkeit beschrieben, ihre Friedhöfe aber ziehen sie geradezu magisch an.

Alles ist Grau in Grau in diesem statisch wirkenden, farblosen Szenario, in dem Menschen allenfalls als Statisten vorkommen, in dem die Leere scheinbar grenzenlos ist und die eifrig fotografierende Ich-Erzählerin fast unsichtbar bleibt als Person. Das reizarme Milieu steigert ihre Fähigkeit zur Wahrnehmung ins beinahe Übersinnliche, selbst das kleinste Detail wird hier zum Ereignis, wobei der Erzählrhythmus allein ein wenig Bewegung in diese narrative Ödnis bringt. Über all dem liegt permanent die Trauer, verdüstert der Tod von M. und der des Vaters leitmotivisch das Geschaute, scheinbar Nebensächliche, das da ebenso präzis wie ausufernd beschrieben wird.

Als feinfühlig dargestellte Verlusterfahrung erfordert dieser erzählerisch fast schon asketische Roman einen ebensolchen, mithin geduldigen Leser, der aufnahmefähig ist für die zahlreichen subtilen Verweise und versteckten Symbole, aber auch für eine fein dosierte Intertextualität. Giorgio Bassani und dessen berühmter Roman «Die Gärten der Finzi-Contini» sind da vor allem zu nennen, wobei die Ich-Erzählerin diese Gärten vergeblich sucht im heutigen Ferrara, immerhin aber doch sein Grab findet. Pathetisch zwischen den Lebenden und den Toten schwebend, unentschieden zwischen Gegenwart und Vergangenheit oszillierend, ist Kinskys Hain der Ort, wo die Götter wohnen, von denen einer der übermächtige Vater ist. Vor den von ihm schwärmerisch beschriebenen Mosaiken in Ravenna stehend fühlt sie sich ihm seelisch zutiefst verbunden. Und man ahnt, dass die vordergründig spröde Erzählerin mit ihrer zuweilen fragwürdigen Semantik womöglich in ihrem «Geländeroman» eine Geheimsprache im Sinne Wittgensteins benutzt, für deren Code nicht jeder den passenden Schlüssel findet.

4 von 6 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 08.04.2018
Kurze Interviews mit fiesen Männern
Wallace, David Foster

Kurze Interviews mit fiesen Männern


sehr gut

Ironisches Psychogewäsch

Drei Jahre nach dem Opus magnum von David Foster Wallace erschien 1999 eine Sammlung von Geschichten unter dem ebenso deskriptiven wie amüsanten Titel «Kurze Interviews mit fiesen Männern». Der wichtigste und innovativste US-amerikanische Schriftsteller der Postmoderne glänzt hier wieder mit seinem geradezu verwegenen Sprachstil, der in einigen narrativen Aspekten an James Joyce erinnert und wohl auf seine Mutter Sally Foster zurückzuführen ist, deren Sprachbegeisterung ihn, wie er trotz sonstiger Vorbehalte gegen sie einräumte, entscheidend geprägt habe. Es geht im Wesentlichen um abnorme Beziehungen zwischen den Geschlechtern in diesem Band, wobei, wie der Titel schon ahnen lässt, den Männern allein hier die Rolle des Buhmannes zugewiesen ist, ein feministischer Ansatz also.

