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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 832 Bewertungen
Bewertung vom 09.03.2017
Das Buch von Blanche und Marie
Enquist, Per Olov

Das Buch von Blanche und Marie


schlecht

Omnia vincit amor

Auch in seinem 2004 erschienenen Roman «Das Buch von Blanche und Marie» geht der schwedische Schriftsteller Per Olof Enquist, wie oft in seinem Œuvre, von historischen Personen aus, die ihm als Bindeglied für seinen Plot dienen. Herausgekommen ist dabei ein pseudo-dokumentarischer Roman, dessen wahrer Kern nicht nur fiktional ausgeschmückt ist, sondern fast untergeht vor allzu unbekümmert Hinzuphantasiertem.

Vergils «omnia vincit amor», Liebe besiegt alles, steht auf dem Deckel einer braunen Mappe mit dem Titel «Fragebuch», das drei Notizbücher enthält. Das lateinische Motto bezeichnet Enquist als Arbeitshypothese, seine Handlung baut auf diesen Notizbüchern von Blanche Wittmann auf, berühmte Patientin von Professor Jean Martin Charcot, dem Leiter der psychiatrischen Anstalt Salpêtrière in Paris, im Jahre 1862 mit 4000 Patientinnen größtes Hospiz in Frankreich. In seiner regelmäßig veranstalteten, eher als Show inszenierten Vorlesung zu seinem Forschungsthema Hysterie dient ihm Blanche als williges Medium. Einer seiner Assistenten ist Sigmund Freud, und die gaffenden Zuschauer sind nicht nur Studenten, sondern viele berühmte Leute aus ganz Europa. Die titelgebende zweite Protagonistin des Romans ist Marie Skłodowska Curie, die berühmte Wissenschafterin polnischer Herkunft, Entdeckerin des Radiums, zweifache Nobelpreisträgerin sowohl für Physik (1903) als auch für Chemie (1911). Nach dem Unfalltod ihres Mannes hat sie eine stürmische Liebesbeziehung mit einem verheirateten Physikprofessor, die als Langevin-Affäre in Frankreich hohe Wellen schlägt und fortan als ewiger Makel an ihr hängen bleibt.

Soweit die Fakten. Postfaktisch hingegen, um eine dümmliche Wortschöpfung unserer Tage auch mal zu benutzen, ist die jahrelang unterdrückte Liebesbeziehung zwischen Blanche und Professor Charcot. Nach dessen Tod wird sie Assistentin bei Marie Curie, erleidet durch hohe Strahlungen bei ihrer Arbeit schwere gesundheitliche Schäden, beide Beine und der linke Arm müssen amputiert werden, sie sitzt als Torso fortan in einer rollenden Kiste. Die beiden Frauen werden enge Freundinnen, zu denen sich als dritte Jane Avril gesellt, kurzzeitig ebenfalls Patientin von Professor Charcot, später dann im Moulin Rouge berühmt gewordene Tänzerin, vielfach portraitiert von Toulouse Lautrec und auf ihren Plakaten omnipräsent bis heute.

«Die Liebe kann man nicht erklären. Aber wer wären wir, wenn wir es nicht versuchten?» Dieser Versuch ist hier misslungen, mit der Liebe als Zentralthema hat sich Enquist total verhoben. Marie scheitert kläglich mit ihrer ehebrecherischen Liaison, Blanche verkümmert in ihrer unerfüllten und, sieht man von einer irrealen Schlussszene ab, ewig platonischen Liebe zu Charcot. Dem uralten Thema Liebe gewinnt der Autor keine neuen Facetten ab, er verfällt vielmehr zusehends in peinliches Pathos dabei. Schon eher ist da die Aufdeckung der schaurigen Frühgeschichte der Psychiatrie zu loben, der tadelnde Hinweis auf die mühsame Emanzipation der Frauen, die Kritik des naiven Fortschrittsglaubens jener Zeit. Das Interessanteste aber, die faszinierende Figur der genialen Forscherin Marie Curie, wird kaum gebührend gewürdigt, sie ist als Romanfigur weitgehend auf ihre Liebesaffäre reduziert.

Schon ein Blick ins Inhaltsverzeichnis, das die einzelnen Kapitel als Gesänge bezeichnet, macht stutzig und kündet von Esoterischem. Der melancholische Plot verstört durch unmotivierte zeitliche und gedankliche Sprünge und lästige Wiederholungen, deren nervigste, geradezu sadistisch anmutende für mich der gefühlt hundertmal erwähnten Torso in der rollenden Kiste war. Vollends fragwürdig aber wird dieser Roman durch seinen holzschnittartigen Sprachstil, durch verstümmelte Sätze mit merkwürdiger Interpunktion, die das Verständnis behindern statt es zu fördern. Liebe und leidenschaftliche Forschung belegen, das ist mein Fazit aus dieser Lektüre, nun mal keine gleichen Areale in unserer Seele, sie sind wesensfremd.

Bewertung vom 05.03.2017
Feinde, die Geschichte einer Liebe
Singer, Isaac Bashevis

Feinde, die Geschichte einer Liebe


ausgezeichnet

Tragisch-komisches Gefühlschaos

«Für seine eindringliche Erzählkunst, die mit ihren Wurzeln in einer polnisch-jüdischen Kulturtradition universale Bedingungen des Menschen lebendig werden lässt» erhielt laut Jury der in den USA lebende Autor mit polnischen Wurzeln Isaak Bashevis Singer, als bislang einziger jiddische schreibender Schriftsteller, 1978 den Literatur-Nobelpreis. Sein Roman «Feinde, die Geschichte einer Liebe» erschien 1974 in deutschsprachiger Ausgabe, wurde fünfzehn Jahre später verfilmt und 2007 in die SZ-Bibliothek der hundert größten Romane des 20. Jahrhunderts aufgenommen. Zu Recht?

