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Benutzername: 
hasirasi2
Wohnort: 
Dresden

Bewertungen

Insgesamt 1173 Bewertungen
Bewertung vom 04.01.2021
Meine ferne Schwester
Lennox, Judith

Meine ferne Schwester


sehr gut

Anders als erwartet

„Ein Schleier hob sich. Sie war sich selbst verloren gegangen, und nun, plötzlich, hatte sie sich wieder von der Asche ihrer Ehe befreit, brach Farbe sich Bahn durch das Grau. Er begehrte sie und machte kein Geheimnis daraus. Sie fühlte sich wieder lebendig.“ (S. 20)
London 1936: Rowan ist 23, fühlt sich aber oft viel älter. Ihr Mann Patrick und sie sind sich nicht mehr nahe, die Liebe ist ihnen verloren gegangen. Jetzt führen sie nur noch eine Vernunftehe, die beiden Sicherheit bietet. Doch als Rowan den Lebemann Simon auf einer Party kennenlernt, riskiert sie alles.
Ihre jüngere Schwester Thea geht noch zur Schule und träumt davon, Archäologie zu studieren. Da stirbt ihr Vater und lässt sie mittellos zurück. Bei der Beerdigung fällt ihr eine Unbekannte auf, die behauptet, eine entfernte Freundin ihres Vaters zu sein und dann schnell verschwindet. In den nächsten Jahren denkt Thea immer wieder an sie – was verband sie mit ihrem Vater? War sie seine Geliebte? Da ihre Mutter schon vor vielen Jahren bei einem Bootsunfall ums Leben gekommen ist, hätte einer neuen Beziehung doch nichts im Weg gestanden?! Doch auch um den Tod ihrer Mutter rankt sich ein Geheimnis, das Rowan ihr irgendwann erzählen muss …

In Judith Lennox neuem Buch „Meine ferne Schwester“ begleiten wir Rowan, Thea und die Unbekannte fast 10 Jahre lang durch die Vorkriegszeit und über den 2. Weltkrieg hinaus. Sie haben sehr unterschiedlich Lebensweisen, Träume und Ansichten und emanzipieren sich jeweils auf ihre Art und Weise. Es war faszinierend zu lesen, wie sich ihr Leben jeweils änderte und welche Höhen und Tiefen sie durchlebten, auch wenn mir manchmal etwas Spannung fehlte und die Handlung insgesamt eher ruhig vor sich hinfloss.
Rowan sehnt nach einer liebevollen Beziehung und wird mehrfach bitter enttäuscht. „Eine geschiedene Frau fasst nie wieder Fuß in der Gesellschaft.“ (S. 102) Sie treibt ziellos durch ihr Leben und die Welt, hangelt sich von einem Liebhaber zum nächsten. Erst als der Krieg ausbricht besinnt sie sich und sucht sich eine Aufgabe die sie ausfüllt und bei der sie sich um andere Menschen kümmert, statt immer nur um sich selbst.
Thea hingegen hat kein Interesse an einem Partner. Sie nimmt nach der Schule fast jede Arbeit an, um genügend Geld fürs Archäologiestudium zu sparen. Leider kommt ihr der Krieg dazwischen.
Die beiden Schwestern sind sehr verschieden. Rowan lässt sich treiben, versinkt im Selbstmitleid oder lenkt sich durch Partys ab. Mir war sie manchmal zu weinerlich und ich konnte ihre Beweggründe nicht immer nachvollziehen. Thea hingegen ist nicht nur viel zielstrebiger, sondern auch bodenständig und vernünftig, praktisch veranlagt – dadurch wirkt sie oft erwachsener als ihre Schwester.

Ich bin ehrlich, nach dem Klappentext hatte ich etwas ganz anderes erwartet. Das erwähnte Geheimnis um Theas und Rowans Mutter läuft nur so nebenbei mit und interessiert über Jahre niemanden. Da ist der Strang um die „Unbekannte“ (über die ich hier nicht spoilern will) viel interessanter und mitreißender.
Judith Lennox erzählt in eindringlichen Momentaufnahmen vom Alltag der Frauen und ihren Angehörigen, wie es sich mit dem Krieg arrangieren, versuchen ihn zu überleben und sich dabei weiterentwickeln.

