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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 879 Bewertungen
Bewertung vom 15.11.2017
Das Fischkonzert
Laxness, Halldór

Das Fischkonzert


ausgezeichnet

Das Beste von Laxness

Mit seiner Darstellung der Unterdrückung während der Dänen-Herrschaft in dem historischen Roman «Islandglocke» von 1943 wurde Halldór Laxness endgültig zum Nationaldichter. In seinen späteren Werken, zu denen auch «Das Fischkonzert» von 1957 gehört, steht die Sozialkritik des linksintellektuellen Autors nicht mehr so deutlich im Vordergrund. Vielmehr griff der auf seiner Insel tief verwurzelte Weltbürger, inzwischen mit dem Literatur-Nobelpreis geehrt, nun häufig menschliche Themen auf. Er stellte eine sehr spezifische, vom Taoismus geprägte Poesie in den Vordergrund seiner Prosa und thematisiert das «Vollkommene Sein» exemplarisch an seinen Romanfiguren.

Ich-Erzähler dieses Bildungsromans ist Alfgrimur, den seine Mutter in einem aus Grassoden erbauten Erdhaus des Seehasenfischers Björn geboren und dort zurückgelassen hat, um nach Amerika auszuwandern. Er bekam, wie alle vaterlosen isländischen Kinder, den Familiennamen Hansson. Der kleine Hof Brekkukot am Stadtrand von Reykjavik war «eine kostenlose Herberge für jeden, der davon Gebrauch machen wollte». An Großeltern statt ziehen der alte Björn und seine Frau den Jungen dort liebevoll auf. Ihr von einem hölzernen Drehkreuz, - durchaus nicht nur der Schafe wegen, sondern auch symbolisch -, von der Außenwelt abgetrennter, ärmlicher Hof wirkt wie die Enklave einer archaischen Lebensweise, während sich überall draußen schon die Vorboten des Frühkapitalismus deutlich bemerkbar machen. So verkauft der urchristlich gesinnte «Großvater» Björn zum Beispiel seine Fische unbeirrt auch dann zum selben Preis wie immer, wenn der Fang allgemein spärlich ausfällt und alle anderen Fischer profitorientiert, also «marktkonform», ihre Preise kräftig erhöhen. Diese überschaubare Idylle bildet das bodenständig enge Zentrum einer kargen Jugend seines Protagonisten, dem Laxness mit den skurrilen Bewohnern und Durchreisenden im gastfreien Hause, den wunderlichen Nachbarn und den kauzigen Einwohnern der - Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts noch kleinen Stadt Reykjavik, gekonnt eine vielköpfige, muntere Figurenschar zur Seite stellt.

Kontrapunktisch ist die groteske Geschichte des weltberühmten isländischen Sängers Gardar Holm in die Erzählung integriert, dessen Wege sich im Verlauf der Handlung zunehmend mit denen von Alfgrimur kreuzen. Aber während der Junge auf Druck der Großeltern äußerst erfolgreich die höhere Schule absolviert, - obwohl er doch eigentlich lieber Grauquappenfischer werden wollte -, um anschließend ein Studium zu beginnen, entpuppt sich der Sänger allmählich als Scharlatan, der alle getäuscht hat und am Ende kläglich scheitert. Der Aufstieg des einen spiegelt sich also im Abstieg des anderen, man ahnt das schon bald als Leser, die Beziehung der beiden ungleichen Protagonisten wird zudem intertextuell durch diverse Anspielungen auf «Erlkönig» und «Faust» verdeutlicht.

Geradezu einfältig wirkt die unbeholfene Sprache, in der das Geschehen fast schon lakonisch, aber durchaus passend zur engstirnigen Perspektive von Alfgrimur, in 41 Kapiteln erzählt wird, ergänzt um ein hilfreiches Nachwort des Übersetzers. Was da aber in schlichten Worten scheinbar naiv erzählt wird, erweist sich nicht nur als äußerst lebensklug und zutiefst menschlich, es ist ebenso tiefsinnig wie überraschend in seiner Denkart. Und alles Erzählte ist dazu noch mit einem köstlichen Humor gewürzt, der manchmal so urkomisch daherkommt für einen nicht-isländischen Leser des 21.Jahrhunderts, dass man laut auflachen muss. Die vielen schrägen Figuren dieses vielschichtigen Romans, der somit auch eine formidable Gesellschaftssatire ist, erweisen sich zumeist als gradlinig denkende, oft wortkarge Sympathieträger. Sie wirken durch ihr Scheitern schicksalhaft menschlich und verkörpern geradezu archetypisch die beklemmende Absurdität des Lebens ebenso wie die des Todes. Zweifellos zählt «Das Fischkonzert» thematisch wie stilistisch zu den besten Romanen aus der Feder von Haldor Laxness.

Bewertung vom 13.11.2017
Liebe
Morrison, Toni

Liebe


weniger gut

Liebe, Gier, Hass – eine Melange

Romane von Toni Morrison stellen meist erhöhte Anforderungen an den Leser, sie sind ambitioniert, was ihre Thematik anbelangt, und kompliziert in ihrer Erzählweise. «Liebe», 2003 erschienen, fügt dem aber noch eine weitere Hürde hinzu. Der Plot mit dem kitschverdächtigen Titel ist derart kryptisch angelegt, dass seine Lektüre mich an ein komplexes Ratespiel erinnert, dessen Auflösung, soviel darf verraten werden, erst auf der vorletzten Seite erfolgt, - wenn denn der Leser bis dahin durchhält. Die Rassenproblematik als beherrschendes Thema der US-amerikanischen Nobelpreisträgerin schimmert hier allenfalls im Hintergrund mit durch, man begegnet ihr in einer ungewohnten Variante erfolgreicher Farbiger, die der kämpferischen Bürgerrechtsbewegung eher skeptisch gegenüberstehen, sich in Zeiten der Rassentrennung vielmehr selbstbewusst ihr eigenes, von Diskriminierung freies Umfeld schaffen.

