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Benutzername: 
Igelmanu
Wohnort: 
Mülheim

Bewertungen

Insgesamt 997 Bewertungen
Bewertung vom 01.09.2017
Weinen Sie nicht, die gehen nur baden! - Zeugen des Auschwitz-Prozesses berichten
Shelliem, Jochanan

Weinen Sie nicht, die gehen nur baden! - Zeugen des Auschwitz-Prozesses berichten


ausgezeichnet

Und ich sagte meiner Frau (ich war mit Frau und drei Kindern, drei Töchterchen): „Tut nichts, Hauptsache, dass wir fünf zusammen sind. Und wir werden schon sehen, wie wir weiterkommen.“ Kaum sagte ich das, tritt schon ein anderer Soldat zwischen uns und sagte: „Männer nach rechts, Frauen nach links.“

Eigentlich sollte es dieses Tondokument überhaupt nicht geben. Die Tonbandaufnahmen, die die Aussagen der 359 Zeugen des ersten Ausschwitz-Prozesses festhielten, waren ursprünglich nur zur »Stützung des Gedächtnisses« während des Verfahrens gedacht. Nur einem Zufall ist es zu verdanken, dass sie nicht gelöscht wurden. 50 Jahre nach dem Prozess machte sich das Fritz-Bauer-Institut an die Aufbereitung der Bänder.

»Weinen Sie nicht, die gehen nur baden!« ist ein Zusammenschnitt einiger Aussagen, eingefasst von passenden Sachinfos. Vor allem die Zeugenaussagen Überlebender gehen an die Nieren, was man da hört, ist kaum zu ertragen.
Es ist das Wissen um die unglaublichen Grausamkeiten und Verbrechen, die das Zuhören schwermachen. Wenn da etwa ein Mann schildert, wie er – frisch angekommen und noch nicht begreifend, was auf ihn zukommen wird – besorgt darauf hinweist, dass er zwei kleine Zwillingstöchter hat, die besonderer Fürsorge bedürfen und er daraufhin die Anweisung bekommt, dies dem anwesenden Arzt zu berichten, der niemand anders ist als Dr. Mengele, dann brauche ich eine Pause, es geht nicht mehr anders.
Es ist nicht nur das, was gesagt wird. Es ist die Art, wie es geschieht. Und auch das, was nicht gesagt wird, setzt einem zu, weiß man doch, was geschehen ist.

Deutlich erkennbar wird auch, wie der Prozess das Leben der daran Beteiligten verändert hat. Wenn man hört, wie der Vorsitzende sein Schlusswort unterbrechen muss, wie sein Stimme bricht, dann ahnt man, dass er im Anschluss nicht nach Hause fahren und weiterleben konnte, wie zuvor.

Fazit: Sehr intensives Tondokument. Geht an die Nieren, sollte man sich im Kampf gegen das Vergessen aber antun.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 11.08.2017
Onkel Toms Hütte, Berlin
Frei, Pierre

Onkel Toms Hütte, Berlin


sehr gut

Ein amerikanischer Offizier stand mit einem Militärpolizisten und dem Fahrdienstleiter auf den Gleisen. Sie hatten die Tote neben die Schienen gebettet. Sie war blond und hatte ein schönes, ebenmäßiges Gesicht. Ihre blauen Augen starrten ins Nichts. Blutunterlaufene Strangulierungsmale kerbten sich in den zierlichen Hals. Klaus Dietrich deutete auf ihre Nylonstrümpfe, die kaum getragenen Pumps und das helle, modische Sommerkleid. »Eine Amerikanerin«, meinte er besorgt. »Wenn das ein Deutscher getan hat, gibt’s Ärger.«

Der weiblichen Leiche werden in Kürze weitere folgen. Als wenn es in diesem Land nicht schon genug Tote gegeben hätte, treibt nun auch noch ein Serienmörder im Sommer 1945 in Berlin sein Unwesen…