Bewertung vom 30.12.2020
Die Schwestern Chanel
Little, Judithe

Die Schwestern Chanel


ausgezeichnet

Auf der Suche nach der großen Liebe

„Manchmal kommt es mir so vor, als würde ich nirgends hingehören. Die Schicht, in die ich hineingeboren wurde, will mich nicht haben. Sie finden mich zu hochnäsig, nur weil ich versuche, etwas Besseres zu machen. Und die feinen Leute wollen mich wegen meiner Wurzeln nicht haben. Ich bin ein Zwischending.“ (S. 270) … könnte ein Zitat könnte von Gabrielle (Coco) Chanel sein, tatsächlich aber sagt es ihre jüngere Schwester Antoinette, die auch ihr ganzes Leben lang ihren Platz in der Gesellschaft suchte.

Coco selbst hat ihre Herkunft ja immer beschönigt, aber Autorin Judithe Little lässt im vorliegenden Buch Antoinette zu Wort kommen und von ihrem gemeinsamen Ringen um Unabhängigkeit, Erfolg und Anerkennung erzählen und der Suche nach der einen großen Liebe.

Schon als Kinder wurden die Schwestern nach dem frühen Tod der Mutter vom Vater in ein Klosterwaisenhaus gegeben. Dort lernten sie u.a. Nähen und Sticken, wollten aber auf keinen Fall ihren Lebensunterhalt damit verdienen, sondern in der Gesellschaft aufsteigen. Und während Gabrielle von einer Karriere als Sängerin träumt und einem windigen „Manager“ dafür ihr ganzes Geld in den Rachen warf, arbeitet Antoinette in einem Hutgeschäft um sie zu unterstützen.
Gabrielle flüchtete sich bald in die Arme reicher Liebhaber und begann nur aus Langeweile, Hüte zu entwerfen. Erst ihre große Liebe Boy Chapel brachte sie dazu, damit auch Geld zu verdienen – und Antoinette war immer an ihrer Seite. Gabrielle war die Träumerin und Visionärin, die sich nicht um die Meinung anderer scherte („Mir sind Konventionen egal. Konventionen haben Leuten wie uns nie etwas gebracht.“ (S. 130)), Antoinette war die Geschäftsfrau hinter der Marke Chanel. Denn gerade zu Beginn ihrer Karriere war Coco nicht mal bewusst, dass sie mehr Geld ausgab als einnahm und ihre jeweiligen Liebhaber ihre Kredite abzahlten. Dabei wollte sie immer auf eigenen Füßen stehen, damit es ihr nicht so ging wie ihrer Mutter – verlassen, verarmt und totgearbeitet. „Ich fürchte, wenn du nicht aufpasst, wirst du genauso enden wie deine Mutter.“ (S. 9)

Ich fand es sehr interessant, mehr über Cocos Aufwachsen und den Beginn ihrer Karriere zu lesen und die Interaktionen der beiden Schwester. Denn auch wenn die Handlung des Romans fiktiv ist, orientiert er sich doch an belegbaren Stationen ihres Lebens und endet mit Antoinettes frühem Tod im Jahr 1921. Auch deren Leben im Schatten der berühmten Schwester hat mir gut gefallen. Ihre Suche nach der großen Liebe beschert ihr anscheinend kein Glück – das haben sie und Coco gemeinsam. „Wir lebten in Käfigen, wir beide, aus dem, was wir der Welt zufolge zu sein hatten. Ich versuchte wenigstens, aus meinem auszubrechen.“ (S. 152)

Judithe Little beschreibt sehr spannend und unterhaltsam Cocos Aufstieg von der Geliebten / Modistin zur gefeierten Designerin und lässt dabei den Anfang des letzten Jahrhunderts inkl. der Grauen des 1. Weltkrieges lebendig werden.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 21.12.2020
Zeit der Wunder / Kinderklinik Weißensee Bd.1
Blum, Antonia

Zeit der Wunder / Kinderklinik Weißensee Bd.1


sehr gut

Spannende Geschichte um Deutschlands erste Kinderklinik

1911 wird in Weißensee bei Berlin die erste Kinderklinik Deutschlands eröffnet. Unter den Rot-Kreuz-Schülerinnen der Klinik sind auch Marlene und Emma Lindow, die nach dem frühen Tod der Mutter im Waisenhaus aufgewachsen sind. 13 Jahren lang waren die beiden Mädchen die einzige Familie füreinander. Marlene, die ältere und forschere der beiden, fühlt sich für die schüchterne und introvertierte Emma verantwortlich. „Ich habe Angst, dass wir es hier nicht schaffen, Lene.“ „Wir werden es allen zeigen … Du wirst schon sehen. Die können doch den Lindow-Schwestern nichts anhaben.“ (S. 22) „Lass uns vor und nicht zurückschauen.“ (S. 23)