«Wie in den meisten meiner erzählenden Werke wird in diesem Buch ein Ausnahmefall dargestellt – mit einzigartigen Helden und einer einzigartigen Verflechtung der Ereignisse» schreibt der Autor im Vorwort. Sein Protagonist ist der in New York lebende Jude Herman Broder, den Jadwiga, das polnische Dienstmädchen seiner Eltern, drei Jahre lang in einem Heuschuppen vor den Deutschen versteckt hatte. Hermans Frau Tamara und die beiden Kinder wurden nach Zeugenaussagen Opfer der Nazis. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs emigriert er mit Jadwiga in die USA und heiratet sie aus tiefer Dankbarkeit, nicht aus Liebe. Mit der attraktiven Mascha jedoch, einer von ihrem Mann getrennt lebenden Jüdin, hat er eine leidenschaftliche Affäre. Als er zufällig eine Suchanzeige nach ihm selbst in der Zeitung entdeckt und sich meldet, erfährt er, dass Tamara den Holocaust überlebt hat und seit kurzem in New York ist. Er trifft sie, gesteht ihr die Ehe mit Jadwiga und die Liaison mit Mascha. Sie ist sofort bereit, sich scheiden zu lassen, er jedoch zögert. Als Mascha schwanger wird, drängt sie Herman zur Ehe und findet prompt auch einen Rabbi, der nicht viel Fragen stellt. Nun ist Herman mit drei Frauen verheiratet, und seine Jadwiga ist inzwischen auch schwanger. Maschas Schwangerschaft hingegen stellt sich bald als falscher Alarm heraus. Virtuos jongliert Herman als Polygamist in diesem sich immer mehr zuspitzenden Gefühlschaos. Willensschwach, wie er ist, kann er sich aber nicht entscheiden, mag den Status quo ihrer Ménage à quatre nicht ändern. Ist er wirklich Jadwiga zu ewigem Dank verpflichtet? Soll er die von allen Männern begehrte Mascha doch verlassen? Muss er letztendlich zu Tamara zurückkehren? «Ich will alle drei haben, das ist die beschämende Wahrheit». Parallel zur immer unhaltbarer werdenden Situation und zum tragischen Ende wendet sich der Erzählton von verschmitzt humorig zu elegisch traurig.

Als dem Grauen des Holocaust entronnener Jude plagt den traumatisierten Herman die Frage, warum Millionen sterben mussten und ausgerechnet er überlebt hat, ein gottloser Hedonist, dem leidenschaftliche Liebe und gutes Essen viel bedeuten und religiöse Pflichten rein gar nichts. Singers Roman führt den Leser tief hinein in das jüdische Leben New Yorks, in das Spannungsfeld zwischen modernem Amerika und tief wurzelnder jüdischer Religiosität. Er brandmarkt zum Brauchtum verkommene jüdische Riten als Folklore, zeigt das skandalöse soziale Ungleichgewicht zwischen Arm und Reich in diesem Staate auf. Dabei lässt er seinen physisch eher unscheinbaren, fatalistisch eingestellten, tollpatschigen Helden, dem man den Frauenhelden so gar nicht abnehmen will, viele philosophische Probleme durchdenken, ureigene Reflexionen des Autors, darf man vermuten.

Dieser Roman der Verluste - Heimat, Vermögen, Liebe, Selbstvertrauen, - wird von neurotischen Figuren bevölkert, deren emotionale Befindlichkeit eher indirekt, über ein realistisch geschildertes Geschehen, verdeutlicht wird, wobei Singers Sprache angenehm unprätentiös ist. «Ich schäme mich nicht zu gestehen, dass ich zu jenen zähle, die sich einbilden, Literatur könne neue Horizonte und Perspektiven erschließen – philosophische, religiöse, ästhetische und auch soziale» hat er bei seiner Nobelpreisrede bekannt. Nach Lektüre dieses bereichernden Romans wird man ihm darin unbedingt beipflichten!

Bewertung vom 28.02.2017
Catch 22
Heller, Joseph

Catch 22


weniger gut

Fragwürdiger Kultroman

Joseph Hellers 1961 erschienener Debütroman «Catch 22» stieß in seiner Heimat USA zunächst auf wenig Begeisterung, wie in einem Nachwort zur deutschen Ausgabe von 1994 nachzulesen ist, wo der Autor sich zur Editionsgeschichte seines Buches äußert. Der absurde Antikriegsroman traf dann später während des Vietnamkrieges den Nerv der kriegsmüden Bevölkerung und wurde plötzlich ein großer Erfolg. Im Unterschied zu «Im Westen nichts Neues» von Remarque wird der Krieg hier als absurd chaotische Veranstaltung dargestellt, sein Wahnsinn durch einen aberwitzigen Plot mit einem völlig irrealen Geschehen karikiert. Eine gewagte literarische Gradwanderung, die dem Kriegsgrauen mit Satire entgegen zu treten sucht, wobei dem Leser das Lachen nicht selten im Halse stecken bleibt.

Handlungsort der absurden Geschichte ist die kleine italienische Insel Pianosa im toskanischen Archipel, nordwestlich der Insel Monte Cristo, die durch Alexandre Dumas’ Roman weltweit bekannt wurde. Hier ist im Zweiten Weltkrieg eine Staffel von B-25 Bombern der US Air Force stationiert, der Protagonist Captain Yossarián ist dort als Bombenschütze eingesetzt. Er hat panische Angst vor dem Tod und versucht mit allen Mitteln, sich durch Krankschreibung vor den Einsätzen zu drücken, oder aber, besser noch, durch Erfüllung der Sollzahl für die Feindflüge gleich ganz aus dem Militärdienst entlassen zu werden. Letzteres wird dadurch vereitelt, dass diese Sollzahl ständig erhöht wird und damit unerreichbar bleibt. Die Problematik des Romans ist in seinem Titel bereits vollständig enthalten, «Catch 22» steht für einen klassischen Circulus vitiosus. Denn nur wer geisteskrank wird, kann auf Verlangen nach Hause geschickt werden; wer dies jedoch verlangt, kann nicht geisteskrank sein, denn genau dieser Wunsch sei ja der Beweis für ein völlig normal funktionierendes Gehirn. Der Truppenarzt Doc Daneeka erklärt Yossarián, dass seine Angst beim Feindflug völlig normal sei, denn hätte er keine Angst, müsse er verrückt sein und wäre folglich ja gar nicht flugfähig. Das absurde «Catch 22» als infame Schikane der amerikanischen Stabsoffiziere wird im englischen Sprachraum inzwischen als geflügeltes Wort für einen Teufelskreis benutzt.

