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Top-Rezensenten Übersicht

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Buchdoktor
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Deutschland
Über mich: 
Romane, Krimis, Fantasy und Sachbücher zu sozialen und pädagogischen Tehmen interessieren mich.

Bewertungen

Insgesamt 612 Bewertungen
Bewertung vom 02.01.2017
Mein Beckenbodenbuch, m. Übungskarten
Liesner, Franziska

Mein Beckenbodenbuch, m. Übungskarten


ausgezeichnet

Sie sind nie zu alt, um mit dem Traning zu beginne
Franziska Liesner kennt ihre Pappenheimerinnen. Gemeinsam mit der Physiotherapeutin klappt das Übungsprogramm meist perfekt, doch spätestens wenn nach Kursende die erlernten Übungen selbstständig ausgeführt werden sollen, fehlt vielen Teilnehmerinnen eine optische oder akustische Eselsbrücke. Die Autorin schafft ein Bewusstsein für die weibliche Beckenbodenmuskulatur, indem sie ihre Leserinnen die langsamen Muskelfasern, die schnellen Muskelfasern und schließlich die Tiefenmuskulatur zunächst handfest wahrnehmen und sich dabei bildlich vorstellen lässt. Eine Kräftigung der Muskeln ohne Wahrnehmung der Muskulatur und ohne Einbeziehen der Atmung allein genügt nicht, wie das Beispiel von Frauen zeigt, die über Senkungsbeschwerden oder Inkontinenz klagen, obwohl sie regelmäßig im Fitness-Studio trainieren. Mit dem einfachen Fragebogen "Wie fit ist Ihr Beckenboden?" kann jede Frau herausfinden, ob ihre Beckenbodenmuskeln trainingsbedürftig ist. Sie werden verblüfft sein, dass bei der Auswertung des Testes Franziska Liesner schon für Frauen mit sehr geringen Beckenbodenproblemen Trainingsbedarf festgestellt. Keine Frau sei dafür zu alt, verkündet Liesner optimistisch. Eine einprägsame farbliche Zuordnung der Übungstypen Wahrnehmung, Kräftigung der langsamen, Kräftigung der schnellen Muskelfasern und Übungen für die Tiefenmuskulatur erleichtert die Zusammenstellung eines persönlichen Trainingsprogramms. Täglich ist dafür eine knappe halbe Stunde Zeitaufwand erforderlich. Unter der Überschrift Bodystyling werden Dehnübungen vorgestellt, die Rücken und Hüftgelenke mit in das Übungsprogramm integrieren. Die einprägsame Farbcodierung wird im herausnehmbaren Übungsblatt fortgeführt. Anschaulich zeigt Liesner, wie jede Frau sich beckenbodenschonend bewegen und dieses Bewusstsein in Alltag und Sport integrieren kann. Ein abschließendes Kapitel klärt, welche Hilfsmittel das Trainieren unterstützen, für welche Kosten Krankenkassen aufkommen und welche Behandlungsmöglichkeiten zusätzlich zum Training der Beckenbodenmuskulatur helfen können.

Franziska Liesner legt großen Wert auf die bildhafte Vorstellung der Beckenbodenmuskulatur. Ihr klar gegliedertes Übungsprogramm ist anschaulich illustriert und vermittelt die ermutigende Botschaft, dass jede Frau in jedem Alter die Funktion ihrer Beckenbodenmuskulatur verbessern kann.