Geradezu als Lehrstück, als Quintessenz aus den 22 Geschichten, die noch folgen, beginnt das Buch mit «Ein stark verkürzter Abriss des postindustriellen Lebensstils», eine halbe Buchseite nur, in der jemand einen Mann und eine Frau einander vorstellt. Ein kommunikativer Akt mithin, der grandios fehlschlägt, - die Drei verstehen nichts, weil sie unehrlich sind, weil sie sich verstellen. Probleme mit der Verständigung aber durchziehen alle diese Geschichten von der Suche nach Identität. Da ist der 13jährige Junge, der an seinem Geburtstag erstmals auf den Sprungturm im Freibad klettert und nun schlotternd vor Angst nach unten starrt, oder die Ehefrau, die nach dreijähriger Ehe das abgekühlte sexuelle Verlangen mit allerlei Hilfsmitteln aus der Adult-World wieder gehörig aufheizen will. Um Sex geht es in vielen der Geschichten, sei es um machohafte Protzerei, um brutale Vergewaltigung, um ausgeklügelte Methoden der Anmache. Unter den insgesamt vier Geschichten des Buches mit dem Titel «Kurze Interviews mit fiesen Männern» ist am Ende eine, bei der ein junger Mann erzählt, mit welchen Tricks er ein schönes Mädchen auf einem Stadtfest zu einem One-Night-Stand verführt hat. Postkoital berichtet sie ihm dann von dem schlimmen Erlebnis, wie sie mal als Tramperin unbedacht bei einem Mulatten ins Auto gestiegen ist und voller Entsetzen zu spät erkannt hat, dass der Mann offensichtlich ein pathologischer Lustmörder ist. Und wie sie mit purer Willensanstrengung zwar nicht der Lust, aber doch dem Mörder entkommen ist. Ihre «Anekdote», wie er es naiv nennt, beeindruckt den jungen Mann derart, dass er am Schluß aus seiner lieblosen Rolle als Frauen vernaschender Macho herausfindet und glaubt, sie könne ihn retten. «Ich wusste, ich konnte lieben. Ende der Geschichte».

In einem intellektuellen Feuerwerk erzählt Wallace, human und wütend gleichermaßen, von der Reizüberflutung des modernen Menschen, von dem informellen Dauerfeuer, unter dem er steht und bei dem sich Quantität und Qualität diametral gegenüberstehen. Er setzt seinen fulminanten Wortschatz und seine ebenso geschliffene wie komplexe Syntax mit beißender Ironie ein, wobei er auch in dieser Sammlung psychologischer Skizzen wieder die für ihn typischen Fußnoten verwendet, was seine ironische Intention oftmals ins verächtlich Sarkastische verschärft. All die Selbstdarsteller, Neurotiker, Depressiven in diesen Geschichten sind keine sonderlich markanten Figuren, denen man vielleicht sogar Empathie entgegenbringen könnte als Leser. Sie treten vielmehr narrativ deutlich zurück hinter das Geschehen, welches Wallace wie ein brillanter Diagnostiker mit Akribie psychologisch seziert, damit pathologische Marotten entlarvend, wobei er allerdings nicht selten gehörig übertreibt.

Zugegeben, DFW ist nicht leicht zu lesen, ein wenig muss man sich schon anstrengen, will man ihm gedanklich folgen. Gleichzeitig aber bietet die Lektüre beste Unterhaltung, wobei sich unter den oft schreiend komischen Erzählskizzen, unter dem «Psychogewäsch», wie es im Buch selbstironisch heißt, die depressiven Krüppel unserer Konsum- und Mediengesellschaft verbergen, und davon gibt es mehr, als man glaubt.

Bewertung vom 01.04.2018
Wie hoch die Wasser steigen
Kampmann, Anja

Wie hoch die Wasser steigen


gut

Die Bohrinsel als Metapher

Was literarische Debüts oft so spannend macht ist die Überraschung, die da manchmal auf den Leser wartet, eine neue Stimme, die womöglich auch neue Wege des Erzählens aufzeigt. In ihrem Erstling «Wie hoch die Wasser steigen» überrascht die bisher nur als Lyrikerin bekannt gewordene Anja Kampmann uns tatsächlich mit einer ganz eigenen Form des Prosa-Erzählens. Ihr schon vom Buchcover her an ein Roadmovie erinnernder Roman ist eine moderne Odyssee auf der Suche nach dem eigenen Ich, die sich im letzten Drittel des Buches dann auch real im Auto abspielt, der letzten Zuflucht eines total aus der Welt gefallenen Mannes. Sinnbild dieser Irrfahrt ist die Brieftaube, die hier als klug gewähltes Leitmotiv dient und deren Heimfindevermögen völlig konträr ist zur beklemmenden Unbehaustheit des ziellosen Protagonisten.