In der Klinik teilen sie zum ersten Mal kein Zimmer und sind oft verschiedenen Stationen zugeteilt. Nach anfänglichen Schwierigkeiten gewöhnen sie sich aber gut ein. Emma geht in der Säuglings- und Kleinkindpflege voll auf, aber Marlene stößt es sauer auf, dass sie nur Anweisungen befolgen muss und keine eigenen Entscheidungen fällen darf. Sie ist extrem wissbegierig und stellt ihren Lehrern immer wieder (die richtigen) Fragen. Schnell keimt in ihr der Wunsch, nach der erfolgreichen Ausbildung zu studieren, um Kinderärztin zu werden. Dem Assistenzarzt Maximilian von Weilert gefallen ihre Ambitionen und er fördert sie, außerdem knistert es zwischen ihnen. Auch Emma ist zum ersten Mal verliebt, in den jungen Melker Tomasz. Die beiden Schwestern entfremden sich immer mehr, schließlich kommt es sogar zum Bruch. „Du greifst nach den Sternen, Marlene, das ist gefährlich.“ (S. 257) „Unsere Welten passen einfach nicht mehr zueinander. Lass uns zukünftig Abstand halten. Tomasz ist jetzt meine Familie.“ (S. 258)

Antonia Blum erzählt in ihrem Buch von den ersten Schritten der bis 1997 wirklich existierenden Kinderklinik, wie sie aufgebaut war, wie die Säuglinge und Kleinkinder behandelt und mit welchen Problemen und Anfeindungen Ärzte und Klinikleitung konfrontiert wurden. Die Klinik war für damalige Zeit sehr fortschrittlich, wollte das Säuglings- und Kleinkindersterben auch durch gesunde, ausreichende Ernährung z.B. mit Kuhmilch minimieren. Darum gehört auch eine Milchwirtschaft zum Krankenhausbetrieb und sorgte neben Spenden für zusätzliche Einnahmen. Außerdem bildeten die Rot-Kreuz-Schwestern dort spezielle Kinderkrankenschwestern aus. Leider wurde gerade über deren Ausbildung nicht ganz so viel erzählt, wie ich nach dem Lesen des Klappentextes erwartet hatte. Stattdessen steht das (Liebes-)Leben von Emma und Marlene und ihren Mitschülerinnen im Vordergrund. Letztere stammen alle aus gutem Hause und machen die Ausbildung zum Teil nur, um sich einen Arzt als standesgemäßen Ehemann zu angeln. Als herauskommt, dass die Lindow-Schwestern im Waisenhaus aufgewachsen sind, werden sie ausgegrenzt und gemobbt. Auch die Oberin traut den Schwestern nicht, da Waisenkinder normalerweise kein Abitur und eine Ausbildung machen durften. Jemand fördert die Mädchen seit Jahren heimlich – aber wer und warum?

Mir hat sehr gut gefallen, wie die Autorin die Beziehung zwischen den beiden Schwestern darstellt, die Entwicklung, wie ihre eingeschworene Gemeinschaft wegen verschiedener Lebensziele und Liebschaften nach und nach zerrüttet. Auch die Suche nach dem Geheimnis ihrer Herkunft, das die Oberin vermutet, ist spannend und lädt zum Miträtseln ein.
Der Klinikalltag wird detailliert und nachvollziehbar beschrieben. Die modernen Behandlungsmethoden, dass Säuglinge und Kleinkinder nicht nur kleine Erwachsene sind, war damals richtungsweisend. Besonders das Ringen der Ärzte um ihre kleinen Patienten hat mich sehr berührt.

Bewertung vom 17.12.2020
Dresden. Unterwegs mit deinen Lieblingsmenschen
Handrich, Kathleen