Bewertung vom 02.01.2017
Mein erstes Haus war Mamis Bauch
Blattmann, Sonja

Mein erstes Haus war Mamis Bauch


ausgezeichnet

Jeder Mensch war einmal ein kleines Pünktchen
Sophie liebt Geschichten, ganz besonders die Geschichte, wie sie auf die Welt gekommen ist und wie sie vorher ein kleines Pünktchen in Mamas Bauch war. Am Abend vor Sophies Geburtstag kuschelt ihre Mama mit ihr auf dem Sofa, während Papa die Teekanne und eine Decke bringt. Sophies Eltern erzählen, wie sie so verliebt waren, dass sie sich ins Ohr küssten und in die Zehen bissen. Sie hatten sich lieb, sie stritten sich und schließlich zogen sie zusammen. In einer besonderen Nacht zog eine Sternschnuppe über den Himmel und Sophies Eltern wünschten sich ein Kind. Sophie kann es kaum erwarten: "Jetzt komme ich!" ruft sie aufgeregt. Mama erzählt, wie es sich anfühlte, als das Baby in ihrem Bauch herumschwamm und immer größer wurde. "Kinder sind wie einer Wundertüte", sagt sie, "man weiß nie, was drin steckt". Temperamentvoll und mit viel Liebe erzählen die Eltern, wie ihr Pünktchen Sophie in den Bauch hinein gekommen ist und wie ein Baby wieder herauskommt. Mit Papa zeichnet Sophie einen Jungen, komplett mit Penis und Hodensack, mit Mama ein Mädchen mit Kitzler und Vulva. Sophie versucht sich vorzustellen und zu fühlen, wie es in ihrem Bauch aussieht. Eizelle und Samenzelle sind auf einer Doppelseite hinreißend fröhlich dargestellt, die Eizelle trägt Mamas Armreif, die Samenzelle Papas Brille und seine Krisselhaare, die Sophie von ihm geerbt hat. Sophie blickt zerknirscht, sie weiß noch nicht, was sie davon halten soll, wenn Erwachsenen nackt aufeinander liegen und schmusen. Doch nun kann ihr Geburtstag kommen.

Weitere anatomische Details des weiblichen und männlichen Körpers finden sich im Anhang. Hier verfolgen wir, wie Sophie ihren Körper entdeckt und wie Peter merkt, dass sein Körper sich in der Pubertät verändert. Dem Buch liegt eine Audio-CD mit sieben Geburtstagsliedern bei, Text und Noten sind in die Handlung integriert.

Kinder genießen es, immer wieder erzählt zu bekommen, dass ihre Eltern sie gewünscht und lange erwartet haben. Welcher Anlass, die Geschichte vom kleinen Pünktchen zu erzählen, könnte schöner sein, als der Geburtstag? Dass Sophie und ihre Eltern so temperamentvoll über ihre Gefühle erzählen, erleichtert den kleinern Zuhörern der Geschichte, den eigenen Körper zu erfahren und eigene Gefühle wahrzunehmen. An "Mein erstes Haus war Mamis Bauch" begeistert, wie selbstverständlich Sophies Vater an den Gesprächen über Körper und Schwangerschaft beteiligt ist. Ein Aufklärungs- und Geburtstagsbuch, das Kinder ab 4 Jahren altersgerecht über den menschlichen Körper, Zeugung, Schwangerschaft und Geburt informiert und dabei Gefühlen breiten Raum einräumt.

Bewertung vom 02.01.2017
Madame Verona steigt den Hügel hinab
Verhulst, Dimitri

Madame Verona steigt den Hügel hinab


ausgezeichnet

Tiefgründige Erzählung von der Liebe und vom Sterben
Die Bewohner von Oucwègne im französischsprachigen Teil Belgiens hatten schon immer eine bemerkenswerte Art, mit dem Unvermeidlichen umzugehen. Als es nicht mehr anders ging, suchte Monsieur Potier, der Mann der Madame Verona, wegen seiner Beschwerden die Tierärztin Madame Lunettte auf; denn einen Hausarzt gab es im Dorf schon lange nicht mehr. Potier weiß, dass er bald sterben wird, versorgt seine Frau mit einem unvorstellbar großen Vorrat an Brennholz, der Jahrzehnte reichen wird, und erhängt sich anschließend in seinem Garten an einem Baum. Nun hat die betagte Madame Verona das letzte Holzscheit verbraucht. Die alte Dame ist zur Gefangenen ihres Hauses geworden, das das Ehepaar damals bewusst auch für Zeiten plante, in denen einer von ihnen nicht glücklich sein würde. Madame Verona kann den Hügel zum Dorf noch ein letztes Mal hinunter gehen - zurück wird sie es nicht mehr schaffen und deshalb in der bitteren Kälte erfrieren.

