Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
hasirasi2
Wohnort: 
Dresden

Bewertungen

Insgesamt 1170 Bewertungen
Bewertung vom 02.03.2021
Prost, auf die Erben
Kalpenstein, Friedrich

Prost, auf die Erben


sehr gut

Der Sheriff von Brunngries

Als Brunngries‘ erfolgreichster Bauunternehmer Ludwig Holzinger tot in der Badewanne gefunden wird, auf dem Tisch neben ihm diverse Spirituosen und eine sehr teure Zigarre, überrascht das die Dorfbewohner kaum. Ludwig hat selber immer mit seinem frühen Tod gerechnet. „Der Holzinger hat immer Vollgas gegeben. Ob auf der Straße oder im Leben.“ (S. 26) Und als bei der Obduktion herauskommt, dass es Mord war, werden sofort seine negativen Seiten und Eigenschaften ans Licht gezerrt. Seine Zahlungsmoral als Unternehmer war unterirdisch, er lag mit seinen Geschwistern im Clinch und hat alles flachgelegt, was nicht bei drei auf dem Baum war. Tatmotive und -verdächtige gibt es also genug, aber wer hat ihn nun warum auf dem Gewissen?

„Prost, auf die Erben“ ist der zweite Fall, den Hauptkommissar Constantin Tischler in Brunngries ermitteln muss. Tischler hat sich inzwischen eingelebt und kennt die meisten Menschen im Ort, aber wenn es um Interna, kleine Geheimnisse oder Altlasten geht, sind ihm der übereifrige Polizeiobermeister Fink und vor allem dessen Mutter stets einige Schritte voraus. Zum Glück teilen sie ihr Wissen gern mit ihm, und zum Leidwesen von Tischlers Magen auch einige ungewöhnliche bayrische „Köstlichkeiten“.
Weil Holzingers Großbaustelle, ein Chaletdorf für Urlauber kurz vor der Fertigstellung, wegen der Ermittlungen stillgelegt wurde, hängen Tischler diesmal der Polizeioberrat und der Bürgermeister im Nacken. Er soll doch bitte an die Nachunternehmer und die fehlende Tourismuseinnahmen wegen der verzögerten Fertigstellung denken! Und Pressemeldungen á la „Mord in der Feriensiedlung“ sind ja auch ganz, ganz schlecht für Brunngries!
Auch privat läuft es nicht so richtig rund. Britta (Frau Dr. Neufeld), die er beim ersten Fall kennengelernt hat, lässt sich zwar weiterhin von ihm umwerben, ihn aber (noch?) nicht ran. Außerdem legt ihm weiterhin jemand aus seiner Vergangenheit gefaltete Papierkraniche auf die Fußmatte und erinnert ihn damit an ein Versprechen und eine große Schuld.

Friedrich Kalpenstein schreibt gewohnt humorvoll, mit viel Lokalkolorit („Die ganze Gegend ist ein einziger Heimatfilm …“ (S. 62)) und auch die Spannung des Kriminalfalles stimmt. Da ich lange in einer Baufirma gearbeitet habe, kamen mir beschriebenen Zustände auf der Baustelle und in der Branche leider nur zu bekannt vor – gemauschelt wird halt überall, das Setting passte perfekt.
Nur Tischler selbst ist für mich kein richtiger Sympathieträger – muss er ja aber auch nicht zwingend sein. Er bezeichnet sich als Sheriff von Brunngries und scheint wie aus einem alten Western gefallen: ein echter Macho mit O-Beinen, einem locker sitzenden Colt und zu viel Testosteron im Blut. Weich wird er nur bei seinem Jaguar E-Type 1969 und seiner Hightech-Kaffeemaschine. Mal sehen, ob ich bei seinem nächsten Fall immer noch den Ohrwurm „Macho Man“ von „The Village People“ im Ohr habe …

Bewertung vom 28.02.2021
Der Club der toten Sticker
Kruse, Tatjana

Der Club der toten Sticker


ausgezeichnet

… denn ihr Hobby ist mörderisch!

„Ich bin auf der Flucht und brauche Hilfe! … Man hält mich für einen Mörder!“ (S. 134) Nie hätte der pensionierte Kommissar Siggi Seifferheld damit gerechnet, dass er selbst mal in das Visier seiner ehemaligen Kollegen gerät. Kurz zuvor hatte er noch gedacht, dass die sehr hübsche, sehr junge, aber leider auch leicht übergriffige und übermotovierte Journalistin Gunda Selund sein größtes Problem ist, die immer noch seine Biographie schreiben will. Doch dann wird ein toter Sticker nach dem anderen gefunden – ermordet mit einer Präzisionsschleuder. „Seifferheld hatte in seinem Job viel gesehen, ab das war das Unheimlichste, was ihm je untergekommen war.“ (S. 54) Sticken ist zum tödlichen Hobby geworden und jeder Sticker in Lebensgefahr. Räumt Siggi, der vom Weltruhm als DER Männersticker träumt, etwa die lästige Konkurrenz aus dem Weg oder hat er sich gar einen St(rrr)icker zum Feind gemacht?! Oder gibt es jemanden in seiner Vergangenheit, der jetzt endlich mit ihm abrechnen will?