An diesem Buch steht Krimi dran, drin steckt aber noch viel mehr. Neben der Jagd auf den Serienmörder zeichnet der Autor ein umfangreiches und vielschichtiges Bild des Nachkriegs-Berlins. Außer den Problemen zwischen Besatzungsmächten und Bevölkerung werden auch viele Schwierigkeiten behandelt, mit denen die Menschen damals umzugehen hatten.
Die Art und Weise, wie das hier umgesetzt wird, ist ungeheuer intensiv und lässt den Leser immer ganz nah an den einzelnen Schicksalen sein. Konkret verfolgt man Werdegang und Leben jedes Opfers mit und trifft dabei unter anderem auf Themen wie Prostitution und Euthanasie. Zudem sind die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Schichten vertreten, so dass mal eine Adlige im Fokus steht, mal eine Frau aus ganz ärmlichen Verhältnissen.
Apropos: Die akute Notlage der Menschen im Sommer 1945 wird natürlich ebenfalls behandelt, hier geht der Blick immer wieder auf den deutschen Ermittler Klaus Dietrich und seine Familie, speziell auf den 15jährigen Sohn.

Die Krimihandlung selbst ist spannend und gab mir reichlich Stoff zum Mitermitteln. Gut gefiel mir dabei, dass ich (obwohl ich schon früh eine Ahnung hatte, wer der Täter sein könnte) erst am Ende die kompletten Zusammenhänge erkennen konnte. Und sogar eine Überraschung gab es noch, wirklich gut gemacht!

Alles in allem hatte ich also viel Lesespaß, trotzdem aber auch einen Kritikpunkt. Als ich in einer anderen Rezi kritische Worte zu manchen Sexszenen las, musste ich zunächst schmunzeln. Aber als ich die Szenen dann selber las, den Kopf schütteln. So real alles andere in dem Buch wirkt (einschließlich diverser Vergewaltigungen nach dem Einmarsch der Besatzer), bei den „normalen“ Sexszenen scheint der Autor in einer Traumwelt zu leben, in der jede Frau ständig willig und lüstern ist und jeder Mann sooo toll! Ich fand das sehr schade, denn das ansonsten gute Niveau sank bei diesen Passagen leider ziemlich.

Fazit: Spannende Zeitgeschichte mit Krimi, wirkt sehr lebendig, intensiv und realistisch. Lediglich einigen Sexszenen würde eine Überarbeitung guttun.

Bewertung vom 11.08.2017
In eisige Höhen
Krakauer, Jon

In eisige Höhen


ausgezeichnet

»Jeder, der einigermaßen bei Verstand war, hätte nein gesagt. Aber das konnte ich nicht. Denn etwas tief in meinem Herzen befahl mir zu gehen, und die Anziehungskraft des Everest wirkte auf mich stärker als irgendeine andere Kraft auf Erden.«


Der amerikanische Journalist Jon Krakauer nahm im Mai 1996 an einer organisierten Besteigung des Mount Everest teil. Diese Expedition endete in einer Katastrophe, am Ende waren zwölf Tote zu beklagen.


Mit dem Thema Bergsteigen habe ich mich bislang noch nie beschäftigt, kenne als Namen lediglich Reinhold Messner und ansonsten das, was man aus aktuellen Anlässen schon mal in der Presse liest. Nach diesem Buch bin ich um einiges schlauer.


Jon Krakauer versteht es, zu erzählen. Da er im Wesentlichen berichtet, was er selbst erlebt hat, ist man als Leser ganz intensiv in der Handlung, scheint die Eiseskälte fast spüren zu können, die Verzweiflung und Angst wird greifbar. Genau wie die Faszination und die für den Nicht-Bergsteiger manchmal schwer nachvollziehbare Begeisterung für diesen Hochrisikosport. Die Vorkommnisse sind so spannend geschildert, dass man das Buch nicht aus der Hand legen mag. Selbst wenn man um die Ereignisse von 1996 und damit um den Ausgang der Ereignisse weiß.


Der Autor bemüht sich sehr, dem Leser zu erklären, was jemanden antreibt, der sein Leben riskiert, um den Gipfel eines Achttausenders zu bezwingen. Und es ist ja nicht nur das Risiko, sondern der potentielle Gipfelstürmer muss auch bereit sein, über Wochen hinweg unglaubliche Mühsal und Schmerzen auf sich zu nehmen. Da muss man nicht nur topfit sein, sondern auch eine ganz spezielle Geisteshaltung haben.
Apropos topfit: Ein Thema, dem Jon Krakauer sich hier widmet, ist die Kommerzialisierung des Bergsports. Diese wird offenbar heiß diskutiert und scheint zu polarisieren. Sollte nur derjenige auf den Berg dürfen, der ihn auch alleine bezwingen könnte? Krakauer war Teilnehmer einer solchen Expedition und befasst sich im Rahmen seiner Aufarbeitung mit dem Pro und Contra.