Dimitri Verhulst (* 1972) hat eine kurze, symbolhafte und tiefgründige Erzählung über die Einsamkeit im Alter und das Sterben verfasst, die ich sicher nicht zum letzten Mal gelesen habe. Die Geschichte zeigt mit subtilem Humor ein alterndes Dorf, in dem es für die knapp vierzig Einwohner noch nicht einmal einen Geldautomaten gibt, und beobachtet die Bewohner bei ihren jeweiligen Vermeidungsstrategien, sich mit dem Alter und der eigenen Endlichkeit auseinander zu setzen. Wie den Hügel, der verhindert, dass Madame Verona zum Einkaufen gehen und unter Menschen kommen kann, hat Verhulst jede Figur, jeden Gegenstand und sogar die Art, wie Madame Verona ihre Zeit misst, in ihrer Symbolik sehr bewusst gewählt. Verhulsts Erzählung kann auf ihre leichtfüßige, schwebende Art den Leser sehr nachhaltig treffen. "Madame Verona" ist eine wunderbare Geschichte zum Vorlesen, für Gesprächskreise, aber nicht unbedingt geeignet für Leser, die gerade Kontakt zu Sterbenden haben und die Handlung als zu makaber empfinden könnten.

Bewertung vom 02.01.2017
Nennt mich nicht Ismael! / Ismael Bd.1
Bauer, Michael Gerard

Nennt mich nicht Ismael! / Ismael Bd.1


ausgezeichnet

Der Neue mit dem messerscharfen Mundwer
smael ist nicht allein wegen seines Namens zum Gespött seiner Klassenkameraden geworden. Typen wie Barry Bagsley brauchen einfach jemanden, auf dem sie herum trampeln können. Als James Scobie neu in die Klasse kommt, stockt Ismael - und Michael Bauers Lesern - der Atem. James ist außergewöhnlich klein, adrett, er hat mehr als merkwürdige Angewohnheiten und macht so ziemlich alles falsch, das ein Schüler falsch machen kann, der nicht zur Zielscheibe eines überzeugten Mobbers werden will. Doch der Neue hat ein messerscharfes Mundwerk im Stil Gregor Gysis. "So lief das normalerweise nicht" denkt Ismael verblüfft; denn der Neue zeigt sich völlig furchtlos. Nachdem James eine Hymne zum Anfeuern der Schulmannschaft getextet hat, fliegen ihm alle Herzen zu; von Bagsley spricht niemand mehr. James dreht nun den Spieß um. Was ist das eigentlich für eine Schule, die nicht am Wettstreit im Debattieren gegen andere Schulen teilnimmt? Höchste Zeit, dass James sich dieser Sache endlich annimmt. Und so beginnt das peinlichste, schrecklichste und beste Schuljahr, dass Ismael je erlebt hat.

Michael G. Bauer lässt seine männlichen Hauptfiguren das Problem mit Barry Bagsley allein mit der Macht der Sprache lösen, ohne dass Eltern oder Lehrer eingreifen. Natürlich kommt eine winzige Portion Schadenfreude beim Lesen auf, wenn James Scobie seine Peiniger schlagfertig in die Schranken weist. Zum Schreien komische Dialoge, die üblichen Peinlichkeiten der Pubertät und eine größere Prise Gefühl sind die Zutaten zu diesem fesselnden Jugendroman.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 02.01.2017
Ente, Tod und Tulpe
Erlbruch, Wolf

Ente, Tod und Tulpe


sehr gut

Der Tod strich der Ente ein paar Federn glatt ...
Die Ente hatte so ein Gefühl, als schleiche jemand hinter ihr rum. Der Jemand ist der Tod, eine Figur mit Totenschädel, im karierten Mantel, Schuhen und mit einer Tulpe in der Hand. Das Leben sorgt schon für Dinge, die "Euch Enten so zustoßen" meint der Tod und denkt zum Beispiel an einen Fuchs. Die Ente sinnt nun notgedrungen darüber nach, ob sie nach ihrem Tod zu einem Engel wird; sie denkt auch an die Hölle tief unter der Erde, von der manche Enten erzählen. Die Ente kommt auf die Idee, dass ein leerer Teich zurückbleiben wird, wenn sie tot ist. Schließlich stirbt die Ente, ein sehr kleiner Tod bleibt zurück und wir erfahren, warum der Tod eine Tulpe mitgebracht hat. Während der Tod auf der letzten Seite das Buch verlässt, bewegen sich Fuchs und Hase um seine Füße herum.