Matyás, der beste Freund eines 52jährigen polnischen Arbeiters auf einer Ölplattform vor der marokkanischen Küste, wird bei rauer See eines Nachts vermisst, - über Bord zu gehen aber bedeutet in dieser Situation nichts anderes als der sichere Tod. Ein schlimmer Schock für Waclav Groszak, denn der Ungar war geradezu symbiotisch mit ihm verbunden, vielleicht auch mehr, wie man ihre innigliche Beziehung - zwischen den Zeilen lesend - auch interpretieren könnte. Die Ölmanager schicken Waclaw daraufhin mit dem Hubschrauber aufs Festland zurück, in einen mehrwöchigen Urlaub. Er beginnt von Tanger aus eine Reise, die ihn zuerst nach Ungarn führt, um der Schwester seines toten Freundes dessen Hab und Gut zu überbringen. Im weiteren Verlauf seiner Reise, die in ihrer Planlosigkeit mehr einer Fahrt ins Blaue gleicht, wird ihm zunehmend bewusst, dass er niemals wieder zurückkehren wird auf eine Bohrplattform. Er reist nach Malta, wo er aus steuerlichen Gründen seinen Wohnsitz hat - und eine willige Seemannsbraut obendrein. Schließlich wandert er zu Fuß in die Alpen Norditaliens, wo Alois, der alte Freund des längst verstorbenen Vaters, als Rentner Brieftauben züchtet wie einst im Ruhrgebiet, wo die beiden früher als Kumpels im Bergbau gearbeitet hatten. Alois stellt ihm für die weitere Reise seinen alten Fiat Fiorino Pick-up zur Verfügung und gibt ihm im Transportkäfig Enni mit, seine beste Brieftaube, er soll sie in der alten Heimat auflassen. Aus Bottrop schließlich, wo er die Taube auf dem Gipfel einer Kohlenhalde auflässt, zieht es ihn zu Milena weiter, seiner großen Liebe, die er irgendwann verloren hat bei seinem gut bezahlten, aber einsam machenden, unsteten Bohrinselleben.

Im Epilog schildert die Autorin eine traumartige Szene, in der auch Waclav Flügel zu bekommen scheint und ebenfalls fliegt. Mit «alles war ganz leicht» endet denn auch dieser poetische Roman, dessen Figuren - der Protagonist eingeschlossen - blutleer bleiben, es baut sich jedenfalls keine Empathie auf zu ihnen. Was da auf 350 Seiten ebenso leicht wie wortreich geschildert wird, ist wenig konkret, so ziemlich alles bleibt im Vagen, Nebulösen. Immer wieder werden Szenen aneinander gereiht, die weder irgendwie miteinander verbunden sind noch irgendwo hinführen im Sinne einer stringenten Handlung. Die ausufernden, detailverliebten Schilderungen von Szenen, Orten, Landschaften, Behausungen, Haltepunkten auf dieser irrlichtartigen Reise weisen überdeutlich auf die Lyrikerin hin als Autorin, die sprachverliebt narrativ völlig Belangloses anhäuft in ihrem Prosadebüt.

Schön zu lesen ist dieser visuell kraftvolle Roman, in dem die Bohrinsel als Metapher dient, trotzdem, er wird mit den vielen Bildern, die er erzeugt, auch nie langweilig. Vieles wird in Rückblenden erschlossen, wie im Puzzle entsteht so allmählich das Gesamtbild eines im Hier und Jetzt verlorenen Mannes, der sich als Globalisierungsopfer ohne Zukunft total entwurzelt in die Vergangenheit flüchtet. Das ist durchaus berührend und bedingt wohl auch diese ungewöhnlich distanzierte, emotionslose Erzählweise, die dadurch aber bestens vor peinlichem Kitsch gefeit ist.

Bewertung vom 27.03.2018
Dagny oder Ein Fest der Liebe
Karumidze, Zurab

Dagny oder Ein Fest der Liebe


weniger gut

Leider nur absurdes Palaver

Ein Roman wie eine Wundertüte ist «Dagny oder Ein Fest der Liebe» des georgischen Schriftstellers Zurab Karumidze, geschrieben in Englisch, also nicht nur für Georgier, «sondern für die gesamte Welt», insbesondere die anglophone, wie er erklärt hat. Titelgebend ist Dagny Juel, norwegische Schriftstellerin, eine Femme fatale des Fin de Siècle, die in den Berliner Bohemekreisen um die Kneipe «Das schwarze Ferkel» verkehrte und Muse war von August Strindberg und dem Expressionisten Edward Munch, dem sie Modell gestanden hat für sein Gemälde «Madonna». «Sie war ein Vorwand», hat der Autor im Interview gestanden, «ich bin einfach immer interessiert gewesen an interkulturellen Beziehungen. Daran, kulturelle Grenzen zu überschreiten», das Schicksal von Dagny Juel sei ihm vor zwölf Jahren lediglich Inspirationsquelle gewesen für sein Buch.

