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Magnolia
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Bayern

Bewertungen

Insgesamt 622 Bewertungen
Bewertung vom 27.01.2022
Das Leben in unseren Händen
Neiss, Eva

Das Leben in unseren Händen


ausgezeichnet

Mit einem der letzten Schiffe gelingt Hannah und Ada Rosenbaum 1939 die Ausreise aus dem für Juden nicht mehr sicheren Deutschland. Was auf den ersten Blick idyllisch erscheint, entpuppt sich – kaum angekommen - bald als sehr beengte Unterkunft: Ellis Island, die Insel der Tränen wird sie genannt. Die Passagiere der dritten Klasse werden direkt hierher gebracht. „Willkommen in Niemandsland“ – dieser bittere Gedanke schleicht sich in Hannas Kopf.

Der erste Eindruck ist neben dem Kurztext immer das Cover. Zwei Frauen vor der Kulisse New Yorks, direkt davor die Brooklyn Bridge, eine der ältesten Hängebrücken, die den East River überspannt und Manhatten mit Brooklyn verbindet. Ihr Kleidungsstil lässt die damalige Zeit erahnen, in die man sofort abtauchen möchte – ein sehr aussagekräftiges Titelbild.

Eva Neiss schreibt so einnehmend, dem konnte ich mich ab der ersten Seite nicht entziehen. Sie verwebt sehr gekonnt ihre fiktive Geschichte um die beiden Schwestern mit historisch Verbürgtem.

Hannahs Weg war ein ganz anderer als der ihrer Schwester, deren Kind als Frühchen kaum lebensfähig war. Während Ada sich von der Geburt erholt, setzt Hannah alle Hebel in Bewegung, um das kleine Wesen zu retten. Und hier lerne ich Dr. Martin A. Couney kennen, eine faszinierende Persönlichkeit und Pionier der Frühgeborenentechnologie, der so manchem dieser kaum lebensfähigen Babys dank seiner Inkubatoren ins Leben half. Viel habe ich erfahren über diesen Mann, der seine Arbeit damit finanzierte, Eintritt für die Show der Winzlinge zu nehmen. Die „Wundersäuglinge“ wurden regelrecht ausgestellt, was aus heutiger Sicht schon ein wenig makaber anmutet. Beim Lesen spürt man so richtig, wie das Team um Couney hinter ihm steht. Der herzliche Umgang miteinander und das unbedingte Verständnis dafür, was diesen kleinen Wesen gut tut, was sie brauchen, um ins Leben zu finden, ist so nah und Hannah mittendrin. Sie findet in Couney und Nathan Green, der als Arzt hier arbeitet, zwei Förderer. Ob sie sich mit deren Unterstützung doch noch ihren lang gehegten Wunsch, eines Tages als Ärztin zu arbeiten, erfüllen wird?

Auch die Irrfahrt der St. Louis, mit der deutsche Juden dem NS-Regime zu entkommen suchten, ist hier Thema. Kuba verweigerte ihnen das Anlegen, das Schiff musste umkehren, nachdem es weder in den USA noch in Kanada eine Anlegeerlaubnis bekam, um schließlich in Antwerpen vor Anker zu gehen.

Neben dem gut recherchierten geschichtlichen Hintergrund kommt das Zwischenmenschliche nicht zu kurz. Der Zusammenhalt innerhalb einer Familie ist wichtig, auch wenn einer gern mal ausschert. Hier spüre ich ganz viel Normalität, die Charaktere sind jeder für sich glaubhaft und gut nachvollziehbar dargestellt. Wie im richtigen Leben eben. Sie bauen sich in der Neuen Welt ein Leben auf, bangen um die Zurückgebliebenen und kämpfen mit so manchem Schicksalsschlag.

Vor dem Hintergrund des NS-Regimes und deren Judenverfolgung erzählt Eva Neiss von Dr. Couney, dem Incubator Doctor, gewährt Einblicke darüber, wie schwierig sich der Neuanfang im gelobten Land der unbegrenzten Möglichkeiten gestalten kann. Von tiefer Freundschaft und Liebe, durchlebten Schicksalsschlägen, Diskriminierung und Sprachlosigkeit lese ich genauso wie von Trauer und Freude und noch so vielem mehr.