Eindringlich spiegelt die Körpersprache der Ente ihre Empfindungen: sie kann schlank wie ein Ast sein, wenn sie sich erschreckt und ihre Brust deutlich herausdrücken, wenn sie dem Tod selbstbewusst entgegentritt. Auch die Körperhaltung des Todes lässt Raum, über seine Empfindungen nachzudenken. Die Behutsamkeit, die der Tod der Ente entgegenbringt, erschließt sich wohl eher erwachsenen Lesern.

Wolf Erlbruch stellt die Begegnung der Ente mit dem Tod sehr poetisch in ausgeschnittenen und auf hellen Grund montierten Kreidezeichnungen dar. Seine einfache Geschichte ist reich an Zwischentönen und spricht Leser aller Altersgruppen ganz individuell an. Ältere Kinder und Erwachsene zeigen sich von diesem Buch nachhaltig berührt. Ob man "Ente Tod und Teufel" für die eigenen Kinder schon im Kindergartenalter für geeignet hält, hängt davon ab, ob man seinen Kindern den Tod als Gestalt vermitteln möchte. Ich habe mich gegen diese Sichtweise entschieden, nachdem ich die Erfahrung gemacht habe, dass Kinder sich mit dem Tod von Angehörigen weniger poetisch als realistisch auseinandersetzen. Sie fragen zunächst danach, wo der Tote nun ist und ob sie oder die Eltern auch bald sterben werden. Wie bei allen Kinderbüchern zum Thema Sterben empfiehlt es sich auch bei Erlbruchs Bilderbuch, sich mit dem Thema zu beschäftigen, ehe die Familie aktuell von einem Todesfall betroffen ist.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 02.01.2017
The Flight Of The Maidens (eBook, ePUB)
Gardam, Jane

The Flight Of The Maidens (eBook, ePUB)


sehr gut

Drei junge Frauen im Nachkriegs-England
Es ist der letzte gemeinsame Sommer, bevor das College beginnt. Una, Hetty und Lieselotte sind 17 Jahre alt, haben die Schule abgeschlossen und wissen bereits, dass sie alle drei an unterschiedlichen englischen Colleges zugelassen worden sind. Studieren können die Mädchen aus einfachen Verhältnissen nur, wenn sie auch ein Stipendium bekommen. Lieselotte kam als 11-Jährige mit einem Kindertransport als jüdischer Flüchtling aus Deutschland und hat seitdem als Pflegekind bei den Stonehouses gelebt. Hettys Vater lebt in seiner eigenen Welt, seit er traumatisiert aus dem Ersten Weltkrieg heimkehrte. Von Unas Vater wird vermutet, dass auch er an einem Kriegstrauma litt und sich deshalb das Leben genommen hat. Die drei 17-Jährigen sind überzeugt, schon vollkommen erwachsen zu sein. Sie verbringen die letzten Ferientage auf unterschiedliche Art und jede wartet auf die Nachricht, ob ihr College ein Stipendium vermitteln kann. 1946 hatte ein Studium für Mädchen, die keinem weiblichen Vorbild nacheifern konnten, nicht gerade Priorität. Der Alltag der ersten Nachkriegsjahre war geprägt vom geschickten Jonglieren mit Lebensmittel- oder Kleidermarken und dem Sich-Durchschlagen unter schwierigen Bedingungen. Als erstes scheinen sich Lieselottes Pläne zu zerschlagen, als eine jüdische Hilfs-Organisation sie - ohne sie groß um ihre Meinung zu fragen - zuerst nach London schickt und dann beschließt, ihr die Reise zu ihrer einzigen überlebenden Verwandten in den USA zu finanzieren. Ob Una tatsächlich ein Studium beginnen wird, scheint fraglich, als sie in dem klassenbewussten Eisenbahner Ray einen kritischen wie unternehmungslustigen Verehrer findet. Hetty schließlich reist allein und mit einer riesigen Tasche voller Bücher in den Lake District, um dort in Ruhe ihre Lektüre-Liste für das College abzuarbeiten. Wie Hettys und Unas Mütter, die mitfühlenden Nachbarinnen und die Bibliothekarin, die die drei stets gefördert hatte, bangt man als Leser dieser Sommer-Geschichte, ob die jungen Damen im Herbst tatsächlich wie geplant zum College gehen werden oder sich in letzter Minute noch anders besinnen. Lieselotte ist weit weg in den USA und Rays Werbung um Una könnte Una noch vor Semesterbeginn auf dumme Gedanken bringen.

