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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 832 Bewertungen
Bewertung vom 03.05.2017
Die Möwe
Márai, Sándor

Die Möwe


sehr gut

Es glimmt doch noch

«Die Glut ist erloschen» wurde im Feuilleton getitelt über den 1948 erschienenen Roman »Die Möwe» von Sándor Márai, damit hinweisend auf dessen sechs Jahre vorher entstandenen, wahrlich grandiosen Roman «Die Glut». Man findet in beiden Werken die für diesen ungarischen Schriftsteller typischen literarischen Stilmittel, als da wären: Eine kammerspielartige Szenerie, eine gescheiterte Liebe als schicksalhafte Thematik, weit ausholende, melancholische Reflexionen, oft ins Monologische abdriftende, lange Dialoge, geheimnisumwehte, rätselhaft bleibende Protagonisten, und auch der Tod ist immer dabei als thematisches Grundelement.

Ein namenlos bleibender Ministerialrat in Budapest fertigt ein wichtiges geheimes Dokument aus, das erst am nächsten Tage veröffentlich werden soll. Dessen Inhalt bleibt zwar ungenannt im Roman, alles deutet aber darauf hin, dass es sich um eine militärische Aktion Ungarns im Fortgang des Zweiten Weltkriegs handelt. Als ihn in seinem Büro eine schöne junge Frau mit einer Empfehlung eines seiner Bekannten aufsucht, hat er ein Déjà-vu-Erlebnis. Er erkennt in ihr seine ehemalige Geliebte Ilona, die sich einst aus unerklärlichen Gründen mit Blausäure das Leben genommen hat, - die Ähnlichkeit jedenfalls ist frappant! Diese Reinkarnation Ilonas ist eine finnische Lehrerin, die fließend mehrere Sprachen spricht und ihn um eine Arbeitserlaubnis für Ungarn ersucht. En passant thematisiert Marais hier also auch das Phänomen der finno-ugrischen Sprachenfamilie, die Finnin spricht perfekt Ungarisch. Spontan lädt der Mann die Frau für den Abend in die Oper ein, genießt die Aufmerksamkeit, die die ebenso schöne wie elegante Frau in seiner staatlichen Opernloge beim neugierigen Publikum erregt, anschließend gehen sie noch auf einen Kaffee in seine Wohnung. Zu dem Kaffee kommt es aber nicht, die Beiden beginnen ein schier endloses, tiefgründiges Gespräch, irgendwann küsst er sie spontan. Es bleibt bei diesem einen Kuss, sie duzen sich fortan, aber spät in der Nacht möchte sie gehen: «Öffne die Tür und entlasse mich auf meinen Weg». Und als er sie begleiten will: «Du weißt genau, […] dass es die größte, die einzige Höflichkeit ist, wenn du mich nicht begleitest. Ich sage es noch einmal, entlasse mich auf meinen Weg. Ich sage es deinetwegen und meinetwegen». Er bleibt allein zurück. Der letzte Satz des Romans lautet dann: «Er geht durch das Zimmer wie ein Blinder – und doch so, als führte ihn jemand».

Es ist ein intensiver Gedankenaustausch zwischen den beiden so ungleichen Menschen, die sich nicht kennen und die ein unwahrscheinlicher Zufall zusammengeführt hat vor dem historischen Hintergrund des Kampfes zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus in Europa. Diesen ideologischen Konflikt verdeutlicht die titelgebende Möwe, ein Vogel, der nur nach rechts und links sehen kann und nicht nach vorn, weil er keine Stirn hat mit Augen darin, den verbohrten Politikern damit ähnelnd. Aus dem Roman spricht die tiefe Resignation seines Autors angesichts der politischen Zustände jener Zeit, aber auch seine weitgehende Skepsis gegenüber dem Leben selbst. Die Sinnsuche ist das große Thema, das ihn umtreibt. Er beklagt zudem den tumben Massenmenschen als neues soziologisches Phänomen sowie den weit fortgeschrittenen moralischen Verfall der Gesellschaft.

Erzählt wird all das sehr eindringlich in einer wohlklingenden, dichten Sprache, wobei das zentrale Zwiegespräch einen großen Teil der Geschichte ausmacht. Die Dialoge werden oft durch innere Monologe des Ministerialrats ergänzt, häufiger noch wird in der Form des Bewusstseinsstroms erzählt. Der 1989 durch Suizid aus dem Leben geschiedene Autor verleiht mit seinem depressiven Duktus der Geschichte etwas Zwingendes, dem man sich kaum entziehen kann, so elementar ist die Thematik, die seine metaphernreiche Sprache dem geneigten Leser nahe zu bringen sucht. Die Glut seines literarischen Feuers glimmt also immer noch, auch in diesem tiefsinnigen Roman.

Bewertung vom 30.04.2017
Nachtflug
Saint-Exupéry, Antoine de

Nachtflug


sehr gut

Der Mensch im Machbarkeitswahn

Der Ruhm von Antoine de Saint-Exupéry stützt sich auf die weltberühmte Erzählung «Der kleine Prinz» aus seinem Spätwerk, in der eine Notlandung in der Wüste den äußeren Rahmen bildet. Seine langjährigen Erfahrungen als Berufspilot hat der französische Autor, der selbst mehrere Bruchlandungen überlebt hat, in einigen seiner Werke verarbeitet, so auch in dem Roman «Nachtflug», mit dem ihm 1930 der literarische Durchbruch gelang. Um Saint-Exupérys Tod bei einem Aufklärungsflug 1944 in der Nähe von Marseille rankten sich viele Mythen, die nach dem Zufallsfund eines Armbands von ihm durch einen Fischer sowie die spätere Bergung seiner ins Mittelmeer gestürzten Lockheed F-5 aber weitgehend aufgeklärt werden konnten.

