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miss.mesmerized
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Bewertungen

Insgesamt 1245 Bewertungen
Bewertung vom 17.09.2019
Die Hölle ist leer - die Teufel sind alle hier
Roth, Gerhard

Die Hölle ist leer - die Teufel sind alle hier


ausgezeichnet

Emil Lanz arbeitet als literarischer Übersetzer. In seinem Leben sieht er aber schon lange keinen Sinn mehr und so beschließt er, diesem ein Ende zu setzen. Lange macht er sich Gedanken, wo und wie er dies am besten bewerkstelligen kann, ohne zu unangenehm für seine Umwelt und ihn selbst zu werden. Mit einer Waffe gewappnet, betrinkt er sich zunächst und schläft dann unerwartet ein. Geweckt von lauten Geräuschen beobachtet er einen Mord und ist sich nicht sicher, ob er tatsächlich noch am Leben ist und das, was er meint zu sehen, wirklich geschieht, oder ob sein Plan doch erfolgreich war und er sich irgendwo in einer Paralleldimension aufhält. Schnell merkt er jedoch, dass er sich in größter Gefahr befindet und mit ihm die rätselhafte Julia Ellis, die offenkundig in die mafiösen Strukturen verwickelt zu sein scheint, deren Weg er unfreiwillig gekreuzt hat.

„Noch am Vortag hatte er Selbstmord begehen wollen, und jetzt war er sogar bereit, um sein Leben zu laufen.“

Venedig – schon immer Sehnsuchtsort der literarisch und kulturell Bewanderten und Interessierten. Völlig überladen nicht nur die Erwartungen, sondern auch real die engen Gassen der Lagunenstadt. Mit den unzähligen Kanälen und Inseln natürlich ein hervorragender Schauplatz für allerlei Geschichten. Diese monumentale Umgebung kann schon einmal verführen der Phantasie freien Lauf zu lassen. Dies tut Gerhard Roth in seinem Roman und schickt seinen Protagonisten auf eine abenteuerliche Gaunergeschichte, bei der man bald als Leser auch nicht mehr weiß, was man welcher Dimension zurechnen soll.

„Er begriff jetzt auch das, was ihm widerfahren war, als Rätsel, und sogar im Augenblick, als er das dachte, befand er sich, der selbst ein Rätsel war, in einem geradezu unendlichen Rätsel. Er war in einen Irrgarten hineingeboren worden, dachte er, aus dem er sein gesamtes Leben vergeblich einen Ausgang suchte.“

Man kann einen Heidenspaß mit dem Buch haben – die Beschreibung Venedigs, die Anspielungen, Literatur und Kultur überall, Palazzi hier, vieldeutige Symbole da – und dann kommen Flüchtlinge, die Mafia, Morde und ein humorloser Commissario als brutaler Gegenwartskontrast. In welcher Welt die Handlung sich befindet ist selten so wirklich klar und die aberwitzigen Verfolgungen und Begegnungen sollte man nicht zu stark an der Realität messen, wenn man seine Freude an der Lektüre haben möchte. Auch der Übersetzer hadert ein wenig mit den Welten und Roths Spiel mit den Dimensionen reizt selbiges schon ziemlich aus.

„Der zeitliche Ablauf seines Sterbens war nicht chronologisch vor sich gegangen.“

Sprachlich ist der Roman kaum zu übertreffen, man kann ihn kaum ohne gezückten Bleistift zum Markieren der bemerkenswerten Stellen lesen. Vor allem auch ist es eine Hommage an Shakespeares „The Tempest“ (immer noch und immer wieder mein persönlicher Favorit), der allgegenwärtig ist und dem Roman auch zu seinem Titel verhalf. Die Magie, die in Shakespeares Stück eine wesentliche Rolle zukommt, ist zwar bei Roth nicht ganz so präsent, aber dass es eine unsichtbare lenkende Hand gibt, die die Figuren hin und her schiebt, ist offenkundig. Ohne Frage hat sich der Roman seine Nominierung auf der Longlist für den Österreichischen Buchpreis mehr als verdient.

Bewertung vom 16.09.2019
Laufen
Bogdan, Isabel

Laufen


ausgezeichnet

Vielleicht hilft Laufen ja, deshalb läuft sie einfach los. So wie früher, nur jetzt ohne Kondition. So muss sie sich erst einmal nur auf ihren Körper konzentrieren und kann alles andere vergessen. Das Andere, das ist Johann. War Johann. Ihr Partner, der sich das Leben genommen hat und sie allein zurückließ. Während sie ihre Runden um die Hamburger Alster dreht, kreisen ihre Gedanken über ihr Leben jetzt wieder allein. Die Anzeichen der Depression, die sie nicht erkannt hat, das Leben, das sie zusammen noch führen wollten, vielleicht sogar Kinder. Die Stunden bei der Therapeutin, die ihr helfen wenn auch nicht zu verstehen, dann doch damit umzugehen. Das Leben, das von einem auf den anderen Tag völlig aus dem Ruder gelaufen ist. Jeder Schritt, den sie läuft, ist auch ein Schritt in Richtung eines Lebens, das sie neu gestalten muss und schließlich auch gestalten will.