Es sind fünf Frauen, von denen da im Wesentlichen erzählt wird, und von dem Mann, der ihr Leben bestimmte, Bill Cosey, ein reicher Lebemann, der während der Weltwirtschaftskrise erfolgreich ein Strandhotel aufgebaut hatte. Er ist, wie man nach einer Art Prolog in sieben ihm gewidmeten Kapiteln erfährt, schon lange tot, im ersten, «Das Portrait» betitelten Kapitel begegnen wir nur noch seinem Ölbild, und auch sein Hotel ist inzwischen eine verlassene Ruine an einem verlotterten Strand. Der von vielen Bewunderte war Freund, Fremder, Wohltäter, Liebhaber, Ehemann und Vater, wie die folgenden, ihm gewidmeten Kapitel überschrieben sind, deren Sinn allerdings oft ironisch konterkariert wird. Er war für jeden ein anderer, einem Phantom ähnelnd. Die etwa sechzig Jahre, - bis ins letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hinein -, umspannende Geschichte handelt von den komplizierten Verwicklungen, die sich allesamt auf diesen charismatischen Mann zurückführen lassen. Und alle in seinem Bannkreis, seine Schwiegertochter May, seine Enkelin Christine, deren Jugendfreundin Heed, die Streunerin Junior als deren Komplizin und die Köchin «L.», - jene kursiv gesetzte Stimme aus dem Off, bei der am Ende alle Fäden zusammenlaufen -, sie alle sind schicksalhaft miteinander verwoben, weit über seinen Tod hinaus.

Toni Morrison hat auf die Frage, warum die klassische Liebe in ihrem Roman kaum eine Rolle spiele, geantwortet: «…, ich wollte die Spannbreite der Emotionen ausloten, die in dem Wort stecken». Es gäbe ja nicht nur die eine Form der Liebe, und man könne im Idealfall sogar soweit kommen, dass Liebe eine Großzügigkeit des Geistes sei. Wie auch immer, im Kern geht es hier um die innige Liebe zweier gleichaltriger, unzertrennlich scheinender Mädchen, Coseys Enkelin Christine und ihre aus ärmlichsten Verhältnissen stammende Freundin Heed. Als aber der verwitwete Hotelier die elfjährige (sic!) Heed heiratet, zerbricht die innige Freundschaft der Beiden und schlägt in blinden Hass um. Auch zwanzig Jahre nach Coseys Tod wohnen die zwei Zerstrittenen immer noch in seinem Haus und belauern sich, der Erbschaft wegen. Denn Cosey hat kein Testament hinterlassen, auch wenn es Gerüchte gibt, er hätte einst in fröhlicher Runde auf eine Speisekarte seines Hotels geschrieben, sein Haus solle an sein «geliebtes Cosey-Kind» gehen. Wen meinte er damit, Frau oder Enkelin? Und vor allem, wo ist diese ominöse Speisekarte?

Die Autorin erzählt all dies aus wechselnden, manchmal kaum verifizierbaren Perspektiven, zusätzlich erschwert noch durch unvermittelte Zeitsprünge, die erhöhte Aufmerksamkeit des Lesers oder, - oft Ultima Ratio -, seine treffsichere Intuition erfordern. Und unscharf bleiben auch ihre Figuren, man erfährt selbst von Cosey herzlich wenig. Ihre Art, einen jede Liebe zerstörenden Erbkrieg zu schildern, ist hochkomplex und in der sprachlichen Umsetzung anspruchsvoll. Der Leser muss sich also ziemlich anstrengen, will er in das Gefühlschaos des Romans eindringen und einen Nutzen aus alldem ziehen, was er da liest.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 22.10.2017
Das Floß der Medusa
Franzobel

Das Floß der Medusa


sehr gut

Mich fragt ja niemand

«Der Mensch ist zu allem fähig», so das nicht gerade verblüffende Fazit von Franzobels neuem Roman «Das Floß der Medusa». Franz Stefan Griebl, wie er mit bürgerlichem Namen heißt, hat damit ein Kabinettstück geschaffen innerhalb seines breit gefächerten literarischen Œuvres, er thematisiert eine seit zweihundert Jahren weitgehend ignorierte Schiffskatastrophe, die in ihrer verstörenden Ungeheuerlichkeit ihresgleichen sucht. Der österreichische Autor hat die als Handlungsgerüst dienenden historischen Fakten fiktional sehr originell ergänzt und dabei allzu Splatterhaftes geschickt vermieden, seine nautische Geschichte hat mich streckenweise eher an «Der Seewolf» erinnert, nicht an Horror. Es ist sein überbordendes Erzähltalent, das den dafür empfänglichen Leser derart in Bann zieht, dass er die viehischen und am Ende sogar kannibalischen Szenen als ganz normal empfindet innerhalb der spannenden Geschichte. Spannend deshalb, weil man zwar weiß, wie es ausgeht, aber nicht, wie genau es denn dazu gekommen ist. Und mit seinem Figurenensemble gibt er der Historie ein Gesicht, personifiziert er das unglaubliche Geschehen und schafft damit reichlich Raum für Emotionen.

1816 war die französische Fregatte «Medusa» mit 400 Menschen an Bord auf eine Sandbank gelaufen. Das Schiff musste aufgegeben werden, die vorhandenen Rettungsboote reichten nicht aus für alle Passagiere und die Mannschaft, 147 Menschen konnten sich nur auf ein aus Holzteilen der Fregatte gebautes Floß retten, das aber wegen der Meeresströmung nicht wie geplant in Schlepp genommen werden konnte, man überließ es schließlich kurzerhand seinem Schicksal. Nur 15 Schiffbrüchige hatten überlebt, als das manövrierunfähige Floß nach 13 Tagen gefunden wurde, und von denen starben bald darauf dann noch mal fünf.

