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Buchdoktor
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Deutschland
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Romane, Krimis, Fantasy und Sachbücher zu sozialen und pädagogischen Tehmen interessieren mich.

Bewertungen

Insgesamt 612 Bewertungen
Bewertung vom 02.01.2017
Die blauen und die grauen Tage
Feth, Monika

Die blauen und die grauen Tage


sehr gut

Oma kann nicht mehr allein leben

Gut dass Evis Familie noch ein Gästezimmer hat. Als die Oma wegen zunehmender Verwirrtheit nicht mehr allein leben kann, nimmt Evis Familie sie bei sich auf. Oma zieht in Evis Zimmer und Evi siedelt ins Gästezimmer über. Evi ist die jüngere von zwei Schwestern. Die Eltern der Mädchen sind berufstätig; im Haushalt wurde bisher stets nur das Nötigste erledigt. Bevor Oma Rente erhielt, war sie immer berufstätig. Nun übernimmt sie als 76-jährige die Führung des 5-Personen-Haushalts. Das idyllische Szenario einer Großfamilie, könnte man meinen. Doch eines Tages ist die Oma verschwunden. Evi findet die alte Dame schwach und verwirrt am Hauptbahnhof; allein hätte sie nicht wieder zurück gefunden. Die Großmutter empfindet ihre zunehmende Verwirrtheit und Vergesslichkeit selbst und leidet sichtlich darunter. Als Ausweg sieht sie selbst nur die Möglichkeit, sich um einen Platz in einem Altenheim zu bewerben. Evi führt gemeinsam mit der Oma ein Tagebuch und notiert die blauen, die guten, und die grauen, die verwirrten Tage. Solange die blauen Tage überwiegen, ist doch noch alles in Ordnung mit Oma, möchte Evi gern glauben. Evis Eltern verschweigen das Problem. Sie wollen weder die Oma verletzen, indem sie ihre Verwirrtheit ansprechen, noch ihre jüngere Tochter mit ihren Sorgen belasten. Doch allmählich wird die Last durch die Erkrankung deutlich und der Ton in der Familie gereizter. Evi verbringt tagsüber am meisten Zeit von allen mit ihrer Oma. Darum lassen sich ihre berechtigten Sorgen ganz und gar nicht durch Nicht-Kommunizieren beschwichtigen. Schließlich versucht Evi, die Situation mit einer verrückten, spontanen Aktion zu retten.

"Die blauen und die grauen Tage" schildert den gut gemeinten und doch aussichtslosen Versuch, ein an Altersdemenz leidendes Familienmitglied möglichst lange zu Hause zu versorgen. Die Autorin schildert die Perspektive der verwirrten Patientin und die Belastung gerade der jüngeren Tochter eindringlich und in sehr poetischen Szenen. Auch die Verdrängung der schockierenden Diagnose durch Nicht-Kommunikation in der Familie finde ich sehr treffend beschrieben. Monika Feth konzentriert sich in ihrer Erzählung auf die Innenwelt der Beteiligten und auf das Problem der Unterbringung der Oma. Eine realistische Darstellung hätte auch die Belastung in Evis Familie durch Arztbesuche, Behördengänge und ein Betreuungsverfahren angedeutet. Jugendliche Leser können akzeptieren, dass eine an vaskulärer Demenz leidende 76-Jährige sich nicht mehr wie geschildert mühelos in einem fremden Haushalt zurechtfinden und ihn selbständig führen kann. Obwohl das 1996 erschienene Buch die Situation und die spätere Lösung des Problems stark beschönigt, ist es ein erster Schritt, Jugendlichen das Problem Demenz nahe zu bringen.

Bewertung vom 02.01.2017
Sexuelle Übergriffe unter Kindern
Freund, Ulli;Riedel-Breidenstein, Dagmar

Sexuelle Übergriffe unter Kindern


ausgezeichnet

Pädagogisches Konzept gegen aggressives, sexualisiertes Verhalten unter Kinder
Eltern von Kindergartenkindern kennen die Situation: Ihr 4-Jähriges hat "Schimpfwörter" - herabwürdigende Bezeichnungen für Männer, Frauen, männliche und weibliche Sexualorgane - in seinen Wortschatz aufgenommen. Doch der nächste Elternabend, an dem das Thema besprochen wird, verläuft enttäuschend. Die Eltern, die das Thema auf die Tagesordnung brachten, haben den Eindruck, dass die Erzieherinnen ihres Kindes Gesprächen über Sexualität ausweichen und die "Wörter" bagatellisieren. Schließlich rutscht jedem von uns mal ein Fluch heraus, argumentieren sie.

