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Raumzeitreisender
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Ahaus
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Buchwurm, der sich durch den multidimensionalen Wissenschafts- und Literaturkosmos frisst

Bewertungen

Insgesamt 753 Bewertungen
Bewertung vom 02.08.2016
Liebesgrüße aus Deutschland
Kaminer, Wladimir

Liebesgrüße aus Deutschland


sehr gut

Liebenswertes über Deutschland

Wladimir Kaminer, seit 1990 in Deutschland lebender Schriftsteller russischer Herkunft, schreibt über Eigentümliches in seiner neuen Heimat. Er ist in Moskau aufgewachsen und sieht Deutschland damit durch eine andere Brille. Seine Erkenntnisse wirken wie ein Spiegel, der den Deutschen vorgehalten wird. Die vielen Selbstbezüge in seinen Kurzgeschichten präsentieren einen humorvollen Autor, der es versteht, Sachverhalte satirisch aufzuarbeiten. Er trifft den Nerv der Deutschen, aber im positiven Sinne und überzeichnet, wie einst Ephraim Kishon, Situationen des Alltags.

Das Buch besteht aus 56 Kurzgeschichten. Kaminer glänzt mit einer großen Themenvielfalt. Er behandelt in seinen Geschichten die Gastronomie, Schulausflüge, den Einsatz von GPS, die deutsche Vergangenheit, den Umgang mit Krisen, den deutschen Mann, die Finanzverwaltung, Eindrücke aus Stadtbesichtigungen, Kontrollen am Flughafen und viele weitere Themen. In zahlreichen Fällen zieht er Vergleiche zwischen der russischen und der deutschen Kultur. Die Unterschiede haben vielfältige Ursachen. Selbsterkenntnis ist den Lesern gewiss.

Bewertung vom 02.08.2016
Von der Mafia lernen
Ferrante, Louis

Von der Mafia lernen


sehr gut

Die Machtstrukturen der Mafia

Louis Ferrante begann mit zwölf Jahren zu stehlen. Später überfiel er Transporter und mit Anfang zwanzig gehörte er zur sog. Gambino- Familie. Seine Familie bezeichnet er als sein Unternehmen, für das er viele Millionen Dollar Gewinn erzielte. Er war innerhalb der Mafia ein Gruppenführer, was hierarchisch gesehen mit einem Vorarbeiter oder Abteilungsleiter in einem Unternehmen vergleichbar ist. Ferrante zieht bewusst Parallelen zu Unternehmen, weil er der Meinung ist, dass die Strukturen - von den Gewaltaktionen der Mafia abgesehen - vergleichbar sind. Er wurde verpfiffen und landete für achteinhalb Jahren im Gefängnis. Dort interessierte er sich für Literatur und entwickelte sich zu einem Menschen, der die Gesetze achtet. Den Ehrenkodex der Mafia hat er auch nach seiner Festnahme nicht verletzt. Dies ist notwendig, um am Leben zu bleiben.

Das Buch gliedert sich in achtundachtzig Lektionen. Auf jeweils wenigen Seiten erläutert Ferrante Prinzipien und untermauert diese mit Begebenheiten aus der Geschichte der Mafia und aus der Antike. In seinen Ausführungen wird deutlich, dass er sich mit den Lebensläufen vieler Führer der Menschheitsgeschichte beschäftigt hat.

Der Autor gibt zahlreiche Hinweise, die man auch in üblichen Ratgebern finden kann (Lektion 5: Trainieren Sie Ihr Gedächtnis, Lektion 7: Vertrauen aufbauen, Lektion 11: Chancen wittern und nutzen, Lektion 20: Verschwiegenheit, Lektion 32: Mitarbeiter motivieren, Lektion 50: Körpersprache beachten, Lektion 54: Auszeit nehmen u.v.a.m.). Interessant ist, wie er diese Lektionen mit Erfahrungen untermauert und aus dem Blickwinkel der Mafia begründet.

