Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
TochterAlice
Wohnort: 
Köln

Bewertungen

Insgesamt 1396 Bewertungen
Bewertung vom 27.04.2021
Die Geschichte von Kat und Easy
Pásztor, Susann

Die Geschichte von Kat und Easy


sehr gut

Freundinnen für ein Jahr waren Kat (Katharina) und Easy (für Isi bzw. Isolde) vor langer Zeit. Unzertrennlich damals in den 1970ern, genauer gesagt: 1972/73. Sie haben diese verrückte Zeit zwischen Kindheit und Reife miteinander erlebt, Tage, in denen man unbedingt erwachsener wirken will, als man ist. Und dadurch nicht einmal seiner besten Freundin alles so erzählt, wie es war. Sondern so, wie es sein sollte oder wie es gerade eben am günstigsten war.

Das wurde nicht nur ihrer Freundschaft zum Verhängnis. Nein, etwas viel, viel Schlimmeres, was sogar im engeren Sinne mit dem Umgang mit Wahrheit zu tun hatte, geschah und trennte sie bzw. veranlasste Kat dazu, sich nie mehr bei ihrer damals besten Freundin Easy zu melden.

Die dies jedoch ihrerseits Jahre später tut und Kat zu einer Reise nach Griechenland einlädt. Eine Episode, an der ich aufgrund meiner eigenen Griechenland-Vergangenheit (ich habe dort zur Jahrtausendwende für ein Jahr gearbeitet) meinen besonderen Spaß hatte.

Ein leichter Roman, aber kein oberflächlicher. Einer, der aufzeigt, dass jeder seine eigene Wahrnehmung hat und gar nicht unbedingt so ist, wie man ihn jahrelang gesehen hat. Und auch niemals so war. Allerdings bleibt er aus meiner Sicht sowohl in Bezug auf Handlung als auch auf Sprachgewalt einen Ticken hinter "Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster" zurück. Aber das macht nicht, es ist immer ein großer Genuss, Susann Pásztor zu lesen. War es letztes Mal wie eine Schifffahrt entlang den Fluss Charon, ist es diesmal wie ein riesiges Picknick auf einer Wiese auf Kreta (wo der "griechische" Teil der Handlung angesiedelt ist). Einer Wiese mit Brennesseln drauf bzw. einem Kuchen mit ein paar Tropfen BIttermandel drin.

Besonders genossen habe ich auch in diesem Roman wieder die Charaktere, die die Autorin Susann Pásztor scheinbar - wie den ganzen Roman - nur so aus dem Handgelenk geschüttet und mit einer gehörigen Prise von Originalität versehen hat, jeden einzelnen von ihnen. Vor allem bei Nebenfiguren tobt sie sich aus und ich hatte in diesem Roman meinen besonderen Spaß an den Veränderungen (oder eben auch gerade nicht) zwischen 1973 und der Gegenwart (bzw. 2019, wenn ich richtig gerechnet habe, was Alter und andere Hinweise betrifft).

Bewertung vom 27.04.2021
Mit fünfzig erwartest du Meer
Voss, Elli

Mit fünfzig erwartest du Meer


sehr gut

Romy wird doch tatsächlich schon in den nächsten Tagen fünfzig - wie konnte das Leben so schnell vergehen? Mit der Arbeit als Problemberaterin bei einer Frauenzeitschrift, dem Großziehen von Sohn und Tochter und Familienreisen an langweilige historische Ausgrabungsstätten, dem Tätigkeitsgebiet des Gatten: Sie kann sich gar nicht vorstellen, dass trotz derart nüchterner Tätigkeiten die Jahre so schnell verflogen sind und ihr Mann Werner sie tatsächlich noch zu überraschen vermag. Mit einem sehr romantischen Geschenk, nämlich einer Reise nach Bella Italia zum Konzert ihres Lieblingssängers.

Zu schön, um wahr zu sein! Das wird Romy nur zu bald klar, als sie eine Rechnung über ein Hotelzimmer mit Doppelbett findet, wo Werner doch dienstlich unterwegs war. Ebenso wie seine knusprige junge Assistentin, die Romy schon eine ganz Weile ein Dorn im Auge ist.