«Die Höhenzüge, tief unter dem Flugzeug, gruben schon ihre Schattenfurchen ins Gold des Abends» lautet der erste Satz. Der Pilot Fabien und sein Bordfunker sind an diesem Abend im Postflugzeug von Patagonien nach Buenos Aires unterwegs. Außer ihnen sind zwei weitere Kurierflieger von Chile und Paraguay auf dem Weg dorthin, nach Mitternacht übernimmt der Europakurier dort die Fracht der drei Maschinen. Im Wettbewerb mit Eisenbahn und Schifffahrt hat Direktor Rivière gegen manchen politischen Widerstand diesen Kurierdienst eingerichtet, der wegen seiner hohen Risiken allerdings heftig umstritten ist. Als Leiter der Luftpost regiert er mit harter Hand, beschwört den Pioniergeist seiner Piloten herauf, verlangt eiserne Disziplin und akzeptiert keinerlei Angst. «Diese Menschen […] sind glücklich, weil sie ihren Beruf lieben, und sie lieben ihn, weil ich hart bin», glaubt er. Nach einer Zwischenlandung gerät Fabien in ein heftiges Unwetter, das schnell den ganzen Kontinent erfasst hat, ein Umfliegen der Wetterfront ist unmöglich. Er fliegt in völliger Dunkelheit, ohne Sicht und ohne jede Chance auf eine Notlandung, zudem wird bald auch sein Treibstoff zu Ende gehen. Die Verständigung mit dem Bordfunker erfolgt über handgeschriebene Zettel, die sie sich jeweils zureichen, schließlich bricht auch die Funkverbindung mit den Bodenstationen ab. Als Fabien die Maschine aus den heftigen Turbulenzen nach oben zieht und die Wolkendecke durchstößt, sieht er bei ruhigem Wetter plötzlich den Sternenhimmel über sich, alle Beide geraten in eine trügerische Euphorie.

Die Geschichte ist zweisträngig erzählt, parallel zum dramatischen Fluggeschehen werden die hektischen Aktivitäten der Flugleitung geschildert. Direktor Rivière verfolgt ungeduldig den Funkverkehr mit der in Not geratenen Maschine, spricht mit der Frau von Fabien, die verzweifelt auf Nachricht von ihrem Mann wartet. Innerlich aber hadert er mit sich, weil er seine Piloten zu solch riskanten Flügen ermutigt hat, stellt sogar den ganzen Luftpost-Dienst in Frage als zu riskant, technisch trotz aller Sorgfalt nicht wirklich beherrschbar. Gleichwohl lässt er schließlich doch den Europakurier ohne die Post aus Patagonien pünktlich starten, er hört die Maschine über den Platz brummen wie immer, der Flugbetrieb geht weiter.

Man hat Saint-Exupéry vorgeworfen, mit «Nachtflug» ein Hohelied des Idealismus, der Pflichterfüllung und Kameradschaft unter Männern angestimmt zu haben, ein Heldenepos der vergleichsweise primitiven Fliegerei jener Tage, - die Kommunikation per Zettel zwischen Pilot und Funker kündet überdeutlich davon. Was zählt bei solch heroischem Machbarkeitswahn ein Menschenleben? Welchen Preis darf der Fortschritt haben? Heiligt der Zweck die Mittel? Den Autor, der sein Buch als eine «Erforschung der Nacht» gedeutet hat, stürzte die herbe Kritik daran in eine tiefe Schaffenskrise, erst acht Jahre später erschien wieder ein Roman von ihm. «Nachtflug» ist ein geradezu meditativer Roman, geschrieben in einer ungemein suggestiven Sprache, knapp und ohne jedes Pathos bewirkt sie beim Leser das beklemmende Gefühl, Zeuge einer unabwendbaren Tragödie zu sein, selbst ganz hautnah die Unerbittlichkeit des Schicksals zu spüren.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 28.04.2017
Sie kam aus Mariupol
Wodin, Natascha

Sie kam aus Mariupol


sehr gut

Treppenwitz der Geschichte

In ihrer Dankesrede zum Preis der Leipziger Buchmesse 2017 hat die Schriftstellerin Natascha Wodin auf die Ironie des Schicksals hingewiesen. Ihre Mutter hätte sich nicht träumen lassen, sagte sie, dass ausgerechnet hier ein Bild von ihr auf der Bühne präsentiert würde, am Standort einer ehemaligen Waffenfabrik des Flick-Konzerns, in der sie gegen Kriegsende unter erbärmlichsten Umständen als russische Zwangsarbeiterin für die Nazis arbeiten musste. In dem ausdrücklich nicht als Roman firmierenden Buch «Sie kam aus Mariupol» gibt ihre Tochter diesem Schicksal belletristisch eine beeindruckende literarische Stimme. Schon der Titel deutet darauf hin, hier geht es um eine Lebensgeschichte, die an einem abgelegenen Ort ihren Anfang nimmt, am fernen Asowschen Meer.

«Dass ich den Namen meiner Mutter in die Suchmaschine des russischen Internets eintippte, war nicht viel mehr als eine Spielerei» lautet der erste Satz. Das war 2013, die Autorin mit russisch-ukrainischen Wurzeln hatte die Suche nach ihrer Mutter eigentlich schon lange aufgegeben, «es war mir nicht gelungen, auch nur die Spur einer Spur zu finden». Aber nun geschehen einige Wunder, auf der Internetseite «Asov’s Greecks» war überraschend der Name ihrer Mutter verzeichnet, sie war in einem genealogischen Forum gelandet, und nachdem sie sich dort registriert hatte, konnte sie sogar eine konkrete Suchanfrage starten. Spannend wie ein Krimi liest sich die Geschichte dieser Recherche, die Stück für Stück immer mehr Details aus dem Leben ihrer Mutter ans Tageslicht bringt, sie findet sogar Fotos der Familie und bekommt Kontakt zu entfernten Verwandten und zu Leuten, die Auskunft geben können zu ihren Vorfahren. Es sind viele glückliche Zufälle, die ihr allmählich ein vorher nie für möglich gehaltenes Bild vom Leben ihrer Mutter bescheren. Als Krönung erhält sie schließlich sogar zwei Hefte mit einer Autobiografie, die Lidia, die Schwester ihrer Mutter, als Achtzigjährige geschrieben hat und die sie nun, im zweiten Teil des Buches, mit eigenen Worten nacherzählt. Die Tante berichtet in ihren Memoiren von den Folgen der Russischen Revolution und den Stalinistischen Säuberungen, die ihre wohlhabende Familie nach und nach völlig zerschlagen, sie selbst landet für zehn Jahre in einem sibirischen Arbeitslager.