Jane Gerdam beschreibt treffend und mit britischem Humor den Sommer 1946, einen besonderen Sommer im Leben dreier 17-jähriger Mädchen. Die Autorin verschweigt nicht die Existenz von Konzentrationslagern in Deutschland und lässt Ray kritisch fragen, ob Una eigentlich Zeitung liest und was sie von der Wirklichkeit jenseits ihrer provinziellen Idylle mitbekommt. Die Kriegsfolgen werden in den traumatisierten Vater-Figuren und in der Beschreibung des zerstörten London deutlich, ohne dass ein einziges Mal aufdringliche englische Nazi-Klischees strapaziert werden. Die drei Grazien und die zahlreichen äußerst skurrilen Nebenfiguren sind von der Autorin liebevoll charakterisiert und sorgen für eine leicht lesbare, humorvolle Sommergeschichte.

Bewertung vom 02.01.2017
Mrs. Medina
Wadsworth, Ann

Mrs. Medina


ausgezeichnet

Ein kluges Buch über Liebe, Tod und Einsamkeit
Mercedes Medina ist knapp 60 Jahre alt, kinderlos mit einem erheblich älteren Mann verheiratet und unterrichtet Italienisch. Mrs. Medinas Begegnung mit der jungen Lennie beim Blumenkaufen in ihrem Stamm-Geschäft stellt das wohlgeordnete bürgerliche Leben der Amerikanerin völlig auf den Kopf. Dezent, beinahe schon beiläufig, schildert Ann Wadsworth die Liebe der beiden Frauen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, und lässt uns in Mercedes Leben mit ihrem hochbetagten Partner blicken. Mrs. Medinas Mann Patrick ist 25 Jahre älter als sie. Der bekannte Musiker hat stets ganz selbstverständlich beansprucht, in ihrer Beziehung (und auch als Künstler) im Mittelpunkt zu stehen. Nun rechnen beide Partner mit Patricks baldigem Tod und Mercedes Gedanken kreisen auch bei ihrer Arbeit als Lehrerin ständig um ihren Mann. In dieser Situation tritt Lennie in jugendlicher Selbstüberschätzung, aber völlig abgeklärt in ihrer Rolle als lesbische Frau in Mercedes Leben. Der körperliche und geistige Verfall im Alter und der Tod gehörten bisher nicht zu Lennies Welt und sie ist sich bewusst, dass sie sich bei ihrer Begegnung mit dem 85-jährigen Patrick nur blamieren kann. Mercedes und Patrick indessen kreuzen rhetorisch versiert und ziemlich bühnenreif die Klingen; denn obwohl es Patrick gesundheitlich schlecht geht, ist er sich doch völlig klar darüber, was im gemeinsamen Haushalt vorgeht. Zu guter Letzt wird Mrs. Medina in eine Situation geraten, in der ihre Freundin Tina nicht mehr diskutiert, sondern handelt.

Bewertung vom 02.01.2017
Roberts alter Freund
Becker, Antoinette; Mocka, Susanne

Roberts alter Freund


ausgezeichnet

Der betagte Herr Mieritz hat Schlimmes erlebt
An vielen Tagen muss Robert nachmittags lange auf seine Mutter warten, weil sie die alte Frau Matz betreut. Robert lebt nach dem Tod seines Vaters Miroslaw allein mit der Mutter. Seit dem Tod seines Vaters kann der 9-jährige Robert sich in der Schule nur schlecht konzentrieren. Als Robert mit dem alten Herrn Mieritz aus seiner Strasse ins Gespräch kommt, tut diese Bekanntschaft beiden gut. Herr Mieritz lebt wie in einer anderen Welt in einer Wohnung mit einem Lesesessel, vielen Büchern und Erinnerungsstücken. Der äußerlich rüstige Mann ist manchmal abwesend und leidet unter schlimmen Erinnerungen. An anderen Tagen erzählt Herr Mieritz abenteuerliche Dinge aus seiner Zeit in Indien. Doch so gesund, wie Robert geglaubt hat, ist sein alter Nachbar nicht mehr. Roberts Mutter bereitet ihren Sohn darauf vor, dass Herr Mieritz bald sterben wird. Robert ist dabei, als Herr Mieritz in seinem Krankenhausbett aufhört zu atmen. Roberts Gesprächspartner wird auf dem jüdischen Friedhof begraben - und er hinterlässt dem Jungen einen Abschiedsbrief.