Ich schrieb gerade Aufarbeitung und genau das ist dieses Buch. Als Überlebender muss der Autor einen Weg finden, mit den schlimmen Ereignissen im Kopf weiterzuleben. Er versucht sich in einer Fehleranalyse: Was ist verkehrt gelaufen? Was hätte man anders machen müssen? Was war einfach unausweichliches Schicksal? Es geht um Fragen wie Risikoabwägung, Verantwortung und Mitmenschlichkeit. Er spart dabei auch nicht mit Selbstkritik, plagt sich mit Schuldgefühlen. Das machte den Bericht für mich sehr glaubwürdig.


Auch an anderen Stellen gibt es kritische Worte. Beispielsweise wenn es um die Vermüllung der Berge geht. Es ist für mich ein schwer vorstellbarer Punkt, dass man sich in eine Region begibt, in der die Natur eigentlich „der Chef“ sein sollte und dann dort auf Müllberge stößt.


Eine ganze Reihe von Fotos ergänzen den Bericht. Man sieht Bilder der Expeditionsmitglieder, Bilder der Verstorbenen. Man sieht sie aufsteigen, sieht schwer beeindruckende Fotos vom Everest – der Gedanke, so etwas mal mit eigenen Augen sehen zu wollen, will sich einem aufdrängen. Ich habe auch immer wieder eine Aufnahme angeschaut, auf der die Fundorte einiger Leichen bzw. die Punkte, an denen bestimmte Personen zuletzt gesehen wurden, eingezeichnet sind.


Fazit: Faszinierendes Thema, extrem spannend geschildert. Das lässt den Leser nicht kalt!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 23.07.2017
DuMont Reise-Taschenbuch Reiseführer Wien
Weiss, Walter M.

DuMont Reise-Taschenbuch Reiseführer Wien


gut

Dieser Reiseführer ist fast 300 Seiten dick. Der Leser erwartet folglich, dass er perfekt auf den Aufenthalt in Wien vorbereitet wird.

Tatsächlich gibt es im Buch viel zu entdecken. Nach einem Einführungsteil mit allgemeinen Infos zu Anreise, Wetter, Nahverkehr usw. gibt es Tipps in Sachen „Essen und Trinken“, Einkaufen, Museen und ähnliches. Diesen Abschnitt fand ich ganz ok, habe aber schon bessere gesehen.

Im Anschluss beginnt der eigentliche Hauptteil. Der Autor ist wohl ein „waschechter Wiener“ und offenbar auch sehr geschichtsinteressiert, denn er bringt wirklich viele Infos rund um die Historie Wiens. Wer einen detaillierten Überblick einer Kurzinfo vorzieht, wird hier gut bedient. Ähnlich umfangreiche Hintergrundinfos gibt es zu den Themen Kunst, Musik, Kultur und Medizin. Das hat mir gut gefallen! Passend zum jeweiligen Thema werden Besuchstipps gegeben, wobei besonders „wichtige“ Ziele/Sehenswürdigkeiten hervorgehoben werden.

So weit, so interessant. Was mir aber fehlte (zumal für meinen ersten Besuch in Wien) war ein höheres Maß an Übersichtlichkeit und auch die Grundinfos kamen für mein Empfinden zu kurz.

Der dicke Führer wird mich nach Wien begleiten, allerdings als Zweitreiseführer. Er wird sich nicht in meiner Handtasche befinden, denn um unterwegs etwas nachzuschlagen, ist er mir zu unübersichtlich. Aber um abends im Hotelzimmer Hintergründe nachzulesen oder Ideen für den Folgetag zu sammeln, wird er sicher gute Dienste tun.