Alle Brüche des 20. Jahrhunderts spiegeln sich in dieser Familiengeschichte, und das Drama von Lidia wiederholt sich, - grausame Parallelität der Geschichte -, als die Eltern von Natascha Wodin nach den schlimmen Zeiten der deutschen Besetzung 1944 von den Nazis als Zwangsarbeiter nach Leipzig verschleppt werden. Nach dem Krieg leben sie dann im Status von «Displaced Persons» unter erbärmlichsten Umständen in einem Lagerschuppen in Fürth. Der Vater verlässt die Familie schließlich nach einem missglückten Versuch als Unternehmer und geht als Sänger auf Reisen. Er unterstützt sie finanziell, die Mutter aber wird zunehmend depressiv, bewältigt ihr bedrückendes Leben einfach nicht mehr, 1956 dann verlässt die Verwirrte ohne ein Wort die Behelfswohnung, lässt ihre beiden zehn und vier Jahre alten Töchter allein zurück und ertränkt sich in der Regnitz.

Natascha Wodin erzählt ihre berührende Geschichte einer Spurensuche in einer einfach strukturierten Sprache schnörkellos und ohne jedes Pathos, sie ergänzt dabei die recherchierten Fakten mit vielen Mutmaßungen, mit Fiktionen auch. Mir ging es beim Lesen so, dass ich immer wieder auf die Autorin selbst kam in meinen Gedanken, mein Mitgefühl galt weniger den Angehörigen, über die sie berichtet, als ihr selbst, der noch Lebenden, denn was musste sie als Zehnjährige nach dem Tod der Mutter so alles durch gestanden haben! Ihre Spurensuche ist eine ebenso aufregende wie erschütternde virtuelle Reise durch die jüngere Geschichte, mit der die Autorin nicht nur ihre eigene Herkunft aufarbeitet, sondern auch den Zwangsarbeitern in Deutschland ein längst fälliges literarisches Denkmal setzt.

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 22.04.2017
Berittener Bogenschütze
Kronauer, Brigitte

Berittener Bogenschütze


gut

Das Mirakel der Realität

Man hat vom Höhepunkt ihrer Erzählkunst gesprochen bei Brigitte Kronauers 1986 erschienenem Roman «Berittener Bogenschütze», der nicht nur vom Titel her Rätsel aufgibt. Die mit vielen Preisen geehrte Schriftstellerin hat nach langen Jahren im literarischen Untergrund ihren ganz eigenen Erzählstil entwickelt, den sie nach ihrem erfolgreichen Romandebüt wie ein Markenzeichen konsequent weiterverfolgt und im vorliegenden, sechs Jahre später erschienenen Band auf die Spitze getrieben hat. Mit Realistik im Sinne üblicher Lesererwartungen hat ihr spezieller literarischer Stil rein gar nichts gemein, soviel vorweg!

Der vierzigjährige Matthias Roth ist Literaturdozent an einer nicht genannten deutschen Uni, sein Forschungsschwerpunkt scheint Joseph Conrad zu sein. Er ist allein stehend und lebt als möblierter Herr in zwei einfachen Zimmern beim Ehepaar Bartels. Nachdem Karin ihn verlassen hat, ist er zu Beginn des Romans mit der Biologiestudentin Marianne liiert, die gelegentlich bei ihm übernachtet. Frau Bartels kocht für ihn und erzählt ihm Geschichten über die Mitbewohner, die ihn wirklich nicht interessieren, die er aber aus reiner Höflichkeit über sich ergehen lässt. Als er seinen früheren Freund Fritz und dessen Frau in einer anderen Stadt besucht, staunt er über das für ihn rätselhafte Eheleben der Beiden, spekuliert darüber, wie nahe sie sich menschlich denn tatsächlich sein können. Von den alten Freunden ist nur Hans in der Stadt geblieben, er ist mit Gisela verheiratet und hat einen Job im Kulturamt; Matthias ist öfter bei ihnen eingeladen, die Drei verstehen sich gut. Als Marianne ihn wortlos verlässt, unternimmt er in den Semesterferien eine längere Reise nach Italien, wohnt einige Zeit bei Irene, einer allein stehenden Bekannten in Genua, ohne aber intim mit ihr zu werden, wie er es eigentlich vorhatte. Am letzten Tag seines Badeurlaubs hat er auf einer Wanderung in einem einsamen, mediterranen Tal eine Art Erweckungserlebnis. Zurückgekehrt trifft er zufällig Anneliese wieder, mit der er mal eine Nacht verbracht hatte, und bandelt nun wieder mit ihr an. Der Roman endet mit einer ihn vollends irritierenden Begebenheit: Als er eines Abends seine Freunde besucht, ist Hans noch nicht von der Arbeit zurück. Beim Teetrinken in der Küche kommen er und Gisela sich plötzlich für einen winzigen Moment nahe, man hört aber schon den Schlüssel von Hans in der Haustür. Völlig verwirrt nach schlafloser Nacht trifft Matthias die Beiden am nächsten Abend wieder, und alles ist wie immer, als wäre nichts geschehen.