Das Geheimnis der Mafia liegt woanders. Den Unterschied machen die Konsequenzen bei Fehlverhalten. Auch diese erläutert Ferrante. Wenn der Mitarbeiter einer Firma interne Geheimnisse ausplaudert, wird er entlassen. Wenn ein Mafiosi plaudert, wird er erschossen. Einen Ausweg gibt es nicht. Prinzipientreue hat oberste Priorität.

Ferrante stellt einige positive Eigenschaften der Mafiosi (Spendenbereitschaft etc.) besonders heraus. Diese können nicht verschleiern, dass es bei der Mafia um organisierte Kriminalität geht. Daran ändern auch hohe Spenden für karitative Zwecke nichts. Woher kommt denn das Geld? Opfer der Gewalt könnten das als puren Zynismus auffassen.

Positiv bleibt festzuhalten, dass hier ein Insider die Strukturen der Mafia erläutert. Die Ausführungen wirken authentisch. Aus diesem Grund halte ich das Buch für lesenswert. Lernen sollten wir nicht von der Mafia, sondern von den Unternehmen, die auf rechtsstaatliche Weise erfolgreich am Markt agieren.

Bewertung vom 01.08.2016
Gaza Blues
Keret, Etgar

Gaza Blues


gut

Bilder aus dem Alltag

Etgar Keret, israelischer Humorist, Bestsellerautor und Regisseur, lässt sich nicht leicht einordnen. Aufgewachsen in einem Land, in dem die Bedrohung zum Alltag gehört, findet er seinen eigenen Stil, sich auszudrücken und mitzuteilen. Er geizt nicht mit vulgären Ausdrücken und verpackt den manchmal grausamen Alltag in seine Kurzgeschichten. Diese vermitteln auf jeweils wenigen Seiten Bilder hoher Intensität. Die Geschichten beschreiben die Realität mal humorvoll, mal satirisch und mal surrealistisch verfremdet. Ein Sinn ist nicht immer erkennbar.

Einige Geschichten wirken provokant, obwohl er nach eigenem Verständnis kein Provokateur sein will. In einem Interview sagte er: „Überall nur Heilige Kühe, alles ist so voller Denkschablonen, dass du nichts anderes tun kannst, als dich darüber lustig zu machen. Aber sobald du eine Wahrheit aussprichst, die keinem der üblichen Klischees entspricht, ist es so, als ob du durch ein Minenfeld gehst.“

Keret ist ein kreativer Künstler, der das junge Israel repräsentiert. Seine Erzählungen machen neugierig, haben mich aber nur teilweise überzeugt. „Gaza Blues“ ist weniger abgedreht als sein späteres Werk „Mond im Sonderangebot“.

Bewertung vom 01.08.2016
Ronnie
Wood, Ronnie

Ronnie


sehr gut

Ein bewegtes Leben

Ronnie Wood, als Kind einer Roma-Familie in armen Verhältnissen aufgewachsen, träumte schon 1964 auf dem Richmond Jazz and Blues Festival davon, eines Tages zusammen mit den Stones aufzutreten. Sein Traum sollte 1975 in Erfüllung gehen.

Die Musikszene Anfang der 1960er Jahre entwickelte sich u.a. im Ealing Club, wo Alexis Korner und seine Blues Incorporated präsent waren. Hier trafen sich Musiker wie Jack Bruce, Brian Jones, Mitch Mitchell, Ronnie Lane und viele andere, die in späteren Jahren Karriere machten.

Ronnie Wood geht sehr offenherzig mit seiner Lebensgeschichte um, er wirkt humorvoll, extrovertiert und auch ein wenig schräg, wie es in der Szene wohl üblich ist. In der Autobiographie sind einige seiner Grafiken enthalten. Er ist ein talentierter Zeichner und hätte auch ohne die Musik bekannt werden können. Seine Bilder sind sehr eindrucksvoll. Daneben sind auf 32 Seiten Fotos aus seiner privaten Sammlung abgedruckt.

