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Juti
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Insgesamt 632 Bewertungen
Bewertung vom 09.02.2018
Das Floß der Medusa
Franzobel

Das Floß der Medusa


sehr gut

Die Seefahrt ist kein Mädchenpensionat

Und dann darf es, ja muss es auch hart zu gehen. Etwa beim Schiffsjungen Viktor, der in die Besatzung mit makaberen Späßen eingeführt wird. Oder auch auf dem Floß, von dessen 147 Mitfahrern nur 15 gerettet werden. Einem wird vom Hai der Unterleib abgebissen. Nicht schön. Im Buch wird auch die Überwindung deutlich, die notwendig ist, um Menschenfleisch zu essen, wenn es sonst keine andere Überlebensmöglichkeit gibt. Lange ringt Schiffsarzt Savigny mit seinem Gewissen. Auch der immer wiederkehrende Bezug zu Gott bis hin zum Vergleich mit der Eucharistie als Beruhigung liest sich überzeugend.

Aber wollen wir wirklich wissen, dass Savigny auf dem Floß sich impotent fühlt? Franzobel hat eine echte, übertriebene Liebe zu Körpersäften.

Mir gefällt, dass trotz des Einstieg, der Rettung der 15 und der Rückkehr nach Heimkehr Hosea Thomas nach Limoges, die Spannung nicht verloren geht. Das erinnert an den Beginn von Leïla Slimani: „Dann schlaf auch du“.
Der chronologischen Teil von der Abfahrt der Medusa bis zum Beginn des Strandens auf der Sandbank ist der schwächste Teil des Buches. Zweifellos muss die historisch belegte misslungene Rettungsaktion beim Mann über Bord erzählt werden. Ist aber auch das tödliche Auspeitschen wegen Fluchens historisch belegt? Hier zieht es sich ein wenig.

Die letzten 200 Seiten sind spannend wie selten. Und nichts bleibt unerwähnt. Weder die Zurückgebliebene auf der Medusa noch die durch die Wüste wandernden noch die spätere Gerichtsverhandlung gegen den Kapitän. Das Floß steht natürlich im Mittelpunkt. Die Rahmengeschichte von Viktor Aisen gehört zu einem guten Roman dazu.
Heute drängen sich Vergleiche auf: mit dem unfähigen Kapitän der Costa Concordia, mit den Flüchtlingen aus Afrika, die nun in Gegenrichtung versuchen Europa zu erreichen und von uns, vorsichtig gesagt, nicht immer menschlich behandelt werden. Thea Dorn sieht sogar eine Beschreibung des Präsidenten Trump, der als unfähiger Kapitän sein Land navigiert, während die fähigen Offiziere nur zuschauen, aber nicht eingreifen, um die kommende Katastrophe zu verhindern.

Insgesamt ziehe ich aber doch einen Stern ab, da manche Gewaltszenen auch mir zu selbstverliebt beschrieben werden. 100 Seiten weniger und wir hätten ein Meisterwerk.

Bewertung vom 05.02.2018
Die Geschichte der Bienen / Klima Quartett Bd.1
Lunde, Maja

Die Geschichte der Bienen / Klima Quartett Bd.1


weniger gut

Dem meist verkauften Buch 2017 kann ich nur 2 Sterne geben.

Inhaltlich ist alles gesagt, also gleich in die Bewertung.
Die Geschichte mit Tao fängt interessant an, dann passiert das Unglück. Und dass im Jahre 2098 Teile Pekings nicht bewohnbar sein sollen, klingt für mich doch eher unwahrscheinlich. Es gibt ein Buch, dass diese Geschichte mit den anderen verbindet. Aber muss man nicht von der Rückkehr der Killerbienen sprechen?
Die Geschichte mit George verwundert mich noch mehr. Hier geht es um einen Familienvater, der unbedingt will, dass sein Sohn seinen Hof übernehmen will. Reich-Ranicki sagte mal, er könne kein Buch lesen in dem der Hauptdarsteller ein Dummkopf ist. Das trifft auch hier zu. Außerdem erfolgt das Problem, das plötzliche Verschwinden der Bienen, erst auf Seite 318.
William, der Erfinder eines Bienenstocks, der aber für sein Patent zu spät kommt, gefällt mir noch am besten. Es wird dargestellt, wie er aus einer Depression erwacht und seinen Sohn als Nachfolger sich wünscht, obwohl seine Tochter Charlotte viel klüger ist. Das mag man noch mit der Zeit des 19. Jahrhunderts erklären.
Weiterhin will ich der Autorin zu Gute halten, dass sie sich mit einem wichtigen Thema beschäftigt. Sprachlich merkt man ihr ihre Vergangenheit als Kinderbuchautorin an.