Mit viel Recherchearbeit hat der Autor das tragische Geschehen detailliert und plausibel beschrieben, es dramaturgisch überformt und seinen oft grotesken Figuren Leben eingehaucht, wobei er ebenso kreativ wie nonchalant Anleihen beim Film nimmt und einzelne seiner Charaktere mit Schauspielern wie Alain Delon oder Lino Ventura typisiert. Oft hat er für mein Empfinden allerdings zu dick aufgetragen, denn bis auf einige Wenige ist sein Personal weder physisch noch psychisch als Sympathieträger angelegt. Es sind zumeist rohe, gemeine, gefühllose, rabiate Mannsbilder, die auch körperlich abstoßend wirken, die hässlich sind mit allerlei Handicaps. Was übrigens auch für die wenigen Frauen an Bord gilt, denn selbst die wunderschöne Tochter des Gouverneurs ist durch ein großes Feuermal im Gesicht abstoßend entstellt.

Franzobel entlarvt mit viel Gespür für das Skurrile lächerliche Hierarchien, barbarische Rituale der christlichen Seefahrt, rücksichtslose politische Ränkespiele, groteskes Unvermögen, er weist auf menschliches Elend hin, vor allem aber auf den rasanten moralischen Verfall in existentiellen Ausnahmesituationen. In seiner monströsen Geschichte erzählt er, wie seine Schiffbrüchigen den eigenen Urin trinken, gierig das Fleisch der täglich neu anfallenden Leichen verschlingen, ohne Skrupel Schwache und Verletzte umbringen, die kaum eine Überlebenschance haben, um dadurch selbst mit den wenigen Vorräten noch so lange leben zu können, bis womöglich Rettung kommt. All das ist temporeich erzählt, mit ständigen Perspektivwechseln, direkter und erlebter Rede, kursiv gesetzten Bewusstseinsströmen, Geisterreden und kassandrahaft mystischem Raunen der Fregatte selbst. «Nichts für frankophile, Rotwein trinkende, Käse degustierende Modefuzzis» schreibt Franzobel im einleitenden Kapitel über seine potentiellen Leser. Zugegeben, ich hätte den Roman seiner Thematik wegen bestimmt nicht gelesen, wäre er nicht unter den Buchpreis-Finalisten, die ich mir nun mal vorgenommen hatte, alle zu lesen. Und siehe da, jetzt nach der Lektüre dieser sechs Romane würde ich Franzobel den Preis zuerkennen und nicht Robert Menasse, - aber mich fragt ja niemand!

Bewertung vom 17.10.2017
Außer sich
Salzmann, Sasha Marianna

Außer sich


weniger gut

Пошёл ты!

Die bisher als Dramatikerin bekannte Sasha Marianna Salzmann hat es mit «Außer sich» auf Anhieb ins Finale des Deutschen Buchpreises geschafft, «Ein Debütroman mit großer sprachlicher und dramaturgischer Kraft» hat die Frankfurter Jury ihre Wahl begründet. Begonnen hat die in Wolgograd geborene und 1995 als Zehnjährige mit ihren jüdischen Eltern nach Deutschland emigrierte Schriftstellerin ihren ersten Roman während eines Stipendiums in Istanbul. Die türkische Metropole dient hier als exotischer Schauplatz ihrer Geschichte einer sehr rigorosen Selbstfindung.

Die Zwillinge Alissa und Anton wachsen fast schon symbiotisch aneinanderhängend in prekären Verhältnissen in Moskau auf, sie landen nach der Ausreise zunächst in einem Asylantenheim tief in der deutschen Provinz. Den Eltern gelingt aber ein bescheidener Aufstieg, Alissa beginnt sogar ein Mathematik-Studium in Berlin, das sie dann bald wieder abbricht, weil es sie zu stark am Boxtraining hindert (sic!). Als Anton spurlos verschwindet und nach geraumer Zeit eine Postkarte ohne Text und Absender aus Istanbul eintrifft, beschließt Alissa, ihn dort zu suchen. Dieses Handlungsgerüst dient der Autorin in ihrem vier Generationen umfassenden Epos einer von den politischen Umbrüchen Europas gebeutelten Familie als Basis für weit ausholende Rückblicke auf das Leben der Eltern und Großeltern Alissas. Die Intensität und Schonungslosigkeit dieser familiären Nabelschau auf der einen Seite, die kompromisslose, keine Grenzen kennende Suche nach sich selbst, nach dem Sinn hinter alldem auf der anderen Seite, gerät der Autorin zu einem ebenso verstörenden wie tabulosen Seelenstriptease Alissas.

«Ich bin nicht wie du», sagt sie einmal zu ihrer Mutter, «ich bin kein Tier, das vor sich hin grast und alles hinnimmt, wie es kommt. Ich will nichts von diesem Leben, in dem es alles gibt, aber niemand etwas will. Ich will nichts von diesem Schnickschnack, den ihr für die Erfüllung eures Lebens haltet, weil ihr sonst nichts habt, woran ihr glauben könnt.» Mehr Kapitalismuskritik geht kaum, und so gleitet Alissa tief in ein Istanbuler Milieu ab, das kleinkriminell geprägt ist, eine Schwulen- und Transgender-Szene mit Drogen, Alkohol, Prostitution. Hedonisten unter den Lesern wird viel Geduld abverlangt bei den detailverliebten Schilderungen aus dem schmuddeligen gesellschaftlichen Untergrund, es wird geschwitzt, gestunken, gepisst, gekotzt, gefickt bei endlosen Streifzügen durch vermüllte Abbruchhäuser und Kellerlöcher, die mit verwanzten, verdreckten Matratzen und ohne auch nur minimalistische Hygiene der Heldin als jederzeit von Auflösung bedrohte, improvisierte Bleibe dienen. Und die anarchische Alissa hadert letztendlich auch mit ihrem Geschlecht, sie versucht wie viele in der Szene mit Testosteronspritzen ihren rein körperlichen Sexus dem innerlichen, gefühlten anzugleichen.