Auf vielen Seiten beschreibt Wood die Musikszene, wer mit wem in welcher Band gespielt hat. Zu guter Letzt haben sich die richtigen zusammengefunden. So ist Ronnie Wood statt Eric Clapton bei den Stones gelandet und Jimmy Page statt Ronnie Wood bei Led Zeppelin, um nur Beispiele zu benennen.

Die Zeit bei den Faces (zusammen mit Rod Stewart) war verrückt und sie entwickelten sich, ähnlich wie die Who, zum Schrecken der Hotelbesitzer. Sie lebten den Rock'n Roll mit allem, was dazu gehört. Als er sich Anfang der 1970er Jahre im Keller ein Tonstudio einrichtete, war bei ihm immer was los. Musikgrößen wie Keith Moon, Paul McCartney, Eric Clapton oder David Bowie waren dort vertreten. Natürlich spielen Alkohol und Drogen in seinem Leben eine große Rolle.

Durch die Mitgliedschaft bei den Stones änderte sich einiges. Im Vergleich zu den Faces, waren die Stones ein gigantisches Unternehmen mit doppeltem Bühnenequipment, unzähligen Groupies, darunter Ärzte, Sicherheitskräften, Personal für die Planungen und eigener Boeing 720. Auf der Bühne musste er sich die richtige Körpersprache aneignen, um sich mit den Bandmitgliedern verständigen zu können.

Mit Geld kann Wood nicht umgehen. Das ein Stone pleite gehen kann, kann man kaum glauben. Ronnie Wood hat erstaunlich viele Kontakte zum Establishment über die er auf vielen Seiten berichtet. Er plaudert gern, bleibt dabei aber an der Oberfläche. Über sein Innenleben und über die Tiefe seiner Beziehungen zu anderen Menschen berichtet er wenig. Vielleicht entspricht das seiner Mentalität. Der Mensch Ronnie Wood verbirgt sich in seinen Bildern. Diese sind sehr ausdrucksstark. Hierin drückt er Emotionen und Tiefgang aus.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 01.08.2016
Wir sind nicht nur von dieser Welt
Ditfurth, Hoimar von

Wir sind nicht nur von dieser Welt


sehr gut

Der Versuch einer Harmonisierung

Es gehört Mut dazu, als Wissenschaftler das Thema „Naturwissenschaft und Religion“ aufzugreifen. HvD versucht nichts Geringeres, als deren unterschiedliche Deutungen miteinander in Einklang zu bringen. Ist eine Harmonisierung solch konträrer Erklärungsmodelle möglich?

An der Evolution wird heute nicht mehr ernsthaft gezweifelt. HvD belegt an Hand überzeugender Beispiele, dass es eine biologische Verwandtschaft der Arten gibt. Umstritten sind lediglich die Mechanismen, die für die Evolution verantwortlich sind. HvD beschreibt ein Evolutionskonzept, das die Entwicklung des Kosmos einbezieht.

Die Gegenwart ist nicht das Ende der Entwicklung und der Mensch nicht das Maß aller Dinge. Dem steht der Schöpfungsglaube entgegen, der von einem statischen Weltbild ausgeht. Da religiöse Deutungen die Erkenntnisse der Wissenschaft ignorieren, wenn sie nicht ins Weltbild passen, kommt es zur Spaltung zwischen Wissenschaft und Religion.

Die Naturwissenschaften begründen ein methodisches Vorgehen und kein Weltbild. Die Erkenntnisse der Naturwissenschaften werden durch den Fortschritt der Wissenschaft nicht ungültig, sondern modifiziert. So ermöglicht die klassische Mechanik auch heute noch genaue Vorhersagen und Beschreibungen der physikalischen Vorgänge, bei denen relativistische und quantenmechanische Effekte vernachlässigt werden können.

HvDs visionärer Schulterschluss mit der Religion führt zur Harmonisierung. Die Evolution sei der Augenblick der Schöpfung. Die Schöpfung sei nicht der Moment, in dem alles Leben begann, sondern Beginn und Entwicklung von Leben. Sie vollziehe sich noch immer. Diese Auffassung steht nicht im Widerspruch zur Wissenschaft.