Brigitte Kronauer versucht in ihrem Roman, den Dingen des Alltags auf den Grund zu gehen, Erkenntnisse zu gewinnen über die Geheimnisse dessen, was wir Wirklichkeit nennen. Ihr sensibler Protagonist ist ein ewiger Grübler, ein Skeptiker, der ständig sinnierend das Innere der sichtbaren Welt ebenso zu erforschen sucht wie das verbindende Beziehungsgeflecht ihrer Teile. Als sehr spezieller Entwicklungsroman, in dem nichts von Bedeutung passiert, enthält er fast ausschließlich tiefsinnige Reflexionen und äußerst detailverliebte Schilderungen. In einer kreativen, wortmächtigen Sprache lassen sie auf der Suche nach Erkenntnis, nach dem Mirakel hinter der Realität, vieles aufscheinen, das sich dem weniger genauen Betrachter völlig entzieht.

Der komplexe Roman erscheint mir ziemlich artifiziell, er ist wahrlich nicht einfach zu lesen mit seinen zuweilen komplizierten Satzgebilden, die partout alles, was ist, zu benennen suchen. Damit erfordert er einiges an Geduld, nötigt zudem den Leser auch zur Mitwirkung bei der Überfülle an Details, die da auf ihn einströmen und sich zu Bildern formen, permanent neue Assoziationen generierend. So sehr die exzessive, fast schon manische Beschreibungslust der Autorin auch zu bewundern ist, das Gros der Leser dürfte den Roman kaum wirklich goutieren, zu abseitig ist diese spezifische Erzählweise, von der schwierigen Thematik ganz zu schweigen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.04.2017
Das Nest
Sweeney, Cynthia D'Aprix

Das Nest


weniger gut

Kreatives Schreiben

Entsteht beim Erscheinen eines neuen Buches ein Hype wie der beim Roman «Das Nest» von Cynthia D’Aprix Sweeny, sollte der Leser gewarnt sein: Vorsicht, Bestseller! Die US-amerikanische Autorin war freiberufliche Werbetexterin und hat nach der Kinderphase ein spätes Studium in Creative Writing absolviert. Ihren Debütroman, den sie bereits während dieser Studienzeit begonnen hat, wäre ihr vom zweitgrößten Verlag der Welt, HarperCollins in New York, geradezu aus den Händen gerissen worden, sie hätte einen Dollarvorschuss in Millionenhöhe bekommen, wird kolportiert. Ein Blitzstart also, der wahr gewordene American Dream, - hält denn das Buch, was der Hype verspricht?

Der inzwischen verstorbene Patriarch der New Yorker Familie Plumb hat vor vierundzwanzig Jahren für seine vier Kinder einiges Geld in einem Fonds angelegt. Ein üppiges finanzielles Polster, wie er damals sagte, an das sie frühestens zum vierzigsten Geburtstag von Melody, seiner jüngsten Tochter, herankämen, damit sie es nicht vorher schon verprassen können. Fortan nannten die Geschwister dieses Erbe unter sich immer nur «Das Nest». Dem Roman ist ein Prolog vorangestellt, der einen schlimmen Autounfall von Leo schildert, dem Playboy unter den vier Geschwistern, bei dem seine junge Beifahrerin einen Fuß verliert. Als nun die Auszahlung des Geldes ansteht, erfahren die Geschwister, dass der wohlhabende Leo nicht nur auf einen Schlag all sein eigenes Geld verloren hat durch den Unfall und seine ruinöse Scheidung, seine Mutter musste sogar den Fonds auflösen, damit er die immensen Schadenersatzansprüche erfüllen konnte, - «Das Nest» ist also leer.

Was folgt ist die abwechselnd in mehreren Handlungssträngen erzählte Geschichte der vier Geschwister, die alle in Geldnöten sind. Die deutlich über ihre Verhältnisse lebende Melody kann die immens hohen College-Gebühren für ihre zwei Töchter nicht aufbringen, die erfolglose Schriftstellerin Beatrice möchte endlich ein größeres Appartement haben, und der schwule Antiquitätenhändler Jack hat hinter dem Rücken seines «Ehemannes» ? das gemeinsame Sommerhaus verpfändet. Der finanziell total abgebrannte Leo stellt seinen Geschwistern bei einem eilig anberaumten Familientreffen in Aussicht, er würde sich schon etwas einfallen lassen, damit ihr Erbteil doch noch ausgezahlt werden kann. Die Gier nach dem Gelde führt die schmarotzenden Geschwister notgedrungen wieder enger zusammen, ohne dass dadurch familiäre Wärme entstehen würde, zu sehr träumt jeder von ihnen egoistisch davon, wie sich sein Leben auf Pump schlagartig ändern würde, könnte Leo frisches Geld auftreiben. Der Roman folgt unbeirrt der eingängigen Devise: «Geld macht nicht glücklich, aber es hilft ungemein».

Die Geschichte ist prall gefüllt mit jederzeit leicht nachvollziehbaren, geradlinig und ohne Schnörkel erzählten Geschehnissen, wobei der sprachliche Stil doch ziemlich bieder wirkt, ohne Esprit und kaum je witzig. All die glaubhaft beschriebenen Figuren agieren aber so munter, dass es dem Leser dieser verzwickten Geschwisterstory nicht langweilig wird. Und auch die Dialoge sind stimmig, der plausible Plot konzentriert sich weitgehend auf die schwierigen Charaktere der vier durchaus sympathisch erscheinenden Protagonisten, von deren Irrungen und Wirrungen im Wechsel so flott berichtet wird, oft in Form innerer Monologe. «Kreatives Schreiben will Anleitung zum Schreiben sein, ohne notwendigerweise anspruchsvolle Texte zu produzieren», heißt es bei Wikipedia, und genau diese Definition trifft hier auch voll zu. Dem mit offensichtlichem Kalkül auf Erfolg getrimmten Roman, an dessen Verfilmung schon eifrig gearbeitet wird, fehlt jedenfalls völlig ein wirklich authentischer Duktus, von inhärentem literarischem Genius ganz zu schweigen. Derart konstruierte Bücher, - so mein Albtraum, nachdem autonomes Autofahren ja schon Realität geworden ist -, werden künftig wohl Computer schreiben, mit intelligenten Algorithmen für das Creative Writing.