„Das vollkommen unvollkommene Leben…“ - wie die Autorin schreibt - hat mich sehr berührt. Gerne bin ich mitgegangen, habe ihnen allen zugesehen und war mittendrin, hab mich ihnen zugehörig gefühlt. Viel habe ich erfahren über die ersten Schritte der neonatologischen Technologie, was mir bis dahin gänzlich unbekannt war. Ich danke Eva Neiss für dieses wundervolle Buch und möchte es jedem ans Herz legen. Einfach lesen, es lohnt sich!

Bewertung vom 24.01.2022
Ich bin der Abgrund
Carrisi, Donato

Ich bin der Abgrund


ausgezeichnet

Donato Carrisi ist Spezialist auf den Gebieten der Kriminologie und der Verhaltensforschung, so lese ich über ihn. Inspiriert zu seinem neuesten Thriller „Ich bin der Abgrund“ wurde er vom Monster von Foligno, so hatten die Medien den Serienmörder Luigi Chiatti genannt.

Der 5jährige Junge geht mit der auffallend hübschen Vera am Grand Hotel vorbei, das große Abenteuer wartet auf sie beide. Das Schwimmen will sie ihm beibringen, keine Schmeißfliegen stören, denn heute gehört sie nur ihm alleine. So beginnt die Geschichte und bald spürt man das Unsägliche, der Abgrund ist ganz nah.

Dann begegnen wir dem Müllmann, lernen ihn immer besser kennen. Er liebt seine Arbeit, den Abfall der anderen entsorgt er gewissenhaft. Und da ist noch die Fliegenjägerin – nicht nur sie sieht es als ihre Pflicht an, ganz tief im Abgrund zu wühlen. Auch das Mädchen mit der lila Strähne taucht auf, sie alle werden umschrieben, man braucht keine Namen.

„Ich bin der Abgrund“. Wer reißt wen mit in den Abgrund? Wenn ich mir den Klappentext nochmal durchlese, erwartet mich viel Düsternis, der ich mich, einmal angefangen zu lesen, nicht mehr entziehen kann. Es ist eine traurige Geschichte, die der Autor hier erzählt. Es geht um Gewalt und Vernachlässigung, um Hörigkeit und Einsamkeit. Eine breite Palette inmitten menschlicher Abgründe wird hier dargeboten.

Das Buch ist wie ein Sog, es wird immer gerade so viel erzählt, dass man nicht recht weiß, was genau dahinter steckt. Geschickt bringt der Autor Charaktere ins Spiel, die irgendwie dazugehören, deren Hintergrund aber so gar nicht durchschaubar ist. Die Jägerin ist hier ein gutes Beispiel. Von ihr wissen wir ganz lange nicht, was sie eigentlich antreibt. Eher unterschwellig und bedrückend klingen all diese Abgründe an, die Ausweglosigkeit ist hautnah spürbar.

Donato Carrisi setzt mit seinem meisterlich erzählten Thriller viele Gefühle frei. Neben der Spannung ist ganz viel Abscheu und die Empörung über all die Gewalt und Gefühlskälte dabei. Vieles ist auserzählt, in sich in seiner ganzen Schwärze und Düsternis schlüssig, es bleiben aber Fragen offen. Undurchschaubar bis zum Schluss! Sehr lesenswert!

Bewertung vom 24.01.2022
Der Club der Lebensmutigen
Weiß, Josefine

Der Club der Lebensmutigen


sehr gut

Aus der Reisejournalistin aus Leidenschaft ist eine Berichterstatterin in der lokalen Stadtzeitung über alltägliche Nichtigkeiten geworden. Kein Vergleich zu früher. Seit zwei Jahren hat sie ihre Träume verloren, seit damals in Norwegen. Von der munteren, dem Leben zugewandten Maleen ist nichts mehr übrig. Ihre Therapeutin schickt sie zu dem Haus mit dem roten Tor. Ein rotes Tor, das sie einlädt, hindurchzugehen - sie steht nach einigem Suchen in einem Hof, mitten im Grünen. Richtig verwunschen sieht es hier aus, Blumen und Efeu überranken sich um die Wette. Etwas ungeordnet, beileibe nicht perfekt. Und doch strahlt der Ort sehr viel Wärme und Geborgenheit aus.