Die beiden Pädagoginnen Freund und Riedel-Breitenstein von der Berliner Beratungsstelle Strohhalm sehen das anders. Sie kennen aus ihrer Präventionsarbeit nicht nur Erzieher, die beleidigende, das Schamgefühl verletzende Ausdrücke in der Gruppe bagatellisieren. Einige Betreuer ignorieren auch, wenn ältere Kinder jüngere gegen deren Willen zu Doktorspielen zwingen oder wenn sich in der Gruppe ein Machtgefälle herausgebildet hat, in dem unterlegene Kinder mit Anspielungen auf ihre Sexualität herabgewürdigt und unter Druck gesetzt werden. Die Mitarbeiterinnen der Beratungsstelle klären in ihrem Buch zuerst die Grenze zwischen kindlicher Neugier auf den eigenen Körper und den anderer Kinder und einem sexuellen Übergriff. Wer erstmals mit dem Thema konfrontiert wird, mag zunächst kaum glauben, was in Kindergruppen ablaufen kann. Eltern und Erzieher erleben die Ereignisse als peinlich; viele scheuen sich, hier von Opfer und Täter zu sprechen. Der Konflikt wird häufig dadurch verstärkt, dass es zwischen Eltern und Erziehern keine Absprachen darüber gab, wer für die Sexualerziehung zuständig ist und welche gemeinsamen Erziehungsziele beide Seiten verfolgen. Den beteiligten Kindern fehlen häufig die Worte, um sich Erwachsenen anzuvertrauen.

Ein Konflikt, der durch provokatives, sexualisiertes Verhalten unter Kindern entsteht, betrifft die beteiligten Kinder, ihre Gruppe, die Erzieherin oder Lehrerin, den Träger der Einrichtung und die Eltern der Kinder. Die Autorinnen führen unterschiedliche "Vorfälle" aus ihrer Beratungstätigkeit auf, analysieren die Konflikte und stellen Konzepte für entschiedenes Verhalten des Erzieherteams vor. Bei der Vermittlung von Handlungskompetenz berücksichtigen sie die persönlichen Grenzen jedes Einzelnen, individuelle Schamgefühle und kulturell geprägte unterschiedliche Einstellungen zur Sexualität. Deutlich zeigen sie dabei, welche indirekten Botschaften die spontane Reaktion von Erziehern ihrer Gruppe vermitteln kann und wie sich diese Botschaften auf das Rollenverhalten der Kinder und ihre Einstellung zum eigenen Körper auswirken wird.

Die Autorinnen schaffen bei ihren Lesern das Bewusstsein dafür, dass es in Kindergarten, Schule und Freizeit zu sexuellen Übergriffen unter Kindern kommen kann und vermitteln Konfliktlösungs-Strategien für Gruppen-, Team- und Elterngespräch. Sie ermutigen Eltern und Pädagogen, rechtzeitig ein gemeinsames sexualpädagogisches Konzept für ihre Einrichtung zu erarbeiten und Kindern entschieden Grenzen zu setzen. Das Buch wendet sich an Fachpersonal in Kindertagestätten und Schulen. Auch alle interessierten Eltern werden es mit Gewinn lesen. Ich kann die Lektüre jedem, der Kinder erzieht, nur empfehlen.

