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Buchdoktor
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Deutschland
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Romane, Krimis, Fantasy und Sachbücher zu sozialen und pädagogischen Tehmen interessieren mich.

Bewertungen

Insgesamt 612 Bewertungen
Bewertung vom 02.01.2017
Der katholische Bulle / Sean Duffy Bd.1
McKinty, Adrian

Der katholische Bulle / Sean Duffy Bd.1


ausgezeichnet

Erstklassiger Hardboiled Krimi
m Nordirland des Jahres 1981 steht Detective Sergeant Sean Duffy als Katholik in jeder Hinsicht auf der falschen Seite. Die IRA hat auf katholische "Bullen" Kopfgeld ausgesetzt, und Duffys Hauskauf in einem protestantischen Arbeiterviertel ist zu jener Zeit mehr als unangepasst. Die Nerven in der Stadt liegen durch den Hungerstreik prominenter Gefangener blank; die Polizeikräfte als "Handlanger des britischen Imperialismus" werden zwischen den feindlichen Seiten aufgerieben. Polizei und Armee sind bemüht, nach dem zweiten Todesopfer des politisch motivierten Hungerstreiks die Unruhen zu kontrollieren. Unter dem kritischen Blick der Nachbarn muss Duffy sich jeden Morgen entscheiden, ob er Roulette um sein Leben spielen oder den Unterboden seines Autos nach einem Sprengsatz absuchen will. Normale Straftaten sind in den Einsatzplänen nicht vorgesehen, als Duffy an den Fundort eines Toten gerufen wird. Jede Meldung an die Polizei könnte eine Falle der IRA sein. Die Mitteilsamkeit des Täters deutet auf den Beginn einer Mordserie an Homosexuellen hin. Einen Serienkiller hat es bis zu diesem Zeitpunkt in Nordirland noch nicht gegeben, und homosexuelle Beziehungen stehen noch unter Strafe. Als studierter Psychologe ist Duffy als Quereinsteiger der Belfaster Polizei beigetreten. Mit knapper Besetzung seiner Dienststelle, die einen Überfall der IRA geradezu herausfordert, nimmt Duffy als absoluter Berufsanfänger die Ermittlungen auf. Leicht gesagt, wenn bestimmte Stadtviertel von Polizisten nur in Kampfmontur und im gepanzerten Fahrzeug betreten werden können.

Fazit
Adrian McKinley ist im Belfaster Stadtteil Carrickfergus aufgewachsen, in dem sein Kriminalroman spielt. Vor dem authentisch recherchierten historischen Hintergrund des Nordirland-Konflikts schickt der Autor einen Einzelgänger mit für seine Zeit gefährlich vorlautem Mundwerk an die Ermittlungsarbeit. Duffy, der für Wartezeiten im Einsatz stets ein Buch dabei hat, tritt im ersten Band der geplanten Trilogie noch als einsamer Wolf auf, der vor keiner der verfeindeten Seiten kuscht. Ein erstklassiger Hardboiled Krimi, der Vorkenntnisse zum Nordirlandkonflikt voraussetzt; ohne Vorkenntnisse ein sehr, sehr guter Kriminalroman.

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Zitat
"Letzte Nacht habe ich einem Kumpel bei Special Branch mal meine Theorie [...] zum Fraß vorgeworfen", rief ich aus dem Bad.
"Und was hat er dazu gesagt?", fragte McCrabban.
"Er meinte, ich sei ein Genie, und hat mir die Akte zu Jack the Ripper auch gleich geschickt."
"Und, hast du den Fall auch gelöst?"
"Es war Queen Victoria." "Habe ich mir schon gedacht. Unter der Krinoline lässt sich ja leicht eine Machete verstecken." (S. 259)

Bewertung vom 02.01.2017
Wenn Du dies liest . . . , Tagebuch für Hugo
Franck, Hermann