„Es ließ sich nicht leugnen, ein Teil von Seifferheld war neugierig. Aber der überwiegende Teil von ihm war über 60 und wollte die letzten Jahre nicht mit Mordermittlungen verbringen, sondern damit, sich einen Namen als Sticker zu machen.“ (S. 43) Eigentlich wollte sich Siggi endlich nur noch auf sein Hobby, ach was sage ich, seine Berufung – das Sticken – konzentrieren und keine irren Mörder mehr jagen. Aber den Verdacht, selber der Täter zu sein, kann er natürlich nicht auf sich sitzen lassen. Normalerweise ermittelt ja immer seine ganze Familie mit, aber diesmal sind er und Hovawart Onis auf sich allein gestellt. Seine eifersüchtige Herzdame Marianne ist wegen einer Erb-Sache im Ausland unterwegs und seine Schwester Irmingard mit ihrem Mann Helmerich im Urlaub. Nur die neugierige Frau Hoppe von gegenüber sieht, hört und weiß fast alles und damit dann kurz darauf ganz Schwäbisch Hall …

Sehr spannend, sehr rasant und unvergleichlich amüsant! „Der Club der toten Sticker“ ist schon der 8. Band mit Kommissar Siegfried Seifferheld und hoffentlich nicht der letzte! Tatjana Kruse versteht es meisterlich, den Leser mit falschen Fährten, skurrilen Protagonisten, Siggis nicht immer ernstzunehmenden Polizeiberichten, viel Schwäbisch Haller Lokalkolorit, einem filmreifen Showdown und ihrem unvergleichlichen Humor zu fesseln und bestens zu unterhalten.
Außerdem liebe ich die pointierten Beschreibungen des (Zusammen-) Lebens in einer Kleinstadt, in der fast jeder jeden kennt (wenn auch nur vom Sehen) und man sich von den neugierigen Nachbarn oder der überfürsorglichen Familie ständig überwacht fühlt.

Leider war auch dieses Buch wieder viel zu schnell ausgelesen. Wann kommt Nachschub, Frau Kruse???

Bewertung vom 24.02.2021
Mit Abstand verliebt
Rothmund, Juli

Mit Abstand verliebt


sehr gut

Liebe in der Krise

Februar 2020: Auf der Party eines Freundes fällt Jelly Lennard auf – vor allem seine ungewöhnlich grünen Augen haben es ihr angetan. Doch Lennard hat kein Interesse an dem über und über tätowierten Surfergirl. Trotzdem treffen sie sich kurz darauf wieder – in der Schlange für den Corona-Test, weil der Gastgeber der Party positiv ist. Leider sind die Tests kurz vor ihnen alle und sie werden nach Hause geschickt. Während sich Lennard an die 14tägige freiwillige Quarantäne hält und sich noch Wochen danach panisch auf Symptome untersucht, nimmt es Jella gelassen und lebt ihr Leben einfach weiter – die Party ist schließlich schon ne Weile her. Trotzdem bleiben sie in Kontakt via WhatsApp, erst lose, dann wird es immer enger und schließlich merken sie, dass sie sich ineinander verliebt haben. Aber ein Treffen im wirklichen Leben ist inzwischen nicht mehr drin, oder?

„Mit Abstand verliebt“ ist die erste Corona-Love-Story und verknüpft geschickt das Prickeln und Herantasten einer neuen Liebe mit den besonderen Bedingungen während einer Pandemie. Dabei wurden viele Fakten und kuriose Nachrichten rund um das Virus amüsant verpackt und der damals aktuellen Entwicklungsstand wird immer wieder zwischen den Kapiteln eingestreut.
Es geht dem Autorenduo darum, alle Auswirkungen von Covid bzw. der Bedrohung durch es zeigen – physische und psychische, aber auch materielle. Sie stellen Existenz- und allgemeinen Ängsten, Entlassungen und Kontaktsperren neuen Hobbys und das generelle Umdenken oder einer Neufindung gegenüber. „Ich glaube, viele haben Angst vor Langeweile.“ … „Ich glaube, die meisten Leute haben Angst vor sich selbst.“ (S. 142)
Allerdings wurde mir das stellenweise zu ausufernd und sachlich, auch der erhobene moralische Zeigefinger war manchmal zu viel.
Man erinnert sich beim Lesen unweigerlich an die Anfangszeit von Corona, die Ahnungs- und Arglosigkeit und späteren Ängste. Zudem ist die Thematik ungebrochen aktuell, steuern wir doch gerade auf die 3. Welle zu.

Die Liebesgeschichte an sich sehr süß und außergewöhnlich, gerade weil Jella und Lennard sehr verschieden sind. Währen Jella das Leben genießt, bereitet sich Lennard akribisch und strategisch auf alle Möglichkeiten vor. Sie steht zwar nicht unbedingt für die Corona-Leugner, aber zumindest für die, die es lange (zu) locker gesehen und die Gefahr verkannt bzw. verdrängt haben. „Es wird ja hoffentlich bald Entwarnung geben, und wir können zu unserem normalen Leben zurück.“ (S. 83) Leonard ist das totale Gegenteil. Er bestellt schon Masken und Desinfektionsmittel, bevor es alle machen, richtet sich das perfekte Homeoffice ein und plant alles durch. Trotzdem finden sie virtuell zueinander und haben wirklich romantisch Dates. Und am Ende versteht man auch, warum beide so geworden sind, wie sie sich geben.