Bewertung vom 02.01.2017
Bücher perfekt selbst binden
Kintzel, Vasco

Bücher perfekt selbst binden


sehr gut

Sorgfältig illustriert, gut erklärt, sehr teuer
"Oft ärgern wir uns über schlecht gebundene Bücher" führt der Autor in der Einleitung seines Lehrbuchs für Anfänger ins Thema ein. Mit vielen Illustrationen werden der Aufbau eines Buches, die benötigten Werkzeuge und die Verbrauchsmaterialien vorgestellt. Kinzel empfiehlt einen einfachen Stärkekleister und Leim-Mischungen für vier unterschiedliche Anwendungen. Er erläutert Papierqualitäten, erklärt den sachgerechten Umgang mit Papier und die für jede Arbeit mit Papier und Pappe wichtige Laufrichtung. Als Einstieg empfiehlt er seinen Lesern, zur Probe ein Stück Pappe zu kaschieren, um erste Erfahrungen mit dem Material zu sammeln. Sehr ausführlich stellt Kinzel die Herstellung eines Foto-Albums als fadengebundenes Blockbuch mit kaschierter Decke dar, beschreibt eine einfache Klebebindung, die Herstellung eines Broschureinbands und die eines einfachen Hefts mit Deckel. Die Reparatur eines fadengehefteten Buches, die Anfertigung einer klassische Fadenheftung auf Bänder mit angeklebten Bändern und das Einbinden von Zeitschriften-Jahrgängen werden beschrieben. An einem Notizbuch mit Zettel-Tasche und Gummiband im Stil des klassischen Moleskin-Buches können die Leser ihre neu erworbenen Kenntnisse gleich ausprobieren. Im Anhang wird auf weitere Fachliteratur und Material-Bezugsquellen hingewiesen.

"Bücher perfekt selbst binden" ist eine systematische, sorgfältig illustrierte Einführung ins Buchbinden, die das übersichtlich zusammenfasst, was man sich sonst aus mehreren Büchern zusammen suchen muss. Interessierte Laien lernen, sich in die Funktion der einzelnen Buch-Teile hineinzudenken und mit diesen Grundkenntnissen später eigene Entwürfe umzusetzen. Die gezeigten Arbeitsgänge können von Anfängern ausgeführt werden, die noch keine Heftlade und keine Presse nutzen können. Obwohl Hobby-Buchbinder es absurd finden können, dass ein Lehrbuch des Buchbindens in einer broschierten Ausgabe erscheint, überzeugt das Buch durch die sorgfältige, detailreiche Darstellung bis zur fachgerechten Ausarbeitung der Buchecken.

Bewertung vom 02.01.2017
Geh nie mit einem Fremden mit
Haberlander, Trixi; Kirchberg, Ursula

Geh nie mit einem Fremden mit


schlecht

Das Bild vom Fremden als Gewalttäter ist nicht mehr zeitgemäß, 14. Dezember 2007

"Nicht alle Erwachsenen meinen es gut mit Kindern" sagt Lisas Papa. Die 6-jährige Lisa weiß, was von ihr erwartet wird: Nicht mit Fremden gehen und nicht die Tür öffnen, wenn die Eltern nicht zuhause sind. Eines Tages lässt sie sich auf dem Spielplatz von einem Mann, der sich dort schon öfter aufgehalten hat, überreden, seine Häschen anzusehen. Peter, mit dem zusammen sie gespielt hat, informiert Lisas Eltern; die Polizei fahndet nach dem Mann und findet Lisa.

1985 entstand dieses Buch in einem Mütterarbeitskreis der Paritätischen Familienbildungsstelle München. Leider haben die Autorinnen sich zum Thema sexueller Missbrauch nicht professionell beraten lassen. Sie trennen nicht zwischen Entführung eines Kindes (kommt selten vor) und sexuellem Missbrauch (kommt häufiger durch vertraute Personen vor, die ein Kind nicht entführen müssen, um ihm Gewalt anzutun). Abgesehen davon, dass das Buch Kinder verängstigt - die kleine Vorbesitzerin hat den "schlimmen Satz" dick durchgestrichen - ist es nicht mehr zeitgemäß. Lisas Mutter sitzt wortlos am Frühstückstisch, die Ermahnungen gehen allein vom Vater aus. Auch als Peter die Eltern informiert, handelt allein Lisas Vater. Obwohl Lisa schon zur Schule geht, wird sie hauptsächlich im Sandkasten und zusammen mit Spielsachen eines Kindergartenkindes abgebildet. Keine Erstklässlerin der Gegenwart wird sich in dieser kindlichen, passiven Lisa wiedererkennen. Dass ein Kind sich von einem Fremden überreden lässt, ihm zu folgen, während der Spielkamerad wortlos dabei sitzt, ist ebenso unwahrscheinlich wie die Tatsache, dass der Täter sein Fahrrad deutlich sichtbar vor dem Haus stehen lässt. Über die Motive des Mannes zu sprechen, überlassen die Autorinnen allein den Eltern - das finde ich sehr unbefriedigend.