Wenn Du dies liest . . . , Tagebuch für Hugo


sehr gut

Prominenter allein erziehender Vater des 19. Jahrhunderts
Das Tagebuch Hermann Franckhs (*1802) ist Zeugnis einer sehr innigen Beziehung zu seinem begabten Sohn Hugo (*1840) und schildert vermutlich den ersten allein erziehenden Vater überhaupt, zumindest den ersten des 19. Jahrhunderts. Franckhs umfangreiche Aufzeichnungen sind ein wichtiges Dokument der Geschichte und Sozialgeschichte Berlins; denn Franckh war Gesprächspartner Alexander von Humboldts, verkehrte bei Mendelssohns, arbeitete als Autor und Journalist und war nicht zuletzt Zeitgenosse des Vormärz. Franckh heiratete 1838 die Tochter des Prinzen Heinrich von Preußen. Hugo Franckh wurde von seinem Vater erzogen und betrat an seinem ersten Schultag am Gymnasium zum ersten Mal eine Schule. Die Todes-Umstände von Vater und Sohn Franckh konnten nicht aufgeklärt werden. Franckhs akribische Aufzeichnungen geben Einblick in seine Erziehungsziele und den speziell für seinen Sohn entwickelten Bildungskanon. Das Buch mag zwar durch seinen Umfang von über 600 Seiten abschrecken, ist jedoch für jeden eine fesselnde Lektüre, der sich für die Geschichte Berlins, für Erziehung, Bildung oder das Vater-Sohn-Verhältnis interessiert.

Bewertung vom 02.01.2017
Die verwundete Stadt : Begegnungen in Bagdad. Aus dem Engl. von Antoinette Gittinger und Norbert Juraschetz
Anderson, Jon Lee

Die verwundete Stadt : Begegnungen in Bagdad. Aus dem Engl. von Antoinette Gittinger und Norbert Juraschetz


ausgezeichnet

Reportagen aus Bagdad - Im Winter des Jahres 2002 harrt Bagdad im Warten auf den Angriff der USA aus. Die surreale Stimmung vor dem Krieg gibt einen Vorgeschmack auf die Anarchie, die diem US-Angriff folgen würde, als Saddams Hunderte von Häftlingen und psychisch Kranken aus dem Abu Ghraib-Gefängnis amnestierte und sie buchstäblich auf der Straße stehen ließ. John Lee Anderson gibt zunächst Einblick ins diplomatische Handwerkszeug eines Auslandskorrespondenten. Während seine Journalisten-Kollegen nach und nach das Land verlassen oder noch mit ihren Agenturen über Bleiben oder Gehen verhandeln, bereitet Anderson sich auf den Krieg vor. Sein Geschäft mit den Nachrichten erfordert Fahrer, Dolmetscher, einen Aufpasser des Informations-Ministeriums, Visum, Presseausweis und zahlreiche Genehmigungen. Andersons Kontakt-Personen wollen in Friedens- wie in Kriegszeiten bei Laune gehalten werden. Der amerikanische Journalist mietet ein Zimmer in einem unauffälligen Hotel, kauft Generator, Trinkwasser und Vorräte ein. Er nutzt dafür eine pragmatische Verbindung auf Gegenseitigkeit zu einheimischen Gewährsleuten, die sich von ihm glaubwürdige Informationen zu ihrer persönlichen Gefährdung erhoffen. . Im Gespräch mit seinem langjährigen Fahrer, beim Friseur, Schuhputzer oder Geldwechsler fängt Anderson die Stimmung in der Stadt ein. Es sind diese Verbindungen zu einfachen und prominenten Irakern, die Bremers "Briefe aus Badgdad" im New Yorker so authentisch lesenswert machten. - Der Einmarsch der Amerikaner in Bagdad in der ersten Aprilwoche 2003 konfrontiert Anderson mit der politischen wie militärischen Ahnungslosigkeit der jungen Soldaten. Als Anderson bei den Amerikanern um die Bewachung eines Krankenhauses gegen drohende Plünderungen bittet, scheint es im ersten Moment, als wollte die US-Armee das Krankenhaus beschießen. Anderson erlebt sprachlos eine ziel- und hilflose Befreiungstruppe. Der langjährige Korrespondent entdeckt, in wie winzigen Ausschnitten er selbst die 5-Millionen-Stadt vorher nur gekannt hatte. Schlaglichtartig zeigen zwei Meinungen die Einschätzung der Zivilbevölkerung: Andersons Fahrer muss einsehen, dass sein sorgfältig gespanntes Netz aus "wohlwollenden" Polizisten und Kontaktpersonen nicht mehr existiert und er statt dessen jungen, ungehobelten Männern in Tarnanzügen zu gehorchen hat. - ... Anderson vermittelt seinen Lesern eine Ahnung davon, welche Lücke im sozialen und politischen Leben die Nomenklatura der Saddam-Ära hinterlässt, wenn sie sich ins Ausland absetzt. Andersons Berichte enden ein Jahr nach Kreigsbeginn. -Anderson zeigt sich in seinen für das Buch (Engl: The Fall of Baghdad, 2004) überarbeiteten Reportagen als einfühlsamer Beobachter, dem sich die Menschen leicht öffnen. Schon seine Berichte aus der Zeit vor 2003 ließen aufmerksame Leser daran zweifeln lassen, dass die alleinige Beseitigung des Saddam-Regimes zur Einführung demokratischer Strukturen im Land führen würden. Anderson öffnet seinen Lesern die Augen für fremde Kulturen – im Fall des Irak hätte man seine Reportagen in den USA nur lesen müssen.