Fazit: Viele Hintergrundinfos gehen zu Lasten der Übersichtlichkeit. Als Zweitreiseführer sicher klasse, für den ersten Besuch in Wien nur bedingt zu empfehlen.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 23.07.2017
Die Genies der Lüfte
Ackerman, Jennifer

Die Genies der Lüfte


ausgezeichnet

Genies? Vögel? Wie hat der Mensch diese Spezies doch lange Zeit unterschätzt! Man schaue sich alleine die Vielzahl menschlicher Ausdrücke für Dummheit an, da trifft man auf „der hat eine Meise“, sie ist „eine dumme Pute“, man spricht von „Spatzenhirnen“ und von „bei dem piept’s wohl“. Intelligenz ist doch außer beim Homo Sapiens nur etwas für Primaten und Delfine. Oder?

Dieses Buch beweist das Gegenteil. Jennifer Ackerman hat sich – wenn man die Danksagungen und Quellen betrachtet – mit gefühlt jedem Vogelexperten auf der Welt beraten, ihre Forschungen zu Hilfe genommen und ausgewertet. Herausgekommen ist ein Buch, das sich wunderbar leicht liest und dazu den Leser in einen Zustand permanenten Staunens versetzt.

Der Leser darf sich auf eine Reise rund um den Globus freuen, zu den unterschiedlichsten Vogelarten in den unterschiedlichsten Lebensräumen. Und dabei gibt es immer wieder beeindruckende Fähigkeiten zu bewundern. Das können überraschende mathematische Leistungen sein, enorme (und für unseren Verstand unerreichbare) Gedächtnisleistungen oder phantastische Möglichkeiten im Bereich der Orientierung. Aber auch die Nutzung und Herstellung von teils aufwändigen Werkzeugen, Problemlösungsstrategien, Anpassungsleistungen und sprachlichen (Gesang) Kunstfertigkeiten, sowie soziales Verhalten, Einfühlungsvermögen und künstlerisches Verständnis. Die Liste ist lang und beim Lesen der einzelnen Kapitel beschleicht einen der Eindruck, dass es kaum etwas gibt, was nicht irgendeinem Vogel auf der Welt möglich sein soll. Ich bin auf so viele faszinierende Dinge gestoßen, dass ich ständig meinen Mitmenschen Abschnitte vorlesen musste ;-)

Die Autorin hat wirklich viel zu erzählen und das tut sie in einer sehr angenehmen Art. Die einzelnen Kapitel befassen sich mit speziellen Fähigkeiten, da geht es beispielsweise um „technische Hexereien“, „soziales Talent“, „vokale Virtuosität“, „ästhetische Artistik“ oder „räumliche und zeitliche Findigkeit“. Ganz bezaubernde schwarzweiße Zeichnungen von Vögeln leiten jedes neue Kapitel ein. Die hochwertige Aufmachung des Buchs mit schönem Cover und Lesebändchen machen es auch zu einem tollen Geschenk für jeden Vogel- /Naturfreund.

Am Ende klappt man das Buch zu und staunt immer noch. Die letzten Jahre haben im Bereich der Vogelforschung wirklich Erstaunliches zutage gebracht! Trotzdem verbleiben viele Rätsel, vielen Entdeckungen kann man bislang lediglich mit Mutmaßungen begegnen, ist noch weit davon entfernt, sie erklären zu können. Vielleicht gibt es in einigen Jahren ein „Update“ zu diesem Buch? Ich bin gespannt!

Fazit: Lesen und Staunen! Ein wirklich großartiges Buch für jeden Vogel- und Naturfreund.

»Ich gehe näher heran, und da ist der Vogel, sitzt auf einer Kiefer und verkündet seine Diie-Diie-Litanei; vielleicht mustert er mich, schätzt mich ein. Ich muss nur an die außerordentliche Menge an Talent denken, die sich in diesem winzigen Federflausch versteckt, um vorbehaltlos über das rätselhafte Wissen der Vögel zu staunen – sein Was und sein Warum. Welch wunderbare Mysterien warten da auf unser geistiges Bücherregal und erinnern uns daran, wie wenig wir immer noch wissen.«

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 17.07.2017
Liszt
Hilmes, Oliver

Liszt


sehr gut

»Franz Liszt war ein Superstar, ein Genie, eine europäische Berühmtheit, kurzum: eine absolute Ausnahmeerscheinung. Bereits als Wunderkind faszinierte er in Wien, Paris und London sein Publikum. In späteren Jahren bereiste er ganz Europa und trieb seine Karriere in schwindelerregende Höhen. … Die Begeisterung, die er mit seinen Auftritten auslöste, steigerte sich mitunter ins Delirium, und Franz Liszt war auch eine Projektionsfläche für erotische Fantasien und geheime Sehnsüchte.«