Denn seine zentrale Figur, die «nordischen Sphinx», deren reales Vorbild am 4. Juni 1901, drei Tage vor ihrem 34ten Geburtstag, von einem nicht erhörten Liebhaber in Tiflis erschossen wurde, fungiert im Roman allenfalls als loser Handlungsfaden, an dem entlang sich ein ebenso rätselhaftes wie virtuoses narratives Spiel um Georgiens Mythen rankt. Es ist von historischen Gestalten bevölkert wie auch von diversen märchenhaften Figuren der Volkssage, die der Autor in erzählerischer Allmacht und einer wahrhaft überbordenden Fantasie aufeinander treffen lässt in unzähligen Begegnungen und endlosen Disputen, wobei immer wieder aus dem Norwegischen übersetzte Gedichte der realen Dagny Juel in den Text eingestreut sind. Zu den bekanntesten Figuren im Roman zählt der griechisch-armenische Esoteriker Georges I. Gurdjieff, der Naturphilosoph, Schriftsteller und Repräsentant der georgischen Nationalbewegung Wascha-Pschawela, der naive Maler Niko Pirosmani, ein tibetanischer Schamane, ein Scheinderwisch. Sogar der junge Revolutionär Koba tritt auf, der unter seinem Kampfnamen Stalin später traurige Berühmtheit erlangen sollte. Breiten Raum nimmt auch das georgische Nationalepos mit dem schier unaussprechlichen Namen Wepchisstqaossani ein, «Der Recke im Tigerfell».

Und auch ein außerirdischer Rabe vom Planet Saturn mit Namen Ferdinand hält große Reden: «Ja, Gornachur Harharch IV hat das gemacht, unter Zuhilfenahme seines Linguo-Chronotopos Beschleunigers, um metamusikalische Vibrationen im Geist des Führers der Sieben zu erzeugen; dabei benutzte er deinen schamanischen Kontrapunkt als transformative Substanz und den vegetozoopoetischen Diskurs des Hochländers als Grundmaterial. Ein Effekt, der demjenigen ähnelt, den deine Alchimisten anstrebten, aber nie erreichten. Doch wie ich sagte, handelt es sich hier um Rohaskokin. Um das richtige, das reine zu erhalten, brauchen wir den Code des Vlieses, den Almsnoschinu-Code von El’Azar – Die Auferstehung. Und den werden wir bei der Himmlischen Agape gewinnen, wenn wir das Pantherfell transformieren mittels des voll ausgespielten schamanischen Kontrapunkts der Johannespassion». Alles klar soweit?

Derart irreal zu sein ist das wesentliche Merkmal dieses postmodernen, esoterischen Romans, bei dem viele historische Zitate und häufige intertextuelle Bezüge allenfalls den einschlägig vorinformierten Leser erfreuen dürften, andere aber zu ständigem Recherchieren zwingt. Wenn sie denn nicht einfach über das hinweg lesen wollen, was ihnen «böhmisch» vorkommt - und was zum Teil genau das auch ist. Also oft purer Nonsens, reine Phantasmagorien, der Autor hat in seinem ebenso absurden wie ironischen Spiel den kulturellen Eklektizismus hier wahrlich auf die Spitze getrieben. Seiner Protagonistin allerdings, dieser in manchem durchaus mit Lou Andreas-Salomé vergleichbaren Muse, hat Zurab Karumidze hier eine derart unbedeutende Rolle zugewiesen, dass der Romantitel den hoffungsvollen Leser völlig ins Leere führt. Man muss wohl selbst Esoteriker sein, um Gefallen zu finden an dem über weite Strecken absurden Palaver in diesem surrealen Roman.