"Roberts alter Freund" ist ein Buch mit ganzseitigen Illustrationen und recht viel Text. Der weißhaarige alte Herr ist in hellen freundlichen Farben gezeichnet, so dass es keinen Grund gibt, sich vor seiner Verwirrung und Gebrechlichkeit zu fürchten. Antoinette Becker hat ihren Text über das Abschiednehmen mit großem Einfühlungsvermögen formuliert und überlässt es den Eltern, mit ihren Kindern über Herrn Mieritz mögliche traumatische Erlebnisse zu sprechen.

Bewertung vom 02.01.2017
Von Zuhause wird nichts erzählt
Waco, Laura

Von Zuhause wird nichts erzählt


sehr gut

Staatsangehörigkeit: deutsch, Bekenntnis: israelitisch - Als Älteste von drei Schwestern wächst Laura in den 50er in Freising und später in München auf. Die drei Schwestern sind Kinder von Holocaust-Überlebenden. Die Mädchen erleben einerseits eine typische Nachkriegs-Kindheit, andererseits spüren sie ihr Anderssein als Juden und ihre von der verordneten Normalität abweichende Familiengeschichte deutlich. In sehr kindlichem Ton erzählt Laura vom Alltag mit Eltern, die in Freising ein Restaurant betrieben, während die drei Töchter in der Münchener Borstei von wechselnden Haushälterinnen erzogen wurden. Laura als Älteste leidet sichtlich unter dem überschäumenden Temperament ihrer frechen kleinen Schwester Berta. Die Mädchen machen schon früh die Erfahrung, dass ihre Mutter sich distanziert verhält und in der Familie die Rolle der schonungsbedürftigen "Jammernden" einnimmt. - Sehr kritisch beschreibt Waco die widersprüchliche Haltung der Eltern zum jüdischen Glauben. Wenn es um die Schulleistungen der Töchter geht und darum, nicht anzuecken, können jüdische Sitten wie der Schabat ruhig vernachlässigt werden. Als die Töchter Interesse an gleichaltrigen Jungen zeigen, setzen die Eltern jedoch kompromisslos ihre Vorstellungen von der arrangierten Ehe unter jüdischen Partnern durch. Laura Waco schildert eine idyllische Kindheit, in der es jederzeit genug gleichaltrige Spielgefährten gab, man brauchte nur auf die Straße oder ins Schwimmbad zu gehen. An Bärendreck, Strumpfhalter-Leibchen und verhasste Kleidungsstücke, die wohlmeinende Verwandte aus Amerika schickten, erinnern sich noch viele von Wacos Zeitgenossinnen. Wacos typisch bayrische Kindheit, in der es katholische und protestantische Schulen gab und alle Nicht-Katholiken per Beschluss zu Protestanten erklärt wurden, ist natürlich auch die Kindheit einer Außenseiterin. - Doch abseits der vordergründigen Idylle erkennt Laura sehr deutlich, dass es im Bekanntenkreis ihrer Eltern Dinge gibt, über die Deutsche nicht sprechen. Laura nimmt Frauen wahr, die keine Kinder bekommen können, weil sie während des Nationalsozialismus zwangssterilisiert wurden und Freunde ihrer Eltern, deren Häftlingsnummer-Nummer am Unterarm von ihrem Schicksal zeugt. Als Laura als ältere Schülerin ein Referat über den Nationalsozialismus hält, entlarvt sich ihr geliebter Klassenlehrer als Hitler-Verharmloser. Nach ihrem Schulabschluss in Deutschland wird Laura auf eine feudale Finishing-School in London geschickt und gleich anschließend zu Verwandten nach Kanada. - Interessant ist die Entwicklung von Wacos Sprache: Die naive Sicht eines Vorschulkindes wird von der nicht weniger naiven Sicht einer streng behüteten Tochter abgelöst. In den immer kürzer werdenden Texten, die die erwachsene Laura aus England schickt, dokumentiert sie nüchtern ihre persönliche Reifung und die Entwicklung ihrer Englisch- und Maschinenschreibfertigkeiten. Über die Entscheidung der Eltern, Laura nach Kanada zu schicken, erfahren die Leser kaum noch etwas: Von Zuhause wird nichts erzählt. - Laura Waco legt eine Biografie vor, in der sie ihre Beziehung zu ihren als distanziert und liebesunfähig erlebten Eltern verarbeitet. Vermutlich soll ihr Buch auch Erinnerungen für die eigenen Töchter bewahren. Das Buch spricht als Zeugnis erlebter Heimat-Geschichte an, mehr jedoch als Analyse der Familienbeziehungen. Laura Waco hat die Probleme zwischen Eltern und Töchtern auf die Lagerhaft-Erfahrungen der Eltern Stöger zurückgeführt und stets beklagt, dass Kinder von Holocaust-Überlebenden sich als grundsätzlich minderwertig erleben, da ja niemand so schlimme Erlebnisse haben kann wie die eigenen Eltern. Die Autorin verkennt meiner Meinung nach bei ihrer Einschätzung, dass trotz der besonderen Umstände die Kindheit der drei Schwestern auch viele Gemeinsamkeiten mit der Kindheit von Zeitgenossen zeigt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 02.01.2017
Die verlorenen Schwestern / Sean Duffy Bd.3
McKinty, Adrian