Gibt es ein Jenseits? Im Kern ist Religion die Überzeugung von der Realität einer jenseitigen Wirklichkeit. Um eine Antwort finden zu können, ist ein umfangreicher Exkurs von den Anfängen des naiven Realismus bis hin zur evolutionären Erkenntnistheorie erforderlich. Wie wirklich ist denn die von uns erlebte Wirklichkeit?

Der naive Realismus wurde bereits von Platon entlarvt. Ausführlich hat sich Kant mit dieser Frage beschäftigt. Raum, Zeit und Kausalität sind angeborene Vorurteile über die Welt. Die Frage, warum die angeborenen Denkstrukturen so gut zur realen Welt passen, konnte Kant nicht beantworten. Die Antwort lieferte Konrad Lorenz. Es handelt sich um Erfahrungen über die Welt, die nicht das Individuum, sondern die Art erworben hat.

HvD glaubt, dass der Geist nicht aus der Materie heraus entstanden ist, sondern schon vorher da gewesen ist (Dualismus). Die Existenz des Bewusstseins deutet seiner Ansicht nach darauf hin, dass der Mensch auf eine höhere Entwicklungsstufe gebracht wird. Wenn die diesseitige Welt und die jenseitige Welt völlig ineinander aufgegangen sein werden, sei das Ende der Evolution erreicht.

HvD betont, dass die Aussagen seines Buches als „spekulative Bilder“ zu verstehen sind, geleitet von dem Gedanken, dass es nur eine Wahrheit geben kann. Glaube ohne Berücksichtigung der Erkenntnisse der Naturwissenschaften ist ein gespaltener Glaube. HvD bietet eine Diskussionsgrundlage an, die zu einer Harmonisierung führen kann, wenn ein deistisches Konzept zugrunde gelegt wird.

Bewertung vom 01.08.2016
Claraboia oder Wo das Licht einfällt
Saramago, José

Claraboia oder Wo das Licht einfällt


ausgezeichnet

„Alles, was nicht auf Liebe gebaut ist, bringt Hass hervor!“ (351)

Bereits die Vorbemerkungen zu Claraboia werfen Fragen auf. José Saramago (1922 – 2010) schrieb Claraboia während der Salazar-Diktatur und reichte den Roman 1953 einem Verlag ein. 1988, also 35 Jahre später, äußerte der Verlag sich zu dem Buch und bot an, es zu veröffentlichen. Auf der gleichen Seite heißt es, dass der Verlag die Antwort auf das Manuskript 47 Jahre lang schuldig geblieben ist. Das passt nicht zusammen. (5)

Weiterhin steht dort, Claraboia sei kein politischer Roman und nur wegen der gesellschaftlichen Tabubrüche nicht veröffentlicht worden. (8) Das Buch lässt sich sehr wohl (auch) politisch interpretieren und ich glaube, dass es aus diesem Grund nicht veröffentlicht wurde. Des Weiteren teile ich nicht die Auffassung des Verlages im Klappentext, dass durch den Untermieter Abel Nogueira frischer Wind in die Hausgemeinschaft kommt. Abel erfüllt eher eine Funktion auf der Metaebene.

Der Roman bewegt sich m.E. auf zwei Ebenen. Auf der Handlungsebene beschreibt Saramago das kleinbürgerliche Leben der Bewohner des Mietshauses und auf einer Metaebene diskutiert der intelligente Schuster Silvestre mit dem Untermieter Abel Nogueira über gesellschaftspolitische Fragen. Abel greift nicht direkt in das Geschehen ein und hat kaum Kontakt zu den anderen Mietern, dennoch spiegelt sich sein pessimistisches Weltbild im Mikrokosmos des Mietshauses wider.