Bewertung vom 07.04.2017
Sozusagen Paris
Kermani, Navid

Sozusagen Paris


weniger gut

Es gibt kein richtiges Leben im falschen

Der neue Roman «Sozusagen Paris» von Navid Kermani kreist auf originelle Weise um das uralte Thema der Liebe zwischen Mann und Frau. Sein nicht gerade konventioneller Plot, trickreich ersonnen von dem als Intellektueller hoch angesehen Autor, erzeugt gleich zu Beginn einen heftigen Sog, man will wissen, wohin das steuert.

«Aber nicht für Jutta» lautet der erste Satz, der von einer attraktiven Frau um die vierzig gesprochen wird, die nach einer Dichterlesung in einer Kleinstadt dem signierenden Schriftsteller ihr Buch hinhält. Und die, nicht gerade alltäglich, sich selbst in dem Buch als Hauptfigur erkannt hat, obwohl der Name natürlich verändert wurde. Als «Schulhofschönheit» hatte sie einst mit dem Ich-Erzähler ein kurzes, aber heftiges Techtelmechtel. Und seither fungiert sie als ewige Sehnsuchtsfigur für den Autor, der damals fünfzehn Jahre alt war, - in den vielen Jahren dazwischen haben sie nie mehr etwas voneinander gehört. Was man als neu aufflammende Liebesgeschichte vorausahnt, die der Ich-Erzähler sich tatsächlich auch erhofft, das entwickelt sich im Gegenteil zunehmend zu einem soziologischen Exkurs über die Ehe in allen ihren vielen Aspekten. Ersteres zu thematisieren wäre profan gewesen, da erwartbar, die eheliche Liebe hingegen ist ein weites Feld, um Fontane zu zitieren, - und ein ergiebiges!

Der Ich-Erzähler ist geschieden, hat einen Sohn, mit dem er sich nicht versteht, viel mehr erfährt man nicht von ihm. Autobiografische Bezüge sind allerdings unverkennbar, das Buch in der Lesung dürfte Kermanis Roman «Große Liebe» gewesen sein. Er spielt gekonnt mit Identitäten, spricht von seinem «geplanten» Roman über die Begegnung mit Jutta, ein Fortsetzungsroman mithin. Der Leser wird häufig mit einbezogen in dessen Entstehungsprozess, sogar der Lektor des neuen Buches ist beteiligt, stellt kritische Fragen. Die Protagonistin ist Ärztin, mit einem praktischen Arzt verheiratet, der in Südamerika gearbeitet hat, wo sie sich einst kennen lernten. Sie haben drei Kinder zusammen und wohnen in einer schönen Altbauvilla in einer Kleinstadt, deren Bürgermeisterin die politisch ambitionierte Jutta ist, die sich so ganz nebenbei auch noch als Tantra-Lehrerin betätigt. Ihr Mann ist strikt ökologisch orientiert, treibt exzessiv Sport, hat sich zum Veganer entwickelt. Beide haben sich mit den Jahren weit auseinander gelebt, ihre Liebe ist erkaltet, obwohl der Sex nach wie vor für beide zufrieden stellend ist. Kermani bedient hier nahezu alle gängigen Klischees, sprach im ZEIT-Interview allerdings von bundesdeutscher Normalität, über die er da schreibe. Für Jutta in ihrem «Scheißkaff», wie sie ihr Provinznest selbst manchmal nennt, steht ihr Freund von einst als freier Schriftsteller für Gedankenreichtum, Weltläufigkeit, «sozusagen Paris», jener Chiffre für erotische Abenteuer in der französischen Literatur.

Jutta und ihr Ex landen nach dem Essen und einem anschließenden Rundgang durch die Kleinstadt spät in ihrer stattlichen Villa. Die Kinder schlafen schon, der Ehemann ist noch mit seinen Abrechnungen als niedergelassener Arzt beschäftigt, er lässt sich nicht sehen, es gab Streit. Was folgt ist ein stundenlanges Gespräch der Beiden über vergangene Zeiten, das sich schon bald nur noch um Juttas Eheprobleme dreht, ihre enttäuschten Hoffnungen, den drögen Alltagstrott. Der Ich-Erzähler zitiert dabei immer wieder aus der einschlägigen Literatur, Proust vor allem, aber auch Stendhal, Balzac und viele andere, sogar ein Song von Neil Young ist dabei. Diese ausufernde Intertextualität verhilft zu den verschiedensten Perspektiven und bestätigt Adorno, es gibt kein richtiges Leben im falschen. All diese Reflexionen werden abrupt beendet durch eine Kloszene am Ende, womit der Ich-Erzähler seinem Lektor zuwiderhandelt, denn das Klo gehöre nun mal nicht in die Literatur. Die so fulminant gestartete Geschichte versickert regelrecht in langweiligem Geschwafel über die Ehe, schade!

Bewertung vom 04.04.2017
Der Untertan
Mann, Heinrich

Der Untertan


sehr gut

Vom hässlichen Deutschen

Aus dem umfangreichen Œuvre von Heinrich Mann ist «Der Untertan», neben dem Hauptwerk mit den beiden grandiosen «Henry Quatre» Bänden, sein erfolgreichster Roman. Er wurde kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges vollendet, der Vorabdruck, unter anderem im Simplicissimus, fiel jedoch bald der Zensur zum Opfer, erst nach Kriegsende konnte er dann, und zwar gleich in erstaunlich hoher Auflage, veröffentlicht werden. In dieser berühmten Satire nimmt der Autor mit beißender Ironie die Wilhelminische Epoche aufs Korn, eine entlarvende Gesellschaftskritik jener Zeit des widerspruchslosen Obrigkeitsdenkens. Der Roman ist Zeitzeugnis und Lehrstück zugleich, er gehört zweifellos zum Kanon der deutschen Literatur und ist als unterhaltsamer Klassiker auch nach hundert Jahren noch eine empfehlenswerte Lektüre.