Die verlorenen Schwestern / Sean Duffy Bd.3


ausgezeichnet

Ein Disziplinarverfahren beendete Sean Duffys Karriere bei der nordirischen Polizei und er will sich eigentlich in Spanien niederlassen, als ihm 1984 der Geheimdienst MI5 einen speziellen Auftrag anbietet. Duffy soll für kurze Zeit in den Polizeidienst zurückkehren, um Kontakt zum IRA-Sprengstoffexperten Dermot McCann herzustellen, den er seit seiner Kindheit kennt. Im Gegenzug wird Duffy eine gesäuberte Personalakte versprochen, ein perfider Vorschlag; denn bei seiner Entfernung aus dem Dienst ging es alles andere als korrekt zu. Soll er sich etwa geschmeichelt fühlen, dass der Special Branch ihn zum Unterhändler mit Dermot ernennt? Eine offizielle Entschuldigung von Margaret Thatcher sollte doch mindestens dabei herausspringen, orakelt Duffy. McCann ist nach einem Ausbruch aus dem Gefängnis The Maze auf der Flucht. Duffy wäre als junger Mann beinahe mit Dermot zusammen IRA-Mitglied geworden. So nahe liegen die Abzweige vom Lebensweg zum Terrorismus oder zur Polizei beieinander. Duffy muss sich den Kontakt zu Dermot erst von seiner Informantin mit einem Deal erkaufen und zunächst für sie einen tragischen Todesfall klären. Die Ermittlungen wurden damals eingestellt, obwohl der Gerichtsmediziner deutlich auf eine nicht natürliche Todesursache hinwies. Als klassischer Locked-Room-Fall ist der Tod einer jungen Frau durch die Untersuchung des Tatorts und sorgfältige Zeugenbefragung aufzuklären, geradezu eine Idylle im Vergleich zu McKintys früherem Leben im Fadenkreuz der IRA.

Adrian McKintys einzelgängerischer Held, der im Nordirland-Konflikt als Polizist im Dienst der verhassten Briten im falschen Wohnviertel lebt, gewinnt durch seine Stimmung am Rande der Depression und sein unerwartetes Interesse für Musik und Literatur die Sympathien der Leser. Duffy berührt durch seine Melancholie und seinen sarkastischen Blick auf die schönen Seiten seiner Heimat mitten im Bürgerkrieg. McKinty stammt selbst aus Carrickfergus wie sein Held. In den ersten beiden Bänden faszinierten mich die authentische Schilderung von Duffys Lebensumständen und der historische Hintergrund der Thatcher-Ära. Im dritten Band der Reihe geht es mit Nordirland und mit Duffys psychischer Verfassung deutlich bergab. Als Duffy dienstlich seine Ex-Freundin Laura in Schottland aufsucht, sieht er in ihrem Alltag all das, was er selbst vermisst: ein Leben in Sicherheit vor Terroranschlägen, beruflichen Erfolg und eine Liebesbeziehung.

Fazit
Wer die Bereitschaft mitbringt, sich über den historischen Hintergrund des Buches zu informieren, den IRA-Anschlag auf den Parteitag der Konservativen in Brighton, wird von McKinty atmosphärisch gekonnt und auf sprachlich solidem Niveau unterhalten.