4 Sterne für diese amüsante und zum Nachdenken anregende Lovestory.

Bewertung vom 21.02.2021
Wohin die Reise geht
Ferber, Marlies

Wohin die Reise geht


ausgezeichnet

Mit Gerontos on Tour

Es ist eine sehr ungewöhnliche Reisegesellschaft, die Marlies Ferber auf diesen abgedrehten Roadtrip schickt.
Rentner Jakob soll für seinen Sohn 1 Mio. € Schwarzgeld zu einer Schweizer Bank bringen, getarnt als Kurzurlaub („… ich will einen Notgroschen, in Sicherheit … Nicht für mich, aber für die Familie …“ (S. 16.). Seinem Chorfreund Matthias erzählt er zwar von der Reise, aber natürlich nicht von dem Geld. Matthias ist Polizist, war schon ewig nicht mehr im Urlaub und will mit. Außerdem können sie in seinem Wohnwagen reisen - „Modell Rossini. Mit Lattenrost und orthopädischer Matratze.“ (S. 25). Und natürlich reist auch Eddie mit, Matthias Hund, ein früherer Bombenspürhund mit Knalltrauma.
Auf einer Raststätte fällt Jakob Tilda auf. Sie ist verwirrt und weiß nicht, wie sie hier hingekommen ist, aber sie kennt ihre Adresse – zumindest ungefähr. Tilda erinnert ihn an seine verstorbene Frau, die ebenfalls dement war.
Auch die Straßenmusikerin Alex ist auf der Raststätte gestrandet. „Je nachdem, wie sie sich zurecht machte, konnte sie wie fünfzehn oder fünfundzwanzig aussehen. … Offen für Veränderung, bereit zur Täuschung.“ (S. 28) Sie behauptet, von ihrer Reisegruppe vergessen worden zu sein. Jakob hat mit beiden Frauen Mitleid und überredet Matthias, sie mitzunehmen.
Doch nicht nur Jakob, sie alle haben ein Geheimnis. Und dann kommt es zur Vollsperrung der Autobahn, weil die Polizei jemanden sucht …

„Wohin die Reise geht“ ist eine bittersüße, melancholische und überraschende Geschichte über vier völlig verschiedene Menschen, die durch den Zufall und das Schicksal zusammengeschweißt werden.
Jakob hatte früher eine Kaffeerösterei. Nach dem Konkurs folgte der soziale Abstieg, den ihm sein Sohn heute noch unterschwellig vorwirft. Nur deswegen lässt er sich zu dem Geldtransport überreden. Sein schlechtes Gewissen wird noch größer, als er Matthias belügen und ihm eine harmlose Reise vorgaukeln muss.
Matthias ist erst 40, aber gesundheitlich angeschlagen. Er hat eine gute Menschenkenntnis und überhaupt kein gutes Gefühl bei Alex.
Die hält ihre Mitreisenden ganz schön auf Trab. Sie hatte es bisher nicht leicht und läuft vor ihren Problemen davon, verklärt die Situation aber. „Ich will keine Wände, der Himmel ist mein Zelt, nachts leuchten mir die Sterne. Die Welt ist mein Zuhause.“ (S. 165)
Tilda hingegen hatte ein erfülltes Leben. Sie war Opernsängerin und Lehrerin, leider ohne eigene Kinder. Ihr Mann und ihre beste Freundin sind schon gestorben. Zum Glück kümmern sich deren Kinder um Tilda. Dass sie seit einiger Zeit immer wieder Sachen verlegt und Aussetzer hat, macht ihr Angst. Sie will auf keinen Fall ins Heim! Und auf der Reise scheinen die Probleme gleich viel kleiner zu sein. „Sie hatte sich jung gefühlt, wie beim Aufbruch in die weite Welt, die Abenteuer und Überraschungen bereithielt.“ (S. 178)

Die Autorin schreibt mit leichter Feder über falsches Pflichtgefühl, Unrechtsbewusstsein und Schuld, über die Annäherung der verschiedenen Charaktere und Generationen und Hilfe zur Selbsthilfe.

Selten hat mich ein Unterhaltungsroman so nachhaltig berührt und zum Nachdenken angeregt. Wie gehen wir eigentlich mit unseren „Alten“ um? Sind wir uns immer bewusst, dass sie trotzt allem noch mündig sind, auch wenn sie schon kleine Aussetzer haben und schwierig im Umgang werden?

Mein Tipp für alle, die „Goldene Zeiten im Gepäck“ von Adriana Popescu mochten.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 18.02.2021
Die Frau von Montparnasse / Mutige Frauen zwischen Kunst und Liebe Bd.17
Bernard, Caroline