Diederich Heßling, Sohn eines Papierfabrikanten in der fiktiven preußischen Provinzstadt Netzig, markiger Student einer schlagenden Verbindung, promovierter Jurist, drückt sich nach seinem Studium erfolgreich um den ungeliebten Militärdienst und übernimmt nach dem Tod des Vaters die Fabrik. Wir erleben als Leser den Aufstieg des rücksichtslosen, aber feigen Opportunisten zu einem angesehenen bourgeoisen Patriarchen, der in der Wahl seiner Mittel nicht zimperlich ist, sich zudem als charakterloser Denunziant erweist. Mit seiner rigiden kaisertreuen Gesinnung jedoch gewinnt er schon bald die Sympathie der konservativen, nationalen Kräfte, macht sich andererseits die Liberalen und Sozialdemokraten zu politischen Feinden. Der unsympathische, ehrlose Protagonist ist tief in politische Ränkespiele mit wechselnden Partnern verstrickt, sucht aus seiner gesellschaftlichen Stellung stets einen materiellen Vorteil zu ziehen, ist durchaus auch korrumpierbar. Sein mit Orden geschmückter politischer Aufstieg findet bei der Einweihungsfeier für ein lang umkämpftes Kaiser Wilhelm Denkmal einen Höhepunkt, als während seiner Festrede ein Unwetter symbolträchtig die Honoratioren in die Flucht treibt, eine Vorahnung drohenden Unheils durch den von verblendeten Patrioten dringend herbeigesehnten Krieg. Auch im Privaten ist Heßling ein bösartiger Tyrann, der sich nicht scheut, beispielsweise dem Vater von Agnes, einer von ihm verführten Jugendfreundin, höhnisch entgegenzuhalten, seine Ehre lasse es nicht zu, ein solcherart «gefallenes» Mädchen zur Mutter seiner Kinder zu machen. Gleiches widerfährt ihm am Ende, nun allerdings mit umgekehrten Vorzeichen, als seine unverheiratete Schwester in genau derselben Situation ist. Seinen ansehnlichen Wohlstand erwirbt er durch reiche Heirat und vermehrt ihn trickreich mit dubiosen Aktiengeschäften, durch die er Andere ungerührt in den Ruin treibt.

Der Autor erzählt seine ereignisreiche Geschichte aus kritischer Distanz in einem sprachlich sehr gefälligen Stil, dem man natürlich die hundert Jahre anmerkt, die seit Erscheinen des Romans vergangen sind. Er karikiert den autoritätsgläubigen Untertanengeist der Epoche auf amüsante Art, sogar Bismarcks «Reichshund» wird da persifliert in einer köstlichen Szene. Ferner bedient er sich eines zahlreichen Figurenensembles, in dem archetypisch viele Charaktere treudeutscher Mannsbilder vertreten sind, vom erzkonservativen Regierungspräsidenten bis zum sozialistischen Werkmeister in Heßlings Fabrik, der später mit seiner heimlichen Hilfe sogar Abgeordneter des Reichstags wird, - alles aus Kalkül, wohlgemerkt.

Heinrich Mann, dessen Kontakte zu seinem deutschnationalen Bruder jahrelang abgebrochen waren, kritisiert in seinem Roman den rückwärts gewandten Ungeist der Bourgeoisie ebenso wie den heuchlerischen Nationalismus und den schnöden Materialismus der Sozialdemokraten. In einer symbolträchtigen Szene am Ende stirbt ein von Heßling in den Ruin getriebener politischer Gegner, Teilnehmer der Deutschen Revolution von 1848, bei dessen völlig unerwartetem Anblick, - Heßling erscheint ihm geradezu als böser Geist in seiner Todesstunde.

Bewertung vom 26.03.2017
Eine Jugend
Modiano, Patrick

Eine Jugend


gut

Genese einer humanitären Befreiung

«1945 geboren zu sein, nachdem Städte zerstört und ganze Bevölkerungen verschwunden waren, das muss mich, wie andere meines Alters, sensibler für die Themen Erinnerung und Vergessen gemacht haben» hat Patrick Modiano 2014 in seiner Nobelpreisrede erklärt. Und so steht auch sein 1985 auf Deutsch erschienener Roman «Eine Jugend» unter der Maxime einer «Pflicht der Erinnerung», mit der Übersetzung und Protektion von Peter Handke wurde der Schriftsteller dann einem breiteren deutschen Publikum bekannt. Trotz hoher literarischer Ehrungen aber blieb die Rezeption seines beachtlichen Œuvres eher verhalten, ein Schicksal, welches er mit vielen anderen großen Schriftstellern teilt.

«Die Kinder spielen im Garten, und bald ist es Zeit für die tägliche Schachpartie». Mit diesem Satz beginnt der Roman, geschildert wird eine Familienidylle in den Bergen. Es ist der Tag vor Odiles 35ten Geburtstag. In dem Chalet von Louis und seiner Frau haben sie bislang ein Kinderheim betrieben, sie wollen es jetzt aber allein benutzen, eventuell einen Schuppen zum Restaurant umbauen. «In Saint-Lô, in jenem Herbst vor fünfzehn Jahren, regnete es tagelang» heißt es dann nach zehn Seiten, der gesamte Rest des Romans ist ein Rückblick auf ihre gemeinsame Zeit in Paris.