Sie drückt noch mal ein Auge zu - nur, um sich zusammen mit Werner auf einer Butterfahrt wiederzufinden, wo alle naselang angehalten wird, um Pfannen und andere Herrlichkeiten sowohl an Mann als auch an Frau zu bringen.

Romy reichts! Mit Lilo, einer lebenslustigen Reisebekanntschaft setzt sie sich kurzerhand ab - und verpasst doch tatsächlich den Bus. Nun steht sie da ohne Geld, ohne Tasche und ihr Handy ist fast leer. Irgendwie jedoch kommen sie weiter - und Romy lernt neue Leute kennen. Und alte Vertraute von einer neuen Seite!

Doch der Roman hat auch ein paar Längen und es kommen recht viele Klischees drin vor - dennoch habe ich ihn gern zur Entspannung gelesen, empfehle ihn aber nur mit Einschränkungen weiter. Wer beim Lesen abschalten möchte, für den ist dies die richtige Lektüre!

Bewertung vom 23.04.2021
Nordwesttod / Soko St. Peter-Ording Bd.1
Jensen, Svea

Nordwesttod / Soko St. Peter-Ording Bd.1


sehr gut

Vermisst in Sankt Peter Ording wird Nina Brechtmann, eine Umweltaktivistin, die ihre Überzeugung sowohl privat als auch beruflich auslebt. Damit stellt sie sich gegen ihre Familie (jedenfalls aus deren Sicht), die die bauliche Erweiterung ihrer Hotelkette plant: durch nicht nur einen Riesenbau direkt am Meer. Mutter und Schwester reagieren bei Befragungen höchst merkwürdig, aber sie sind nicht die Einzigen.

Und das Ermittlungsteam muss sich auch erst zusammenraufen, besteht es doch aus dem frisch ernannten Dienststellenleiter Hendrik Norberg und aus Anna Wagner, einer Expertin für Vermisstenfälle, die gerade erst aus Bayern an die Nordsee gezogen ist. Und beide haben privat nicht gerade kleine Päckchen zu tragen!

Dazu kommt, dass auf der Dienststelle nicht nur einfache Charaktere tätig sind. Autorin Svea Jansen gelingen besonders die Personendarstellungen sehr gut, was bei einem Krimi, der vor allem durch seine Figuren getragen wird, ebenso wichtig wie lobenswert ist.

Es kommt auch ordentlich Spannung auf, denn es gibt zahlreiche potentielle Täter, wie Anna und Hendrik nach und nach herausfinden. Ein schöner Krimi, dem ein paar Nebenschauplätze weniger nicht geschadet hätten - so wurde es stellenweise recht unübersichtlich.

Insgesamt jedoch habe ich diesen ersten Fall des Teams von Schleswig Holsteins Nordseeküste sehr genossen und freue mich schon auf den nächsten Band mit Hendrik und Anna!

Bewertung vom 21.04.2021
Sternzwillinge
Spang, Monika

Sternzwillinge


sehr gut

Alex hat ja schon einiges erlebt in letzter Zeit und vor allem der Tod ihres Großvaters hat ihr ganz schön zugesetzt. Und jetzt muss sie sogar noch in dessen Bett schlafen - die erste Nacht war ziemlich gruselig. Aber sie hat ja ihre Clique, mit der sie durchs Dorf turnt und Spaß hat - außer, wenn sie, wie jetzt, eine Mutprobe bestehen muss.

Das schafft sie nicht direkt, aber Klaus, der Anführer der Dorfclique, hat so einige Ideen und so landen sie in einem alten Haus mit fehlender Außenwand, in dem alle zusammen eine Nacht verbringen. Aber warum Alex als Einzige wach bleibt und Klara kennen lernt, die offenbar in dem Haus wohnt - das ist ihr schleierhaft, vor allem, weil sie dieses sehr nette und dennoch ziemlich eigenartige Mädchen den anderen vorstellen möchte.

Und dann soll sie noch mit jemandem gemeinsam ein Werk vollenden, das vor langer Zeit von Zwillingen begonnen wurde - dabei ist sie gar kein Zwilling. Macht nichts, sagt einer von denen, die ihr auf dem Weg dorthin zu Gefährten werden: ihr werdet zusammenwachsen. Und das kann Alex sich so gar nicht vorstellen, vor allem, als sie erfährt, um wen es geht!