Die Frau von Montparnasse / Mutige Frauen zwischen Kunst und Liebe Bd.17


sehr gut

Herz aus Kopf an?
Das Gefühl hatte ich beim Lesen von Caroline Bernards neuem Roman über Simone de Beauvoir. Gegen alle Konventionen und die Erwartungen ihrer Eltern studiert Simone Philosophie und wird Lehrerin, lernt dabei Jean-Paul Sartre kennen und lieben und bindet sich mit einem Pakt lebenslang an ihn – keine Heirat aber eine gleichberechtigte Beziehung, bei der sie auch andere Partner haben dürfen. Es klingt revolutionär – denn neben ihrer sexuellen Freiheit würde er ihr auch nie vorschreiben, wie, wo oder woran sie arbeitet oder ihre Zeit verbringt. Dass Sartre sich in der Realität dann doch immer wieder einmischt, vor allem wenn es seine Affären (er)fordern oder er Simone antreibt, dass sie ihren Roman schreiben soll, hat sie hingenommen.
Keine Frage, Simone de Beauvoir war und ist eine Frau, die polarisiert. Aus gutem Hause stammend hätte sie nach dem Willen ihrer Eltern eigentlich einen passenden (reichen) Mann heiraten und Kinder in die Welt setzen sollen, doch sie will mehr. Und weil es noch kein Vorbild für die moderne unabhängige Frau gibt, wird sie es eben selbst. Sie ermutigt ihre Schülerinnen zu selbstständigem Denken und freien Entscheidungen, fördert sie und damit oft auch die Abnabelung vom Elternhaus. Und nicht wenige von ihnen landen in Sartres oder ihrem Bett und damit ihrem Leben. Sie alle werden eine große Familie, oft belastet von persönlichen Dramen, aber man kümmert sich umeinander und unterstützt sich. Wobei gerade der Zusammenhalt, die Organisation und Planung des zum Teil sehr fragilen Gebildes allein in Simones Händen liegt.

Caroline Bernard zeichnet hier das Bild einer Frau, die bis zur Selbstaufgabe arbeitet. Ich hatte oft das Gefühl, dass alle anderen und deren Bedürfnisse – allen voran Sartres – zuerst kommen. Simone liest seine Arbeiten gegen und gibt ihm immer wieder neue Denkanstöße. Ihr eigene Arbeit erledigt sie erst danach, wenn er sie nicht mehr braucht. Ihr ganzes Leben lang überdenkt sie immer wieder die Rolle der Frau im Allgemeinen und ihre eigene im Besonderen und erkennt irgendwann: „Man kommt aber nicht als Frau zur Welt, man wird es.“ (S. 413) Sie ist die ewig Zweifelnde, stagniert nie, sucht immer neue Blickwinkel und ist offen für Anregungen – und man ist als LeserIn live dabei.
Ich habe sie für ihren Mut und ihre scharfe Intelligenz bewundert, dass sie kein Problem damit hat, Sartre und anderen Männern oder Frauen zu widersprechen und ihnen die Fehler in ihre Interpretation oder Argumentation aufzuzeigen.
Genau wie in ihrem Denken und Leben nimmt Sartre auch im Roman einen sehr großen Platz ein. Egal wie frei sie zu sein glauben, sie können nicht ohne einander, auch wenn es irgendwann nur noch eine geistige Verbindung ist und keine körperliche mehr. Dabei habe ich mich oft gefragt, ob es wirklich Simones freier Wille war, sich so an ihn zu binden, oder ob sie sich ihm doch (unbewusst) unterworfen hat. Schließlich hat er von Beginn an die Rahmenbedingungen ihrer Beziehung festgelegt. In meinen Augen hat sie zu viel hingenommen, ihm seine Fehler immer wieder nachgesehen und entspricht damit meiner Meinung nach doch genau dem Frauenbild, dass sie verändern wollte. Sie fordert Freiheit und Unabhängigkeit für alle Frauen und ist es doch selber nicht, lässt sich von ihm manipulieren. Am erschreckendsten fand ich, dass sie aus Rücksicht, seine Gefühle und seinen Ruf einen ihrer Liebhaber bis nach Sartres Tod verheimlicht hat.

„Die Frau von Montparnasse“ ist ein Buch, für das man Zeit braucht. Es regt dazu an, sich mit Simone und Jean-Paul als Menschen, Philosophen und Literaten auseinanderzusetzen und auch damit, in wieweit sich unsere Rollenverständnisse im Vergleich zu damals geändert haben oder nicht.
Caroline Bernard schreibt sehr emotional, lässt uns auch Simones Nervenkrisen und Unsicherheiten miterleben und in das Paris und Lebensgefühl zu Beginn des letzten Jahrhunderts abtauchen.

Bewertung vom 16.02.2021
Das kleine Friesencafé Bd.1
Mommsen, Janne

Das kleine Friesencafé Bd.1


ausgezeichnet

Alte Liebe rostet nicht …

Für Kapitän Hark Paulsen ist das die Liebe zur Seefahrt, seinem gemütlichen Friesenhaus und seiner verstorbenen Frau Miranda. Darum kann er auch nur schwer akzeptieren, dass er jetzt mit 67 in Rente gehen muss. „Er war gesund, kompetent und erfahren, hatte an Board alles im Griff, und der Job brachte ihm Spaß.“ (S. 7) Was soll er denn den ganzen Tag tun? Sich in die Rentnerclique der Insel integrieren und jede Woche Canasta spielen? Also dazu fühlt er sich definitiv noch zu jung!

