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Insgesamt 577 Bewertungen
Bewertung vom 31.08.2007
Berlin Alexanderplatz
Döblin, Alfred

Berlin Alexanderplatz


ausgezeichnet

Die Geschichte des Franz Biberkopfs ist zu einem literarischen Mythos geworden. Alfred Döblin hat mit Berlin Alexanderplatz den modernen Stadtroman vergleichbar mit Manhattan Transfer von John Dos Passos geschrieben. Sein Berlin der Zwanziger Jahre betrachtet er nicht aus dem Palais heraus, er siedelt es im Milieu an, konzentriert es nicht auf Biberkopf allein, es sind die vielen Stimmen, Blicke, Schicksale, die einen Chor ergeben. Die Zutaten sind dabei schrill: Gefängnis, Prostitution, Mord, Verrat doch wird derjenige, der eine Handlung an der Oberfläche sucht, enttäuscht werden. Teilweise ist es wie ein Requiem auf eine schillernde untergehende Zeit geschrieben, als Chronik der Zeitenwende. Ein sprachliches Meisterwerk. Das Leben geschildert wie ein Flackern. Es ist genug Licht da, aber es bewegt sich im Wind, dreht sich, wendet sich, steht nie still. Und plötzlich ist es dunkel und man erinnert sich, daß es da ein Licht gab. Wie es Döblins Berlin der Zwanziger Jahre gab.
Polar aus Aachen

5 von 10 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 31.08.2007
Das Versprechen
Dürrenmatt, Friedrich

Das Versprechen


sehr gut

Wo amerikanische Helden sich, wenn sie von der Gerechtigkeit überzeugt sind, knallhart durchs Leben wühlen und dabei von der Schußwaffe Gebrauch machen, schenkt uns Dürrenmatt seinen Kommissar Matthäi. Er ist davon besessen, ein Versprechen einzulösen, einem Sexualtäter das Handwerk zu legen. Selbst als sich der scheinbare Täter selbst richtet, findet er keine Ruhe und spannt alles in seine private Fahndung nach dem wahren Täter ein. Matthai überschreitet dabei seine eigene moralische Ansprüche und bringt ein Kind in Gefahr, um ein Versprechen zu erfüllen. Betriebsblindheit oder muß der Gerechtigkeit mit allen Mitteln Genüge getan werden? Ein nicht alltäglicher Krimi. Vor allem, weil er auch das Warten thematisiert. Wo in einem amerikanischen Thriller alles Schlag um Schlag geschieht, die Zeit eher schrumpft, als sich zu dehnen, läßt Dürrenmatt zuwarten, den Moment abpassen. Der mysteriöse Riese kommt zu Fall, aber er zieht den Kommissar mit sich. Ein bizarres Spiel mit dem Genre.
Polar aus Aachen

2 von 6 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 31.08.2007
Fromme Lügen
Dische, Irene

Fromme Lügen


sehr gut

Ein Auskommen finden, in der Fremde, während man sich entwurzelt fühlt. Mit diesen Geschichten ist Irene Dische bei uns bekannt geworden und gleich zeigte sich in ihnen jener bizarre, humorvolle Stil, mit denen ihre Geschichten zu verzaubern verstehen. Obwohl das Leben scheinbar trostlos erscheint, ist es nicht hoffnungslos. Man darf darüber lachen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben und versöhnt sich dadurch womöglich mit sich selbst. Ein Alter Mann, den seine Enkel für Adolf Hitler halten. Ein Verstoß gegen die Pietät. So was muß man erst einmal schreiben können. Sie kann es. Und was dem einen als Sarkasmus, als Verletzung von Gefühlen erscheinen mag, als Tabuverstoß, besteht in der Freiheit einer Schriftstellerin, sich keine Grenze aufzuerlegen und uns durch eine Seitentür mitten in ihre Lügen zu führen.
Polar aus Aachen