Bewertung vom 01.02.2018
Wiener Straße
Regener, Sven

Wiener Straße


sehr gut

Ein „Heimatroman aus dem alten Kreuzberg“ (SZ) und das trifft den Nagel auf den Kopf.

Dieses Buch verbreitet die Stimmung, die Nicht-Berliner von Berlin-Kreuzberg erwarten. Pro Kapitel werden bis auf das letzte immer zwei Geschichten erzählt. Eine im Cafe Einfall in der Wiener Straße und eine andere von einem Protagonisten, im ersten Kapitel zum Beispiel wie H.R. eine Motorsäge im Baumarkt kauft.
Das alles wird mit viel Humor geschildert, teilweise schräg. Spannung kommt kaum auf und Erotik fehlt im Grunde auch, selbst wenn ein Name P. Immel ist.

Ich glaube, es wäre nicht schwer mitten im Buch anzufangen. Das Niveau entspricht eben der Kreuzberger Szene. Longlist ist o.k. Sollte aber Sven Regener mit seinen "Herrn-Lehmann-Romanen" tatsächlich mal den Deutschen Buchpreis gewinnen, müssten wir wohl von einem Krisenjahr der deutschen Literatur sprechen. 4 Sterne

Bewertung vom 30.01.2018
Utopien für Realisten
Bregman, Rutger

Utopien für Realisten


sehr gut

Kluge Ideen in verständlicher Sprache

Da staunt ihr deutschen Professoren! Ein Niederländer, 1988 geboren, zeigt, dass ein Sachbuch keine Fachsprache benötigt. Gut verständlich beschreibt der Autor, dass der Kapitalismus uns immer reicher gemacht hat. Selbst in Afrika ist die Lebenserwartung heute höher als in Europa um 1800. Auch die Zahl der Kriege und die Gefahr Opfer eines Verbrechens zu werden nimmt prozentual ab (wobei der Autor nicht auf die gestiegene Weltbevölkerung eingeht).
Dank dieses Reichtums gebe es genug Geld für ein Grundeinkommen. Der Autor führt Beispiele aus den USA an, wo Präsident Nixon dieses in den 60er Jahren fast eingeführt hätte. Auch in Kanada und im englischen Speenhamland gab es schon im 20.Jahrhundert Modellversuche, die aber falsch ausgewertet wurden.

Zur Bekämpfung von Kinderarmut sei es am besten, den Familien einfach mehr Geld zu geben. Armut macht nämlich dümmer. Auch gegen Obdachlosigkeit würde mehr Geld am besten helfen. Unser Reichtum ist immer ungleicher verteilt (das hat aber schon Piketty gezeigt).
Unsere Gesellschaft beruht auf der „falsche[n] Vorstellung, die wir vor 40 Jahren beinahe überwunden hätten: auf den Trugschluss, ein Leben ohne Armut sei kein Recht, auf das alle Menschen Anspruch hätten, sondern ein Privileg, für das man arbeiten müsse.“ (S.100)

Überhaupt scheint es schwierig, wie man den Fortschritt ermitteln kann. Die wichtigsten Indikatoren BSP und BIP messen nämlich nicht den Wohlstand. Eigentlich müssten wir weniger arbeiten, dank unserem Wohlstand, aber eine 15-Studen-Woche scheitert am wachsenden Konsum, der uns eingeredet wird. Z.B. die Banken: „Anstatt Wohlstand zu schaffen, dienen diese Tätigkeiten im Wesentlichen dazu ihn zu verschieben.“ (S.155) Der Autor folgert zurecht: „Wenn wir wollen, dass in diesem Jahrhundert alle Menschen reicher werden, müssen wir das Dogma über Bord werfen, jede Arbeit sei sinnvoll.“ (S.171)

Natürlich verändert auch der Computer und die Digitalisierung die Arbeitswelt. Gut gefallen hat mir folgender Witz: „Auf die Frage, welche Strategie er in einer Partie gegen einen Computer verfolgen würde, antwortete [der niederländische Großmeister Hein Donner] ohne zu zögern: "Ich würde einen Hammer mitnehmen." (S.195) Ein PC braucht 30 Jahre bis sich seine Wirkung voll entfaltet. Deswegen wird die Wirkung der Digitalisierung heute noch unterschätzt.