Julia arbeitet in Gelsenkirchen im Blumengeschäft ihrer Oma Anita, in ihrer Freizeit malt sie und backt Kuchen. Eines Tages findet Anita eine Mappe mit Zeichnungen von Julias Mutter wieder, die bei einer Mutter-Kind-Kur auf Föhr entstanden sind. „Das größte Glück wohnt gleich hier, hinterm Deich.“ (S. 35) steht unter einer von ihnen. In Julia bricht die Sehnsucht nach ihrer Mutter wieder auf, an die sie sich nicht erinnern kann, da sie sehr jung gestorben ist. Anita verordnet ihr einen 8wöchigen Urlaub auf Föhr, den Julia nutzen soll, um nach Spuren ihrer Mutter zu suchen. Auf der Suche nach einer Unterkunft entdeckt sie Harks sanierte Scheune und überrumpelt ihn, ihr diese zu vermieten. „Ich habe … das schönste Atelier der Welt gefunden. Es lässt einen in der Luft schweben und doch mit beiden Beinen auf dem Boden stehen.“ (S. 73) Ihr kleines Atelier spricht sich schnell rum. Einheimische und Gäste kommen um sich malen zu lassen oder die ungewöhnlichen Bilder der Marschlandschaften und Surfer zu bewundern. „… mit Pinsel und Farbe war sie in der Lage, die Anziehungskraft der Erde außer Kraft zu setzen und den Traum vom Fliegen wahr werden zu lassen.“ (S. 79) Sie beginnt, Kuchen zu backen und an die Besucher auszuteilen. Der junge Bürgermeister des Ortes will sie überzeugen, ein richtiges Café zu eröffnen, aber für Julia soll es nur eine kurze Auszeit vom Alltag bleiben. Und dann steht plötzlich Anita mit ihrem Laster und einem Plan vor der Scheune … „Wenn es nur eine Stunde so aussieht wie das Café, das ich nie hatte, wird mein Traum wahr.“ (S. 104)

Wenn man zurzeit schon nicht ans Meer fahren darf, kann man sich mit dem kleinen Friesencafé von Janne Mommsen wenigstens dahin träumen. Es ist eine berührende Geschichte über Abschiede und Neuanfänge, über Sehnsuchtsorte, das Suchen, Finden und vor allem Ankommen. „Ich habe dich gesucht und mich dabei gefunden.“ (S. 242) Er schreibt sehr poetisch und ich mag den leisen Humor, dass die Handlung blitzschnell von ruhig und friedlich in aufwühlend wechselt und wieder zurück – wie das Meer und Wetter um und über Föhr.

Julia ist sehr lebensfroh und steht mit beiden Beinen fest im Leben. Sie liebt Anita, bei der sie aufgewachsen ist, und ihre Arbeit im Blumenladen. Aber sie ist die unterschwellige Trauer um ihre Mutter und die Sehnsucht nach ihr nie losgeworden. Die Insel tut ihr gut. „Auf Föhr war alles vereint, was ihr etwas bedeutete: das Malen und Backen, die Blumen und die Menschen. Hier, in der Scheune, verbanden sich ihre Leidenschaften auf leichte, natürliche Weise. Und sie war ihrer Mutter besonders nah.“ (S. 171) Julia bekommt einen anderen Blickwinkel auf ihr Leben, kann sich beim Malen ausprobieren und ausleben. Sie bewirtet auch gern ihre Gäste. Aber will sie ihr Leben wirklich komplett umkrempeln?

Hark ist ein Eigenbrötler, der seine Ruhe und sich im Selbstmitleid suhlen will. Julia mischt sein Leben kräftig auf und Anita schlägt ein wie eine Bombe.

Janne Mommsens stimmungsvolle Geschichte geht ans Herz und wärmt von innen, weckt die Sehnsucht nach Mee(h)r und macht glücklich – und leider auch unbändigen Appetit auf Julias und Anitas Kuchen und Torten – also besser nicht mit leerem Magen lesen.

Mein Lieblingszitat ist übrigens „Aufatmen. Frisches Heu und Meeresduft. Sonnige Weite. Freiheit!“ (S. 175) – genauso fühle ich mich immer, wenn wir auf „unserer“ Insel ankommen …

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 15.02.2021
Mauersegler
Jakob, Valerie

Mauersegler


sehr gut

Über den Wolken, muss die Freiheit wohl grenzenlos sein …

„Du kannst jederzeit wiederkommen, wenn dir danach ist.“ (S. 31) sagt ihr Großcousin Johann zu Juliane, als sie nach ihrem ersten Besuch wieder nach Hause fährt, dabei hatten sie jahrelang keinen Kontakt. Sie ist gerade wegen ihrem Freund nach Berlin gezogen, hat ihren ungeliebten Job als Lehrerin gekündigt und keinen Plan, was sie jetzt machen soll. In Johanns Haus auf den Klippen über der Ostsee fühlt sie sich zum ersten Mal seit langem wieder etwas freier. Kurz darauf gesteht ihr Freund ihr, dass er längst eine Neue hat. Kopflos flüchtet sie zu Johann. Er bringt sie im ehemaligen Zimmer seiner Mutter Marianne unter, wo sie Fotoalben und ein Sammelalbum mit Zeitschriftenausschnitten über berühmte Fliegerinnen findet. Bis dahin wusste Juliane nicht viel über ihre Vorfahren. Nur, dass die es im Krieg und in der DDR schwer hatten. Ihre Oma wollte nie darüber reden und ihre Mutter kann sich kaum erinnern ...