Aus Sicht Alissas - mal in der ersten, mal in der dritten Person - erzählt die Autorin ihre Geschichte in einer klaren, unprätentiösen Sprache, teilweise aus einiger Distanz und dann auch wieder sehr nahe bei ihrer Protagonistin. Neben dem im Russischen scheinbar unvermeidlichen Namenswirrwarr, bei dem hier eine vorangestellte Personenliste allerdings darüber aufklärt, dass Etja, Etina und Etinka oder Katho, Katharina und Katüscha jeweils die gleiche Person meint, haben mich die häufigen kyrillischen Einsprengseln irritiert, die fast alle ohne Übersetzung bleiben. Bis auf «verpiss dich!», für das ich dann auf Russisch im Internet eine andere Formulierung fand als im Buch, «Пошёл ты!» nämlich. Was soll das also! Besonders gefallen haben mir die anschaulich erzählten Kapitel über die russischen Großeltern, die ein wenig über Alissas unappetitliche Abenteuer in der Transgender-Szene Istanbuls hinwegtrösten, bei denen mir öfter mal unwillkürlich etwas ähnliches wie Пошёл ты herausgerutscht ist. Ein sperriger Roman also, rätselhaft, hoch komprimiert erzählt zudem, der weitab vom Mainstream angesiedelt ist.

Bewertung vom 12.10.2017
Die Hauptstadt
Menasse, Robert

Die Hauptstadt


gut

Brüssel oder Auschwitz

Neueste in der langen Reihe von Ehrungen für den österreichischen Schriftsteller Robert Menasse ist der ihm vor drei Tagen verliehene Preis der Frankfurter Buchmesse für den Roman «Die Hauptstadt». Er hat damit den weltweit ersten EU-Roman veröffentlicht, ein Panorama der europäischen Eliten, eine Farce aber auch über die Brüsseler Verhältnisse abseits der Blitzlichtgewitter und rituellen Statements von Spitzenpolitikern, wie man sie aus den Medien kennt. Der europa-politisch engagierte Autor, der sich schon vielfach in Essays und Traktaten mit der europäischen Idee beschäftigt hat, greift hier mit dem Moloch der Brüsseler Bürokratie ein literarisches Thema auf, das in dem schwierigen Fahrwasser, in dem sich die EU derzeit befindet, manchem allein von der guten Absicht her schon preiswürdig erscheinen mag.

«Da läuft ein Schwein». Mit dem ungewöhnlichen Rahmenmotiv eines durch Brüssel irrlichternden Schweins, das im Roman immer wieder mal kurz auftaucht, beginnt Menasse seinen Prolog, sicherlich auch in Hinblick auf die allfälligen Konnotationen. Und wie man bald erfährt, stammt eine seiner Figuren von der EU-Kommission prompt aus dem agrarischen Milieu, sein Bruder betreibt einen Schweinemastbetrieb und ist als Lobbyist in Brüssel aktiv, um von dem gewaltigen Agrar-Etat der Gemeinschaft möglichst viel zu ergattern. Vergleichsweise winzig sind dagegen die Gelder, die Fenia Xenopoulou von der Generaldirektion Kultur zu Verfügung stehen. Sie hat den schwierigen Auftrag, das arg ramponierte Image der Kommission mit einer Feier zu ihrem fünfzigjährigen Bestehen aufzupolieren, - Musils «Parallelaktion» als literarisches Vorbild also! Und sie gewinnt Gefallen an der Idee, dafür Auschwitz heranzuziehen, den Fokus der Gemeinschaft also weg vom kleinteilig Ökonomischen auf das universal Moralische, auf das historische Grauen zu richten, das die Gründungsväter Europas mit ihrem Zusammenrücken ein für alle Mal politisch bannen wollten, nach dem Motto: Nie wieder!

In diversen, fragmentarisch erzählten Handlungssträngen entwickelt Menasse das anschauliche Bild eines engen Geflechts von karrieregeilen Akteuren, die mit- und gegeneinander arbeitend in Think-Tanks nach kreativen Lösungen suchen für die geplante Feier, - oder sie, im Hintergrund und mit geschickten Winkelzügen, schnöde hintertreiben. Der nach außen hin erratische Block der Kommission wird hier zum lebendigen Organismus europäischer Eliten, in dem der Einzelne als das berühmte Rädchen im Getriebe fungiert, sich damit für ein großes Ganzes engagierend. Das im Roman verwendete Insider-Kauderwelsch ist allerdings sehr gewöhnungsbedürftig für den Leser, und die vielen fremdsprachigen Textschnipsel sind ebenfalls nicht gerade leserfreundlich.

Der Plot ist mit einem Mordfall angereichert, dessen spurlose Tilgung aus allen Akten und Datenbanken auf die große Politik hinweist, die Nato ist im Spiel, und da ist alles möglich, es gibt schließlich ja auch noch eine supranationale, vatikanische Killertruppe. Eine der Figuren kommt bei dem Attentat im U-Bahnhof Maelbeek (sic!) ums Leben, und der emeritierte Professor aus einer Nazi-Familie fordert gar in seiner Einführungsrede die Gründung einer neuen europäischen Hauptstadt auf dem Boden von Auschwitz als symbolträchtigem Standort. Das Schwein aber erscheint plötzlich als Hirngespinst einiger überspannter Bewohner Brüssels, das Boulevardblatt lässt ihre hysterisch aufgeblähte Serie daraufhin sang und klanglos in der Versenkung verschwinden. Menasse erzählt seine vielschichtige, zuweilen tief in die Vergangenheit zurückgreifende, turbulente Geschichte durchaus ironisch, er verbindet dabei gekonnt ziemlich disparate Themen miteinander, wobei mir seine überwiegend männlichen Figuren jedoch arg überzeichnet vorkommen. Der große Wurf ist dieser Roman literarisch bestimmt nicht, Buchpreis hin oder her, aber er erweitert den Horizont und ist zudem unterhaltsam, mithin also durchaus bestsellertauglich.