Dresden. Unterwegs mit deinen Lieblingsmenschen


ausgezeichnet

Meine Heimatstadt neu entdeckt

Ich freue mich immer wieder, neue Ecken meiner Heimatstadt Dresden zu entdecken und erkunden. Im Stadtführer „Dresden. Unterwegs mit Deinen Lieblingsmenschen“ aus dem Emons Verlage stellen Beate Erler und Kathleen Handrich Tipps aus den Kategorien „Gemeinsam aktiv sein“, „Arm in Arm die Stadt erkunden“, „Miteinander entspannen“, „Zusammen kreativ werden“, Köstlichkeiten teilen“ und „Seite an Seite Kultur erleben“ vor. Eingestreut sind zusätzlich noch Hinweise z.B. zu besonderen Fotopunkten und vor allem wie man davor richtige posiert, was man für Wanderungen oder Picknicks einpacken sollte oder wo man die besten Spielplätze findet, welche Künstler in Dresden gewirkt haben und was hier erfunden wurde, Rezepte für sächsische Spezialitäten (ich sage nur Eierschecke!) oder wo in Dresden welches Bier gebraut wird.
Die Ausflugstipps beziehen sich überwiegend auf Orte direkt in Dresden, aber es gibt auch Anregungen für die nähere Umgebung, so dass man für jede Gelegenheit, jedes Wetter und Begleitung das Passende findet. Mir hat besonders die Rubrik „Zusammen kreativ werden“ gefallen. Ich wusste z.B. nicht, dass man hier Kurse zum Thema „Selber Käse herstellen“ oder „Latte-Art“ besuchen kann – die werde ich mir nach Corona auf jeden Fall näher ansehen, außerdem sind die auch eine schöne Geschenkidee.
Ich wurde durch das Buch an einige Dresdner Ecken erinnert, die ich schon lange nicht mehr angesteuert hatte, was ich an den letzten Wochenenden aber gleich mal nachgeholt habe. Ein tolles Buch für Dresdner und Besucher.

Bewertung vom 17.12.2020
Die Wölfe vor den Toren / Begine Serafina Bd.6
Fritz, Astrid

Die Wölfe vor den Toren / Begine Serafina Bd.6


ausgezeichnet

Ein Werwolf geht um

Freiburg, Februar 1418: Ein knappes Jahr ist seit Serafinas letztem Abenteuer vergangen und langsam scheinen sie und ihr Mann Adalbert Achaz zur Ruhe zu kommen. „Es fühlt sich schön an, wenn wir beide so Seite an Seite zusammenarbeiten.“ (S. 134)
Doch der Winter ist diesmal besonders hart, Menschen und Tiere hungern, nachts heulen die Wölfe vor den Toren der Stadt. Eines Morgens wird im nahen Dörfchen Würi die zerfetzte Leiche des kleinen Jörgelin entdeckt. Haben ihn hungrige Wölfe gerissen? Adalbert bestätigt als Stadtarzt den Tod durch Wolfsbisse und das Rudel wird gejagt und ausgerottet. Aber kurz darauf wird auch die junge Heilerin Mia tot und mit Bisswunden übersät aufgefunden. Die Angst der Menschen steigert sich ins Unermessliche, die Verdächtigungen werden immer obskurer: „Das Wolfsrudel haben wir erlegt, es kann also nur der Werwolf gewesen sein!“ (S. 206)
Doch Adelina und Adalbert haben Zweifel, ob wirklich ein (Wer)Wolf hinter Mias Tod steckt und stehen mit der Vermutung nicht allein: „Wisst Ihr, was ich glaube …? Dass das mit Jörgelin und Mia gar kein Wolf war. Sondern ein menschliches Ungeheuer … Das glauben so einige hier im Dorf!“ (S. 119)

Auch der 6. Band der Reihe um die ehemalige Begine Serafina hat mich wieder von Anfang bis Ende gefesselt und restlos begeistert. Serafina ist sehr gewitzt und weiß, wie sie die Leute zum Reden bringt. Leider schießt sie dabei oft übers Ziel hinaus und bringt sich selber in Gefahr. Ihr Mann Adalbert ist ebenfalls sehr intelligent und hat sich von ihrer Neugierde anstecken lassen. Serafina ist seine große Liebe und obwohl er eher vorsichtig als mutig ist, würde er sich für sie opfern. Außerdem sind sie beide sehr mitfühlend und mildtätig.

Der Fall ist extrem spannend, denn es kristallisieren sich schnell einige Verdächtige heraus. Der Müller des Dorfes hat sich sehr unbeliebt gemacht und schon mehrfach damit gedroht, seine Hunde auf die lärmenden Kinder zu hetzen. Der Schäfer ist generell ein komischer Typ, ein Eigenbrötler, und seit Jahren erfolglos in Mia verliebt. Auch die Magd der Eltern des getöteten Jungen hat augenscheinlich ein Motiv …

Astrid Fritz schildert die Unterschiede zwischen dörflichem und städtischem Leben, dessen Organisation und die gegenseitigen Abhängigkeiten zur damaligen Zeit sehr anschaulich und kurzweilig. Ihr besonderes Augenmerk liegt diesmal auf dem herrschenden Aberglauben. Wenn die Menschen mit einfacher Logik nicht weiterkamen, musste eine übernatürliche Macht schuld sein.