Als ich das Buch angefangen habe zu lesen, dachte ich …naja, ab und zu eine Liebesgeschichte, schadet ja nicht. Weit gefehlt! „Der Club der Lebensmutigen“ ist so viel mehr. Mutig sind sie alle, obwohl oder gerade weil sie wissen, dass ihre Zeit begrenzt ist. Sie stützen sich, lachen viel und weinen ab und zu, sie necken sich, lassen das Leben an sich heran. Schon das Cover strahlt diesen Zusammenhalt aus, das Miteinander, füreinander da sein.

Es sind ganz unterschiedliche Charaktere, denen ich hier begegne und jeder hat seine Geschichte. Josefine Weiss lädt ihre Leser ein, sich auf das Leben einzulassen. Und Leben bedeutet auch, den Tod nicht auszusperren. Mit ganz viel Herzenswärme gelingt es ihr, das Tabuthema nicht außen vor zu lassen und ihm doch seine bittere Seite zu nehmen.

Maleen trifft in Hannes eine verwandte Seele. Sie verbietet es sich geradezu, glücklich zu sein, alles in ihr sträubt sich dagegen. Die Geschichte der beiden ist anfangs geprägt von Zweifeln – darf man das? In so einer Situation? Glücklich sein? Behutsam und sehr ehrlich findet die Autorin die richtigen Worte, so gar nicht bedrückend.

„Das einzig Wichtige im Leben sind die Spuren der Liebe, die wir hinterlassen. Albert Schweitzer.“ Und sie haben Spuren hinterlassen. Sie alle. Wir alle hinterlassen Spuren und leben in den Herzen derer weiter, die uns lieben, die wir lieben.

„Der Club der Lebensmutigen“ - ihre Gemeinschaft ist voller Lebensfreude, Rückschläge schweißen sie noch mehr zusammen. Eine ganz besondere Geschichte, die Mut macht, sich nicht abzukapseln, nicht Trübsal zu blasen, sondern sich einzulassen auf die Unzulänglichkeiten des Lebens.

Zum Schluss ein ganz besonderer Satz aus dem Buch, der mich sehr berührt hat: „Nichts, was aus dem Herzen kommt, kann man wirklich besitzen. Aber man kann es teilen.“

Bewertung vom 21.01.2022
Heul doch nicht, du lebst ja noch
Boie, Kirsten

Heul doch nicht, du lebst ja noch


sehr gut

Eine Woche im Juni des Jahres 1945 zwischen den Ruinen Hamburgs und mittendrin drei Jugendliche – Jakob, Hermann und Traute. Keiner kommt ungeschoren aus den Wirren des Krieges, der familiäre Hintergrund mag zwar für jeden anders sein und doch müssen sie nach vorne schauen, der Krieg ist endgültig vorbei. Für den 14jährigen Jakob stellt sich dieses Ende ganz anders dar, ist er doch Jude und als solcher musste er lange im Verborgenen leben.

Aus Sicht von Jakob, Hermann und Traute erfahre ich von deren Lebensweise und all den Entbehrungen. Sie mussten zurechtkommen – irgendwie. Der Hunger war ein zentrales Thema, die Wohnsituation brachte Einquartierungen mit sich. Viele Straßenzüge waren zerbombt, die einstigen Wohnungen nur noch Schutt und Asche. Die Kriegsversehrten waren auf Hilfe angewiesen, so manche Lebensträume zerplatzten wie Seifenblasen. War es für die Deutschen schon schwer genug, musste ein Jude erst recht auf der Hut sein.