Bewertung vom 30.08.2007
Turbulenzen
Lee, Chang-Rae

Turbulenzen


ausgezeichnet

Allein die ersten Seiten, auf denen Chang-rae Lees Held Jerry die Welt von oben betrachtet, sind äußerst lesenswert. Hier wird nicht aus der Distanz beschrieben, Jerry Battle muß wieder auf die Erde zurück und ist sich dessen bewußt, daß ihn dort eigentlich alle Katastrophe erwarten, die zwischen zwei Buchdeckel passen. Aber dann passiert das Wunder, der Autor besitzt Humor, er zieht nicht mit uns im Stile Ingmar Bergmanns in die Depression, er berichtet nur davon, daß man nicht vor ihr davonlaufen kann. Egal was die eigene Familie mit einem anstellt. Und vor allem erzählt Chang-rae Lee davon, daß man alles überleben kann. Allerdings ist er kein Lebensberater und flüstert uns geschäftstreibend zu: Sorge dich nicht, lebe. Sein Jerry Battle - Battle ist ja wohl als Pseudonym für kämpfen zu verstehen – läßt die Trauer zu, genauso wie er sich gegen sie zur Wehr setzt. Das ändert nicht viel, für einen selbst aber alles. So daß ein Tag einfach ein Tag bleibt, dem er sich zu stellen hat.
Polar aus Aachen

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 30.08.2007
Schlafende Engel
Collins, Michael

Schlafende Engel


sehr gut

Was ein Kriminalroman zu leisten vermag, sieht man an Michael Collins. Er schleicht nicht blutrünstig durch die Straßen und metzelt möglichst in Serie vorzugsweise Frauen ab, um anschließend detailversessen beim Pathologen zu beschreiben, wie die Tat ausgeführt wurde. Es taucht kein Held auf, der durch seine unbeschreibliche Auffassungsgabe die Zusammenhänge erahnt oder sich einem Kugelhagel entgegenwirft. Collins Figuren sind menschlich, verwirrend, verlogen. Ein kleines Kind wird zweimal überfahren, was zu falschen Verdächtigungen und Halbwahrheiten ausgerechnet bei denen führt, die den Mord aufklären sollen. Im Mittelpunkt steht dabei Lawrence, der seinen Hund im Keller einsperrt, über die Trennung von seinem Sohn nach der Scheidung nicht hinwegkommt, es nicht einmal schafft, als er ihm selber das Wasser bis zum Hals steht, sich über die Grenze nach Kanada abzusetzen. Lawrence sackt während der Ermittlungen ins Bodenlose, weil er sich mit dem Versprechen auf den Posten des Chiefs auf die falsche Seite hat locken lassen. Es ist das Psychogramm eines Verlierers, der nicht die Kraft aufbringt, sich den Verstrickungen zu entreißen, es ist aber auch ein Kaleidoskop von Lebenslügen um ihn herum, die auf das kurze Glück bedacht sind. Faszinierend und fesselnd geschrieben, so daß man lange Zeit nicht ahnt, wohin das alles führen soll und von der Auflösung überrascht wird.
Polar aus Aachen

Bewertung vom 30.08.2007
Die Grasharfe
Capote, Truman

Die Grasharfe


weniger gut

Eigentlich stimmen alle Zutaten. Der Süden, eine schräge Familie, ein absurde Plot um einen Baum, der als letzter Zufluchtsort dient, selbst die Sprache läßt an einigen Stellen erahnen, was möglich gewesen wäre. Norman Mailer bezeichnet Capote als den vollkommensten Stilisten seiner Generation und man kann nur hoffen, daß es nicht an der Übersetzung liegt, daß dieser Roman sprachlich überfrachtet und bedeutungsschwanger daherkommt. Zu keiner Zeit zieht es einen in die Geschichte hinien. Die Dialoge lassen einen Leser außen vor, obwohl der Autor sich um Lokalkolorit bemüht. Leider sind die Anstrengungen, denen Capote sich unterwirft so stark, daß es einem trotz 187 Seiten schwer fällt, dabei zu bleiben. Sein Roman wirkt altbacken, geschwollen. Hier will jemand um jeden Preis Literatur schaffen und überfrachtet Beschreibungen mit Attributen und Adjektiven. Mit Frühstück bei Tiffany wird ihm ein paar Jahre später etwas Subtileres, Leichteres gelingen.
Polar aus Aachen

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 30.08.2007
Reise in die Nacht / Avvocato Guido Guerrieri Bd.1
Carofiglio, Gianrico