Liebestraum Nr. 3 – das war das, was mir beim Gedanken an Franz Liszt stets als erstes durch den Kopf ging. Häufig hatte ich ihn von meiner klavierspielenden Mutter gehört und immer wieder hatte sie erzählt, wie anspruchsvoll Liszt‘ Werke zu spielen sein. Als ich nun dieses Buch sah war ich gleich neugierig, mehr über diesen Pianisten und Komponisten zu erfahren.

Oliver Hilmes schildert alle wichtigen Stationen im Leben der „absoluten Ausnahmeerscheinung“. Angefangen beim Wunderkind, das schon in frühen Jahren in der Lage war, absolut jedes Stück, das ihm in die Finger kam, vom Blatt weg zu spielen und das über Jahre hinweg mit dem Vater von einem Konzert zum nächsten hetzte. Das früh zum Großverdiener wurde, als Genie und „neuer Mozart“ bezeichnet wurde.
Weiter geht es über die Entstehung eigener Kompositionen und die Entwicklung seines ihm eigenen Klavierstils über seine höchst produktiven „Wanderjahre“, die Zeiten als Kapellmeister in Weimar und als gewissermaßen Kontrastprogramm sein Leben als Abbé in Rom bis hin zum tragischen Ende.

Einen großen Umfang nehmen die Schilderungen seiner diversen Beziehungen ein. Liszt war – wie schon gesagt – ein früher Popstar, verehrt und angehimmelt. Nie war es für ihn schwer, neue Damenbekanntschaften zu machen und diesen Zustand genoss er sichtlich. Der Autor betont, im Gegensatz zu anderen Biographien, in denen Liszt als „sittenstreng und keusch“ idealisiert wurde, hier eindeutig die sexuelle Komponente. Trotzdem erschien mir sein Charakter als recht interessant und sensibel, mal arrogant und unversöhnlich, dann wieder harmoniebedürftig und leicht manipulierbar. Ein Mann der Gegensätze? Oder einer, der sein wahres Gesicht immer wieder hinter Masken verbarg? Man kann nur spekulieren. In die gleiche Schiene gehört sein manchmal extrem wirkender Katholizismus, der aber immer wieder im klaren Widerspruch zu seinem Verhalten stand.

Was ich ebenfalls sehr interessant fand, war Liszt‘ Verhältnis zu Richard Wagner, seinem Schwiegersohn. Eine komplizierte Beziehung, nicht selten eine Hassliebe. Ein echter Wagner-Fan wird vielleicht nicht gerne lesen, wie stark dessen Werk durch Liszt beeinflusst war. Und die Art und Weise, wie er mit seinen Kindern (und später Tochter Cosima mit ihm) umging, umfasst die ganze Bandbreite an Emotionen.

So spannend diese diversen Beziehungen auch waren, manchmal wurden mir die Schilderungen ein wenig zu umfangreich. Ich hätte nicht jeden einzelnen Schriftwechsel gebraucht, vieles hätte gekürzt immer noch die passende Information vermittelt. Andererseits könnte die Ausführlichkeit in diesen Punkten Romanfreunden entgegenkommen.

Vom Stil her liest sich das Buch gut und flüssig und verfügt über reichlich Fotos, Zeichnungen und Abbildungen beispielsweise von Briefen oder Notenblättern. Im Anhang findet sich neben den Anmerkungen und Quellenangaben auch ein Personenregister, das ich, da es wirklich sehr viele Namen im Buch gibt, immer mal wieder eingesehen habe.

Fazit: Unterhaltsam und informativ, für meinen Geschmack hätte es bei der Schilderung der diversen Beziehungsproblematiken Kürzungspotential gegeben.