Ein wenig zu einfach fand ich das Kapitel über die offenen Grenzen. „Offene Grenzen würden Wohlstand verdoppeln“ meint der Autor und versucht auf 30 Seiten das Flüchtlingsproblem zu lösen, für das z.B. Boris Palmer ein ganzes Buch gebraucht hat.

Im Nachwort gefällt mir der Gedanke, dass Krise ein entscheidender Augenblick ist und von griechisch trennen, scheiden kommt. Auf die Gegenwart passt besser das Wort Koma, was so viel wie tiefer traumloser Schlaf bedeutet.
Ein sehr gut zu lesendes Buch, was manchmal etwas zu stark vereinfacht. Daher 4 Sterne.

7 von 7 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 29.01.2018
Unterleuten
Zeh, Juli

Unterleuten


ausgezeichnet

Interessant, wie Juli Zeh die Wirklichkeit aus verschiedenen Perspektiven erzählt. Man denkt eine Episode sei abgeschlossen, dann wird sie später, mitunter deutlich später aus der anderen Sicht weiter erzählt. Es geht nicht nur um den Streit um einen Windpark, nein, der Streit ist schon vorher da. Alte Geschichten noch aus der DDR- und Wendezeit. Das Buch beschreibt viele starke Frauen, während die Männer mitunter echte Deppen sind und der alte Macher begeht am Ende Selbstmord.
Und wer denkt, der arrogante Wessi baut am Ende den Windpark, der irrt auch, insofern eine interessante Wendung. Sehr lesenswert!

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 27.01.2018
Regentonnenvariationen
Wagner, Jan

Regentonnenvariationen


gut

Ich will nicht verhehlen, dass es mir schwer fällt Lyrik-Bände zu bewerten. Und bei diesem Buch fällt es mir besonders schwer.
Ein herausragendes Gedicht, das sich lohnte auswendig zu lernen, gibt es nicht. Viele Gedichte erzeugen Bilder im Kopf und wenn das Ziel ist, dann ist viel erreicht. So spüre ich beim ersten Gedicht „giersch“, wie die Pflanze in den Garten wuchert.
Es wundert aber schon, dass in der modernen Lyrik ein Reim nicht am Wortende, sondern auch Wörter getrennt werden können. Daneben gibt es eine Vielzahl von Halbreimen und überhaupt keinen Reim.
Das dem Buch namensgebende Stück „regentonnenvariationen“ habe ich überhaupt nicht verstanden und dass Dachshund ein Synonym für Dackel ist musste ich auch erst in Wikipedia nachschlagen. Zwei Preise hat das Buch bekommen. Wohl von Leute, die klüger sind als ich.
3 Sterne.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 13.01.2018
Die Gesellschaft der Singularitäten
Reckwitz, Andreas

Die Gesellschaft der Singularitäten


weniger gut

Professor Reckwitz wird sich freuen. Da schreibt er ein Buch als Soziologieprofessor für seine Studierende und bekommt dafür den Bayerischen Literaturpreis als bestes Sachbuch.

„The winner takes it all.“ So lautet witzigerweise auch eine These des Buches, also zum Beispiel bei einem Youtube-Clip kommt es erst mal darauf an die ersten 500.000 Klicks zu bekommen, der Rest geht von alleine. Matthäus-Effekt wird das an anderer Stelle genannt.

Inhaltlich könnte man das Buch in einem Satz zusammenfassen: In der Gesellschaft der Moderne zählte die Normalität, in der Spätmoderne die Einzigartigkeit, das Besondere oder eben die Singularität.
Dies gilt für Objekte, Subjekte, Räume, Zeiten und Kollektive. Singularitäten entstehen durch Authenzität und gute Bewertungen, die dank der Digitalisierung nicht nur Experten vornehmen. Es gibt kurzzeitige und langzeitige Singularitäten. Singularitäten führen zu einer Spaltung der modernen Gesellschaft, die nicht nur den Weg nach oben kennt, weshalb der Autor den Begriff „Paternostereffekt“ einführt. Sie wirken sich auf alle Bereiche aus wie Essen, Wohnen, Reisen, Körper, Erziehung und Schule.
Sogar zwischen Städten entsteht ein Wettbewerb und auch die neuen politischen Strömungen lassen sich mit Singularitäten erklären.