Seine karikaturhaft überzeichneten Figuren dienen als literarisches Vehikel, mit dem Joseph Heller die Dummheit eines absurden militärischen Systems an den Pranger stellt. Sei es, dass sie nur Aufmerksamkeit erregen wollen oder gar Kriegsruhm anstreben, um befördert zu werden, oder ein florierendes Schwarzmarktgeschäft betreiben wie der Verpflegungsoffizier, bei dem selbst der Feind zum Kunden wird, wobei die vorbildliche Zahlungsmoral der Deutschen höchste Anerkennung findet. Als Milo seinem erstaunten Vorgesetzten bei einer Fahrt mit dem Jeep sein erfolgreiches Geschäftsmodell erläutert, landet ein angeschossener B-25 Bomber und explodiert, sie aber fahren ungerührt an dem brennenden Wrack vorbei, völlig in ihr Gespräch über Profite vertieft, - die Süddeutsche Zeitung hat diese bezeichnende Szene aus dem Spielfilm für das Cover ihrer Edition verwendet. Der Verrückteste dieser Truppe desertiert, indem er seine Maschine im Mittelmeer notwassert, um von dort mit seinem Ein-Mann-Rettungsboot nach dem neutralen Schweden zu paddeln! Andere, wie Hungry Joe zum Beispiel, wollen einfach nur nackte Frauen fotografieren, sonst interessiert ihn nichts. Zwischen diesen und noch vielen anderen kauzigen Figuren, von denen fast alle umkommen im Verlaufe des Romans, erscheint Yossarián als zweiter Schwejk, ein Antiheld, der lediglich mit heiler Haut aus dem Schlamassel herauskommen will.

Es wimmelt von Absurditäten in dieser aus aneinander gereihten, grotesken Szenen bestehenden Satire auf menschliche Schlechtigkeit und Dummheit. Die Lektüre erfordert einige Geduld, es stellen sich schon bald störende Längen heraus, und der narrative Wahnsinn nervt in seiner Häufung dann irgendwann auch. Ein für mich eher fragwürdiger Kultroman!

Bewertung vom 26.02.2017
Das Konzert
Lange, Hartmut

Das Konzert


sehr gut

Unerhörtes aus dem Totenreich

Als «Geheimtipp» hat Hartmut Lange sich selbst mal ironisch in einem Interview bezeichnet und ein zwischen kurzfristigem Hochjubeln und totalem Vergessen polarisierendes Feuilleton beklagt: «In so einer Atmosphäre können Sie Literatur nur aus Triebtäterschaft machen.» Sein Œuvre besteht seit Anfang der achtziger Jahre zum überwiegenden Teil aus Novellen, jene literarische Gattung, zu der Goethe angemerkt hat, sie berichte typischer Weise über eine «unerhörte Begebenheit.» Insoweit ist «Das Konzert» ganz klassisch konzipiert, mit einer konzisen Darstellung des uralten Themas von Schuld und Vergebung, hier exemplarisch an einem surrealen Aufeinandertreffen von Tätern und Opfern im Totenreich dargestellt. «Wer unter den Toten Berlins Rang und Namen hatte, wer es überdrüssig war, sich unter die Lebenden zu mischen, wer die Erinnerung an jene Jahre, in denen er sich in der Zeit befand, besonders hochhielt, der bemühte sich früher oder später darum, in den Salon der Frau Altenschul geladen zu werden, und da man wusste, wie sehr die elegante, zierliche, den Dingen des schönen Scheins zugetane Jüdin dem berühmten Max Liebermann verbunden war, schrieb man an die Adresse jener Villa am Wannsee, in der man die Anwesenheit des Malers vermutete.» Mit diesem Satz beginnt die Exposition dieser 1986 erschienenen Novelle.

Hauptfigur der Geschichte ist der 28jährige, hochbegabte Pianist Rudolf Lewanski, der während der Naziherrschaft in Litzmannstadt durch Genickschuss getötet wurde. Die Salondame alter Schule mit dem beziehungsreichen Namen wurde ebenfalls ermordet und nackt, mit verrenkten Gliedern, in eine Grube geworfen. Ihr ganzes Streben als Tote richtet sich nun darauf, ein Konzert in der Philharmonie zu veranstalten, in dem Lewanski die E-Dur-Sonate op. 109 von Ludwig van Beethoven spielen soll. Ein für ihn schwieriges Stück, für das er sich nicht reif genug fühlt als ewig 28Jähriger, er scheitert immer wieder an einer bestimmten Stelle. Als er nach intensivem Üben sich dem Konzert dann doch gewachsen fühlt, landet er auf dem Weg zur Philharmonie im zugeschütteten Bunker der ehemaligen Reichskanzlei. «Mein Mann und ich sind voller Sorge, dass es Ihnen nicht gelingen könnte, uns zu verzeihen.» Die da spricht ist die frisch verheiratete Eva Braun, und so spielt Lewanski nach einigem Zögern vor den versammelten toten Nazigrößen. Wieder scheitert er an der kritischen Stelle. «Litzmannstadt … Litzmannstadt » platzt es aus ihm heraus, «Sie hören es selbst: Um dies spielen zu können, sollte ich erwachsen sein. Man hat mich zu früh aus dem Leben gerissen.»