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 09.10.2017
Romeo oder Julia
Falkner, Gerhard

Romeo oder Julia


schlecht

Orgasmusfrühstück

Folgt man der Definition Goethes, ist diese Prosa Gerhard Falkners mit dem deskriptiven Titel «Romeo oder Julia» eine Novelle, kein Roman, erzählt sie doch eindeutig von einer «unerhörten Begebenheit», die sich ereignet hat. «Die in Teil 1 ‹Innsbruck› geschilderten Vorfälle haben in allen Details so stattgefunden», lässt uns der Autor in seiner Nachbemerkung wissen. Dass hier (mal wieder) ein Schriftsteller als Protagonist fungiert (sic!), weist ja überdeutlich auf die autobiografische Basis des Erzählten hin. So was muss kein Nachteil sein, zeugt andererseits aber auch nicht gerade von besonderer Kreativität, geschweige denn Phantasie des Schriftstellers, seine Thematik betreffend.

Ich-Erzähler Kurt Prinzhorn, angesehener Lyriker, viel beschäftigter Teilnehmer an allerlei literarischen Tagungen und Bohemien mittleren Alters, wird in Innsbruck zum Stalking-Opfer. Jemand ist in sein Hotelzimmer eingedrungen und hat offensichtlich dort ein Bad genommen, lange schwarze Haare und Seifenreste in der von ihm nicht benutzten Badewanne sind eindeutige Indizien. Polizei und Hotelleitung sind eher skeptisch und bleiben es auch dann noch, als später der Schlüsselbund und eine Mappe mit Notizbüchern des Poeten aus seinem Zimmer verschwinden. In den zwei Teilen «Moskau» und «Madrid» der dreiteiligen Geschichte wird Kurt anschließend mit unter der Zimmertür durchgeschobenen Zetteln rätselhaft wirren, auch obszönen Inhalts belästigt, bis sich im dramatischen Showdown am Ende dann alles aufklärt, - für den Leser kaum überraschend übrigens.

Die Erzählung beginnt sprachlich gekonnt in einem mit feiner Ironie angereicherten, angenehm lesbaren Plauderton, chronologisch und sehr plausibel erzählt, mit eher knappen Dialogen. Dabei empfindet man die häufigen Abschweifungen in Literatur, Kunst und Popkultur durchaus bereichernd, wobei sich die Intertextualität dieser Prosa weitgehend auf Lyrik bezieht, der «Ort ohne Eigenschaften» für ein langweiliges Kaff im Nördlinger Ries ist da die löbliche, schon fast geniale Ausnahme. Als intertextuell kann man demgegenüber schon «Raskolnikow» nicht mehr werten, - denn der erscheint hier nicht als Metapher, sondern als von Kurt so getaufter, hungriger Moskauer Straßenköter. Gerhard Falkner nutzt die literarische Insider-Perspektive aber auch für einige ebenso amüsante wie drastische Seitenhiebe auf seine Zunft und gefällt sich in von ihm geschaffenen, verblüffenden Neologismen, zu denen auch das von mir im Titel genannte «Orgasmusfrühstück» gehört. Womit ein weiteres Stichwort gegeben ist, diese Geschichte wird aus einer unverhohlen machohaften Perspektive erzählt, bei der die Frauen dem chauvinistischen Helden geradezu nachlaufen und ihm widerstandslos erliegen, so er denn interessiert ist. Elke Heidenreich hat für solcherart selbstgefällige Erzählerpose bei einem deutschen Nobelpreisträger mal sehr zu Recht den Begriff «eklige Altmännerliteratur» geprägt. Für Zweifler sei vorsorglich angemerkt, dass der Rezensent ein Mann ist, - mit allem, was einen solchen ausmacht -, und keineswegs eine kampfeslustige Feministin!

Der Plot verliert im zweiten Teil deutlich an Fahrt, in Moskau wurde nur maßlos gesoffen, ist mir als Leser gerade noch in Erinnerung geblieben, und in Madrid schließlich tändelt der egozentrische Held mit einer schönen, toughen Frau herum, die man diesem durch nichts zu beeindruckenden, sich selbst aber allzu wichtig nehmenden Unsympath gar nicht gönnt. Der eitle Smalltalk bei den literarischen Treffen nervt den Leser irgendwann gewaltig, und der zuweilen durchscheinende schizophrene Hintergrund des Plots bleibt Beiwerk, er wird vom Autor nicht weiter thematisiert. Das eher lustlose Ende zeigt nichts mehr von der anfänglichen Erzählkraft des Autors und wirkt in seiner Vorhersehbarkeit geradezu kitschig, es läuft zudem so rasant ab, dass man sich als Leser über die vielen, für das Wodkasaufen in Moskau verschwendeten Seiten noch nachträglich ärgert.

Bewertung vom 08.10.2017
Schlafende Sonne
Lehr, Thomas

Schlafende Sonne


weniger gut

Poetologische Phänomenologie

Mit «Schlafende Sonne» ist der erste Teil des Opus Magnum von Thomas Lehr erschienen, dem zwei weitere folgen sollen. «Wird fortgesetzt» lesen wir also am Ende, doch so mancher Leser wird spätestens da, wenn er denn überhaupt so weit gekommen ist, entnervt aufstöhnen: «Aber ohne mich!» Denn indem der Autor schon im Motto mit dem Phänomen der Spirale seinem Roman dessen formales Prinzip voranstellt, weist er auch gleich auf ein narratives Chaos hin, dem er in seinem unkonventionellen Text immer wieder vom Innern einer erzählerischen Spirale her beizukommen sucht. Es wird also nicht linear erzählt, sondern ohne erkennbare Chronologie vom stofflichen Zentrum her in sich drehenden, geradezu verwirbelten Erzählsträngen, die lesend nachzuvollziehen mehr als anstrengend, häufig gar unmöglich ist. Verliert also der arglose Leser in dieser fragmentierten Erzählung die Orientierung, was voraussehbar ist, liegt das ganz gewiss nicht an seinem rezeptiven Unvermögen, soviel vorab.