Eine sehr spannende und kurzweilige historische Krimireihe mit Suchtpotential, hervorragend recherchiert mit viel Lokalkolorit.

Bewertung vom 14.12.2020
Das doppelte Gesicht / Ein Fall für Emil Graf Bd.1
Rehn, Heidi

Das doppelte Gesicht / Ein Fall für Emil Graf Bd.1


ausgezeichnet

Der Mittwochsmörder

München, August 1945. Die Stadt versinkt in den Kriegstrümmern und im Dauerregen, überall ist graubrauner Schlamm. Die Menschen sind verzweifelt, entwurzelt, hungrig und hoffnungslos. Immer wieder geschehen Verbrechen aus Hunger oder Habgier, aber warum der Kriegsheimkehrer Viktor von Dietlitz an diesem Mittwoch in seiner Wohnung erschossen wurde, erschließt sich den Ermittlern nicht. Das Opfer hat den Täter anscheinend gekannt, selber eingelassen und sich nicht gewehrt. Danach ist der Täter verschwunden ohne etwas zu stehlen – obwohl das Opfer wohlhabend war. Es ist der erste Fall, den der junge Ermittler Emil Graf allein lösen soll. Am Tatort lernt er Billa (Sybilla Löwenfeld) kennen, eine amerikanische Fotoreporterin. Diese war mit Viktor von Dietlitz zu einem Interview verabredet und hat den Toten gefunden. Als zwei weitere Morde nach dem gleichen Muster passieren, deuten einige Hinweise auf Billa, doch Emil glaubt an ihre Unschuld, denn „Traue nie dem Offensichtlichen.“ (S. 120)

Ich habe schon einige historische Romane von Heidi Rehn gelesen, aber mit „Das doppelte Gesicht“ hat sich mich echt geflasht. Es ist der Auftakt einer neuen Reihe um den Ermittler Emil Graf und spielt im München der Nachkriegszeit. Sie hat hier sehr spannende und dramatische Themen wie die „Ehrenjuden“, die Euthanasie im Nationalsozialismus und Displaces Persons eingearbeitet. Das Buch ist wieder hervorragend recherchiert.

Emil ist sehr jung, sehr unerfahren, aber auch sehr engagiert. Er will alles richtig machen und verbeißt sich schnell in den Fall. Sein Ausbilder und Vorgesetzter, der amerikanische Capitain Joe Simon hat ihn in einem französischen Kriegsgefangenenlager aufgegabelt und sich seiner angenommen – jetzt ist er eine Art Ersatzvater.
Billa ist gebürtigen Münchnerin, Jüdin und 1938 nach New York emigriert. Jetzt, nach Kriegsende, wollte sie sehen, ob sie „ihr“ München wiedererkennt „… die törichte Jüdin, die meint, sie könnte noch einmal in ihre frühere Heimat zurück. Dabei gibt es die schon lange nicht mehr.“ (S. 54) Außerdem sucht sie jemanden …
Auf den ersten Blick ist Billa sehr taff, aber die Angst vor den Nazis blitzt immer wieder durch. Dann ist sie plötzlich aufbrausend und verprellt ihr Gegenüber – wie z.B. Emil.
Besonders angerührt hat mich das Schicksal des ehemaligen Zwangsarbeiters Piotrs. Er gilt jetzt als Displaced Person und will nicht nach Russland zurück, weil er einer Minderheit angehört und dort getötet oder nach Sibirien verbannt werden würde. „Seinesgleichen gehörten nirgendwo mehr hin, selbst in Friedenszeiten nicht.“ (S. 80) Billa will ihm helfen, aber ihr war nicht ganz klar, auf was sie sich da einlässt.

Der Fall hat es wirklich in sich. Je mehr die Ermittler über die Toten herausfinden, desto mehr Motive und Verdächtige ergeben sich. „Wir taugen alle zum Mörder.“ (S. 154) Das Ende ist dann ein Paukenschlag und das Tatmotiv erschütternd.