Wäre ich jetzt ein Student, würde diese Zusammenfassung wohl nicht ausreichen. Das Buch eignet sich gut zum Lernen, da häufig mit erstens, zweitens, drittens… klar gegliedert wird, aber als Sachbuch für die Allgemeinheit schreckt die Sprache doch sehr ab. Fast jeder Satz enthält ein Fachwort und wirklich alles wird definiert (selbst wie ein Computer arbeitet).
Mehr Kürze und mit 130 Seiten wäre es ein gutes Buch geworden, dazu aber bitte noch eine Sprache auch für Nichtsoziologen. Wahrscheinlich wollte Reckwitz ein solches Buch aber gar nicht schreiben. Unverständlich nur, warum dieses Buch dann Preise bekommt. 2 Sterne

4 von 8 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 06.01.2018
Die Zweisamkeit der Einzelgänger / Alle Toten fliegen hoch Bd.4
Meyerhoff, Joachim

Die Zweisamkeit der Einzelgänger / Alle Toten fliegen hoch Bd.4


ausgezeichnet

Also die ersten 49 Seiten sind die Besten, die ich seit langem gelesen habe.

Aus zwei kreativen Geistern sprüh nur so der Witz der frischen Verliebtheit. „Judith? Was für ein Blödsinn, nie und nimmer heißt die Judith.“, so endet das dritte Kapitel.
Mir gefällt es auch sprachlich sehr: „Ich jedenfalls war äußerlich ein umarmtes Moment und innerlich ein Ameisenhaufen im Ausnahmezustand. Ich schloss meine Augen und wurde schlagartig schläfrig“ (S.34). Diese Alliterationen, diese Bilder.

Ja, auch ich habe die vorherigen Bände gelesen und selten so gelacht, auch wenn der Tod zum Leben dazu gehört. Hier auch, aber im Mittelpunkt steht die Liebesgeschichte zu drei Frauen. Dass dies auch zu Probleme führt, wird vor allem im hinteren Teil beschrieben.
In den Kritiken lese ich, das mit den drei Frauen ginge nicht gut. Ansichtssache. Es geht insofern gut, als keine von Ihnen wirklich Verdacht schöpft. Solche Beziehungen halten natürlich nicht ewig, das ist ja klar.

Der Ich-Erzähler schimpft über sein Leben als Schauspieler. Immer wieder gibt es z.B. Rückblenden bevor ein Darsteller auf der Bühne stirbt, einfach abkratzen geht nicht. Und so wundert sich der Leser, dass Meyerhoff dennoch selbst Rückblenden einbaut, etwa die Elba-Geschichte, in der ich keinen anderen Sinn sehe, als dass sie seine Liebe zur Nacktheit erklären soll.

Da aber der Anfang 6 Sterne verdient hat, sind 5 Sterne für das ganze Buch vollkommen berechtigt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 30.12.2017
Wer den Wind sät
Lüders, Michael

Wer den Wind sät


sehr gut

Mir gefällt dieses Buch besser als sein Neues über Syrien.

Die geschichtliche Einführung mit dem Putsch Mossadeghs in Teheran 1953 war interessanter, da für mich neu.
Lüders Sicht der Dinge ist eine andere als die gewohnte. Aber das macht ihn aus. Schön wäre, wenn er auch wie andere Sachbuchautoren mit Fußnoten und Belegen arbeiten würde und ein Literaturverzeichnis aufführt.
Im Israel-Kapitel nennt er andere Bücher. Damit säumen wir das Buch von hinten auf. Selbstverständlich muss Kritik am Staat Israel erlaubt sein, denn der Umgang mit den Palästinensern hat mit Menschenrechten nichts zu tun.
Das positive Beispiel in der arabischen Welt Tunesien wird erst spät behandelt, Ägypten dafür ausführlich. Ob die Muslimbruderschaft wirklich weniger gefährlich als der Wahabismus und der IS ist, vermutlich ja.
Immerhin gut, dass jemand mal sagt, dass reiche Scheichs aus Saudi-Arabien den Fundamentalismus stützen und die Regierung, obwohl westlich gesinnt, nichts dagegen unternimmt.
Dass die Entwicklung des IS nicht so negativ verlaufen ist, wie 2015 dargestellt, darf man Lüders nicht ankreiden. Dagegen frage ich mich, ob er sich einen Gefallen damit tut, „Bayern München“ (S.93) zu erwähnen. Wer inhaltlich auffällt, muss nicht auch noch mit dem Stil anecken.
Ganz Pazifist ist Lüders übrigens nicht: „Militäreinsätze sind dann sinnvoll, wenn sie punktuell erfolgen und Massaker verhindern helfen, so wie bei den Luftangriffen auf Stellungen des IS zugunsten der Kurden in Kobane und vor Erbil.“ (S.116)
Irak, Syrien und Afghanistan werden auch behandelt, aber es ist alles gesagt. 4 Sterne