Dreh- und Angelpunkt der Geschichte mit ihren drei Protagonisten ist ein einziger Tag im August 2011, an dem die Künstlerin Milena Sonntag im Berlin ihre große Werkschau eröffnet. Ihr Ex-Geliebter Rudolf Zacharias, einst ihr Philosophie-Professor, reist extra aus Tokio an, ihr Ehemann Jonas, dessen Statement «Ich bin nur Physiker» ihn in intellektuellen Disputen der Künstlergemeinde stets aus der Schusslinie nimmt, holt ihn am Flughafen ab. Das ist auch schon die eigentliche Handlung, die wegen ihrer eintägigen Dauer unwillkürlich an Joyce erinnert. Aber anders als im «Ulysses» stehen hier nicht die Protagonisten im Zentrum der Erzählung, sondern die Geschichte Deutschlands selbst in politischer, gesellschaftlicher, wissenschaftlicher Hinsicht, und zwar über einen Zeitraum von etwa hundert Jahren hinweg. In den vielen die Seiten füllenden, aus der leitmotivischen «Spirale» heraus sich entwickelnden Erzählkreisen werden intellektuell anspruchsvoll philosophische, physikalische, kunsttheoretische, universitäre, historische, soziologische Themen behandelt. Die so entstehenden erratischen Bilder jedoch sind ohne inneren Zusammenhang, vieldeutig und kaum zu entschlüsseln, auch mit Hilfe des zweiten Leitmotivs «Sonne» nicht.

Muss man also, wie in Feuilleton zu lesen war, den Roman mehrmals lesen, um ihn wirklich zu verstehen? Man könnte den sich radikal außerhalb aller Konventionen stellenden Erzählstil Lehrs, seine eher technisch als poetologisch angelegte Sprache, als provokativ empfinden. Inwieweit der auf diese Art bewerkstelligte Einblick ins deutsche Bewusstsein wirklich Erkenntnis fördernd ist, hängt einzig vom Erfahrungshintergrund des jeweiligen Lesers ab. Der Roman schließt nach meiner Einschätzung aber weite Leserkreise von einer bereichernden Wirkung der Lektüre mit Sicherheit aus, zu akademisch hochgestochen wird hier schwadroniert, quasi nach Bildungsbürgerart. «Ich bin vielfach ungebildet» hat der Autor mit einem Musil-Zitat eine entsprechende Frage abgewiegelt, meinen Nonsens-Verdacht damit erhärtend. Denn ob das akademische Parlando des Romans einer fachlich kritischen Prüfung standhält, vermag ich zwar nicht zu beurteilen, es bleibt aber doch fraglich.

Ohne Zweifel schreibt Thomas Lehr auf höchstem Niveau, virtuos immer wieder die Erzählperspektiven wechselnd. Er erzeugt mühelos hoch assoziative Bilder in seinem breit angelegten deutschen Panorama, in dem Alltagsleben oder ökonomische Aspekte ausgeblendet bleiben und Sex als eine fast schon artistische Zweckübung behandelt wird, bei der Erotik kaum eine Rolle spielt. Die Figuren des Romans sind wenig lebensecht, zudem intellektuell maßlos überzeichnet, und manche der weit ausholenden Erzählbögen führen einfach nur ins Leere. In dem für die Shortlist des diesjährigen Buchpreises nominierten Roman ist der Inhalt der Form derart radikal untergeordnet, dass der Leser größte Mühe hat, auch nur ein Gran Sinn in das Ganze zu bringen. Schade eigentlich!

Bewertung vom 07.10.2017
Die Kieferninseln
Poschmann, Marion

Die Kieferninseln


gut

Clash of Cultures

Die mit vielen Ehrungen überhäufte Schriftstellerin Marion Poschmann ist heuer mit ihrem neuen, dem vierten Roman «Die Kieferninseln» bereits das zweite Mal unter den Finalisten des Deutschen Buchpreises, sie gilt einigen sogar als Favoritin. Wir haben es dabei mit einer federleicht geschriebenen Tragikkomödie zu tun, die in Japan spielt und Witz wie auch Tragik aus dem Zusammenprall zweier unterschiedlicher Kulturen zieht, verkörpert zudem durch zwei einsame Protagonisten, wie sie konträrer nicht sein könnten.

«Er hatte geträumt, dass seine Frau ihn betrügt», lautet der erste Satz des Romans. Privatdozent Gilbert Silvester, Kulturwissenschaftler ohne Fortune, der im Rahmen eines Drittmittelprojekts über Bartfrisuren forscht, ist auch am selben Abend noch fest von ihrer Schuld überzeugt und stellt sie zur Rede. Es kommt zum Streit, wütend rafft er ein paar Sachen zusammen, verlässt das Haus und fährt zum Flughafen. Auf Seite zwei schon sitzt er in einem Airbus nach Tokyo, es war der früheste Interkontinentalflug, den er buchen konnte. Als er in der japanischen Metropole ziellos herumstreift, bemerkt er auf einem Bahnhof einen jungen Mann, der offensichtlich Suizid begehen will. Er bringt ihn davon ab, indem er ihm klar macht, wie vulgär doch ein Bahnhof sei für sein Vorhaben. «Wir finden einen besseren Platz», verspricht Gilbert und nimmt den Petrochemie-Studenten Yosa Tamagotchi, der trotz ordentlicher Noten unter extremer Prüfungsangst leidet, mit in sein Hotel.