Berlin in den 1930ern: „Ich will den Flugschein machen und hinterher damit Geld verdienen. Und wenn es nicht klappt, werde ich etwas anderes finden.“ (S. 50) Marianne und ihre beste Freundin Roseanne stammen aus gutsituiertem Hause und haben das Glück, dass sie anstatt zu heiraten ihre Fluglizenzen machen und danach ihren Lebensunterhalt mit Reklame- und Transportflügen in ihren eigenen kleinen Maschinen in Deutschland und Europa verdienen können. Als Roseannes Bruder Charles eine Handelsvertretung in Westafrika aufbaut, sollen sie die regelmäßigen Transportflüge dorthin übernehmen. Ein Traum wird wahr. Obwohl Marianne inzwischen verheiratet ist fliegt sie nach Afrika. Ihren kleinen Sohn Johann lässt sie für diese Zeit bei ihrer Schwester Ruth und deren Mann. In dem Moment bricht der 2. Weltkrieg aus …

Der neue Roman von Valerie Jakob umfasst fast 100 Jahre und 3 Generationen, spielt im lebhaften Berlin, an der traumhaften Ostseeküste und in der atemberaubenden Wüste Westafrikas. Sie erzählt darin von Frauen, die sich weder von ihren Männern noch vom Schicksal brechen lassen, unbeirrt ihren Weg gehen und dabei über sich hinauswachsen. Marianne und Roseanne und später auch Ruth kämpfen für ihre Freiheit, Gleichberechtigung und gegen herrschende Konventionen.

Marianne hatte ich sofort ins Herz geschlossen. Sie ist sehr mutig und intelligent. Als sie und Roseanne gegen alle Vorurteile und Widerstände ihre Führer- und Flugscheine machen, war das für Frauen nicht nur unüblich, sondern regelrecht unweiblich. Trotzdem haben sie sich davon nicht abschrecken lassen und sogar ihre eigene kleine Firma aufgebaut. Doch Hitlers Machtübernahme änderte alles.
Auch Johann habe ich sofort gemocht. Er ist zwar verschlossen, aber trotzdem sehr herzlich und vor allem nimmt er die Menschen so, wie sie sind. Er kann gut zuhören und Geheimnisse für sich behalten, auch über den Tod der Betroffenen hinaus.

Juliane hat es mir schwerer gemacht, sie zu mögen. Sie lässt sich ziellos durchs Leben treiben und schiebt Entscheidungen immer wieder auf. Als sie verlassen wird, ist der eigentlich unbekannte Großcousin Johann der Einzige, der ihr keine Vorwürfe oder Vorschläge macht, sondern sie in seinem Haus und seinem Leben willkommen heißt. Nur darum flüchtet sie sich zu ihm und stößt dabei auf die Geschichte ihrer Familie. Bei der Suche nach Mariannes Spuren erkennt sie endlich ihre Stärken und weiß, was sie in Zukunft machen will.

Valerie Jakob schildert das Leben in Deutschland in den 1930er bis 40er und später der DDR sehr plastisch und eindringlich. Sie entführt ihre Leser auf eine extrem emotionale Reise, schildert die sich ändernde Rolle und Bedeutung der Frau unter den Nazis und zeigt auch das in der DDR geschehene Unrecht auf, die Einschränkungen und Bevormundung der Menschen durch den Staat und wie diese damit umgegangen sind.

Fazit: Eine spannende, atmosphärische und emotionale Familiengeschichte voller Geheimnisse.

Bewertung vom 10.02.2021
Die Begine und der Siechenmeister
Stolzenburg, Silvia

Die Begine und der Siechenmeister


ausgezeichnet

Menschenfresser!

Ulm 1412: 4 Monate sind vergangen, seit Begine Anna und Siechenmeister Lazarus unter Einsatz ihres eigenen Lebens einen Mörder gestellt haben und sich dabei nähergekommen sind als erlaubt. Zur Strafe musste sich Lazarus vor seinem Orden in Rom verantworten und nach seiner Rückkehr verhält er sich Anna gegenüber sehr abweisend. „Du bist eine Begine, ich bin ein Bruder des Heilig-Geist-Ordens. Unser Leben gehört Gott.“ (S. 47) Also stürzt sie sich in ihre Arbeit, die Pflege der Kranken im Spital. Als eine Reisende, die bei ihnen im Konvent Schutz gesucht hatte, ernsthaft erkrankt, wird sie ins Spital verlegt. Dort fallen Anna und Lazarus Wunden auf, die auf einen Überfall oder eine Misshandlung hindeuten. Doch noch bevor sie die Frau dazu befragen können, verstirbt diese und dann verschwindet auch noch ihre Leiche. Gleichzeitig werden im Ulmer Umland Leichenteile von Kleinkindern entdeckt. Die Angst der Menschen wächst täglich – geht da ein Menschenfresser um? Anna glaubt an einen menschlichen Täter und hat auch schon einen Verdacht. Doch auf der Suche nach Beweisen gerät sie wieder in Lebensgefahr … „Deine Neugier war schon immer dein größter Fehler.“ (S. 95)

Auch der zweite Teil der Ulmer Beginenreihe mit Anna und Lazarus ist sehr spannend und ein bisschen gruselig, wabert doch fast die ganze Zeit dichter Nebel über Ulm, der sämtliche Geräusche schluckt und alles in unheimliche Schemen verwandelt. Zudem gewährt Silvia Stolzenburg weitere Einblicke in das Handwerk der Mediziner – und ein Handwerk war es wirklich. Da werden den Betroffenen bei vollem Bewusstsein die Beine mittels Säge amputiert oder Wunden mit glühenden Eisen ausgebrannt und Anna muss dabei assistieren. Das und ihre Gefühle für Lazarus lassen sie ihren Lebensentwurf weiter überdenken. „Immer öfter schlichen sich an manchen Tagen Zweifel ein, ob sie für das Leben einer Begine wirklich geeignet war.“ (S. 38)

Neben Anna und Lazarus gibt es auch ein Wiederlesen mit dem Stadtpfeifer Gallus, der sich für das schnelle Geld unwissentlich in große Gefahr begibt, und dem intriganten zweiten Bürgermeister Johannes Schad, der die brutalen Kindsmorde für seinen Aufstieg nutzen will und nichts dagegen hätte, wenn er dabei auch noch Annas Bruder Jakob, den Spitalpfleger, loswerden würde.