Der ermordete Schriftsteller Schulze-Bethmann, der ebenfalls in jenem Salon verkehrt, sieht keinen Grund, den Kontakt mit seinem eigenen Mörder, einem schwarz uniformierten SS-Mann, zu meiden. Und zum Konzert erklärt er: «Ich kann kein Unglück darin sehen, dass der Pianist Rudolf Lewanski den Mut, oder sagen wir, die Gelegenheit hatte, vor seinen Mördern auf dem Klavier zu spielen. Der Täter und sein Opfer – was bleibt uns im Tode anderes übrig, als in Betroffenheit beieinander zu sitzen und darüber zu staunen, welche Absurditäten im Leben allerdings und unwiderruflich geschehen sind.»

Der Autor versteht es, uns Lesern ohne aufdringliche Moral ein fürwahr schwieriges Thema nahe zu bringen, über das es sich weiterzudenken lohnt. Nur der Blick aus dem Totenreich vermag dabei hilfreich sein, nur so wird deutlich, dass die Untaten den Tätern ja letztendlich gar nichts nützen. Nur ewiges Bereuen und ewiges Verzeihen ist die Folge. Dieses surreale erzählerische Konstrukt erweist sich als wunderbar stimmig in Hinblick auf die hochgradig emotionsgeladene Holocaust-Thematik, die mit Sühne und Vergebung als ewigem Menetekel belastet ist. Ein, wie die Liebe und anderes mehr, nur dem Menschen eigenes, in der Natur, im Universum, nicht vorhandenes transzendentales Kriterium. Schade, dass es nur so wenige Leser gibt für eine derart tiefgründige Thematik.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 23.02.2017
The Blue Flower
Fitzgerald, Penelope

The Blue Flower


weniger gut

Britischer Hype um deutschen Romantiker

Mit dem Titel ihres letzten, im Original 1995 erschienenen Romans verweist die englische Schriftstellerin Penelope Fitzgerald auf «Die blaue Blume» als Sinnbild romantischer Poesie, welches auf Sehnsucht, Liebe und Fernweh ebenso hinweist wie auf die Unendlichkeit. Florales Vorbild ist laut Novalis der blaue Heliotrop, in seinem Romanfragment «Heinrich von Ofterdingen» hat er sie erstmals als metaphysisches Symbol verwendet. Jene mystische Blume, die niemals gefunden werden könne, symbolisiere, wie Fitzgerald es ausdrückte, was man selber vom Leben will, ein Ziel, das man unbeirrt anstreben muss, auch wenn es vergebens zu sein scheine. Im vorliegenden Roman versinnbildlicht die blaue Blume die tragische Liebesgeschichte zwischen Friedrich von Hardenberg, der später als frühromantischer Dichter unter dem Synonym Novalis berühmt wurde, und der blutjungen Sophie von Kühn. Der in England als Meisterwerk gelobte historische Roman gilt als Höhepunkt im Œuvre dieser Schriftstellerin, als ihr gelungenstes und anspruchsvollstes Werk.

Zeitlich umfasst ihre Geschichte die Jahre von 1790 bis 1797. Fritz, wie der junge Hardenberg in der Familie genannte wurde, begegnet Ende 1794 erstmals der 12jährigen Sophie, eine «Viertelstunde», die über sein Leben entschieden habe, wie der damals 22Jährige seinem Bruder schrieb. Keine drei Jahre später stirbt Sophie an Tuberkulose, eine in jenen Zeiten meist tödlich verlaufende Krankheit, der Fritz vier Jahre später ebenfalls erlag. Die kurze Spanne dieser Liebesgeschichte bildet den inneren Kern der Erzählung. Gegliedert in 55 Kapitel, ergänzt um ein Nachwort, ist dieses Buch, wie die Autorin es ausdrückte, eine «Art Roman», stellt also im Wesentlichen eine fragmentarische Biografie des Dichters Novalis dar, aber auch eine um Fiktionales ergänzte, historisch aufschlussreiche Schilderung dieser Epoche. Der vielseitig gebildete Novalis verkehrt mit Geistesgrößen seiner Zeit, steht mit Schiller, Goethe, Schlegel, Fichte und anderen auf vertrautem Fuß. Aber auch Profanes hat seinen Platz in diesem kleindeutschen Milieu mit Jena und Weimar als geistiger Mittelpunkt, ob dies nun die finanziell angespannte Lage der Familie Hardenberg mit ihren elf Kindern ist oder kaum zu glaubende Praktiken der Mediziner, der pietistisch den Herrnhutern hörige Vater ebenso wie die Charaktere der skurrilen Familienmitglieder und ihre eigenartigen Rituale, beim Frühstück oder zu Weihnachten. Auch das uns Heutige äußerst rüde erscheinende Alltagsleben auf einem abgewirtschafteten Gutshof, die englische Autorin gibt uns gut recherchierte Einblicke in die damaligen Lebensverhältnisse.

Indem Fitzgerald sich mit begleitenden Hinweisen und Erklärungen, die sie als «Beleidigung des Lesers» empfunden hat, ganz bewusst zurückhält, die Geschehnisse also ungeschönt, ganz unkommentiert auf ihn einwirken lässt, erhalten ihre kurzen Episoden eine einzigartig direkte Wirkung, erhellen das Wesen ihrer zahlreichen, lebensprall gezeichneten Figuren und deren verbindendes Beziehungsgeflecht. Besonders bedrückend wirkt deshalb am Ende auch die knappe Schilderung von Sophies Todesstunde. Fritz kann sie nicht anlügen, ihren sich verschlimmernden Zustand nicht schönreden, er verlässt den Gutshof ohne Abschied, ohne seine übliche Beteuerung: «Sophie, du bist die Seele meiner Seele».

Zweifellos ist es der Autorin gelungen, uns einen großen Dichter der Romantik nahe zu bringen. Wichtigstes Thema jedoch ist die rätselhafte Anziehungskraft zwischen Liebenden und ihr letztendlich schmähliches Versagen vor dem Menetekel des nahenden Todes. Ihre Sprache ist schnörkellos, wirkt allerdings recht holzschnittartig, die Handlung zudem ist allzu sprunghaft erzählt, was dem Lesevergnügen ziemlich abträglich ist. Der große Erfolg im englischsprachigen Ausland dürfte in der dort unbekannten Thematik um den Dichter Novalis begründet sein, kaum in den literarischen Qualitäten dieses Romans.