Bewertung vom 02.01.2017
Quirkologie
Wiseman, Richard

Quirkologie


sehr gut

Von Pechvögeln, Glückspilzen und verschwundenen Teelöffeln
Quirkologie ist die Lehre von den Macken der Menschen. Als junger Mann trat Richard Wiseman als Zauberkünstler auf und entdeckte sein Interesse an der Frage, wie und warum Menschen sich täuschen lassen. Inzwischen ist Wiseman Professor für Public Understanding of Psychology an der University of Hertfordshire. Experimente mit Wahrheit, Lüge und Manipulation hat der Autor mit Tausenden von Probanden in einer populären BBC-Wissenschaftssendung-Sendung durchführen können.

In seine Lehre von den Absonderlichkeiten unseres Alltags führt Wiseman mit dem gefühlten Zusammenhang zwischen Sternzeichen und Persönlichkeitsmerkmalen ein. Wer für die Etikettierung mit bestimmten Charaktereigenschaften empfänglich sei, entwickle sich leicht zur beschriebenen Persönlichkeit. Eine Übereinstimmung zwischen der eigenen Persönlichkeit und Zuschreibungen durch ein Horoskop sei um so leichter zu erreichen, je allgemeiner das Horoskop formuliert ist. Wiseman ging weltweit der Frage nach, ob es Pechvögel und Glückspilze gibt, oder ob das Geburtsdatum Einfluss auf das Schicksal eines Menschen hat. Ob es die Unglück bringende schwarze Katze ist, die Zahl 4 in den Ländern Asiens oder das katastrophale Jahr des Feuerpferds (1966), es gibt wohl wenige Aspekte des Aberglaubens, mit denen Wiseman sich noch nicht streng wissenschaftlich beschäftigt hat. Er widerlegt sogar die Annahme von Ärzten und Krankenschwestern, in Vollmondnächten passierten mehr Unfälle als an anderen Tagen. Der schlaue Wiseman beschränkte sich auf Unfälle und fragte nicht nach Selbstmorden und Geburten.

Sie haben sich bis hierher sicher gefragt, wem Wisemans Forschungen nützen und wer sie finanziert? Wisemans gesammelte Daten über das Käuferverhalten in Supermärkten gehören inzwischen zum Grundwissen von Werbepsychologen. Mit der effektiven Verbreitung von Gerüchten befasste sich einst sogar die CIA. Von der angeblichen Verbreitung unterschwelliger Werbe-Botschaften in Kino-Filmen hat fast jeder gehört. Wiseman berichtet, dass dieses Experiment bereits 1958 in den USA durchgeführt wurde. Als populäre Legende der Großstadt konnte sich bis heute das Gerücht halten, der Absatz von Softdrinks sei durch in Filmen verdeckte Botschaften gesteuert.

Wiseman und sein Team erforschten, über welche Witze Menschen lachen und was speziell Männer, Frauen, junge und alte Menschen witzig finden. Dass sich Wissenschaftler angeblich dafür interessieren, exakt wie viele Teelöffel, Socken oder Handschuhe in einem bestimmten Zeitraum verschwinden, erscheint dagegen mehr als verschroben.

Im Zuge von Untersuchungen über den Einfluss der Vornamen auf die Geschicke ihrer Träger wurden 66 Millionen Totenscheine analysiert und 15000 Heiratsurkunden ausgewertet. Mit ihrem gigantischen Witzprojekt kamen Wiseman und sein Team sogar ins Guiness-Buch der Rekorde.