Bewertung vom 02.01.2017
Handwerk Buchbinden
Cambras, Josep

Handwerk Buchbinden


weniger gut

Aufwändige Illustrationen für Buchliebhaber, weniger für Hobbybuchbinder geeignet
Der spanische Dozent für Buchbinden an der Kunsthochschule in Barcelona stellt - illustriert mit vielen, teils ganzseitigen Fotos - historische und moderne Bucheinbände vor. Abgebildet sind Maschinen, Werkzeuge und Materialien für den Handwerksbetrieb. Die Arbeitsgänge Heften, Beschneiden des Buchblocks, Leimen oder Lumbecken werden ebenso gezeigt wie die Anfertigung einer kompletten Buchdecke. Unterschiedliche Einbandmaterialien für die Herstellung von Ganzlederbänden, Halblederbänden, der so genannten Cartonnage à la Bradel mit besonders breitem Falz, Pergamenteinband und Halbfranzband sind im Buch abgebildet. Nach einer illustrierten Anleitung können sich die Leser selbst eine Heftlade fertigen. Sinnvoll wäre hier zusätzlich eine Anleitung zum Bau einer einfachen Buchpresse. Die Anfertigung von Mappen mit und ohne Klappen, Futteralen, Mappenschachteln und Hüllen für wertvolle Sammelobjekte kann anhand der Abbildungen erlernt werden. Nur wer die Arbeitsgänge im Prinzip bereits kennt, kann anhand der Fotos die abgebildeten Arbeiten selbst durchführen, Anfänger werden allein mit dem Buch ohne Hilfe nicht zurecht kommen. Für wenigstens eines der Schachtel-Modelle hätte ich mir als Laie beispielhaft eine Aufrisszeichnung mit den Maßen für den Zuschnitt gewünscht, um den Materialbedarf kalkulieren zu können. Auch über die Eigenschaften der verwendeten Materialien und ihre Verarbeitung hätte ich gern mehr erfahren. Ein sehr kurzes Kapitel beschäftigt sich mit der Reparatur und Restaurierung alter Bücher. Hier fehlt mir eine ausführlichere Darstellung von Sinn und Grenzen von Buchreparaturen (was kann man falsch machen), sowie die exakte Bezeichnung der genutzten Materialien.

Wie mein Vorschreiber finde ich den Gebrauch der Fachsprache im Buch schwammig bis holperig, eine Verbindung zwischen den Textkapiteln und den Illustrationen lässt sich nur schwer herstellen. In einem aktuellen Buch des Jahres 2006 wäre eine exakte Benennung aller verwendeten Materialien und ein Bezugsquellennachweis wünschenswert. Das wenig übersichtliche Inhaltsverzeichnis sollte durch ein Sachregister ergänzt werden. Cambras aufwändig illustriertes Buch bietet kaum Neues für Handwerker, zu wenig Anleitung für Laien, es ist hauptsächlich etwas fürs Auge.

Bewertung vom 02.01.2017
Das Schweigen verstehen
Lutz, Luise

Das Schweigen verstehen


ausgezeichnet

verständlich, ermutigend, humorvoll
Aphasie ist nicht nur der Verlust des Sprechens, sondern der Verlust der Sprache, des Sprachverständnis und der Fähigkeit zum Lesen und Schreiben - ausgelöst durch einen Schlaganfall oder eine Hirnblutung. Es handelt sich weder um eine psychische, noch um eine rein körperliche Störung, sondern um eine Beeinträchtigung im neurophysiologischen Bereich, die häufig durch eine zusätzliche Einschränkung der Seh- oder Konzentrationsfähigkeit verschlimmert wird. "Raus geht nicht" beschreibt einer von Lutz jüngeren Patienten seinen Zustand: sein Denken und Verstehen sind nicht beeinträchtigt, er hat mit dem Abrufen und Hervorbringen von Worten zu kämpfen. Ein anderer Patient berichtet, dass er sich nach seiner Erkrankung an die Existenz von Buchstaben erinnerte, aber nicht mehr wusste, wie er sie zum Namen seiner Frau zusammen setzen sollte.