Nach dem Militärdienst in Saint-Lô lernt Louis den deutlich älteren Jean-Claude Brossier kennen, der ihm Arbeit bei seinem Freund in Paris vermittelt, einem zwielichtigen Geschäftsmann namens Bejardy. Louis arbeitet als Aufsicht in dessen Garage und macht Botendienste für ihn. Eines Tages lernt er Odile kennen, eine angehende Sängerin, die nach dem Selbstmord ihres Förderers Bellune völlig aus der Bahn geworfen wird. Durch seine Protektion wurden Chansons für sie geschrieben und eine Schallplatte aufgenommen, mit der sie sich bei den Plattenfirmen bewerben konnte. Als die Neunzehnjährige - nach dem Recht der 1960er Jahre eine Minderjährige - nachts von der Polizei aufgegriffen wird, verlangt der Kommissar von ihr, der Polizei als Lockvogel bei der Verhaftung eines gesuchten Vergewaltigers zu helfen. Schließlich findet sie auch einen Musikagenten, der ihre Probeaufnahmen anhört und ihr eine Anstellung im Varieté vermittelt. Als er sie darauf – als Gegenleistung sozusagen – in seinem Büro auszieht, wehrt sie sich nicht, ist ihm zu Willen. Nachdem Louis und Odile ein Paar geworden sind, verschafft Brossier ihnen eine Wohnung und stellt ihnen seine schöne äthiopische Freundin vor, eine Studentin, mit der er auf dem Campus wohnt. Schließlich erhalten sie von Bejardy den Auftrag, eine halbe Million Franc nach England zu schmuggeln, getarnt als Mitglieder einer Reisegruppe Jugendlicher zu einem Englischkurs im Seebad Bournemouth. Als sie zurückkommen, erfahren sie von Brossier, dass er sich mit Bejardy überworfen habe. Von dessen Freundin hören sie, er werde sich in Kürze nach Argentinien absetzen. Durch Zufall lernen Louis und Odile in einer Café einen Künstler kennen, in dessen ehemaligem Atelier sie jetzt wohnen, und der erzählt ihnen, Bejardy sei als Mörder verhaftet gewesen, mangels Beweisen aber freigesprochen worden. Als letzten Auftrag - Bejardy hat seine Wohnung bereits aufgelöst - sollen Louis und Odile für ihn wieder eine halbe Million Franc schmuggeln, diesmal nach Genf. Sie aber besteigen den Zug nach Nizza.

Bruchstückhaft wird in diesem kurzen Roman der Erinnerung über soziales Alleinsein erzählt, über eine nebelhafte Zeit der Selbstfindung, dem Leser wird reichlich Gelegenheit für eigene Reflexionen und Phantasien gegeben. Der auktoriale Erzähler zeigt seine jugendlichen Protagonisten auf der Suche nach ihrem Platz in der Welt. Dabei stellt er sie wie emotionslose Statisten auf seine atmosphärisch dicht beschriebene, literarische Bühne. Er enthält sich jedweder psychologisierenden Deutung, charakterisiert seine Figuren vielmehr ausschließlich über das äußere Geschehen, die hindernisreiche Genese einer humanitären Befreiung.

Bewertung vom 21.03.2017
Der Dieb
Nakamura, Fuminori

Der Dieb


weniger gut

Ästhetik des Taschendiebstahls

Im Jahre 2015 erschien als erster der mehr als ein Dutzend bisher veröffentlichten Bände des unter Pseudonym schreibenden japanischen Schriftstellers Fuminori Nakamura sein Roman «Der Dieb» auch in deutscher Sprache. Vorbild für den Titelhelden war, wie er in einem Interview erklärte, Nezumi Kozō, ein 1832 hingerichteter Dieb, der in Japan oft mit Robin Hood verglichen wird. Anders als sein Pendant in der englischen Ballade hatte der allerdings seine Beute nicht unter die Armen verteilt, sondern selbst verprasst. Unser Romanheld wiederum ist Taschendieb, er bestiehlt nur Männer und ist ausschließlich auf deren Geld aus, die leer geräumten Brieftaschen wirft er in den nächsten Postkasten, sodass der Bestohlene sie mit dem übrigen Inhalt von der Polizei zurückbekommen kann.

Wir erleben den Ich-Erzähler, dessen richtiger Name Nishimura nur ein einziges mal ganz nebenbei erwähnt wird, bei der Ausübung seiner Kunst, er streift ruhelos durch Tokio, sucht gezielt die für sein Metier geeigneten Orte auf, überfüllte U-Bahnen oder belebte Geschäftsstraßen, Einkaufszentren. Er beherrscht alle Tricks seines nicht ehrbaren Handwerks, agiert auf dem Höhepunkt seines Könnens instinktiv sicher und mit fließenden, geschmeidigen Bewegungen, behält seine Umgebung dabei stets genauestens im Auge, immer auf der Lauer nach dem richtigen Moment für seinen Zugriff. Nakamura hat all diese handwerklichen Details akribisch recherchiert, sich, um Genauigkeit bemüht, sogar selbst als Taschendieb geübt, wie er im Interview erklärt hat, mit einem Freund als Testopfer. Der Romanheld ist Taschendieb seit frühester Jugend, und so ist er ziemlich irritiert, als er im Supermarkt einen kleinen Jungen beim Ladendiebstahl beobachtet, in dem er sich selbst erkennt und den er spontan vor dem Ladendetektiv schützt. Der Junge sucht nun ständig seine Nähe, will von ihm lernen. Schon bald aber holt den Ich-Erzähler seine dunkle Vergangenheit als ehemaliges Mitglied der japanischen Mafia ein, Kizaki, ein Boss der Yakuza zwingt ihn, drei Aufträge für ihn zu erledigen, bei einem brutalen Überfall mitzuwirken, ein geradezu faustischer Pakt.

Nakamura erzählt seine verstörende Geschichte von den Randfiguren der japanischen Gesellschaft scheinbar teilnahmslos in einer knappen Sprache ohne jede Raffinesse, wobei er den Dieb als einsame, tragische Figur darstellt, der in geradezu missionarischer Absicht stielt. Kizaki stellt er hingegen als blumig sprechend und nachdenklich dar, quasi als Alltagsphilosoph, um so die Brutalität des Geschehens zu konterkarieren und Spannung zu erzeugen. Seine literarischen Vorbilder, hat er erklärt, wären Kafka, Camus und Dostojewski, und prompt wird Raskolnikow bemüht beim Briefing mit Kizaki. Der Roman ermöglicht dem Leser einen illusionslosen Blick in die Welt des Bösen, das Gute kommt im Roman nicht vor. Nakamura erzeugt seine unheilvolle Atmosphäre einerseits durch den menschenfeindlichen Moloch der Metropole Tokio, andererseits durch den Schauplatz einer mafiosen Unterwelt, ohne gleich ins Spektakel blutrünstiger Thriller abzugleiten. Eher kann man den Roman als Gesellschaftskritik auffassen oder als psychologischen Exkurs in moralische Grenzbereiche.