Silvia Stolzenburg schreibt sehr atmosphärisch über das Leben und Arbeiten zur damaligen Zeit, die politischen Ränkespiel und den herrschenden Aberglauben. Die Spannung entwickelt sich kontinuierlich bis zum großen Showdown und die Hinweise auf den Täter sind so geschickt gestreut, sodass man bis zum Ende mitraten kann. Ich bin schon sehr gespannt, welches Abenteuer Anna und Lazarus als nächstes erleben und ob sie dann irgendwann zueinander finden.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 09.02.2021
Glückskinder
Simon, Teresa

Glückskinder


ausgezeichnet

„Ich. Bin. Griet. Van. Mook. Ich. Werde. Leben.“ (S. 17) Dieses Mantra half Griet, das KZ, die Zwangsarbeit und die Zeit im amerikanischen Auffanglager für DPs zu überstehen. Nach Kriegsende will sie nicht zurück in ihre Heimat, da keine Familie mehr hat. Sie will einen Neuanfang in München und hat Glück, bekommt eine Arbeit im Offizierskasino inkl. requiriertem Zimmer. Das gehört zu einer Wohnung, in der schon 6 Personen leben. Toni, ihre Mutter Rosa und ihre jüngere Schwester Bibi sind bei Tante Vev untergekommen, als ihr Haus zerbombt wurde, genau wie deren Nichte Anni mit ihrem erwachsenen Sohn Benno. Benno ist ein Kriegsversehrter, der bis zuletzt an Hitler geglaubt hat und die Alliierten hasst – und den Griet von ihrer Zwangsarbeit bei Agfa kennt. Schon beim ersten Zusammentreffen mit der Familie schlägt ihr offene Feindschaft entgegen, weil sie ihnen durch die Einquartierung das Wohnzimmer wegnimmt. Sie sind unfreundlich zu ihr, haben gleichzeitig Angst vor und Mitleid mit ihr.

Die Handlung wird abwechselnd aus Tonis und Griets Sicht erzählt und ich habe mit beiden gleichermaßen von Anfang bis Ende mitgefiebert. Toni hält ihre Familie mit Schwarzmarktgeschäften über Wasser, trotzdem haben sie nie genug zu essen. Sie neiden Griet die Arbeit im Kasino und die regelmäßigen Mahlzeiten. Bei ihren Mauscheleien lernt Toni den charismatischen Louis kennen, der anscheinend alles besorgen kann, wenn der Preis stimmt. Er macht ihr Avancen und sie fühlt sich von ihm angezogen, aber sie traut ihm nicht. Er ist ein Frauenliebling, der sich ungern festzulegen scheint. Auch Griet muss sich mit der neuen Situation erst arrangieren. Sie hat Probleme, sich an die Freiheit zu gewöhnen. Außerdem weiß sie nicht, was schlimmer ist: Ihr Hass auf die Deutschen oder die Angst vor Entdeckung. Denn sie hat ein Geheimnis, das am liebsten für immer vergessen würde.

Mir haben die starken Frauen imponiert, über die Teresa Simon schreibt. Toni ist eine Macherin, sehr findig, intelligent und aufgeschlossen. Sie entscheidet schnell und übernimmt gern die Führung, doch kann auch um Hilfe zu bitten, wenn nötig. Griet hat Schlimmes er- und überlebt. Sie fühlt sich entwurzelt und nicht willkommen, lässt sich davon aber nicht unterkriegen. Tante Vev ist mein heimlicher Liebling. Die ehemalige Schauspielerin ist Witwe, gutsituiert, schlagfertig und gerissen. Sie hatte ihre Bewunderer früher fest im Griff und opfert jetzt nach und nach ihren Schmuck für das Überleben der Familie.