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Bewertung vom 20.02.2017
Kraft
Lüscher, Jonas

Kraft


sehr gut

Skeptische Gelehrtensatire

Nach seinem Anfangserfolg mit der Novelle «Frühling der Barbaren» hat der Schweizer Schriftsteller Jonas Lüscher heuer, vier Jahre später, seinen ersten Roman unter dem Titel «Kraft» veröffentlicht. Aus seiner dreijährigen Arbeit an einer Dissertation sei «leider nichts geworden, dafür ist nun der vorliegende Roman entstanden, in den einiges eingeflossen ist, über das ich im Rahmen meiner wissenschaftlichen Tätigkeit nachgedacht habe», heißt es in der Danksagung am Ende des Buches. Bei dieser Vorgeschichte ist es nahe liegend, dass der so entstandene Debütroman als wissenschaftsskeptische Gelehrtensatire angelegt ist, in der Fortschrittsglaube und Kapitalismus ebenso karikiert werden wie überholte Strukturen in Universität und Gesellschaft.

Protagonist des Romans ist Prof. Richard Kraft, Nachfolger von Walter Jens auf dem Lehrstuhl für Rhetorik in Tübingen. Der brillante Wissenschaftler steht vor den Trümmern seiner zweiten Ehe mit Heike, zudem plagen ihn Geldsorgen, denn die großzügige Versorgungsregelung für seine Exfrau Ruth und die beiden Kinder frisst fast sein gesamtes Einkommen als Hochschullehrer auf. Als er von einem Freund an der Stanford Universität zur Teilnahme an einem wissenschaftlichen Wettbewerb im Silicon Valley aufgefordert wird, bei dem ein Preisgeld von einer Million Dollar ausgesetzt ist, sieht er darin die Lösung aller seiner Probleme, auch Heike rät ihm, unbedingt teilzunehmen. Dem Problem der Theodizee von Leibnitz folgend, sollen die Konkurrenten in einem höchstens 18minütigen Vortrag vor einer Jury eine schlüssige Antwort auf die Preisfrage geben: «Warum alles, was ist, gut ist, und wie wir es trotzdem verbessern können».

Während einer dreiwöchigen Vorbereitungsphase, im Lesesaal des Hoover Tower auf dem Campus von Stanford sitzend, sucht Kraft vergeblich nach einer zündenden Idee; ihm fehlt jedwede Inspiration, der von ihm zu begründende Zukunftsoptimismus überfordert ihn als Skeptiker. Immer wieder verliert er sich in Grübeleien über sein Leben, denkt an seine frühen Studententage und seine politischen Jugendsünden als neoliberaler Wirrkopf. Er rekapituliert seine wissenschaftliche Karriere, sinniert über sein permanentes Scheitern bei Frauen, bedauert die fehlende familiäre Bindung. Der Autor wartet mit einem Feuerwerk von Ideen auf, verarbeitet gekonnt die jüngere Zeitgeschichte in klug ausgewählten Episoden, deren interessanteste für mich das konstruktive Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt war. Er spart jedenfalls nicht mit beißender Gesellschaftskritik, die auch den ausufernden Digitalismus unserer Tage einschließt. Der Theodizee stellt er beispielsweise für die Finanzmärkte den von Joseph Vogl geprägten Begriff der Oikodizee gegenüber, die Entzauberung und damit allfällige Bändigung der Finanzmärkte. In einer furiosen Traumsequenz malt er schließlich sehr realistisch das Inferno eines schweren Erdbebens in San Franzisko aus, ein düsteres Szenario, in dem er trickreich das Schicksal seines gescheiterten Helden spiegelt.

Jonas Lüscher ist ein sehr genauer Beobachter, er schreibt hier äußerst leichtfüßig, aber aus kritischer Distanz, im Modus Modestiae, dem Autorenplural, uns Leser damit einbeziehend in seine Betrachtungen. Bei denen dann sein Held, satirischer Inbegriff des intellektuellen Schwaflers, so gar nicht gut wegkommt. Die Fülle an Gedanken, die da vor uns ausgebreitet werden, ist beeindruckend, viele kluge Reflexionen und philosophische Exkurse sind trotz des mokanten Erzähltons, in dem sie vorgetragen werden, zweifellos ernst gemeint und durchaus bereichernd. Mit einem bildungssatten Schreibstil in langen Schachtelsätzen unterstreicht Lüscher süffisant seinen ironischen Duktus. Auch wenn er dabei so manches Klischee bedient, wird er zu Recht als hochaktuelle Stimme gelobt, die ihresgleichen nicht hat in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Auf den Leser wartet ein anregendes, amüsantes und zweifellos auch intellektuelles Lesevergnügen.

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Bewertung vom 15.02.2017
Täuschung
Roth, Philip

Täuschung


gut

Postkoitales Verwirrspiel

Im umfangreichen Werk von Philip Roth finden sich charakteristische literarische Konstanten, zu denen das Judentum und die US-amerikanische Gesellschaft ebenso gehören wie Ehe und Sexualität im Kontext eines typisch männlichen Selbstentwurfs. Es gehört aber auch sein Spiel mit Identitäten dazu, bei dem er sich häufig hinter einem Alter Ego versteckt oder gleich in persona auftritt. Und natürlich ist diese Figur dann als Schriftsteller ebenfalls in den Schreibprozess integriert, es geht also letztendlich darum, den kreativen Prozess offen zu legen, mit dem eine literarische Identität erschaffen wird. Auf die Spitze getrieben hat Roth dieses kunstvolle Verwirrspiel in dem 1990 erschienenen Roman «Täuschung», dritter Teil einer vierbändigen Autobiografie, dessen ironischer Titel bereits andeutet, was auf den Leser zukommt. Denn literarische Lebensbeichte und unbekümmert ergänzte Fiktion sind kaum auseinander zu halten, zum vollen Verständnis sind deshalb einige Kenntnisse über Autor und Werk unabdingbar, auch um intertextuelle Bezüge richtig interpretieren zu können.