Bewertung vom 27.06.2017
Mit Faltern begann's. Mein Leben mit Tieren in Breslau, München und Berlin
Heinroth, Katharina

Mit Faltern begann's. Mein Leben mit Tieren in Breslau, München und Berlin


sehr gut

»Kurze Zeit darauf wurde mir in einer Aufsichtsratssitzung ein Schreiben … vorgelegt. Er bat um Ablösung der jetzigen Leitung; zwar könne man es Frau Dr. Heinroth nicht übelnehmen, wenn sie keinen Überblick hätte, aber da gehörte eben ein Mann hin.«

Der Posten, um den es geht, ist der eines Zoodirektors. Katharina Heinroth war von 1945 – 1956 Direktorin des Berliner Zoos. Sie war die erste Zoodirektorin Deutschlands und noch heute zählt der weibliche Zoodirektor als Exot.

Katharina Heinroth wurde 1897 als Katharina Berger in Breslau geboren. Schon als kleines Mädchen standen für sie Lebewesen aller Art im Mittelpunkt des Interesses, ihr weiterer Weg führte sie über ein Studium der Zoologie und diverse Forschungsprojekte zum Berliner Zoo, den sie zwölf Jahre lang leitete. Unter ihrer Leitung wurde der schwierige Wiederaufbau des im 2. Weltkrieg fast komplett zerstörten Zoos betrieben. Für diese Leistung erhielt sie 1957 das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse. Auch nach ihrer Pensionierung blieb sie weiter aktiv, unter anderem im Tierschutz.
In dieser 1979 erschienenen Autobiographie berichtet sie ausführlich von den vielen Krisenzeiten und Tragödien in ihrem Leben, die sie mit Hilfe ihres Wahlspruchs »Tu was, dann wird dir besser.« bewältigte.
Tatsächlich war es ein sehr aktives Leben, das sie führte. Ich habe mich mehr als einmal gefragt, wie sie es schaffte, das beschriebene Arbeitspensum zu bewältigen. Nichts wurde ihr leichtgemacht, das Studium musste finanziert werden, dann galt es den Krieg zu überstehen und schließlich eine unglaublich arbeitsintensive Aufgabe durchzuführen, bei der sie fortwährender Kritik ausgesetzt war – einfach aufgrund der Tatsache, dass sie eine Frau war. Beim Lesen merkte ich, wie wütend mich diese Anfeindungen machten! Und dabei hat sie von diesen Punkten nicht einmal besonders umfangreich berichtet. Im Gegenteil.
Wenn Katharina Heinroth erzählt, dann geht es um Tiere. Sie berichtet detailliert von sämtlichen Revieren ihres Zoos und den dazugehörenden Tieren, erzählt von Zuchtprogrammen und von Handaufzuchten. Auch Schilderungen ihrer diversen Forschungsarbeiten nehmen einen großen Raum ein. Eigene Probleme jedoch (Bombennächte, Krankheit und Tod des Ehemannes, der Eltern, eigene Krankheiten, erlebte Vergewaltigungen und Diskriminierungen) werden zwar erwähnt, aber lang nicht so ausgiebig behandelt. Ich habe mich gefragt, ob der Grund dafür möglicherweise Verdrängung war. Oder eine spezielle Art der Verarbeitung? Ihrem Motto getreu? Schaffte sie es, den Schwerpunkt in ihrem Leben so zu legen, dass alles andere erträglich wurde?
An vielen Stellen merkte ich, wie sympathisch sie mir war. Neben dem Wohl der Tiere lag ihr stets auch das Wohl ihrer Mitmenschen am Herzen. Und immer wieder berichtete sie von ihren Tierpflegern, nannte dabei Namen und betonte ihre Wichtigkeit und ihre großartigen Leistungen.

Natürlich erlebt man hier auch ein ganzes Stück Zoogeschichte mit. Deutlich treten die Unterschiede zwischen damaligen Haltungsbedingungen und heutigen hervor. Bei Katharina Heinroth merkt man immer wieder, wie stark der Tierschutzgedanke bei ihr schon zur damaligen Zeit war. Ich habe das mit großem Interesse gelesen!

Am meisten beeindruckt hat mich der unglaubliche Lebensmut dieser Frau, die so viel geleistet hat und so viel kämpfen musste. Ihr eigener Schlusssatz im Buch sagt alles über ihre Lebenseinstellung aus: »Ich lebe ja so gerne.«

Fazit: Eine Frau mit einem großen Herz für Tiere kämpft sich durchs Leben und leistet ganz nebenbei Großes. Sehr beeindruckend!