Autorin Monika Spang hat ein besonderes und ziemlich ungewöhnliches Kinder- und Jugendbuch geschrieben. Ich war sehr gespannt auf diese sehr eigene Geschichte, musste dann aber erkennen, dass sie nur in Teilen spannend war - aus meiner Sicht gibt es stellenweise Längen, anderswo geht es zu schnell voran, so dass ich zeitweilig die Übersicht verloren und das Buch erst mal zur Seite gelegt habe.

Der Schluss hat mich dann mit einigem versöhnt - nicht nur ist er rund, nein, er beinhaltet auch eine sehr schöne Botschaft, die wir uns alle hinter die Ohren schreiben sollten.

Bewertung vom 18.04.2021
Zum Fluss
Laing, Olivia

Zum Fluss


ausgezeichnet

Den Fluss Ouse entla(i)ng

Dieses Buch hat mir mitten in der Corona-Krise etwas ganz Besonderes geschenkt: nämlich eine Wanderung entlang des südenglischen Flüsschens Ouse - des Flusses, den sich Virginia Woolf selbst zum Totenbett erwählte.

Mein Gepäck? Ein wacher Geist, die Bereitschaft, neue Wege zu gehen - und ein schneller Browser!

Denn Autorin Olivia Laing, Kultur- und Literaturwissenschaftlerin, hat mich nicht nur begeistert: nein - sie hat mich auch gefordert. Denn natürlich wusste ich, wie tragisch das Leben der großen Autorin Woolf endete - aber wo dies geschah, davon hatte ich bislang keine Ahnung. Und auch nicht von all dem, was den Fluss Ouse sonst noch so prägt.

Olivia Laing bricht in einer persönlichen Lebenskrise zu einer Wanderung entlang der Ouse auf - Ende Juni, genau zu Mittsommer, macht sie sich auf den Weg, der eine Woche dauern wird. Sie hastet nicht, sie nimmt uns Leser mit auf einen entspannten Weg voller kluger Gedanken.

Ich betone: ihr Weg ist entspannt, ihre Gedanken sind von einem solchen Reichtum von Wissen und Kreativität geprägt, dass ich längst nicht mithalten kann, doch durch ihren leisen, persönlichen, offenen und eindringlichen Stil erreicht sie, dass ich mich an keiner Stelle erschlagen fühle.

Im Gegenteil, ich empfinde während der Lektüre das Buch wie für mich gemacht; ihre bildhafte Art des Erzählens bringt mich selber an die Ouse, lässt mich schnuppern, lauschen, sehen, fühlen. Ja, es ist eine sehr lebendige Reise, die mir hier mitten im Lockdown auf dem heimischen Sofa geschenkt wird.

In der Tat ist es Virginia Woolf zusammen mit ihrem Ehemann Leonard Woolf, die uns hier den ganzen Weg entlang des Flusses begleiten: sie haben lange Jahre hier gelebt, in einem Cottage, das leider der späten Industrialisierung, wenn man es so nennen will, zum Opfer fiel und daher nicht mehr besichtigt werden kann. Doch Olivia Laing lässt die beiden wieder und wieder lebendig werden in ihren Gedanken - schon der Quell des Flusses weist eine Vebindung zum Beginn der ungewöhnlichen und absolut unkonventionellen Ehe der Woolfes auf.

Und es sind andere Paare der Literaturgeschichte, die Erwähnung finden: auch Iris Murdoch und John Bayley haben ihre Spuren hier an der so zauberhaften, gleichwohl stellenweise überaus alltäglichen und damit wenig eindrucksvollen Ouse hinterlassen. Olivia Laing schenkt ihren Lesern ganz besondere Erlebnisse bzw. Ergebnisse ihrer Wanderung entlang der Ouse - Geschichten, Gedanken und Empfindungen, auf die man selbst - ich zumindest - im Leben nicht kommen würde.

Die Ouse hat so einiges verschlungen im Laufe der Jahrhunderte - abgesehen von Virginia Woolf, ihrem berühmtesten Opfer, unter anderem Tausende von Soldaten in der Schlacht von Lewes 1264, denen vor allem der morastige Grund des Flusses zum Verhängnis wurde.