Saramago beschreibt die Verhältnisse in einem portugiesischen Mietshaus im Lissabon der 1940er Jahre. 6 Parteien, verteilt auf 3 Etagen, wohnen in dem Block. Im Erdgeschoss leben der Schuster Silvestre mit seiner Ehefrau Mariana sowie die Galicierin Carmen mit ihrem Ehemann, dem Handelsvertreter Emílio Fonseco. Silvstre nimmt den jungen Untermieter Abel Nogueira auf.

Im ersten Obergeschoss wohnt Dona Justina mit ihrem Ehemann Caetano Cunha, der bei einer Zeitung arbeitet. Sie haben ihre Tochter vor 2 Jahren verloren. Ihnen gegenüber lebt Dona Lídia, die Geliebte des reichen Fabrikanten Paulino Morais. Im zweiten Obergeschoss ist Dona Rosália mit ihrem Ehemann Anselmo und ihrer neunzehnjährigen Tochter Maria Claudia ansässig. Ihnen gegenüber wohnt die Witwe Cândida mit ihren Töchtern Isaura und Adriana sowie ihrer jüngeren Schwester Amélia, einer Wirtschafterin.

Hinter der kleinbürgerlichen Fassade brodelt es mächtig. Beziehungskrisen, Konflikte und Intrigen bestimmen den Alltag. Misstrauen, Vergewaltigung, Prostitution und Hass werfen ein düsteres Licht auf die Bewohner. Wenn das Mietshaus ein Spiegelbild der Gesellschaft darstellen soll, muss es um deren Moral schlecht bestellt sein. Wenn die Verhältnisse im Mietshaus als Symbol für die politischen Verhältnisse in der Salazar-Diktatur interpretiert werden, werden auch die Tabubrüche plausibel.

Die politischen Bezüge werden besonders in Kapitel 21 deutlich, wo Schuster Silvestre über seine subversive Vergangenheit erzählt. „Aber nun musste man den Mund halten. Und ich schwieg. Um diese Zeit habe ich meine Mariana kennen gelernt.“ (192) Das ist in Kurzform eine politische Situationsbeschreibung einschließlich seiner Antwort darauf. Abel denkt eher handlungsorientiert. Da er einen Sinn nur mit dem Verstand und nicht mit dem Gefühl erfassen kann („einlullenden Illusionen wie Liebe“ (351)), bleibt er ein Pessimist.

Bei diesem Roman handelt es sich um eine wiedergefundene Perle. In ihm spiegelt sich der Zeitgeist der Salazar-Diktatur wider. Saramago beschreibt nicht nur Unzufriedenheit, Hass und Gewalt, sondern liefert auch Antworten auf essentielle Fragen. Die heutige Gesellschaft ist freier und auch die heutigen Romane sind freizügiger, aber die beschriebenen Krisen und Konflikte sind zeitlos. Es handelt sich um einen Roman, mit dem ich mich gern beschäftigt habe.

Bewertung vom 01.08.2016
Zeit
Klein, Stefan

Zeit


gut

Analyse des Phänomens Zeit

In diesem Buch beschäftigt sich Wissenschaftsautor Stefan Klein aus unterschiedlichen Perspektiven mit dem Phänomen Zeit. Das Buch gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil geht es um die Entstehung und Beeinflussung der inneren Zeit, im zweiten Teil um die (sinnvolle) Nutzung der Zeit und im dritten Teil um die Zeit aus dem Blickwinkel der Physik bzw. der Kosmologie.

Autor Klein beschreibt einen Versuch, bei dem es um die Orientierung über die Zeit geht. Ein Forscher lässt sich in einer Höhle einschließen ohne gewohnte Bezugspunkte zum (äußeren) zeitlichen Ablauf. Der persönliche Rhythmus, so das Ergebnis des Experiments, weicht von der äußeren Zeit ab. Die biologische Uhr tickt anders und unabhängig von dieser Körperzeit erzeugt das Bewusstsein sein eigenes Zeitempfinden, die innere Zeit.