Kann Taschendiebstahl eine Ästhetik haben, kunstvoll sein? Man ist verunsichert, nicht zuletzt durch den Robin-Hood-Bonus, der in diesem «roman noir» auch mitschwingt. Leitmotivisch blendet der Autor immer wieder einen nur schemenhaft erkennbaren Turm in die Erzählung ein, den man als Symbol einer übergeordneten Macht, ja als Metapher für Gott deuten kann. Das düstere Geschehen ist deterministisch, ganz am Ende, beim blutigern Showdown, enthüllt Kizaki, dass alles, was passiert ist, genau so von ihm vornher bestimmt war. In seiner minimalistischen Sprache nicht überzeugend, vom Plot eher simpel und klischeehaft aufgebaut, bietet dieser Buch literarisch, abgesehen vom schelmenromanhaften Beginn, aus meiner Warte wenig Anreiz zur Lektüre.

Bewertung vom 16.03.2017
Der Verrückte des Zaren
Kross, Jaan

Der Verrückte des Zaren


sehr gut

Wahrheit als Menetekel

Aus dem estnischen Sprachraum sind nur wenige Schriftsteller einer breiteren Leserschaft bekannt, Jaan Kross nimmt dabei zweifellos den Spitzenplatz ein. Er gilt als führender Nationaldichter seines Landes und wurde zeitweise sogar als Nobelpreis-Kandidat angesehen. Sein Roman «Der Verrückte des Zaren» ist sein erfolgreichstes Werk, es wurde in viele Sprachen übersetzt und behandelt, wie die meisten seiner Werke, einen historischen Stoff. Was auch hier die ewige Frage aufwirft, wie viel von dem Erzählten denn nun authentisch ist und wie viel fiktional. Kroos hat seinem Buch nicht nur ein mehrseitiges Nachwort beigefügt, wo diese Fragen geklärt werden, sondern auch zwei umfangreiche Verzeichnisse mit Orten und weiterführenden Anmerkungen.

Ich-Erzähler des Romans ist die fiktive Figur Jakob Mättik, ein aus einfachen Verhältnissen stammender Bauernjunge, der aber auf Druck des Vaters mit seiner Schwester Eeva früh lesen und schreiben gelernt hat. Was wir lesen als Roman ist Jakobs Tagebuch, beginnend am 26. Mai 1827. Er hat es begonnen, als der - historisch belegte - Gutsbesitzer Timotheus von Bock Eeva zum Entsetzen des Adels zur Frau nimmt. Timo hat als Offizier in Sankt Petersburg Karriere gemacht und wurde als Oberst Flügeladjutant des Zaren Alexander I, der ihn aufforderte, ihm stets die Wahrheit zu sagen. In einer vielseitigen Denkschrift, die beinahe dem Entwurf einer neuen Verfassung gleich kommt, benennt Timo nun gravierende Missstände und innere Widersprüche im russischen Reich und weist auf die Mitschuld des Zaren hin. Prompt wird er verhaftet und an einem unbekannten Ort interniert. Unter Zar Nikolaus I wird er schließlich acht Jahre später für verrückt erklärt und unter strengen Auflagen auf sein Gut verbannt. Bald hält Timo es in dieser bedrückenden Situation nicht mehr aus und beschießt, ins Ausland zu flüchten, was sich aber als ein recht schwieriges Unterfangen erweist, das mehrmals widriger Umstände wegen abgebrochen werden muss. Als schließlich dann irgendwann alles günstig steht für eine Flucht, beschließt Timo im letzten Moment, doch in seiner Heimat zu bleiben, nicht feige zu flüchten. Sieben Jahre später stirbt er unter mysteriösen Umständen.

Der Ich-Erzähler zitiert in dieser zentralen Geschichte zahlreiche Dokumente und ergänzt sein Tagebuch mit einem Geflecht aus Rückblenden, historischen Begebenheiten und Ereignissen in seinem eigenen Leben, wobei das Leben des Adels im russischen Feudalismus ebenso anschaulich geschildert wird wie das Alltagsleben auf einem estnischen Gutshof. Das im Roman behandelte Problem der absoluten Wahrhaftigkeit, an dem der ebenso naive wie unberechenbare Held scheitert, ist ein - jeden einzelnen Menschen betreffendes - moralisches Dilemma, ohne Notlüge zumindest wäre unser Leben ja schlichtweg nicht vorstellbar. Kross schreibt in einer klaren, komprimierten Sprache ohne Schnörkel, wobei insbesondere die vielen Dialoge sehr lebensecht wirken, man fühlt sich dadurch regelrecht hineingezogen in diese Geschichte, so als wäre man dabei. Die Figuren sind glaubwürdig beschrieben und wirken allesamt sympathisch, ihr Seelenleben jedoch bleibt ausgeklammert, ihre Emotionen werden nicht thematisiert. Das gilt insbesondere auch für den «Verrückten», dessen Geisteszustand bis zuletzt nicht ganz zweifelsfrei geklärt ist. In seinem Sohn, der ein linientreuer Offizier des Zaren geworden ist, erkennt Timo am Ende resignierend seine Ohnmacht, der Wahrhaftigkeit zum Sieg verhelfen zu können.

Kann die kritiklose Befolgung gesellschaftlicher Normen kompromisslose Idealisten zu vermeintlichen Irren machen, die schließlich sogar selber glauben, verrückt zu sein? Kross wirft hier eine philosophische Frage auf, die nicht nur in totalitären Systemen wie dem feudalistischen Russland relevant ist und allen Anlass zum vertiefenden Weiterdenken gibt. Auch deshalb ist dieser bis hin zum Nachwort spannend bleibende Roman eine bereichernde, überaus lohnende Lektüre.

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