Kirsten Boie hat gut recherchiert, Jakobs Geschichte lag ihr dabei besonders am Herzen. Sein Vater galt als Deutscher als jüdisch versippt und Jakob war ob seiner jüdischen Mutter ein jüdischer Mischling. Als dieser bleibt er verschont von Deportation und doch ist er in seinen jungen Jahren ganz auf sich alleine gestellt, muss sich verstecken. Die letzte Verbindung, die ihn am Leben hielt, ist weg. Er weiß nicht, dass der Krieg vorbei ist aber eines weiß er ganz genau – er hat Hunger, muss irgendwie überleben.

Hermanns Schicksal ist so ganz anders angelegt, er scheint der harte Bursche zu sein inmitten des Elends, das auch seine Familie heimsucht. Er ist ein starker Charakter, hat Wünsche und Träume wie jeder – endlich in Frieden leben können, vorwärts schauen. Ist es so einfach?

Die Autorin verrät am Ende des Buches, dass diese Trümmerfelder ihr Spielplatz waren. Als Nachkriegskind war das zerbombte Hamburg ihre gewohnte Umgebung. Ihr Ton ist warmherzig, die Kinder nehmen der Trostlosigkeit seine allzu bittere Seite. Sie bringt die damaligen Lebensumstände wie die Rationierungen und die Lebensmittelkarten oder den blühenden Schwarzmarkt gut ins Geschehen ein.

Das stimmige Cover sei noch erwähnt. Das Trümmerfeld, davor der Schatten des Jungen, in sich zusammengesunken. Die Worte „Heul doch nicht, du lebst ja noch“. Alleingelassen. Nur noch schemenhaft nimmt er sich wahr. Schon vor der Lektüre fand ich dieses Titelbild passend und danach ist es perfekt gewählt für diese Geschichte.

Drei Jugendliche erleben ihr Hamburg in Trümmern – ein Buch, das mich berührt hat, mich nachdenklich zurücklässt. Ein Buch für Jung und Alt, das ich gerne weiterempfehle.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 21.01.2022
Der letzte Sommer in der Stadt
Calligarich, Gianfranco

Der letzte Sommer in der Stadt


sehr gut

1973 erschien „Der letzte Sommer in der Stadt“ zum ersten Mal und nun, fast ein halbes Jahrhundert später, wird er in zwanzig Sprachen übersetzt, Karin Krieger hat ihn für den Paul Zsolnay Verlag ins Deutsche übertragen.

Als Korrespondent einer medizinisch-literarischen Zeitschrift geht er nach Rom und einige Jobs später landet er beim Corriere dello Sport. Er, Leo Gazzarra, nimmt das Leben so, wie es sich ihm gerade anbietet mit allem, was dazu gehört. In Arianna begegnet er einer jungen Schönheit, Langzeitstudentin der Architektur ist sie. Sie pfeift auf Konventionen, ihr so exaltierter Stil kommt ihm sehr gelegen, die beiden verstehen sich – meistens zumindest.

Unaufgeregt, ja im Plauderton, erzählt der Autor von Leo und Arianna und mehr. Es ist Sommer, es ist unerträglich heiß in der Ewigen Stadt. Sie glüht geradezu, verlassen von all denen, die es sich leisten können. La Dolce Vita mit all seinen Facetten – wer möchte da nicht dem süßen Leben nachspüren. Keiner hat es eilig, die absolute Leichtigkeit des Daseins wird geradezu dekadent zelebriert, nichts wird ausgelassen, das italienische Lebensgefühl ist direkt spürbar.

Gianfranco Calligarich hat mich ganz schnell abgeholt, mich an das sommerliche Rom erinnert. Ein altmodisches Wort drängt sich auf beim Lesen: Leo, der Lebenskünstler. Der auch aus vermeintlich ausweglosen Situationen für sich das Beste herauspickt, auch wenn sich später dann so manches als Seifenblase erweist – auch dann ist es nicht schlimm. Auf ein Neues eben!