Erstaunlich viele der von Wiseman zitierten Untersuchungen liegen schon Jahre zurück. Ganz nebenbei deckt der Autor so auf, dass Journalisten sich für Kurzmeldungen auf der Wissenschaftsseite gern in den Archiven bedienen. Das oft zitierte Hängebrücken-Experiment (Ist der Herzschlag bei Männern bereits erhöht, haben sie stärkeres Interesse, sich mit einer Frau zu verabreden) ist laut Wiseman bereits 30 Jahre alt.

Seine nicht mehr ganz neuen Erkenntnisse aus dem normal verrückten Alltag präsentiert der Autor fesselnd und mit trockenem britischen Humor.

Bewertung vom 02.01.2017
Der Neinrich
Schreiber-Wicke, Edith;Holland, Carola

Der Neinrich


ausgezeichnet

NEIN sagen schützt Kinder
Tante Karin küsst Leo und hinterlässt zu allem Überfluss auch noch eine Lippenstift-Spur auf Leos Wange. Leo findet das eklig. Könnte seine Mutter ihm nicht wenigstens gegen unerwünschtes Abknutschen helfen? Leo grollt. In seinem Zimmer zeichnet er einen knallroten Wicht mit Teddy-Ohren und einer grünen Haarsträhne. Der Knallrote lebt, tobt neben Leos Stiftebecher herum - und er kann sehr entschieden NEIN sagen. Der Wicht ist ein Neinrich, der Leo das Neinsagen beibringen kann. Wichtig ist der richtige Moment, doziert Neinrich, schließlich soll man nicht "Nein" sagen, nur um andere zu nerven. Leo stehen förmlich die Haare zu Berge, sein Gesicht legt sich in wütende Falten als er daran denkt, wann ER gern Nein sagen möchte: Immer dann, wenn er den Teller leer essen soll, sich die Zähne putzen oder viel zu früh ins Bett geschickt wird! Doch Neinrichs Liste der wichtigen Neins sieht ganz anders aus als Leos. Nein, wenn Fremde Süßigkeiten anbieten oder Kinder im Auto mitnehmen wollen, Nein, wenn andere Kinder bei rot über die Straße laufen wollen oder merkwürdige Mutproben vorhaben, Nein, wenn Erwachsene sich beim Bäcker vordrängeln - und ein ganz kräftiges NEIN gegen alle Anfasser und Knutscher. Nachdem der Neinrich Leo die wichtigen NEINS erklärt hat, wird er wieder zur gezeichneten Figur auf dem Zeichenblatt.

Der tomatenrote Neinrich und die auf rotem Grund gedruckte Neinliste vermitteln eine deutliche Botschaft. Leo macht es Kindern durch seine ausdrucksstarke Mimik leicht, sich mit ihm zu identifizieren, über seine - und ihre eigenen - Empfindungen zu sprechen. Der Neinrich ist ein humorvolles Bilderbuch in kräftigen Farben zu einem ernsten Thema. Wer Kinder davor schützen will, dass sie mit Fremden gehen, kann das tun, ohne gleich von sexuellem Missbrauch zu sprechen. Beginnen wir einfach mit dem NEIN und den unerwünschten Tanten-Küssen.

Den Neinrich gibt es auch als Bilderbuchkino auf DVD.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 02.01.2017
Warum Kinder so verschieden sind
Winkler, Werner

Warum Kinder so verschieden sind


sehr gut

Macher, Denker oder Fühler?
"Mich versteht ja hier sowieso keiner". Mit dieser in beleidigtem Ton vorgetragenen Beschwerde trifft manches Kindergartenkind den Nagel auf den Kopf. Wenn das Verhalten unserer Kinder dem ihres Vaters, ihrer Großmutter oder anderer Verwandter ähnelt, können wir es annehmen. Doch was ist, wenn ein Kind in seinen Eigenheiten niemandem ähnelt? Werner Winkler stellt in seiner psychografischen Einteilung den Handlungs-, Beziehungs- und Sachtypen vor. Unabhängig von Geschlechtsrollen definiert er drei Haupttypen. Weitere Differenzierungen ergeben sich daraus, ob jemand eher am ich, du oder wir interessiert ist, ob sein Umgang mit Zeit vergangenheits-, gegenwarts- oder zukunftsbezogen ist, ob ein Kind Macher, Fühler oder Denker zu sein scheint. Winkler hat beobachtet, dass die starken und schwachen Seiten eines Menschen sich kaum durch die Erziehung erklären lassen und nur begrenzt zu beeinflussen sind. Für die Konfliktlösung in Kindergarten und Familie hält er es für sinnvoll, dass sich zunächst die Erwachsenen klar darüber werden, welchem Typ sie angehören, damit sie die ihnen anvertrauten Kinder annehmen und ihnen typgerecht begegnen können. Warum sollte man etwas loben, das einem Kind von seinem Typ her sowieso leicht fällt? Sollte man nicht eher die vernachlässigten Seiten stärken?