Heidi Rehn schreibt sehr spannend und gleichzeitig dynamisch. Sie erzählt die Geschichte abwechselnd aus Emils und Billas Sicht. Ich fand die Perspektivwechsel sehr interessant – so hält man die Leser bei der Stange.
Mich hat beeindruckt, wie bildlich sie das zerstörte München (und die Umgebung) schildert. Die Protagonisten sind oft mit dem Jeep unterwegs und ich konnte das Rütteln auf den holprigen Straßen förmlich spüren, habe die Ruinen und Schuttberge vor mir gesehen.
Aber nicht nur die Stadt, auch ihre Protagonisten sind zerrissen, müssen sich an die neue Situation und ihre neue Stellung erst gewöhnen. Sie sind sehr menschlich und glaubhaft. „Nach allem, was passiert ist, ist ja keiner von uns mehr der, der er vorher gewesen ist.“ (S. 45)

Das Buch ist so spannend, dass ich es an nur zwei Abenden gelesen habe und jetzt warte sehnsüchtig auf den nächsten Band!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.12.2020
Lotte Lenya und das Lied des Lebens
Neiss, Eva

Lotte Lenya und das Lied des Lebens


gut

Porträt einer Getriebenen

Lotte Lenya ist 26, als sie Kurt Weill kennenlernt. Da hat sie bereits ein bewegtes Leben hinter sich, hat es von der Wiener Vorstadt und einem prügelnden Stiefvater weg bis nach Berlin geschafft. Nur ihr erhoffter Durchbruch als Tänzerin, Sängerin oder Schauspielerin steht noch aus. Sie hält sich mit gelegentlichen Auftritten und als Geliebte reicher Männer über Wasser – nirgendwo kann man schneller und leichter Geld verdienen. Auch Kurt Weill ist sofort von ihr fasziniert, von allem von ihrer Stimme und Wandelbarkeit. „Die Welt ist reif für eine Stimme wie Ihre. Sie klingt so echt, als sei sie für meine Ideen geschaffen.“ (S. 64) Obwohl er (noch) nicht in die Kategorie ihrer reichen Gönner passt und sie extrem verschieden sind, werden die ein Paar, heiraten später sogar. Doch ihre Beziehung gleicht einer Achterbahn. Kurt geht ganz in der Musik auf, lebt nur für sie und zieht sich dann komplett zurück. Lotte hingegen ist ein extrem unruhiger Geist, erfindet sich immer wieder neu, spielt Rollen und braucht Dramen. Sie verdrängt schlechte Erinnerungen, entflieht ihrer Vergangenheit, kann nicht alleine sein, braucht Ablenkung – Affären, Spielsucht, Alkohol. Kurt weiß und toleriert das, liebt sie trotzdem. „Ich glaube, ich bin nur für dich auf der Welt, Seelchen.“ (S. 71)
Nach der Bekanntschaft mit Brecht und ihrem Durchbruch als Seeräuber Jenny werden die Unterschiede noch deutlicher, die Ehe kriselt. Lotte genießt ihr Leben als Star, die Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit, doch Kurt will aussteigen und aufs Land ziehen. Dorthin, wo es noch sicher und ruhig ist. Er ist Jude und die Nazis werden immer aggressiver und einflussreicher. „Seit Kurt mit gesenktem Blick durch die Welt zieht und Lotte stolz nach vorne schaut, sehen sie einander kaum noch.“ (S. 182)

Eva Neiss zeichnet in „Lotte Lenya und das Lied des Lebens“ das Portrait einer schillernden Persönlichkeit, kratzt aber leider nur an der Oberfläche, wenn es um Lottes künstlerisches Schaffen geht. Dafür wird um so ausführlicher von ihren zahllosen Affären mit Männern und Frauen und den Streitigkeiten zwischen Brecht und Weill berichtet, die Lotte immer wieder schlichten musste. Brecht kommt in dem Buch nicht besonders gut weg, hatte noch mehr Affären als Lotte und war ein unglaublicher Egomane, der niemanden neben sich duldet – schon gar keinen kleinen Komponisten wie Weill (der damals bereits berühmter ist als Brecht!).

Die Liebesgeschichte zwischen Lotte und Kurt war sehr berührend. Er verehrt sie als Frau und Künstlerin, kann als einziger hinter ihre Fassade schauen und lässt ihr darum ihre Freiheit. Doch ihr fällt es schwer, sich nur auf einen Mann zu konzentrieren, hinter seiner Arbeit zurückzustehen und das Heimchen am Herd zu geben.