„Im Nu überrollte mich eine Lawine vergessener Gefühle und Erinnerungen an mein Leben mit ihr im letzen Sommer…“ Ein Sommer mit Leo, der all diese Empfindungen freisetzt. Das Leben eben, so wie es ist, so wie es war. Mit allen Sinnen genießen.

Mir hat dieser letzte Sommer als bekennender Italienfan vergnügliche Lesestunden bereitet und eine tiefe Sehnsucht nach dem Land, nach Rom entstehen lassen. Das gelungene Cover spiegelt das damalige Lebensgefühl wider, der rauchende Protagonist, dahinter seine Stadt. Wohin treibt es ihn?

Bewertung vom 17.01.2022
Creep (eBook, ePUB)
Winkler, Philipp

Creep (eBook, ePUB)


gut

Philipp Winklers dritter Roman „CREEP“ begleitet zwei junge Menschen, die sich mehr in ihrer digitalen Welt zuhause fühlen denn im normalen Leben.

Fanny arbeitet bei BELL in der Entwicklungsabteilung, deren Überwachungskameras vermeintlichen Schutz vor Einbrechern und dgl. versprechen. Dafür bleibt die Privatsphäre auf der Strecke. Während Fanny in Deutschland Leute in ihrem Zuhause beobachtet, aus der Ferne an deren Leben teilnimmt, kapselt sich Junya im fernen Japan von der Außenwelt ab, schleicht sich dann aber nachts in böser Absicht in fremde Wohnungen. Auch er lebt im Netz, das Darknet ist ihm sehr vertraut.

Das World Wide Web ist allgegenwärtig, wir geben sehr viel Privates preis ohne darüber nachzudenken, dass es da draußen, in dieser wundervollen vernetzten Welt, sehr viel Düsternis gibt. Das moderne Kommunikationsmittel verbindet, setzt aber gleichzeitig zerstörerische Kräfte frei. Wollen wir wirklich ob der vermeintlichen Sicherheit die Totalüberwachung? Big Brother (und nicht nur er) is watching you.

Creep ist die alles verschlingende Pflanze, Creeper sind diejenigen, die sich der modernen Technik bedienen, anonym in das Leben der anderen eindringen. Philipp Winkler schärft mit seinem Roman den Blick, zeigt deutlich die Schattenseiten auf.

Was mich gleich so richtig genervt hat, war das verbissene Gendern. Zum einen ist der Lesefluss extrem gestört und zum anderen mag ich dieses Gutmenschentum überhaupt nicht. Unsere Sprache wird total verhunzt, egal ob in geschriebener oder in gesprochener Form. Sprache muss wachsen, sie verändert sich immer und das ist auch gut so. Aber nicht so - per Verordnung einzelner.

Richtig gut gefällt mir hingegen das Cover. Die dominante Schrift, die sich ins Dunkle so richtiggehend einbrennt - perfekt in Szene gesetzt.

Creep überspitzt unseren täglichen Konsum und das Bedürfnis, immer ein Stück weiter vorzudringen. Es ist ja so einfach, man ist nur einen Klick vom nächsten Kick entfernt. Fanny und Junya sind mir während des Lesens nicht sehr nahe gekommen, vor allem Junyas agieren war schon sehr befremdlich. Wie weit wollen wir gehen, wie viel von uns preisgeben?

Zwei Verlierer, gefangen im Netz, im dem alles möglich scheint. Durchaus nachvollziehbar, das Gendern hat viel verdorben.

Bewertung vom 12.01.2022
Ende in Sicht (MP3-Download)
von Rönne, Ronja

Ende in Sicht (MP3-Download)


ausgezeichnet

Zwei Frauen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, begegnen einander auf spektakuläre Art und Weise. Hella, mit ihren 69 Jahren des Lebens überdrüssig, ist auf dem Weg in die Schweiz. Gerade fährt sie unter einer Autobahnbrücke, als etwas vor ihren alten Passat fällt. Es ist die 15jährige Juli, die den Sturz eigentlich nicht überleben wollte, aber jetzt bleibt ihr nichts anderes übrig, als zu Hella ins Auto zu steigen.