Die erfahrene Neurolinguistin und Therapeutin für Aphasie beschreibt mit anschaulichen, treffenden Beispielen vier unterschiedliche Erscheinungsformen der Aphasie, ihre Begleitstörungen und ihre Behandlung. Damit Angehörige die Folgen der Störung verstehen, erklärt die Autorin zunächst Spracherwerb und -struktur. Sie geht dabei besonders auf den Unterschied zwischen dem Erlernen von Fremdsprachen und dem Wieder-Erlernen der eigenen Muttersprache ein, sowie dem Unterschied zwischen dem Spracherwerb eines Kleinkindes und dem Wiedererlangen der Kommunikationsfähigkeit bei Aphasie-Patienten. Lutz stellt das Krankheitsbild an mehreren betroffenen Patienten vor, auf deren Leben und Therapie sie im weiteren Text immer wieder zurück kommt. Sie erläutert, wie die Erkrankung die Verknüpfungen der Teilleistungen Sprechen und Schreiben, Verstehen und Sprechen, Sprechen und Wahrnehmung der eigenen Sprache zerstört hat. Am Beispiel typischer Versprecher gesunder Menschen (Ich muss noch ein ernstes Huhn mit ihm rupfen) erkennen die Leser die Logik, die hinter den unverständlich wirkenden Aussprüchen von Aphasikern steckt. "Bei Aphasie muss man erst mal im Keller aufräumen", (ehe man weiter ins Erdgeschoss geht), beschreibt die Autorin in ihrer treffenden, zupackenden Art die Therapie als Aufräum- und Reparatur-Aktion. Lutz sehr ausführliche Erläuterung des von ihr entwickelten MODAK-Konzepts hilft Angehörigen, Sinn und Grenzen der Sprachtherapie zu verstehen und das Geschick zu würdigen, mit dem Therapeuten für jeden Einzelpatienten eine akzeptierende, entspannte Übungssituation schaffen.

Die Autorin geht ausführlich auf die Sorgen von Angehörigen ein, gibt zahlreiche wertvolle Tipps zur Kommunikation mit Patienten, und erläutert, wie anstrengend Übungen für Betroffene sind, die Gesunden einfach erscheinen. Sie räumt dabei mit Missverständnissen und Fehleinschätzungen auf und stellt klar, warum Angehörige keinen Erfolg beim gut gemeinten "Üben" mit dem Patienten haben werden. Wichtiger sei, dem Betroffenen Zeit zu lassen, sich auszudrücken und in Gesprächen nicht über den Kopf der Patienten hin weg für sie stellvertretend zu antworten. Zwei ausführliche Berichte betroffener Aphasiker schließen sich an, sowie ermutigende Briefe, die Lutz an Angehörige ihrer Klienten schrieb. Das Buch hat ein umfangreiches Literaturverzeichnis; lässt sich durch den Satz in zwei Spalten pro Seite angenehm lesen und ist durch ein Stichwortverzeichnis gut zu erschließen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 02.01.2017
Nein, mit Fremden geh ich nicht! (eBook, ePUB)
Ferres, Veronica

Nein, mit Fremden geh ich nicht! (eBook, ePUB)


gut

Die Warnung vor Fremden genügt nicht, um Kinder zu schützen!
Veronika Ferres spricht mit ihrem Bilderbuch aus, was alle Eltern fürchten: dass trotz sorgfältiger Absprachen und Ermahnungen ihr Kind durch einen dummen Zufall doch mit einem Fremden geht und sexuell missbraucht werden könnte. Weil Lias Freundin Anne plötzlich krank geworden ist, wird Lia mittags nicht wie gewohnt von Annes Mutter aus dem Kindergarten abgeholt. Sofie, die ihren kleinen Bruder Moritz abholt, ist sauer, dass sie Lia mitnehmen und wegen ihr einen Umweg machen soll. Sie schickt die 5-Jährige das letzte Stück des Heimwegs allein los. Ein junger Mann bietet Lia an, sie im Auto mitzunehmen und zieht sie am Arm. In letzter Minute setzt Lia sich zur Wehr.

Die Illustrationen von Julia Ginsbach zeigen anschaulich Lias Gefühle und wecken das Mitgefühl der kleinen Leser. Das Buch eignet sich gut zu einem Gespräch darüber, wie es Lisa geht und was man in ihrer Lage wohl tun kann. Sehr ermutigend ist, wie selbstbewusst Lia sich wehrt und Hilfe sucht.