Es ist diese innere Zeit, mit der sich Klein nachfolgend beschäftigt. Der Mensch hat keinen eigenen Zeitsinn. „Obwohl das Gehirn Bewegungen auf Hundertstelsekunden genau steuert, fällt es uns schwer, Zeiten zu schätzen und ihre Dauer zu benennen.“ (63) Das Zeitgefühl ergibt sich aus dem Zusammenspiel vieler Schaltungen im Gehirn. Unser Gefühl für Zeitspannen, die länger als ein paar Minuten dauern, ist unpräzise.

„Gehirne entstanden nicht, damit ihre Besitzer möglichst bewusst ihre Umwelt wahrnehmen, sondern als Werkzeuge im Überlebenskampf.“ (109) Diese an Hoimar von Ditfurth erinnernde Aussage erklärt auch, warum wir ein subjektives Zeitempfinden haben. Bei Routinetätigkeiten erlahmt die bewusste Aufmerksamkeit und damit das Zeitgefühl.

Dieser erste Teil des Buches, in dem es um die Entstehung und das Erleben der inneren Zeit geht, ist der interessanteste Teil des Buches. Hier werden Grundlagen geschaffen und aufschlussreiche Versuche beschrieben, z.B. das Experiment des Neuropsychologen Douglas Cunningham zur Verzerrung der Zeit im Bewusstsein. (98)

Im zweiten Teil des Buches beschäftigt sich Klein mit dem zunehmenden Zeittakt und dessen Auswirkungen auf das berufliche und private Umfeld. Er entlarvt Unkonzentriertheit, Stress und Unlust als Zeiträuber. (169) Ablenkung führt zu Konzentrationsschwächen und fehlende Kontrolle über die Zeit führt zu Stress.

Diese Erkenntnisse sind nicht wirklich neu. Die Darstellungen wirken zudem ein wenig schwammig. Das wird spätestens bei der Behandlung des dritten Parameters Unlust deutlich. Statt die Unlust (oder fehlende Motivation) als Zeiträuber zu analysieren, beschreibt Klein familienfreundliche Arbeitszeitmodelle.

Der Blickwinkel der Physik steht im dritten Teil des Buches im Fokus. Wenn es um den Zeitbegriff geht, dürfen Newton und Einstein nicht fehlen. „Zeit hängt davon ab, wie sich ein Beobachter zu dem bewegt, was er sieht“ (249) und „So hat Einstein Schluss gemacht mit der absoluten Zeit, die Newton einst prägte“ (252), sind keine neuen Erkenntnisse. Dennoch sind die Beispiele zur Erläuterung der Relativität anschaulich und damit gelungen.

Die (philosophische) Ausgangsfrage des dritten Teils „Was Zeit ist“ kann Klein nicht beantworten. Dafür reichen die Werkzeuge der Physik, die sich damit beschäftigt, wie die Dinge funktionieren, nicht aus. Auch ist dieser dritte Teil mit 27 Seiten etwas zu kurz geraten. Z.B. könnte die Frage diskutiert werden, ob Raum und Zeit fundamentale Konzepte sind oder aus fundamentaleren Bestandteilen abgeleitet sind.

Das Buch ist (auch) ein Ratgeber. Das wird nicht nur im Epilog deutlich. Dort werden den Lesern Vorschläge unterbreitet, wie sie mit der Zeit umgehen können. Der Epilog erfüllt das, was auf dem Buchdeckel steht. Er ist eine (m.E. nicht notwendige) Gebrauchsanleitung für eine neue Kultur der Zeit. Stefan Klein ist ein qualifizierter Wissenschaftsautor. Von den mittlerweile vier Büchern, die ich von ihm gelesen habe, steht „Zeit“ aber nur an vierter Stelle.

Bewertung vom 31.07.2016
Was macht uns schlauer?

Was macht uns schlauer?


ausgezeichnet

Eine interdisziplinäre Reise durch die Welt der Gedanken

Wenn führenden Köpfen aus interdisziplinären Bereichen die gleiche Frage gestellt wird, darf man auf die Antworten gespannt sein. Die Edge-Frage 2011 lautet: Welcher wissenschaftliche Begriff würde den kognitiven Werkzeugkasten eines jeden bereichern?