Reise in die Nacht / Avvocato Guido Guerrieri Bd.1


gut

Gerichtsdramen spiegeln sich in der Spannung unerwarteter Beweise, von Schuld befreiender Geständnisse, falschen Zeugenaussagen, Masken, die einem Gegenspieler heruntergerissen werden und bewegen sich auf dem Terrain Mann gegen Mann, Anwalt gegen Staatsanwalt., Staatsanwalt gegen Mafia oder Richter gegen den Rest der Welt. Carofiglios Roman spielt mit diesem Sujet gekonnt, indem er auf jegliches Brimborium verzichtet und leise aus dem Leben eines Anwalts erzählt, der eher zufällig zu einem Fall eines wegen Kindsmords angeklagten Immigranten kommt. Er hilft vor allem sich selbst, indem er die Vertretung annimmt. Sein Schlußwort vor Gericht ist furios und dient der eigenen Wiederbelebung. Das macht diesen lesenswerten Roman sympathisch. Und vor allem wird hier der Mörder nicht gefaßt, kommt die einfache Lösung aller Probleme nicht plötzlich hereingeschneit, gaukelt Carofiglio dem Leser nicht vor, die Welt sei gerecht, das Happy End zu jeder Zeit zu erwarten, vielmehr läßt er einen spüren, wie leicht man doch ins Gefängnis kommen kann.
Polar aus Aachen

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 30.08.2007
Schande
Coetzee, J. M.

Schande


ausgezeichnet

Selten bewegt einen eine Geschichte so wie die von David Lurie und seiner Tochter Lucy. Wie tief der Selbsthaß, die Unterdrückung in Südafrika und der daraus entspringenden Wut in den ehemaligen Kolonien des Kontinents sitzt, wird in Schande so eindringlich beschrieben, daß man sie nicht nur diskutieren, sondern auch nachempfinden kann. Abseits jeglichen Versöhnungprozesses leben zerrissene Menschen aller Hautfarben in diesen Ländern. Das Brandmal weißer Herrschaft, ist nicht mit einer Unabhängigkeitserklärung auszulöschen. Doch eigentlich hat David Lurie andere Probleme. Eine Affäre ohne Leidenschaft wird ihm zum Verhängns., so daß er seinen Beruf, sein bisheriges Leben verliert. Auf dem Land bei seiner Tochter will er genesen, doch dort ist die Luft vom Rassismus vergiftet, führt ein brutaler Überfall zu einer unüberbrückbaren Konfrontation zwischen ihnen. Wie weiter leben in diesem Land? Unter Menschen, die auf der Suche sind. Es gibt keinen Kompromiß. Ein Land, das gewohnt ist, daß es nur Oben und Unten gibt, Gewalt an der Tagesordnung ist, sucht sich selbst. Es wird sich finden, mit der Zeit. Solange ist das Leben dieser Menschen hart, karg wie die Sprache, die Coetzee dafür findet. Doch den Leser läßt die Geschichte nicht unberührt zurück.
Polar aus Aachen

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 30.08.2007
Der große Schlaf
Chandler, Raymond

Der große Schlaf


gut

Philip Marlowe, eine Ikone der Kriminalliteratur, vorstellbar nur bei Nacht und in Schwarzweiß, Hard-Boiled, wohltuend anders als die Who-done-it-Stories. Chandler hat einmal behauptet, wenn ihm nichts mehr eingefallen wäre, hätte er einfach einen mit einer Knarre reingeschickt. Und so unterwirft sich die Story vor allem einem: dem Suspense. Das ist an einigen Stellen sehr gewollt zufällig. Aber wer mag einem Philip Marlowe nicht zugestehen, daß es in seinen dreißiger Jahren so zuging. Man muß halt zusehen, daß man zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist. Wie oft ist man das im Leben? Fast so häufig, wie man Schläge in die Fresse bekommt, ohne zu bluten. Wir verzeihen es Chandler. Er hat uns aus der guten Tradition britischer Detektive befreit, die auf den letzten zwanzig Seiten ihre Hauptverdächtige um sich versammelten, um mit unwiderlegbarer Logik einen Täter zu überführen. Dann ziehen wir doch lieber mit Marlowe die Pistole, klopfen nicht an und springen mitten hinein ins Leben.
Polar aus Aachen

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.