Indem die Autorin ihrem Protagonisten den Namen jenes virtuellen Kückens gibt, das Ende der neunziger Jahre weltweit einen kurzzeitigen Hype ausgelöst hatte, betont und verdeutlicht sie dessen Hilfsbedürftigkeit. Gilbert entdeckt den Samariter in sich, er will Yosa helfen, einen würdigen Ort für seinen Suizid zu finden. Gemeinsam begeben sie sich auf den Spuren des berühmten japanischen Haiku-Dichters Matsuo Bashō an jene mystischen Orte, die er auf seiner legendären Pilgerreise Ende des 17ten Jahrhunderts besucht hatte und deren Endpunkt damals die Bucht von Matsushima war, - die Kieferninseln. Der gemeinsame Trip ist natürlich geprägt vom erwartbaren Clash of Cultures, den die Autorin geschickt einwebt in ihre leichtfüßig, zuweilen auch lakonisch erzählte Geschichte. Entsetzt merkt Kaffeetrinker Gilbert zum Beispiel erst im Flugzeug, dass Japan ja zu den Teenationen gehört. Und dass es dort ethnisch bedingt auch kaum Bartträger gibt, also keine für seine Studien verwertbare Bartkultur, - auch Yosa hat nur ein dünnes Ziegenbärtchen, und auch das ist nur angeklebt, wie sich später herausstellt. Und wenn sich ein Zugschaffner bei Gilbert für dreißig Sekunden Verspätung entschuldigt, erscheint ihm als Kunden der Deutschen Bundesbahn das schon fast überirdisch.

Die Geschichte wird zu weiten Teilen in Form der inneren Rede aus der Perspektive Gilberts erzählt, ein echter Gedankenaustausch zwischen den beiden einsamen Männern scheitert an den englischen Sprachkenntnissen Yosas. Es gibt zudem keine markanten Nebenfiguren im Roman, alles ist nebelhaft und unbestimmt, auch Gilberts Frau und Yosas Familie bleiben völlig profillos. Wahrhaft irrwitzig ist die Szene im Selbstmordwald Aokigahara am Fuße des Fuji, den Umweltschützer einmal im Jahr von verwesten Leichen säubern, 102 Tote waren es im Jahre 2003, - auch hier übrigens ein literarischer Nachahmeffekt wie bei Goethes Werther. Es gelingt der Autorin mühelos, die schon fast hysterische Naturliebe der Japaner poetisch umzusetzen, ihr Held Gilbert ist am Ende tief in die japanische Mentalität mit ihren strengen Ritualen eingetaucht, wovon insbesondere die Haiku zeugen, die er eifrig verfasst bei seiner roadtripartigen Sinnsuche. Ein pikaresker Roman, morbide zugleich und damit auch irritierend, der unbestimmt zwischen Traum und Wirklichkeit pendelt, in der zweiten Hälfte dann leider einiges von seinem Esprit verliert, das Ende aber immerhin wohltuend offen lässt.

Bewertung vom 26.09.2017
Die Pest
Camus, Albert

Die Pest


ausgezeichnet

Zwischen den Toten der Nacht und den Sterbenden des Tages

In seinem Roman «Die Pest» von 1947 hat Nobelpreisträger Albert Camus viel selbst Erlebtes verarbeitet, wozu neben dem Handlungsort Oran insbesondere das Bedrückende der politischen und militärischen Situation im besetzten Frankreich, seine langen Klinikaufenthalte wegen seiner Tuberkulose und die ebenfalls lange Trennung von seiner Frau gehören. Innerhalb seiner mit existentialistischen Motiven angereicherten Philosophie des Absurden erscheint hier dominant das Element der Revolte im Sinne von Auflehnung, von Protest gegen die Zumutung des Daseins, die unbegreifliche Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz. Und zur Revolte als ständiger Handlungsmaxime im Werk von Camus gehört untrennbar die Solidarität, der uneingeschränkte Respekt vor dem anderen. Insoweit ist der berühmte Roman eine Art groß angelegte Meditation über die menschliche Existenz als solche. Das Nobelkomitee erkannte ihm den Preis zu «für seine bedeutungsvolle Verfasserschaft, die mit scharfsichtigem Ernst menschliche Gewissensprobleme in unserer Zeit beleuchtet».

Zum Elend dieser Welt zählt für den Menschen ohne Zweifel an erster Stelle der Tod als unabwendbarer Endpunkt seiner Existenz. Und eine tödliche Seuche wie die Pest wirft da natürlich zuallererst die Frage der Theodizee auf, das menschliche Dasein scheint in Hinblick darauf absurd, ein um sich greifender Atheismus ist die Folge. Als Gegenkräfte nennt Camus vor allem die Solidarität, die er als neue Art des Humanismus begreift, sowie Freundschaft und Liebe, für die es sich zu kämpfen lohne und die zusammen jene menschliche «Wärme» erzeugen können, die er als elementarstes Bedürfnis der Menschheit definiert.

Ein Ich-Erzähler berichtet von einem seltsamen, rasant um sich greifenden Rattensterben in der algerischen Hafenstadt Oran in den 1940er Jahren. Der Protagonist Dr. Bernhard Rieux deutet anhand der Symptome die sich ebenfalls häufenden Todesfälle unter den Bewohnern schon bald als Beginn einer Pestepidemie und stemmt sich selbstlos der schrecklichen Seuche entgegen. Der Ausnahmezustand wird ausgerufen und die Stadt nach außen hin komplett abgeriegelt. In den folgenden Monaten herrscht in dem als ganze Stadt in Quarantäne genommenen Oran der «Schwarze Tod», dem gegenüber sich der Arzt wie Sisyphos fühlt. Die Deutung der Pest durch Pater Paneloux als Strafe Gottes für die sündigen Menschen lässt Rieux nicht gelten, er gerät darüber in einen heftigen Disput mit ihm. Während des sich in fünf Phasen über ein ganzes Jahr hinweg ersteckenden Verlaufs der Pest begegnet der Leser einer Reihe von Figuren, mit denen Rieux in Kontakt ist. Da ist sein politisch engagierter Nachbar Tarrou, oder der auswärtige Journalist Rambert, der in Oran von der Pest überrascht wurde und nun mit gefangen ist, der verhinderte Schriftsteller Grand, der einen Roman schreiben will, aber schon am ersten Satz scheitert, oder Cottard, ein zwielichtiger Rentner, der von der Pest profitiert und am Ende verrückt wird.