In „Was macht uns schlauer?“ sind auf über 500 Seiten Antworten von 150 großen Denkern der Zeitgeschichte enthalten. Gleich im ersten Beitrag relativiert der Kosmologe Martin Rees die Stellung des Menschen im Kosmos, indem er auf die gewaltigen (Entwicklungs-)Zeiträume verweist. Dennoch können wir uns wichtig fühlen, weil wir die Macht besitzen, unser evolutionäres Erbe zu gestalten. (37)

Eine thematische Wende leitet der Evolutionsbiologe Richard Dawkins ein, indem er zum kritischen Denken auffordert und gleich das notwendige Werkzeug beschreibt. (55/56) Der Physiker Max Tegmark fordert einen „wissenschaftlichen Lebensstil“ (57) und für den Psychologen Roger Schank ist jeder Aspekt des Lebens ein Experiment. (63)

Nach diesem Hoch auf die Wissenschaft folgt durch Journalistin Kathryn Schulz wiederum eine Relativierung. „Im Unterschied zu all den Trotteln, die auf die flache Erde oder das geozentrische Universum oder die kalte Kernverschmelzung hereinfielen, haben wir selbst das große Glück, gerade während der Blütezeit korrekten menschlichen Denkens zu leben.“ (71)

Wenn schon der (objektive) Erkenntnisgewinn nur zeitkernige Gültigkeit besitzt, wie sieht es dann mit der Selbstwahrnehmung aus? Sozialpsychologe David G. Myers liefert eine Antwort dazu: „Die günstige Wahrnehmung von uns selbst und unserer Gruppe schützt uns vor Depressionen, wirkt stressdämpfend und erhält unsere Hoffnungen aufrecht.“ (81)

Letztlich ist alles in Bewegung, wie Altphilologe James O'Donnell zum Ausdruck bringt. (188) „Raum, Zeit und Gegenstände könnten einfach nur Aspekte eines Sinnesdesktops sein, der spezifisch für den Homo sapiens ist. Sie sind vielleicht gar keine tiefen Einsichten in objektive Wahrheiten, sondern nur bequeme Konventionen, die sich entwickelt haben, um unser Überleben in unserer Nische zu ermöglichen.“ (201)

Aus dem gleichen Grund sind wir blind für viele Informationen, die unterhalb der Oberfläche unseres Bewusstseins verarbeitet werden. Psychologe Adam Alter nennt Beispiele für unbewusst wahrgenommene Hinweisreize und ihre Auswirkungen. (215) Neben dieser eher psychologischen Betrachtung untersucht der Physiker Frank Wilczek verborgene Schichten im physischen Sinne in Form sich verändernder neuronaler Netzwerke. (261)

Tief gehende Hirnstrukturen im psychischen und im physischen Sinne ändern aber nichts daran, dass wir für langsame und stetige Veränderungen keine Antenne haben. Diesen, auch von der Ökologiebewegung aufgegriffenen Gedanken, verfolgt Alun Anderson in seinem Essay. (286)

Ja, wir haben nicht nur kein Gespür für langsame Veränderungen, wir wissen noch nicht einmal wo das „Wir“, oder in erster Person gesprochen das „Ich“, im Gehirn zu verorten ist. Und so ist der Weg nicht weit zu Thomas Metzingers phänomenal transparentes Selbstmodell. (291) Thomas Metzinger vertritt die These, dass das erlebte Ich von unserem Gehirn erzeugt wird, und dass das, was wir wahrnehmen, nur ein virtuelles Selbst in einer virtuellen Realität ist.