Winkler illustriert seine Typenlehre mit zahlreichen Anekdoten und Beispielgeschichten aus Familienalltag und Kindergarten. Seine Beispiele sprechen jeden an, der sich für die kindliche Entwicklung und für das Geschehen in Kindergruppen interessiert. Winkler will seine Leser darin unterstützen, die Unterschiedlichkeit von Kindern wahrzunehmen und jedem Kind gerecht zu werden. Das Wissen über die unterschiedlichen Temperamente helfe Eltern und Erziehern dabei, Kinder da abzuholen, wo sie starten. Je nach Persönlichkeit des einzelnen Kindes ermuntert der Autor seine Leser zu klarer Ansage, rät zu Zurückhaltung oder zum Aufzeigen von Lösungswegen. Wer mit seinen Kindern über die neu entdeckte Typenlehre sprechen möchte, kann das anhand bestimmter Tiersymbole wie Eule oder Orang-Utan tun. Winklers Beobachtungen gehen auf den Pädagogen und Therapeuten Dietmar Friedmann zurück, der Lieblings- und Vermeidungsrollen untersuchte und der sich auf Eric Berne bezieht.

Obwohl ich spezielle Handlungsanweisungen für den Umgang mit bestimmten Kindertypen für übertrieben halte, finde ich Winklers Buch für Eltern und Erzieher lesenswert, die mehr über ihnen fremde Verhaltensweisen bei Kindern erfahren möchten.

Bewertung vom 02.01.2017
Leben bis zum Schluss
Thorbrietz, Petra

Leben bis zum Schluss


sehr gut

Menschenwürdiges Sterben?

Petra Thorbrietz Ehemann starb überraschend nur wenige Monate nach seiner Krebsdiagnose. In dieser kurzen Zeit erlebte das Paar, wie ein schwerkranker Patient zu einer Summe von Einzelerkrankungen erklärt und zwischen verschiedenen Krankenhausabteilungen hin- und her geschoben wurde. Nicht der Patient, die Linderung seiner Schmerzen und ein würdiger Tod standen im Mittelpunkt; Diagnose und Therapie wurden durch starre Hierarchien, Organisations- und Ausbildungsmängel bestimmt. Über ihr persönliches Schicksal hinaus setzt sich die Autorin knapp und treffend mit der Situation Sterbender in deutschen Kliniken und Hospizen auseinander. Sie beschreibt das Schicksal alter und junger Mitpatienten ihres Mannes, interviewt Kritiker und stellt Menschen vor, die sich erfolgreich für ein menschenwürdiges Sterben eingesetzt haben.

Zugleich mit der Recherche zu ihrem Buch nimmt Thorbrietz den Tod ihres Mannes an. Die Publizistin recherchiert zum Thema Patientenverfügung sorgfältig die rechtliche Seite, stellt spektakuläre Fälle wie den der Koma-Patientin Terry Schiavo vor und zeigt Verständnis für die Arbeitssituation des Pflegepersonals. Sie kritisiert nicht nur das Fehlen statistischer Daten zu Krebserkrankungen in Deutschland, sondern auch mangelnde Qualitätsstandards für Diagnose und Therapie. In der Zusammenarbeit zwischen Kliniken, Altenheimen, Hospizen und ambulanten Pflegediensten bei der Versorgung Schwerkranker sieht die Autorin erhebliche Mängel.

"Leben bis zum Schluss" ist ein bewegendes, sehr persönliches Buch, eine ernüchternde Schilderung der Situation Sterbender in deutschen Kliniken.