Ronja von Rönne spricht das ungekürzte Hörbuch selber ein, es waren trotz des ernsten Themas sechs unterhaltsame Stunden. Die beiden Frauen nähern sich an, zunächst unfreiwillig. Aber bald merken sie, dass sie sich mögen, auch wenn mal die eine, dann die andere ziemlich bärbeißig daherkommt.

Lange habe ich überlegt, ob ich hier wirklich dabei sein möchte, über den Wunsch zu sterben lesen will. Diese gemeinsamen Tage der beiden setzten viele Emotionen frei. Es ist aufwühlend, dann wieder ganz leicht, voller Harmonie. Juli trägt ein Schneckenhaus immer bei sich, es erinnert sie an ihre Mutter. Wäre es nicht schön, wenn sie sinnbildlich ihr selbst gewähltes Schneckenhaus verlässt, am besten zusammen mit Hella? So dachte ich mir zuweilen. Und sie lebten glücklich bis an ihr Ende… Ja, so oder so ähnlich enden Märchen.

Eine wunderschöne, tieftraurige, zu Herzen gehende Geschichte, die ganz warmherzig von einer zufälligen Bekanntschaft weiß - voller Leben, neugierig und bittersüß, sehr behutsam erzählt.

Ich habe diese intensiven Stunden nicht bereut, Ronja von Rönne ist die perfekte Interpretin ihrer Geschichte. Das letzte Lied, die letzten Zeilen sind verklungen. Frei nach Hermann Hesse „…Jedem Ende wohnt ein Zauber inne… Der Gegner und Verbündete war ich und endlich, endlich ist das Ende in Sicht.“ Dieses Lied hallt noch lange nach.

Als Hörbuch bei USM Audio erschienen, von der Autorin eingesprochen, ist „Ende in Sicht“ eine ganz besondere Geschichte. Mal laut, mal leise, voller Wärme - das Lied ist verklungen.

Bewertung vom 12.01.2022
Das gebrannte Kind / Cold Case Bd.3
Frennstedt, Tina

Das gebrannte Kind / Cold Case Bd.3


sehr gut

Zehn Fälle mit Tess - als Dauergast sollte sie live über die Fälle berichten, die sie am meisten bewegt hatten. Das Zimmer – es steht in Flammen und eine junge Frau mittendrin. Dieser bis dato ungelöste Brand mit Todesfolge lässt Ähnlichkeiten mit der Brandserie erkennen, die Tess nun in Atem hält: Drei Brände, vier Tote – das ist die Bilanz in weniger als einem Monat. Überall wurden Brandbeschleuniger sichergestellt, alle Rauchmelder waren deaktiviert. Bald stellt sich heraus, dass es Parallelen zu diesem lange zurückliegenden, ungeklärten Fall gibt. Das Cold Case Team um Kommissarin Tess Hjalmarsson ist alarmiert. Erste Hinweise deuten auf Doktor Feuerteufel, der seit einem halben Jahr wieder in Freiheit ist.

Der mittlerweile Dritte Fall um Tess ist angesiedelt in Südschweden in der Region Österlen mit Abstecher nach Malmö. Meine erste Begegnung mit ihr und doch hatte ich nie das Gefühl, dass mir Infos zu den beiden Vorgängerbänden fehlen.

Tess ist nicht nur Ermittlern, auch ihre private Seite fließt wohldosiert mit ein. Sie ist die Polizistin, die auch mal wie blind durch die Gegend läuft, letztendlich aber nie ihr Ziel aus den Augen verliert. Und ja, ich hatte bald einen Verdächtigen. Aber kann dieser es wirklich gewesen sein? Was treibt den oder die Täter an, die Brandopfer hatten so gar keine sichtbaren Feinde, lebten ein ganz normales Leben.