Die Erklärungen der Wissenschaft sind nicht immer einfach, und manchmal auch demütigend. Dennoch sind wir, wie der Künstler Brian Eno es zum Ausdruck bringt, Teil eines unvorstellbar großen und schönen Dramas, welches Leben heißt. (386)

Die Essays diese Buches lassen sich wie ein Puzzle zusammensetzen und offenbaren damit eine wunderbare, ja fantastisch anmutende Gesamtschau des Menschen in der Welt. Vielleicht gleicht die Welt einem Hologramm. Jedenfalls wirken Struktur und Inhalt des Buches, welches letztlich die Welt beschreibt, so. Mit jedem Kapitel wird das Gesamtbild klarer, ohne dass wir es wirklich verstehen können.

Bewertung vom 31.07.2016
Der Stein
Hohler, Franz

Der Stein


sehr gut

Zufall und Notwendigkeit

Franz Hohler, Schweizer Schriftsteller und Kabarettist, entwickelt in seinen Erzählungen eigene Perspektiven. Sein Fokus liegt nicht auf der großen Weltpolitik, sondern auf den kleinen Dingen des Lebens, die jedoch manchmal große Wirkungen haben können. Ob es Zufälle sind, die den Lebensweg bestimmen, oder dieser determiniert ist, müssen die Leser selbst entscheiden.

In „Der Präsident“ fordert eine kleine Katze das Schicksal heraus. Hohler stellt nicht, wie bei dem Titel zu vermuten, die präsidiale Politik in den Vordergrund, sondern thematisiert, wie Emotionen einen Mensch verändern und damit auch Entscheidungen beeinflussen können. Die Katze entpuppt sich zu guter Letzt als Lebensretter. Alles Zufall? Eine ähnliche Bedeutung kommt einem Tiger in „Die Grenze“ zu.

Ich weiß nicht, ob Autor Hohler raucht. Jedenfalls ist „Die Raucherecke“ eine Persiflage auf das gesetzlich sanktionierte und konsequent überwachte Rauchverbot in vielen Ländern. Die vermeintliche Lösung eines Problems kann mehrere neue Probleme schaffen, so die Erkenntnis.

Übernatürlich geht es in „Der vierte König“ und in „Der Sender“ zu. Vielleicht sind es auch nur das unvollständige Wissen oder die durch besondere Umstände verzerrte Wahrnehmung, die Situationen anders erscheinen lassen, als sie aus dem Blickwinkel der Vernunft sein sollten.

In „Ein Nachmittag bei Monsieur“ experimentiert Franz Hohler mit seiner Erzählweise. Ein Künstler bringt einem Jungen das Malen bei. Dabei stehen Form und Inhalt in Beziehung zueinander. Die künstlerische Freiheit, auf die der Maler, Protagonist der Erzählung, großen Wert legt, nimmt sich auch Autor Hohler heraus, indem er einen Dialog in Form eines Monologes abhält.

„Juckreiz“ ist eine lustige Geschichte über einen Lehrer mit einer Neurose. Ständig muss dieser sich kratzen. Sein Arzt spricht treffend von einem „idiopathischen Pruritus“ (Juckreiz ohne materielle Ursache). Franz Hohler hat u.a. mit Emil Steinberger zusammengearbeitet. Aus dieser Geschichte ließe sich ein Sketch kreieren, der gut zu Steinberger passen würde.

Franz Hohler hat seinen eigenen Stil, so wie auch die begabte junge Frau Bianca Carnevale in der gleichnamigen Geschichte. Er erzählt und wertet nicht. Das macht ihn und auch seine Figuren sympathisch. In seiner letzten Geschichte „Der Stein“ bringt er die Themen Zufall und Schicksal auf den Punkt, indem er beschreibt, wie ein in erdgeschichtlichen Dimensionen zufällig entstandener Stein das Schicksal eines jungen Mädchens beeinflusst.

Die Geschichten sind vielseitig und unterhaltsam. Gleiche Ursachen können verschiedene Wirkungen haben, wie uns der Autor in „Der Bleistiftstummel“ deutlich macht. Wer Erzählungen mag, die ungewohnte Perspektiven beleuchten, wird auch dieses Buch mögen.