Trotz bzw. vielleicht auch gerade wegen solcher Greuelgeschichten - es sind nur wenige - ist es eine wahre Wonne, die Autorin auf ihrem Weg zu begleiten. Ihre klugen, scharfsinnigen, dabei überaus unterhaltsamen Überlegungen sind ein Genuss und rücken die Landschaft und ihre Verwurzelung in Geschichte und Kultur derart bildhaft vor mein inneres Auge, dass ich tatsächlich das Gefühl habe, vor Ort zu sein, die reichhaltige Vegetation eines englischen Mittsommers sehen und riechen zu können. Eine ausgesprochen intensiver literarischer Ausflug, von dem ich noch lange zehren werde!

Bewertung vom 18.04.2021
Hier im echten Leben
Pennypacker, Sara

Hier im echten Leben


sehr gut

Eine neue Welt für Ware
Aber zunächst ist Ware stinksauer, soweit dem sensiblen Jungen das überhaupt möglich ist: dass seine Ferien bei der Großmutter abrupt enden, weil sie sich bei einem Sturz verletzt, das kann er sehr gut nachvollziehen, aber dass er ins verhasste Feriencamp seiner Heimatstadt abgeschoben wird, weil seine Eltern keine Zeit für ihn haben - das findet er alles andere als toll.

Wobei ich ihn gut verstehen kann, in dem Camp passiert eigentlich überhaupt nichts spannendes - es wird marschiert und gelaufen, es finden sportliche Spiele statt - und viel mehr wird da nicht geboten. Das hätte mir auch nicht besser gefallen, als es bei Ware der Fall ist.

Aber dann entdeckt er etwas Spannendes: gleich neben dem Gelände, auf dem das Camp stattfindet, liegt eine Kirchenruine. Und da drin werkelt ein Mädchen, Jolene - was sie Ware aber erst nach einiger Zeit verrät. Denn Ware wechselt vom Camp in die Kirche. Jolene schafft dort einen ganz besonderen Garten und macht zunächst keinen Hehl daraus, dass sie das allein machen möchte. Doch Ware bleibt hartnäckig und lässt sich nicht vertreiben - langsam nähern sie sich einander an und irgendwann sind sie ein Team. Zu dem gelegentlich auch das Mädchen Ashley stößt, das leider Schlimmes zu berichten weiß - die Kirche soll vollkommen abgerissen, das Grundstück für andere Zwecke genutzt werden.

Ware und Jolene versuchen alles, um das Grundstück zu retten - wird es ihnen gelingen?

Ein Buch, das zeigt, dass etwas Schönes entstehen kann, auch wenn nicht alles so klappt, wie man es sich erhofft. Und natürlich, dass man im Team stärker ist als allein.

Und Ware erfährt auch, dass er auf seine Lieben bauen kann, wenn es wirklich mal brennt.

Ein Buch zu einem interessanten Thema, das sich leider über lange Strecken ziemlich langwierig und leider auch langweilig entwickelt, allerdings wird der Leser, der am Ball bleibt, durch die Ereignisse am Ende reich belohnt. Aber ich bin mir nicht sicher, ob das ein jeder schafft!

Bewertung vom 18.04.2021
Der ehemalige Sohn
Filipenko, Sasha

Der ehemalige Sohn


sehr gut

Ein märchenhaft langer Schlaf
fast wie bei Dornröschen, wird dem Musikschüler Franzisk, genannt Zisk zuteil. Allerdings liegt er nach einem dramatischen Unfall im Koma und niemand außer seiner Großmutter kümmert sich um ihn. Im Gegenteil: diese muss ordentlich aufpassen, dass man ihn nicht für Organentnahmen missbraucht oder ihn gar einfach abmurkst, weil mit dem ja eh nichts mehr los ist.

Pustekuchen! Zisk wacht nach rund zehn Jahren auf und findet sich in einer anderen Welt wieder. Zumindest, was sein privates Umfeld angeht: seine Mutter hat inzwischen den Oberarzt der Klinik geheiratet und hat einen neuen Sohn. Zisk wird zum ehemaligen Sohn degradiert und muss sehen, wo er bleibt.

Sonst hat sich nicht viel geändert in Belarus. Es gibt immer noch nicht viel Hoffnung auf ein normales Leben.