In diesen metaphysischen Roman des Bösen, verkörpert durch die tödliche Seuche, haben Zeitgenossen Anspielungen auf den Zweiten Weltkrieg und die Résistance hinein interpretiert. Die literarische Qualität des Romans kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Lektüre gelinde gesagt beschwerlich ist, nicht nur der bedrückenden Thematik wegen. Denn wenn Rieux, der sich letztendlich als der wahre Erzähler outet, immer wieder durch die staubigen Gassen Orans flaniert, dabei seine Freunde trifft und mit ihnen endlose Gespräche über die Pest führt, ohne dass wirklich etwas geschieht, dann gerät die Lektüre irgendwann zur Geduldsprobe. «Frühmorgens weht ein leichter Wind durch die noch ausgestorbene Stadt. Um diese Stunde zwischen den Toten der Nacht und den Sterbenden des Tages scheint die Pest ihr Wüten zu unterbrechen und wieder Atem zu schöpfen». Sätze fast identischen Inhalts finden sich gleich hundertfach, weniger wäre hier wirklich mehr gewesen!

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Bewertung vom 16.09.2017
Herztier
Müller, Herta

Herztier


weniger gut

Nichts stimmt, aber alles ist wahr

Der zweite Roman der als Banater Schwäbin in Rumänien geborenen Herta Müller unter dem kryptischen Titel «Herztier» ist 1994 erschienen, sieben Jahre nach der Ausreise der späteren Nobelpreisträgerin nach Deutschland. Sein Thema ist die Angst, und wovon sie berichtet ist laut eigener Definition «autofiktonal». Die mit Preisen überhäufte Schriftstellerin war in ihrer Heimat nämlich selbst Pressionen der allgegenwärtigen Securitate ausgesetzt, dem perfiden Geheimdienst des Diktators Ceausescu. Sie wolle mit ihren Texten ausdrücken, wie Diktaturen Menschen ihrer Würde beraubten, hat sie in einem Interview gesagt. Bei der Preisvergabe hatte das Nobelkomitee 2009 explizit auf die «Intensität der von ihr verfassten Literatur» hingewiesen. Auch wenn in den drei Romanen, die ich von ihr gelesen habe, mit der Thematik auch die Tonart wechselt, ist ihr sehr eigenständiger Erzählstil doch gleich geblieben. Ob er uns alle anspricht, ist zumindest fraglich. Das titelgebende «Herztier» nämlich, als Begriff dem rumänischen Neologismus «inimal» als Verschmelzung von inimă (Herz) und animal (Tier) entsprechend, prägt schließlich jeden Menschen auf ganz eigene Weise, auch den lesenden.

Eine namenlos bleibende Ich-Erzählerin berichtet zunächst von Lola, einer jungen Frau vom Lande, die in der Großstadt studiert und mit ihr und vier weiteren Mädchen zusammen ein als «Viereck» bezeichnetes Zimmer bewohnt. Lolas als Flucht in eine andere Welt gedachten, wahllosen sexuellen Kontakte mit irgendwelchen Männern enden so deprimierend, dass sie sich erhängt - und posthum aus Partei und Uni ausgeschlossen wird. Mit Edgar, Kurt und Georg bildet sich sodann ein vierblättriges Kleeblatt von Regimekritikern um die Protagonistin, sie schreiben heimlich Gedichte und treffen sich konspirativ in einem verlassenen Sommerhaus, in dem sie auch verbotene Bücher lesen. Immer wieder verschwinden Menschen auf unerklärliche Weise, und auch die Vier geraten ins Visier der Securitate. Ihre Briefe werden geöffnet, ihre Zimmer durchsucht, und wiederholt werden sie von Hauptmann Pjele verhört. Weil sie nach dem Studium schließlich nacheinander irgendwann aus ihren Arbeitsstellen entlassen werden, verlässt Georg als Erster sein Heimatland und reist nach Deutschland, begeht dort aber schon bald darauf Selbstmord, noch bevor die Erzählerin und Edgar ebenfalls deprimiert ausreisen. Als Teresa, ihre beste Freundin, sie im Westen besucht, wird schnell klar, dass sie nun ebenfalls für die Securitate arbeitet. Kurt, der als Letzter in Rumänien geblieben ist, erhängt sich am Ende, nachdem er dem Westen eine Liste von Fluchtopfern zugespielt hat.

«Bücher über schlimme Zeiten werden oft als Zeugnisse gelesen. Auch in meinen Büchern geht es notgedrungen um schlimme Zeiten, um das amputierte Leben in der Diktatur» hat Herta Müller in einem Essay geschrieben. Sie erzählt ihre Geschichte in einer hoch poetischen, äußerst assoziationsreichen, aber gleichzeitig auch sehr robust wirkenden Sprache, bei der sie insbesondere auf den Rhythmus achte, ihre Sätze also zur Kontrolle selbst laut lese. Und zu ihrem Sprachstil merkt sie an: «Ich mag keine abstrakten Begriffe in meinen Texten. Das Wort Diktatur zum Beispiel würde ich nie schreiben».

Es sind die Leerstellen in ihrer fragmentierten Prosa, der oft fehlende logische und semantische Zusammenhang, das unstrukturierte Geflecht der heraufbeschworenen, sich allzu oft widersprechenden oder sinnlos scheinenden Assoziationen, ihre eigensinnigen Sprachbilder also, die das Lesen dieses Romans ziemlich schwierig machen. «Nichts stimmt, aber alles ist wahr» hat Herta Müller zu ihrer poetologischen Arbeitsweise angemerkt. Was ich so interpretiere, dass man sich als ihr Leser aus dem Wahren selbst das Stimmige konstruieren soll, sich also die eigene Wirklichkeit erschaffen muss mit ganz individuellen Bedeutungen. Das mag für manchen Leser erfreulich sein, war es für mich allerdings ganz und gar nicht!