Auch die Künstlerszene der 20er und 30 er Jahre wird sehr anschaulich beschrieben. Man kennt sich, verbringt fast seine gesamte Zeit zusammen und ist ein eingeschworener Kreis. Selbst während und nach der Emigration treffen sie alle wieder aufeinander.

Lottes Geschichte ist zwar interessant, aber mir fehlt Spannung und Tempo. Oft las sich die Handlung wie eine Aneinanderreihung von Episoden aus ihrem und Kurts bzw. Brechts Leben. Man kommt der Frau nahe, aber leider nicht der Künstlerin.

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 07.12.2020
Der Stockholm-Code - Die erste Begegnung / Stockholmer Geheimnisse Bd.1
Rudberg, Denise

Der Stockholm-Code - Die erste Begegnung / Stockholmer Geheimnisse Bd.1


ausgezeichnet

Sehr kurzweilig und unterhaltsam, aber eher Roman als Spionagekrimi

Stockholm 1940: Elisabeth, Signe und Iris arbeiten als Hilfskräfte für die schwedischen Streitkräfte, als ihre jeweils überdurchschnittliche mathematische Begabung erkannt wird. Bei einem Test treffen sie aufeinander und werden für ein geheimes Projekt ausgewählt – sie sollen die deutschen Funksprüche dechiffrieren.

Die drei Frauen sind sehr unterschiedliche Charaktere und haben auch verschiedene Begabungen, aber gerade darum ergänzen sich perfekt.
Elisabeth stammt aus einer guten Familie und hätte es nicht nötig, zu arbeiten. Aber mit 21 ist sie endlich volljährig, will unabhängig sein, leben und genießen. Das zeigt sich auch in ihrem Charakter, sie ist sehr selbstständig und selbstbewusst – und nicht auf den Mund gefallen. Sie flirtet gern, sucht aber nicht den Mann fürs Leben. „Jemanden lieben möchte ich schon, aber ich glaube nicht, dass ich jemandes Frau werden will.“ (S. 26)
Signe ist schon 27 und hat nur eine rudimentäre Schulbildung. Sie musste den elterlichen Hof verlassen, weil sie ihren verwitweten Schwager nicht heiraten wollte. Dabei hat sie die letzten Jahre dessen gemeinsamen Sohn mit ihrer verstorbenen Schwester aufgezogen und liebt ihn wie ein eigenes Kind. Sie ist sehr schüchtern und versteht nicht, was die anderen in ihr sehen, fühlt sich zum Teil sogar minderwertig.
Iris ist wegen des Krieges mit ihren kleinen Söhnen und gefälschten Papieren aus Lettland nach Schweden geflüchtet. Eigentlich sollte ihr Mann mit- oder wenigstens nachkommen, aber sie hat nach ihrem überstürzten Aufbruch nie wieder von ihm gehört. Sie steht mit beiden Beinen im Leben, versagt sich ihre Trauer und Angst oft, will für ihre Söhne stark sein. Die vermissen ihren Vater sehr, aber Signe kümmert sich rührend um sie. „Vielleicht war Signes eigentliche Lebensaufgabe, sich um verlassene kleine Jungs zu kümmern.“ (S. 313)

In „Der Stockholm-Code - Die erste Begegnung“ ist drin, was draufsteht. Das Buch ist der erste von zwei Bänden, sehr kurzweilig und unterhaltsam, aber (noch?) kein richtiger Spionagekrimi. Man lernt die drei Hauptpersonen kennen, erfährt mehr über ihr Leben, ihrer Herkunft und Familien. Ihre eigentliche Arbeit, die Entschlüsselung der Botschaften beginnt gerade erst, es gibt aber schon kleinere, eher zufällige Erfolge. Ich hoffe, dass man im zweiten Band mehr davon lesen wird.
Einen Punkt Abzug gibt es für die zum Teil recht einfache Sprache und weil ein bisschen viele Zufälle eingebaut waren, damit alles funktioniert. Auch die Geheimnisse der drei Frauen, die im Klappentext erwähnt werden, sind für mich nicht wirklich welche. Aber vielleicht kommt da ja auch noch mehr?! Ich bin gespannt.

Bewertung vom 04.12.2020
Rückkehr in die Tuchvilla / Tuchvilla Bd.4
Jacobs, Anne

Rückkehr in die Tuchvilla / Tuchvilla Bd.4


ausgezeichnet

Vor 4 Jahren ist mit „Das Erbe der Tuchvilla“ der letzte Band der Saga um die Tuchfabrikantenfamilie Melzer von Anne Jacobs erschienen. Doch schon damals hatte ich das Gefühl, dass sich die Autorin ein Türchen für eine evtl. Fortsetzung lassen will ...