Die Autorin lockt ihre Leser auf so manch falsche Fährte und es kristallisiert sich immer mehr heraus, wer dahinter stecken könnte. Um dann doch wieder zu zweifeln, andere sind mindestens genauso verdächtig. Ich mag dieses Für und Wider, hege viel Sympathie den einen gegenüber, mag andere so gar nicht, bin parteiisch. Die Charaktere sind allesamt glaubhaft dargestellt, die Handlung tempo- und wendungsreich, spannend von Anfang an. Zum Schluss wurde es nochmal dramatisch, da konnte ich nicht schnell genug lesen, musste unbedingt Gewissheit haben.

Es wurde vieles in die Story gepackt, vielleicht etwas zu viel, es gab so manchen Nebenschauplatz, den es so gar nicht gebraucht hätte. Abgesehen davon bin ich Tess gerne gefolgt, sie hat mir kurzweilige Lesestunden beschert.

Man merkt, dass die Autorin weiß, wovon sie schreibt. Als Kriminalreporterin ist sie Expertin für unaufgeklärte Mordfälle, die akribische Ermittlungsarbeit liegt ihr sozusagen im Blut und ihren Spürsinn überträgt sie auf ihre Protagonistin. Ein gelungener Dritter Fall für das Cold Case Team mit kleinen Schwächen.

Bewertung vom 10.01.2022
Thirteen / Eddie Flynn Bd.4 (eBook, ePUB)
Cavanagh, Steve

Thirteen / Eddie Flynn Bd.4 (eBook, ePUB)


sehr gut

Bobby Solomon, der junge, attraktive und allseits vergötterte Hollywood-Schauspieler wird beschuldigt, seine Frau und deren angeblichen Liebhaber grausam ermordet zu haben. Eine renommierte New Yorker Anwaltskanzlei will seine Unschuld beweisen, was jedoch aussichtslos scheint. Alle Indizien sprechen für ihn als Täter. Der Strafverteidiger Eddie Flynn wird hinzugezogen, er ist erfolgreich, hat seine seit Jahrzehnten erprobten, ganz eigenen Methoden.

Der spektakuläre Mordprozess hält den Fokus auf die Jury, zunächst auf den langwierigen Prozess des Auswählens der zwölf Geschworenen. Die Leser wissen, dass der wahre Killer hier sitzt und bald ist klar, wie er sich diesen Platz eiskalt gesichert hat. Es wird sichtbar, welch perfides Spiel er spielt, welch abartiges Wesen hier heimtückisch am Werke ist.

Es ist schon der vierte Band um Eddie Flynn, den geläuterten Trickbetrüger. So eine Hintergrundstory hat was, auch um sein Privatleben steht es nicht zum Besten, sein Beruf lässt einen geruhsamen Lebenswandel nicht zu. Ich habe Eddie erst jetzt getroffen und sehe ihn schon als alten Bekannten. Mir gefällt, wenn man auch später in eine Reihe einsteigt und doch das Gefühl hat, nichts von Belang versäumt zu haben.

So manches Klischee wird hier bedient. Es handelt von all den korrupten Cops oder dem eitlen Staatsanwalt, so manch halsstarrigem Zeugen bis hin zu dem abartigen, so andersartigen bösen Buben. Eddie hatte im Gegensatz zu vielen anderen von Anfang an meine uneingeschränkte Sympathie, genauso Bobby. An seine Unschuld mochte ich glauben, habe mitgezittert und mich unsäglich aufgeregt über fiese Verhörmethoden.

Ein Gerichtsthriller, der einen in Atem hält. Schon der Einstieg verspricht nervenaufreibende Lesestunden, ich war bald drin und nichts konnte mich davon abhalten, das Buch zur Seite zu legen. Dann jedoch zog sich die Story, das Tempo war raus, es gab Todesfälle, die wenig Beachtung fanden. Auch wenn nicht alles realistisch sein muss, so wäre ein klitzeklein wenig Polizeiarbeit hier von Vorteil gewesen. Das ist Jammern auf hohem Niveau, der rasante Thriller zog bis zum Ende hin wieder an.