Teresa Simon erzählt sehr anschaulich und mitreißend von der aufregenden, unruhigen und gefährlichen Zeit direkt nach dem Ende des 2. WKs in München. Ich konnte mich gut in die Unsicherheiten und Ängste der Menschen hineinversetzen. Die Stadt war zu großen Teilen zerstört und die Amerikaner behandelten die Besiegten verständlicherweise nicht gerade nett. Die Animositäten zwischen Siegern und Besiegten waren groß. Man musste sich erst an die neuen Machtverhältnisse und Ressourcenverteilung gewöhnen. Jeder kämpfte ums Überleben, um Nahrung und Wohnraum. Vor allem, als auf den Krieg auch noch der Hungerwinter folgte. Die Überlebenden sehnten sich nach ihren immer noch vermissten oder verlorenen Angehörigen und gerade die jüngeren auch nach der Liebe und richtigen Neuanfängen. Dazu kommt, dass in München überdurchschnittliche viele DPs gestrandet waren und rund um die Möhlstraße schnell eine jüdische Gemeinde inkl. riesigem Schwarzmarkt entstand. In diesem Umfeld hat die Autorin ihre „Glückskinder“ angesiedelt – junge Menschen, die einen unsicheren Neuanfang wagen. Wie von ihr gewohnt, hat sie die historischen Hintergründe wieder hervorragend recherchiert, bindet u.a. die politischen Umbrüche, die Aufstände der hungernden Bevölkerung und Stürmung der Lebensmittellager und Schwarzmärkte, die Spruchkammermeldebögen und Prozesse gegen Kriegsverbrecher sowie die Unruhen bzgl. der Währungsreform geschickt in die Handlung ein und lässt ein weiteres Stück Geschichte lebendig werden.

2 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 06.02.2021
Gespenster
Alderton, Dolly

Gespenster


gut

Nina gegen den Rest der Welt

Nina ist 32, Food-Journalistin mit einer ersten eigenen winzigen Wohnung und seit 2 Jahren bewusst Single. An ihrem 32. Geburtstag beschließt sie, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist, wieder einen Mann in ihr Leben zu lassen. Auf Anraten ihrer ewigen Single-Freundin Lola lädt sie sich eine Dating-App runter und schon der erste Mann, mit dem sie sich trifft, ist ein Volltreffer. Max verabschiedet sich mit nach ihrem ersten Date mit „Das war ein schöner Abend, Nina. Und ich bin mir ganz sicher, dass ich dich heiraten werde.“ (S. 56). Die nächsten Monate sind perfekt, sie fühlen sich wie Teenager und sind gleichzeitig reif genug für eine Beziehung mit Zukunft. „Ich fühle mich in eine Ära der Freuden und Verheißungen zurückversetzt. Ich war wieder ein Teenager, nur mit Selbstbewusstsein, eigenem Gehalt und ohne feste Zeit, zu der ich zu Hause sein musste.“ (S. 94) Die ersten Schritte gehen stets von ihm aus und eines Abends sagt er ihr, dass er sie liebt, doch am nächsten Tag ist er weg und reagiert nicht mehr auf ihre Nachrichten – er ghostet sie, erklärt Lola ihr.
Gleichzeitig macht Nina sich Sorgen um ihre Eltern. Ihr Vater ist an Demenz erkrankt und ihre Mutter scheint das nicht zu kümmern. Sie ist 15 Jahre jünger als er und lebt ihr Leben einfach weiter, will sich jetzt in der Rente neu verwirklichen. Ninas Vorschläge für Anpassungen an den Zustand des Vaters werden von ihr abgelehnt, bis sie die Situation nicht mehr ignorieren kann …

„Gespenster“ von Dolly Alderton wird mit „hinreißend, lustig und tief berührend“ beworben, aber ich habe es etwas anders empfunden, nicht ein einziges Mal gelacht oder wenigstens geschmunzelt. Bin ich einfach nicht die Zielgruppe? Zu alt und abgeklärt? Doch berührt hat mich Ninas Geschichte sehr. Vor allem der Part über die Erkrankung ihres Vaters und wie sie verzweifelt versucht, Lösungen für die Situation zu finden, sind extrem emotional. Seine Krankheit schreitet sehr schnell voran. Er erkennt sie immer seltener und ihr wird bewusst, dass er wahrscheinlich nicht mehr lange leben wird. Außerdem ist es (noch) kein leiser Abschied, er wütet, fühlt sich verfolgt oder ausgegrenzt, verletzt sich und andere. Nina beweist in dieser Situation ungeahnte Stärke, darum hat es mich um so mehr überrascht, dass sie in ihrer Beziehung zu Max so jung und unsicher rüberkommt. Sie vertraut nicht auf sich, sondern macht, was ihre Freunde sagen. Ich habe z.B. nicht verstanden, warum sie Max‘ Kontaktabbruch so einfach hinnimmt und nicht zu seiner Wohnung oder Arbeit geht und ihn zur Rede stellt. Stattdessen betrinkt sie sich mit ihren Freunden und kaut alle Situationen, in denen sie etwas falsch gemacht haben könnte, noch einmal durch. „Ich hatte mir eingebildet, so viel über Max zu wissen, aber nun musste ich mich fragen, ob wir zwei Fremde in einer Blase aus vorgegaukelter Nähe gewesen waren.“ (S. 188)

So zweigeteilt wie mir Ninas Persönlichkeit erschien und wie das Buch aufgebaut ist (in die Zeit mit und die Zeit nach Max), so zwiegespalten ist auch meine Meinung dazu. Der Strang um ihre Familie hat mich echt gefesselt, ich habe mit ihr gebangt, getrauert und gekämpft. Außerdem fand ich es interessant, wie sich die Beziehungen zu ihren Freunden wandeln und sogar zerbrechen, weil sie sich auseinanderentwickelt oder inzwischen andere Lebenskonzepte haben. Sie werden älter und sesshaft, da passt eine Singlefreundin nicht mehr ins Konzept.
Nur wie sie die toxische Beziehung zu Max verarbeitet und mit seinem Ghosting umgeht, konnte ich gar nicht verstehen, fand es traurig, deprimierend und langatmig.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.