Wie schon in den ersten 3 Bänden, geht es auch hier wieder um die einzelnen Familienangehörigen und Angestellten und deren jeweiligen Probleme. Die Weltwirtschaftskrise macht sich langsam bemerkbar und auch Familie Melzer muss sehen, wie sie die Zeit übersteht.
Paul leitet die Firma, musste für die Anschaffung neuer Maschinen und die Erweiterung der Villa Kredite aufnehmen. Diese sind jetzt fällig, aber es kommt kaum noch Geld rein. Er möchte ein gutes Familienoberhaupt sein und reibt sich auf, um die (Geld-) Probleme so lange wie möglich zu verheimlichen. Seine Frau Marie führt ihr Modeatelier, aber die Kundinnen können sich Maßkonfektion nicht mehr leisten oder bezahlen einfach nicht. Die Zwillinge Leo und Dodo sind in der Pubertät und haben ihre eigenen Vorstellungen von der Zukunft. Leo soll eigentlich seinem Vater in der Fabrik nachfolgen, ist aber ein begabter Pianist und Komponist ohne Sinn für Zahlen. Auch seine Schwester Dodo macht es ihren Eltern nicht leicht – an ihr ist ein echter Junge verloren gegangen. Sie hat ein unglaubliches technisches Verständnis und träumt davon, Pilotin zu werden. Sie war für mich der heimliche Star des Buches und meine Lieblingsprotagonistin.
Sebastian stammt aus einfachen Verhältnissen, ist in der KPD aktiv, hält Vorträge und versucht, in der Firma einen Betriebsrat zu etablieren. Er steht immer auf der Seite der Arbeiter und sorgt so mehrfach für hitzige Diskussionen und gefährliche Situationen. Seine Frau Elisabeth unterstützt ihn bei seinen Plänen – auch wenn sie sich damit gegen die Familie stellt.
Tilly von Klippstein, die Frau von Pauls ehemaligem Partner Ernst hat ebenfalls ein schweres Los. Sie und Ernst führen eine reine Vernunftehe. Er kann keine Kinder zeugen, dafür lässt er sie als Ärztin arbeiten. Doch ihre männlichen Kollegen akzeptieren sie nicht und Ernst entfernt sich politisch immer mehr von ihr. Er ist ein glühender Anhänger von Hitler und der NSDAP. So kommt es, dass auch Tilly wieder bei den Melzers unterkriecht und ihr Leben überdenkt.
Unter den Angestellten ist es vor allem das Küchenmädchen Liesl, die Tochter der Gärtnerin, die ihr Glück und ihre Wurzeln plötzlich außerhalb der Villa sucht.

Geschickt verknüpft Anne Jacobs auch im 4. Band das damalige aktuelle Welt- und politische Geschehen mit den unterschiedlichen Schicksalen der Familienmitglieder und ihrer Angestellten. Sie zeigt, wie sich die Weltwirtschaftskrise und das Erstarken der NSDAP auf die einzelnen Gesellschaftsschichten auswirken.
Besonders irritierend aus heutiger Sicht fand ich, dass verheiratet Frauen damals (wieder) die Zustimmung ihres Mannes brauchten, wenn sie einen Beruf ausüben wollten – im 1. Weltkrieg hatte schließlich auch niemand danach gefragt, ohne die Frauen wäre die Wirtschaft zusammengebrochen und das Wahlrecht hatten sie schließlich auch schon seit 1917.

Sehr amüsant fand ich auch das Wiederlesen mit der überkandidelten Kitty, die nie ein Blatt vor den Mund nimmt oder ihre Meinung zurückhält. Dabei schießt sie zwar auch manchmal über das Ziel hinaus, aber sie erreicht das Gewünschte damit oft. Sie und Tilly sind zwei starke, moderne Frauen und damit Dodos Vorbilder.
Auch Serafina, die ehemalige (immer noch intrigante) Gouvernante, taucht wieder auf und versucht, Unfrieden zu Stiften.

Spannungsgeladen, fesselnd und unterhaltsam (ich habe die reichlich 600 Seiten in nur 4 Tagen verschlungen) – hier vergebe ich sehr gern 5 Sterne und hoffe auf eine weitere Fortsetzung – schließlich steht mit Dodo und Leo schon die nächste Generation in den Startlöchern …

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.