Das Cover versetzt einen direkt in den Gerichtssaal. Der rote Stuhl – für den Angeklagten? Dahinter alles düster, schwarz-grau. „TH1Rt3EN“ – schon der Schriftzug setzt Emotionen frei. Super gemacht.

Steve Cavanagh lässt seine Leser an Mordphantasien teilhaben, gewährt tiefe Einblicke in die menschlichen Abgründe. Spannend und aufregend, direkt am Abgrund und unfassbar böse zuweilen. Ein lesenswerter Thriller mit kleinen Abstrichen.

Bewertung vom 10.01.2022
Von Grenzen und Stegen
Hahn, Steffen

Von Grenzen und Stegen


sehr gut

Ja, unser Land ist gespalten. Und ja, Stege können helfen, Gräben zu überwinden. Steffen Hahn berichtet von der Teilung Deutschlands, hat seinen ersten Abschnitt mit „Herkunft“ übertitelt. Im Osten sind seine Wurzeln väterlicherseits und hier gewährt er einen Blick in den Alltag seines Vaters, beginnend noch vor dem Mauerbau. Sie hätten alle in den Westen gekonnt. Damals, als noch keiner absehen konnte, dass die Teilung für Jahrzehnte einengende Realität war.

Ich musste mich ein wenig akklimatisieren, um in die deutsch-deutsche Geschichte einzutauchen. Die DDR kenne ich nur vom Hörensagen, aus diversen Medien, aus der Sicht einer Westdeutschen. Der Schreibstil kam mir schon ein wenig nüchtern vor, allzu akkurat zuweilen, aber doch wollte ich nicht aufhören zu lesen. Spannend und sehr aufschlussreich, wie Steffen Hahn das persönliche Schicksal seiner Familie mit dem Geschichtlichen gut lesbar aufbereitet.

Ein kurzweiliges, interessantes und intensives Abtauchen in unsere jüngste Vergangenheit, die der Autor Revue passieren lässt, erzählt vom „Aufbruch“. Von Kohl über 9/11, der Lehman-Pleite bis hin zum Beginn der Flüchtlingswelle und noch so einiges mehr zeichnet er hier ein Bild unserer Gesellschaft, vermengt mit seiner Familiengeschichte, seinem Werdegang. Im Westen hatte er alle Chancen und er nutzte sie, der krasse Gegensatz zur damaligen DDR kommt gut durch.

Das Buch ist ein Blick zurück, eine Versöhnung mit dem Schicksal. „Blick nach vorn“ ist der letzte Abschnitt übertitelt. Es ist eher ein Blick in unsere Gesellschaft, die in großen Teilen sehr offen und tolerant ist. Aber nicht nur, da sind auch die Gewalttätigen, die laute Minderheit. Angestachelt von allzu bekannten Personen und Gruppierungen. Unsere sehr gefestigte Demokratie hält auch diese Verirrungen aus.

Wohin gehen wir? Wie Steffen Hahn so versöhnlich schreibt: „Unsere offene Gesellschaft ist großzügig... gewährt Vertrauensvorschuss...“ Manchmal habe ich das Gefühl, dass sich keine Stege mehr finden lassen und wenn doch, sind diese sehr brüchig.

„Von Grenzen und Stegen“ zeichnet ein deutliches Bild vom Gestern und vom Heute, den Titel beziehe ich eher auf den Ist-Zustand. Viel habe ich über unsere Nachkriegsgeschichte gelesen, war im Hier und Jetzt immer nahe beim Autor, empfand es ähnlich. Ein Streifzug durch mehr als ein halbes Jahrhundert. Es wird sie immer geben, die sichtbaren und die unsichtbaren Grenzen und doch sollte man die Hoffnung nie aufgeben.

Eine sehr persönliche Sicht auf die deutsch-deutsche Geschichte, eingebettet in den politischen Alltag. Ein Appell, Stege zu finden, Grenzen zu überwinden. Steffen Hahn gibt einen Anstoß, sich damit auseinanderzusetzen. Ein Buch, das zum Nachdenken anregt. Ein aufschlussreicher Blick in unsere trotz allem offene Gesellschaft.