Der Roman ist ohne Exposition vollständig in Dialogform geschrieben, nur wörtliche Rede also, es bleibt jeweils offen, wer da gerade spricht. Ein amerikanischer Autor namens Philip und seine englische Geliebte treffen sich zum Sex in seinem spartanisch eingerichteten Arbeitszimmer, mit einer Plastikmatte auf dem Boden «für Rückenübungen und Ehebruch». Speziell der Modus des Ehebruchs gibt ihrem geheimen Treiben den Kick, löst ihre Beziehung aus dem drögen Alltag heraus. Alle diese Dialoge ihrer «postkoitalen Intimität» entstammen dem Notizbuch des Schriftstellers, der sie dort im Wortlaut festgehalten hat. Auf seine Frage beispielsweise, wie sie denn ihrem Ehemann einen blauen Fleck erklärt hätte, antwortet sie: «Ich habe gesagt: Dieser blaue Fleck stammt aus einer stürmischen Umarmung mit einem beschäftigungslosen Schriftsteller in einem Wohnhaus ohne Fahrstuhl in Notting Hill».

Kurze amüsante Dialogskizzen dieser Art werden ergänzt durch andere Gespräche, wobei gegen Ende insbesondere das lange Gespräch des Schriftstellers mit seiner Frau einiges klärt. Sie hat nämlich sein Notizbuch gefunden und macht ihm nun Vorwürfe, fühlt sich erniedrigt. «Wie kannst du dich von etwas erniedrigt fühlen, das überhaupt nicht den Tatsachen entspricht? Das bin nicht ich. Es ist weit davon entfernt, ich zu sein – es ist eine Posse, es ist ein Spiel, es ist eine Inszenierung meines Ich». Im letzten Abschnitt telefoniert der Schriftsteller Jahre später mit seiner ehemaligen Geliebten. Sie erzählt ihm, dass sie damals schwanger geworden sei, aber nicht von ihm. Auch dass sie sich in seinem Buch wieder erkannt habe, sich entblößt fühle davon. Und wirft ihm vor, sie habe nur als literarische Inspiration gedient für ihn. «Du liebst deine Schreibmaschine mehr, als du je irgendeine Frau lieben könntest». «Ich denke nicht, dass das bei dir so war. Ich glaube, ich habe euch beide gleichermaßen geliebt», erwidert er. Und deutet an, dass er dieses Telefonat ja ebenfalls in einem Buch verarbeiten könnte. Ein kaum entwirrbares Wechselspiel zwischen Romanfigur, Ich-Erzähler und Autor also, das Philip Roth da treibt.

Das Buch ist schnörkellos geschrieben und leicht lesbar, ein stringenter Plot ist allerdings nicht vorhanden. Der Sinn einiger Einschübe wird ebenfalls nicht deutlich, der Abschnitt mit Olina und Ivan aus Prag zum Beispiel. Oder die Szene mit einer Polin, die Philip, der vor zehn Jahren ihr Geliebter war, in der U-Bahn sieht, - der aber erkennt sie nicht und eilt davon. Zum seinem Dialog-Roman sagte Roth: «Ich wollte ausprobieren, ob das funktioniert. Und es schien mir zu passen: Ehebruch und Gespräch gehören zusammen». Er wollte eine englische Lady beim Ehebruch zeigen, Noblesse plus Libido also, seine Perspektive jedoch ist machohaft, die Wortwahl brutal direkt und völlig unerotisch. Ein Roman mithin, der irritiert und polarisiert zugleich.

Bewertung vom 13.02.2017
Zeit der Nähe
Maxwell, William

Zeit der Nähe


weniger gut

Reine Beziehungskiste

Der erste literarische Erfolg des US-amerikanischen Schriftstellers William Maxwell stellte sich zwölf Jahre nach seinem Debütroman mit dem im Original 1945 erschienenen Roman «The Folded Leaf» ein, der 1959 in einer überarbeiteten Version neu erschienen ist. Zweiunddreißig Jahre später erst wurde das Buch mit einer Neuübersetzung unter dem Titel «Zeit der Nähe» auch einem breiteren deutschen Publikum bekannt. Maxwell war vierzig Jahre lang als Redakteur für Belletristik im Feuilleton des literarisch einflussreichen «The New Yorker» tätig, ein nach Bekunden seines ersten Herausgebers «nicht für biedere Leser mit eher provinziellen Vorstellungen gedachtes Magazin». Maxwells ungleich berühmterer Kollege John Updike hat über ihn gesagt: «Seine Stimme gehört zu den klügsten und scharfsinnigsten der amerikanischen Literatur». Gleichwohl hat trotz einer Neuauflage in der SZ-Bibliothek der Autor hierzulande wenig Aufmerksamkeit gefunden, ist fast vergessen inzwischen. Warum, fragt man sich.

Wir haben es hier mit einem klassischen Entwicklungsroman zu tun, der sich von 1923 an zeitlich über fünf Jahre erstreckt und örtlich in Chicago angesiedelt ist. Geschildert wird darin die Phase der Adoleszenz zweier Freunde, die sich in einer Highschool erstmals begegnen. Spud Latham, ein durchtrainierter Draufgängertyp, neu an der Schule, befreit beim Wasserpolo den schmächtigen, verträumten Lymie Peters aus misslicher Lage, er wäre beinahe ertrunken. Aus der schier grenzenlosen Dankbarkeit des intelligenten Lymie entwickelt sich eine tiefe Freundschaft der beiden Jungen, sie sind bald unzertrennlich. Spud lädt den mutterlosen Lymie zu sich nach Hause ein, er wird bei den Lathams wie ein Familienmitglied aufgenommen, gehört wie selbstverständlich dazu. Voller Demut ist Lymie stets hilfreich an Spuds Seite, macht sich nützlich, reicht ihm das Handtuch oder schnürt ihm die Boxhandschuhe zu, auf dem College dann teilen sie sich sogar ein Zimmer. Als Spud sich in Sally verliebt, toughe Tochter eines Professors, entsteht auch zwischen ihr und Lymie eine enge Freundschaft, die Drei verstehen sich bestens. Bis Spud irgendwann eifersüchtig wird, sich daraufhin immer mehr zurückzieht, den Kontakt mit seinem devoten Freund meidet. Im Showdown wird es schließlich dramatisch, endet letztendlich aber doch versöhnlich, ganz nach dem von Hollywood repräsentierten Publikumsgeschmack der damaligen Zeit.