Bewertung vom 20.03.2018
Reise ans Ende der Nacht
Celine, Louis-Ferdinand

Reise ans Ende der Nacht


weniger gut

Ordinär originell

Als Enfant terrible der französischen Literatur wurde Louis-Ferdinand Céline mit seinem 1932 erschienenen Skandalwerk «Reise ans Ende der Nacht» schlagartig bekannt, er gilt seither als sprachlicher Neuerer und wird zuweilen sogar als Jahrhundert-Autor auf eine Stufe gestellt mit Proust. Sein nicht weg zu diskutierender Judenhass und die Kollaboration mit den Nazis belasten ihn politisch schwer, ästhetisch aber gilt der revolutionäre Stilist als rehabilitiert, mit erkennbarer Wirkung auf berühmte Schriftstellerkollegen. Der spätere französische Staatspräsident Macron höchstselbst hatte sich vor seiner Wahl in einem Gespräch mit Houellebecq über Céline dahingehend geäußert, von ihm «könne man lernen, die ‹Sorgen des Mannes auf der Straße› ernst zu nehmen». In Frankreich jedem Schulkind bekannt und als nationaler Kultautor hymnisch verehrt, wird der zwiespältige Schriftsteller hierzulande weitaus skeptischer beurteilt, er ist jedenfalls auch literarisch heftig umstritten.

Der mit über 650 Seiten dickleibige Roman ist eine polemische Abrechnung mit den französischen Eliten der Zeit zwischen dem Ersten Weltkrieg und der auf den Börsencrash von 1929 folgenden wirtschaftlichen Depression. Ich-Erzähler dieses Episodenromans mit deutlichen Parallelen zur Vita des Autors ist Bardamu, der als junger Freiwilliger die Schrecken des Weltkriegs erlebt und dem es am Ende der ersten Episode gelingt, dem sinnlosen Abschlachten zu entkommen. In weiteren, verbindungslos und vom Plot her nicht stringent erzählten Episoden erleben wir den misanthropischen Helden auf einer fragwürdigen Mission in Afrika, in den USA anschließend, ein wirtschaftlich verheißungsvoller Fluchtpunkt, ehe er schließlich, desillusioniert zurück in Paris, Medizin studiert und sich als Armenarzt niederlässt. Auch diese Episode endet mit einer Flucht aus den prekären Verhältnissen, in denen er lebt, er findet zuletzt eine Anstellung in einer psychiatrischen Klinik am Stadtrand, wird schließlich deren kommissarischer Leiter. Auf all diesen Stationen seines Lebens taucht immer wieder überraschend sein ebenso skrupelloser wie bösartiger Freund Robinson auf, ein mephistophelischer Begleiter. Garniert, anders kann man es wirklich nicht sagen, werden diese Episoden außerdem jeweils mit Frauengestalten, die fast alle aus dem horizontalen Gewerbe stammen, ehe dann in der letzten Episode eine nymphomane Krankenschwester als Geliebte auftritt.

Literarisch wirkt der inhaltlich konturlose Roman wie eine einzige, hasserfüllte Suada, die Erzählerstimme verdeutlicht von der ersten Seite an, dass hier exemplarisch einer spricht, der «die Schnauze voll hat», der zutiefst frustrierte «kleine Mann» nämlich. Die vom Autor nicht nur in den Dialogen, sondern nahezu durchgängig benutzte Umgangssprache ist geradezu gespickt mit Argot, mit einer unflätigen Pariser Gossensprache, sie ist aber auch mit Hochsprache, sogar mit Wissenschaftssprache durchsetzt. Und die Welt, die Céline da schildert, besteht aus Dreck, Scheiße, Rotz, Eiter, Blut, Schweiß, Pisse, ekligem Ausfluss. Überall herrscht infernalischer Gestank, sind Flöhe, Wanzen, Ratten allgegenwärtig, begegnet man bitterster Armut. Alles ist verseucht, krank, desaströs, kaputt, und die titelgebende «Reise ans Ende der Nacht» führt unmittelbar in den Tod, wohin sonst?

So ist denn auch dieser als avantgardistisch geltende Roman letztendlich nichts anderes als Literatur gewordene, anarchistische Polemik, brutal, animalisch, völlig maßlos, - viel zu weitläufig angelegt zudem, geradezu geschwätzig. Was als Kunst gefeiert wird daran, was als authentisch gepriesen wird, ist tatsächlich nichts anderes als der antibürgerliche Furor eines unbelehrbaren, nihilistischen Hasspredigers, der mit seinem wüsten Rundumschlag radikal die Grenzen des guten Geschmacks negiert, jenseits aller Vernunft. Diese literarische Exkursion dürfte also bestenfalls von Lesern mit einem Faible für abseitig Sprachliches wirklich goutiert werden.

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