Auch wenn Autor Sascha Filipenko einiges im Unklaren lässt - so fällt bspw. der Name Lukaschenko kein einziges Mal - weiß man als Leser genau, was er meint. Auch wenn durchgehend Ironie im Spiel ist: Die ganze Geschichte ist eher zum Weinen als zum Lachen. Nach diesem beeindruckenden Roman, der zwar stellenweise Längen aufweist, mich als Leserin dennoch bis ins Mark getroffen hat, wünscht man sich, dass Zisk die Möglichkeit erhält, seinen Weg zu gehen. Wie und wo auch immer.

Bewertung vom 18.04.2021
Das Haus des Leuchtturmwärters
Freitag, Kathleen

Das Haus des Leuchtturmwärters


sehr gut

Bleiben oder gehen?
Was bis vor kurzem noch eher Überzeugungssache war, ist 1962, im Jahr nach dem Mauerbau, zu einem gefährlichen Risiko geworden - die Flucht aus der DDR.

Die Freundinnen Else, Tochter des Leuchtturmwärters, und Lulu leben in einem kleinen Ort westlich von Rostock direkt an der Ostsee, 40 km entfernt von Dänemark. Sie sind schon lange nicht mehr glücklich in der Welt, in der sie leben. Sollen sie? Sollen sie nicht? Es kommt ein Dritter dazu, nämlich Otto, Lulus Freund und es wird ein Plan geschmiedet...

Autorin Kathleen Freitag beschreibt mitreißend sowohl Lebensumstände als auch die Gefühlslage der Protagonist*innen, die Zweifel, Ängste, aber auch den Hader mit dem Regime.

Nicht ganz so gut hat mir gefallen, dass es eine zweite zeitliche Ebene im Jahr 1992 gibt, in der die Autorin Franzi, Mitte 30 , zum Schreiben an den Ort ihrer Kindheit, nämlich eben jenen Leuchtturm, in dem auch Else aufwuchs, zurückkehrt und dort spannende Unterlagen findet. Von Else und ihrem Vater....

Wie das alles zusammenkam, das stimmte nicht immer mit meinem Verständnis der Logik überein. Dennoch habe ich das Buch gerne gelesen und empfehle es weiter an jeden, der sich für Deutschlands jüngste Vergangenheit interessiert.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 14.04.2021
Liv - Neuanfang mit Hindernissen
Büchle, Elisabeth

Liv - Neuanfang mit Hindernissen


ausgezeichnet

Frischer Wind in Vierbrücken
Und dieser Wind hat einen Namen, nämlich Liv Benediktsdóttir, Tochter eines Deutschen und einer Isländerin. Auf Anraten ihrer Freundin Annemarie will die junge Frau, die bisher nicht nur in Island, sondern auch in Hamburg und New York beheimatet war, dort Urlaub machen.

Zumindest wird dies dem Leser zunächst vermittelt. Aber durch Andeutungen wird deutlich, was ein erfahrener Büchle-Leser von vorneherein weiß: da steckt mehr dahinter.

Jedenfalls erregt Liv mit ihren modernen, oft mondän wirkenden Kleidungsstücken und ihrem selbstbewussten Auftreten große Aufmerksamkeit, teils auch Misstrauen und Abneigung im kleinen Dorf. Wir schreiben nämlich das Jahr 1959 und vor allem die Augen gleichaltriger Damen folgen ihr auf Schritt und Tritt.

Apropos Tritt: Liv tritt in fast jedes Fettnäpfchen, das sich ihr in den Weg stellt und davon gibt es so einige!

Von mir eine absolute Leseempfehlung für diesen Mitreißenden Roman. Sie erleben einen mehr als gelungenen Ausflug ins Büchle-Versum, bzw. in dessen schwäbischen Teil. Autorin Elisabeth Büchle wartet mit unterschiedlichen Facetten ihres Könnens auf, ganz besonders mit dem Humor.

Wer einen Wohlfühlroman der besten Sorte, nämlich mit ordentlich Tiefgang, geniessen möchte, der ist hier auf jeden Fall an der richtigen Adresse!