«Zeit der Nähe» lässt sich kaum mit den thematisch ähnlichen Romanen von Hesse, Robert Walser, Musil oder Salinger vergleichen, die ich gelesen habe. Zu nüchtern, geradezu spartanisch wird hier erzählt, ein wenig origineller, typisch journalistischer Stil, ohne die Raffinesse eines Ernest Hemingway allerdings. Die erzählerische Wirkung entsteht weitgehend aus den präzise geschilderten Geschehnissen, was minutiöse Ortsbeschreibungen ebenso einschließt wie die Charaktere der handelnden Figuren. Wobei die Protagonisten trotz allem seltsam blutleer bleiben, man bekommt emotional keinen Zugang zu ihnen, eine Identifikation gar mit ihrer Persönlichkeit findet nicht statt.

Umso ergiebiger ist die im Erzählstoff steckende psychologische Problematik, einerseits eine schon fast ins Homoerotische deutende Intimität zwischen den beiden Freunden, ein klassisches Herr-und-Diener-Verhältnis mit masochistischer Komponente zudem, andererseits jene plötzlich aufbrechende Rivalität, die in ihrer Verschiedenheit begründet liegt. Hinzu kommt der weibliche Störfaktor in Person von Sally, mit der eine fragile Dreier-Konstellation entsteht, die auf Dauer kaum gut gehen kann. Maxwells Fokus ist einseitig auf das Herausarbeiten dieser problematischen Verflechtungen gerichtet, vieles andere bleibt einfach ausgeblendet in seinem Mikrokosmos. Psychologisch interessierte Leser dürften sich wohl fühlen in Maxwells tiefgründiger Seelenlandschaft, plot-orientierte hingegen werden sich langweilen und stilistisch anspruchsvolle werden enttäuscht sein.

Bewertung vom 08.02.2017
Marbot
Hildesheimer, Wolfgang

Marbot


weniger gut

Die Fiktion als Wahrheit

Jene Figur, die Wolfgang Hildesheimer in seinem 1981 erschienenen Band «Marbot. Eine Biographie» erschaffen hat, könnte man als einen literarischen Homunkulus bezeichnen, so lebensecht erscheint uns sein Held, quasi als reale historische Persönlichkeit. Der Autor führt seine Leser gekonnt an der Nase herum, versteckt die Fiktion trickreich unter einer Fülle historischer und wissenschaftlicher Fakten, deklariert seinen Text als Biografie, nicht als Roman, obwohl Letzteres weit eher zutreffend wäre. Es ist der originelle Versuch, eine Lebensgeschichte zu erfinden, die als Wirklichkeit wahrgenommen wird, wobei den Leser hier nicht das amüsante Spiel eines ironischen Erzählers mit der Realität erwartet, der Biograf vermittelt uns vielmehr bis zur letzten Zeile durchaus überzeugend historische Fakten, eine Wahrheit also, in die er seine Figur nahtlos integriert hat.

«Für mich ist nur das Wahre wahr, das Wahrscheinliche dagegen Schein» sagte der 24jährige Sir Andrew Marbot am 4. Juli 1825 bei einem Besuch in Weimar zu Goethe. Wir Leser, damit auf das Folgende eingestimmt, erfahren davon gleich auf der ersten Seite. Der umfassend gebildete junge Mann, privilegierter Sohn eines reichen englischen Gutsherrn, von einem Jesuitenpater erzogen, widmet sich, nachdem er sein eigenes Unvermögen als Künstler erkannt und akzeptiert hat, mit ganzer Leidenschaft der Malerei, entwickelt sich zum scharfsinnigen Kritiker und Experten dieser Kunstgattung. Er hat Talent, ist aber kein Genie. Auf seinen Studienreisen durch halb Europa trifft er viele Geistesgrößen jener Zeit, verkehrt in kunstsinnigen Salons und besichtigt immer wieder öffentliche Gemäldegalerien und private Sammlungen. Bei seinen Theorien über Ästhetik und Interpretationen berühmter Gemälde bezieht Marbot erstmals Aspekte der Psychoanalyse mit ein, interessiert sich vor allem für die Bedingtheit von Werk und Maler und die kathartische Wirkung von Kunst.

Schon als Kind hatte Andrew eine tiefe Abneigung gegen seinen bodenständigen, sich fast ausschließlich der Jagd und Fischerei widmenden Vater, dafür aber eine umso innigere Beziehung zu seiner schönen Mutter. Es kommt zum Inzest, den beide unbeirrt ausleben, ein Tabu, dessen skandalträchtige Problematik sie in ein unlösbares Dilemma stürzt, sodass sie ihrer verzehrenden, fast grenzenlosen Liebe nach zwei Jahren notgedrungen endgültig abschwören. Andrew verlässt England für immer, nach mehreren Zwischenstationen lässt er sich schließlich im italienischen Urbino nieder, im Gebiet des Montefeltro. Wo er schließlich, inzwischen 29jährig, eines Morgens das Haus verlässt und für immer spurlos verschwindet, nur sein Pferd steht am nächsten Morgen wieder auf dem Hof. Da eine seiner beiden Pistolen fehlt, geht man von Selbstmord aus, ein zweiter Tabubruch also, eine weitere Todsünde nach dem Dogma der katholischen Kirche.