Mit Kindergartenkindern richtiges Verhalten für eine bestimmte Situation einzuüben, ohne sie unnötig zu ängstigen, ist sehr schwierig. Allein die Klärung, wer denn ein "Fremder" ist, kann 4-Jährige eher verwirren. Dass sich das Buch auf die Figur eines Fremden mit Auto konzentriert und weniger auf grundsätzlich selbstbewusstes Auftreten (zum Beispiel gegenüber älteren Kindern oder Verwandten), finde ich nicht glücklich. Die Warnung vor Fremden kann Kinder nicht vor dem Missbrauch durch vertraute Personen schützen. Nur starke Kinder, die selbstbewusst über ihren Körper entscheiden und unerwünschte Berührungen gegenüber allen Personen abwehren, können vor möglichem Missbrauch geschützt werden.

Bewertung vom 02.01.2017
Flammende Heide
Toíbín, Colm

Flammende Heide


sehr gut

Der irische Richter Eamon Redmond steht kurz vor der Pensionierung. Zum ersten Mal denkt er darüber nach, was er tun wird, wenn er keine Gerichtstermine mehr wahrzunehmen und keine Akten mehr zu studieren hat. Seine Gedanken schweifen zurück in seine eigene Kindheit, als er während der schweren Krankheit seines Vaters mehr oder weniger bei Verwandten abgestellt wurde. Er denkt an die Zeit, als er seine Frau Carmel kennen lernte und an historische Ereignisse, die er miterlebte. Als Redmond längst Vater erwachsener Kinder war, hatte er im Fall einer 16-jährigen Schülerin zu urteilen, die ungeplant schwanger wurde und nicht abgetrieben hat. Noch im letzten Schuljahr sollte sie von der Schule verwiesen werden, weil sie sonst ein schlechtes Beispiel für andere Schülerinnen abgeben würde. Der Vater des Ungeborenen blieb an der Schule und war offensichtlich kein schlechtes Beispiel für andere Schüler. Eamon entschied rational, ob der Schutz der Familie (Mutter und Kind) als wichtiger anzusehen sei als die Rechte einer Institution (der Schule). Eamon hält sich als Richter für grundsätzlich kompetent, diese Frage zu entscheiden. Seine Tochter Niamh, die selbst allein erziehende Mutter ist, betrachtet ihn vermutlich als skandalös weltfremden alten Knochen. Redmonds Pläne für den Ruhestand zerschlagen sich, als seine Frau schwer erkrankt und bald darauf stirbt. Erst kurz vor ihrem Tod spricht sie aus, wie isoliert sie sich während ihrer Ehe mit ihrem stets distanzierten Mann gefühlt hat. Redmond war der typische Vertreter einer Generation, die die eigene Aufgabe in der finanziellen Versorgung der Familie sah und die Aufgabe der Frau darin, stets für Mann und Kinder da zu sein. Die Frage, wer für die Sorgen seiner Frau da sein sollte, hat er sich nie gestellt.

Tóbin verknüpft das Schicksal des Eamon Redmond mit dem symbolischen Fall einer schwangeren Schülerin, der die kontroverse Haltung des katholischen Irland gegenüber ungeplanten Schwangerschaften aufzeigt. Bis in die Gegenwart wurde das Thema Schwangerschaftsabbruch in Irland unter der Überschrift „Reisefreiheit“ behandelt; gemeint ist die Freiheit der Schwangeren, zum Schwangerschaftsabbruch ins Ausland zu reisen. Im Jahr 1992, als Flammende Heide in Irland erschien, wurde erst im Dezember in einer zweiten Verfassungsänderung innerhalb eines Jahres irischen Frauen offiziell das Recht zugestanden, zu einem Schwangerschaftsabbruch ins Ausland zu reisen.

Der Autor beschreibt in seiner melancholischen Geschichte das Altern eines Mannes, der keine Gefühle zeigt; denn er hat „gelernt, nie etwas von jemandem zu brauchen“. Das meisterhafte Psychogramm des alternden Richters ist in die stimmungsvolle Schilderung Irlands und in poetische Landschaftsbeschreibungen eingebettet.