9 von 10 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 12.04.2021
Über Menschen
Zeh, Juli

Über Menschen


ausgezeichnet

2020 in einem brandenburgischen Dorf
Worauf das hinausläuft, das dürfte jedem, der dieses Jahr in Deutschland erlebt hat, klar sein: ein Leben mit Corona. Denn der Zeitpunkt des Geschehens ist von Beginn an völlig klar: Frühjahr und Sommer 2020, die ersten Monate der Covid19-Pandemie. Aber nicht nur: es ist auch ein Leben mit Andersdenkenden, - fühlenden und -kommunizierenden. Das wird Dora gleich bei ihrem Start ins neue Leben im kleinen Örtchen Bracken klar.

Wer meint, dass dies ein mehr oder weniger müder Abklatsch von Zehs Gesellschaftsroman "Unterleuten" ist, ist schief gewickelt. Denn dort stand die Sozialstruktur des gesamten Dorfes Unterleuten im Fokus, es gab so gesehen keine Haupt- oder Nebenfiguren.

Hier jedoch ist es komplett anders: die aus Berlin vor ihrem sich zunehmend zuerst im Greta-Thunberg-Klimaschutz-, dann im Corona-Regel-Einhalte-Nebel verlierenden Gatten aufs Dorf geflohene Dora ist ganz klar die Protagonistin No. 1 , aus deren Perspektive berichtet wird. Ihr Radius in Bracken selbst richtet sich auf die unmittelbare Nachbarschaft, quasi auf die Häuser nebenan, gegenüber und um die Ecken, die - so scheint es zunächst - samt und sonders von Männern bewohnt werden. Dora erkundet das Dorf gemeinsam mit ihrer Hündin Jochen dem Rochen und entdeckt zunehmend eine für sie fremde Welt.

Nebenan wohnt Gottfried, genannt Gote, der sich Dora direkt als Dorfnazi vorstellt, über einen Schlüssel zu ihrem Haus - früher der Kindergarten des Dorfes - verfügt. Und - wie sich erst später herausstellt - über eine Tochter namens Franzi, die sich zeitweise bei ihm aufhält und offenbar sehr vernachlässigt wird.

Dann gibt es noch Handwerker Heini und das Paar Tom und Steffen - auch an denen kommt Dora nicht vorbei. Von all diesen Menschen erfährt sie eine absolut selbstverständliche Hilfsbereitschaft, wie sie ihr bisher nie begegnet ist - nicht von ihrem Vater, dem berühmten Gehirnchirurgen aus Münster mit Zweitarbeitsplatz an cer Charité und erst recht nicht von ihrem Bruder Alex, in dessen "Weltbild Menschen dazu da sind, sich um ihn zu kümmern. Besonders Dora." (S.111)

Denn das Dorf hat seine völlig eigenen Regeln, wie auch Dora schnell klar wird: "In Bracken ist man unter Leuten. Da kann man sich nicht so leicht über die Menschen erheben." (S.128) Wie selbstverständlich halten die Nachbarn Einzug in ihrer Welt: ein zur Verfügung gestelltes Fahrrad wird von Dora als Leihgabe, nicht als Geschenk verstanden, wodurch sie ihr Gegenüber zutieft beleidigt. Gote spendet jede Menge Möbel und Heini, den Dora flugs in R2D2 umtauft, kommt mit seinen gesamten Gerätschaften zum Anstreichen, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Dazu ein Hund und jede Menge Eichelhäher, die sowas wie Doras persönliche Begleiter sind.

Dora ist irritiert, aber sowas von: Was tun, wenn die Grenzen von gut und böse, von anständig und verwerflich auf einmal verschwinden? Wenn es keinen Stempel mehr gibt, den man seinen Mitmenschen aufdrücken kann und dann für immer (oder zumindest für eine Weile) weiß, in welcher Schublade sie sich befinden?

Und nicht nur die Menschen, auch die Tiere werden hier vollkommen neu definiert: "Später steht Franzi vor der Tür und fragt, ob Jochen (der Hund! d.R.) zum Spielen rauskommen darf." (S.203) Mit Gote erlebt Dora eine Vogelhochzeit der ganz besonderen Art - quasi ein Geschenk von ihm an sie.

Ein Roman mit vielen, vielen Botschaften. Die wichtigste aus meiner Sicht: Schwarz und weiß gibt es einfach nicht. Da kannst Du solange drauf warten, bis Du schwarz wirst.

5 von 6 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.