Dieser Plot jedoch ist beinahe nebensächlich in einer Biografie, die sich in epischer Breite, bis ins kleinste Detail, mit Kunst beschäftigt. Der Autor treibt seine Camouflage so weit, dass er zur Vorspiegelung von Authentizität eine Fülle englischer Zitate einstreut, für die er dann hilfreich gleich noch die Übersetzung mitliefert. Zu diesem Spiel mit der Fiktion gehört ferner der Hinweis, dass 1888 eine erste Biografie über Marbot erschienen sei, außerdem wird an vielen Stellen die mangelhafte Quellenlage beklagt. Vor allem aber soll uns das sachbuchartige Register berühmter Geistesgrößen, die mit Marbot in Verbindung standen, in die Irre führen. Mit alldem ist Hildesheimer ein überzeugendes Bild des exzentrischen britischen Kunstkritikers gelungen. Gleichzeitig aber nutzt er, der ja selbst Malerei studiert hat, sein Buch als Forum für ausufernde kunsttheoretische Betrachtungen. Damit jedoch überfrachtet er den Stoff gewaltig, nur wenige Leser dürften das erforderliche Fachwissen besitzen, um diesen geistigen Höhenflügen im Detail folgen zu können, das Buch also mit Gewinn zu lesen.

Bewertung vom 03.02.2017
Hier bin ich
Foer, Jonathan Safran

Hier bin ich


gut

Zulassung plus Couch

Wenn eine Karriere als Romancier so fulminant begonnen hat wie die von Jonathan Safran Foer, ist man natürlich neugierig auf Neues aus dessen Feder. Nach elf Jahren ist nun «Hier bin ich» erschienen, sein dritter Roman, zugleich auch sein Opus magnum. Waren die ersten beiden Romane aus einer kindlichen Perspektive erzählt, so ist es hier die eines jüdischen Mannes aus der US-Hauptstadt Washington, der eine Trennung von seiner Frau durchlebt. Die sich ankündigende Scheidung ist eingebettet in ein aufgeklärt liberales, jüdisches Lebensumfeld der Familie, das zwischen Amerika und Israel oszillierend allgegenwärtig ist und die innere Geschichte einer Entfremdung sogar weitgehend überlagert, den Trennungsroman zu einem jüdischen Sittenbild ausweitet. An seine einstigen literarischen Erfolge als junger postmoderner Schriftsteller, soviel sei hier schon gesagt, kann der US-Amerikaner, der vor zwei Jahren selbst geschieden wurde, damit allerdings nicht anknüpfen.

Julia Bloch, Architektin von Beruf, findet zufällig ein zweites Handy ihres Mannes. Nachdem ihr ältester Sohn das Passwort geknackt hat, entdeckt sie darauf dessen abstoßend vulgäre SMS-Korrespondenz mit einer Kollegin. Jakob Bloch, der Scripts für eine Fernsehshow schreibt, initiiert durch diesen drögen Verbalsex mit einer Frau, die er niemals angerührt hat, ungewollt einen Prozess der Entfremdung, welcher für das Ehepaar und die drei heranwachsenden Söhne in einem Auseinanderbrechen ihrer bis dato intakten, unkonventionellen Familie endet. Diese soziale Krise spiegelt sich in einer politischen Katastrophe für den Staat Israel, das Land wird durch ein verheerendes Erdbeben schwer getroffen, was seine feindlichen Nachbarn dazu ermuntert, die Gunst der Stunde zu nutzen und den solcherart angeschlagenen Erzfeind nun auch noch mit Krieg zu überziehen. Als der israelische Premierminister alle waffenfähigen Juden in der Diaspora zur Rückkehr nach Israel auffordert, entschließt sich Jakob spontan, dem Aufruf zu folgen. Er, der noch nie ein Held war, versagt aber auch hier, verharrt letztendlich kleinlaut doch lieber in seiner gutbürgerlichen amerikanischen Existenz. Ihm wird am Ende sogar das Einschläfern seines alten, inkontinenten Hundes zu einer Entscheidung, die ihn fast überfordert.

Ein jüdisches Buch, hat Philip Roth einmal geäußert, erkenne man nicht an dem, wovon die Rede ist, sondern daran, dass es immer weiter redet, ohne Ende. Insoweit ist dieser sprachverliebte Roman jüdisch durch und durch, zudem erschließt sich sein Inhalt größtenteils in seinen geradezu slapstickartigen Dialogen, Geschwätz mit oft pingpongartig wechselnden Kurzsätzen, bei denen die Antwort auf eine Frage oft in der erstaunten Wiederholung der Frage selbst besteht. Besonders die temporeichen Gespräche mit den frühreifen Söhnen sind amüsant, verlieren sich nicht selten aber abschweifend auch völlig ins Leere. Bei alldem erfährt der Leser en passant so einiges vom American Way of Life in der heutigen Zeit, da wird völlig tabulos Gott und die Welt hinterfragt. An einer Stelle antwortet Jakob entnervt, aber schlagfertig auf Vorhaltungen seiner Frau, seinen psychischen Zustand betreffend: «Du solltest dir wirklich eine Zulassung und eine Couch besorgen».

Der Roman einer Midlife-Crisis weist schon durch den Titel auf die verzweifelte Sinnsuche des Helden hin. Und das Judentum wiederum, wie es die aufgeklärte Familie Bloch lebt, sei nicht religiös motiviert, erfahren wir Leser, sondern sei lediglich Brauchtum, man fühle sich einfach als Jude. Gleichwohl lauschen die sonst so vorlauten Blochs andächtig der grandiosen Trauerrede des Rabbis bei der Beerdigung des Urgroßvaters, für mich übrigens die stärkste und zudem geistreichste Passage im ganzen Roman. Flott geschrieben, ironisch Distanz haltend, ist dieser dickleibige Roman zweier Krisen durchaus lesenswert, auch wenn er teilweise allzu geschwätzig erscheint und philosophisch zuweilen schlicht Nonsens verbreitet.