Isabel Bogdans Buch „Laufen“ ist eine große Überraschung, wenn man ein ähnliches Werk wie ihren Roman „Der Pfau“ erwartet hat. Kein feiner, geradezu britischer Humor erwartet den Leser, sondern der Gedankenstrom einer Frau, die versucht ihr Leben zu sortieren und ein unbegreifliches Ereignis zu begreifen. Sie beginnt mit kleinen Schritten, manchmal muss sie auch Rückschritte machen, aber letztlich geht es nach vorne.

„Deine Eltern tun, als wäre es meine Schuld, dabei mache ich mir die Vorwürfe doch schon selbst, und das ist überhaupt das Schwierigste, mir nicht selbst die Schuld zu geben(...)“

„Laufen“ ist ein sehr intimes Buch, das sich rein im Kopf der Erzählerin abspielt, dies hat Isabel Bogdan aber hervorragend eingefangen. Die vielen Arten negativer Emotionen, die sie durchläuft - Fassungslosigkeit, Verzweiflung, Aufgebenwollen, Verärgerung – werden spürbar und wirken nur allzu menschlich. Am schlimmsten wiegen die Selbstvorwürfe, die Überzeugung, dass sie das Unausweichliche hätte womöglich verhindern können, dabei gibt es nichts, was sie der Depression wirklich hätte entgegensetzen können. Neben dieser emotionalen Last, wiegt auch der Alltag schwer, der neu organisiert werden muss und dem doch ganz entscheidendes fehlt: der Mann an ihrer Seite.

„Manchmal, wenn es nachts schlimm ist, lege ich mir die zweite Bettdecke darüber, nicht weil mir kalt ist, sondern weil das zusätzliche Gewicht etwas Tröstliches hat.“

Mit präzisem Blick fängt sie die Kleinigkeiten ein, die sich plötzlich verändern und beinahe zur unüberwindbaren Hürde werden können. Auch das Verhalten der Menschen – ganz schlimm: Johanns Eltern – muss sie aushalten und sich in der veränderten Situation zu ihnen positionieren.

Trotz der Thematik, die von unheimlich viel Schmerz geprägt ist, hat mich das Buch begeistert. Es fällt nicht schwer, in den Kopf der Protagonistin zu klettern und sie auf ihrem Weg um die Alster und zurück ins Leben zu begleiten. Die Gedanken wirken authentisch und lebendig, das immer wieder Kreisen um dieselben Fragen, auf die es keine Antworten gibt, und schließlich die zaghaften Versuche sich wieder zu öffnen für die Welt. Ein einfühlsames Buch, das sicher auch viel Trost zu spenden vermag und verdeutlicht, wie fragil all das ist, was für feste Größen in unserem Leben halten.

Bewertung vom 15.09.2019
Du gehörst mir
Middendorp, Peter

Du gehörst mir


sehr gut

Tille Storkema wächst in einem niederländischen Dorf auf einem abgeschiedenen Bauernhof auf. Seine Eltern leben so, wie es seit Generationen der Fall war, bestimmt durch den Wechsel der Jahreszeiten, dem natürlichen Gang der Dinge folgend. Als er Ada kennenlernt, wirbelt diese sein Leben durcheinander, sie hinterfragt die nie in Frage gestellten Regeln, fügt sich letztlich aber in die kleine Gemeinschaft ein, denn so etwas wie Familie hat sie selbst nie kennengelernt und vielleicht ist das der Preis für ein Zuhause. Doch dann geschieht etwas, das Tille als er bereits Vater ist, von seinem üblichen Weg abbringt. Ein junges Mädchen, eine Wiese, ein Verbrechen. Doch er wird nicht gefasst. Zwei Jugendliche Asylbewerber verdächtigt man. Und Tille muss mit der Schuld leben.

Schon wenn man den ersten Satz von Peter Middendorps Roman liest, ist einem klar, dass der Autor seine Leser nicht schonen wird. Mit dem grausamen Unfall mit dem Mähdrescher, der Tilles Vater beinahe das Leben gekostet hätte, beginnt die Geschichte und legt den Grundstein für die völlige Verstörung des Jungen, die in dessen Erwachsenenleben erst richtig dramatische Züge annehmen wird. Der Blick in den Kopf eines Mannes, dessen Horizont begrenzt ist, der nie aus seinem Dorf herausgekommen ist und an dem jede Entwicklung vorbeigegangen ist. Keine leichte Lektüre und bisweilen grenzwertig bis verstörend.

Der Roman basiert lose auf dem Mord an der 16-jährigen Marianne Vaatstra, die 1999 in der Nähe ihres Elternhauses in Zwaagwesteinde vergewaltigt und ermordet wurde und deren Tod zu Ausschreitungen gegenüber den Bewohnern eines Asylbewerberheims führten. Der Täter wurde erst 2012 dank einer großangelegten DNA Analyse ausfindig gemacht. Bis dahin lebte der Bauer unbehelligt in der Nähe des Tatortes. Bei der Verhandlung sagte er aus, dass ihm, als er das Mädchen auf dem Fahrrad sah, plötzlich der Gedanke „Du gehörst mir“ durch den Kopf geschossen war und er nicht anders handeln konnte.

Middendorp findet die passende Sprache für dieses verstörende Verbrechen, für diesen gestörten Protagonisten. Starke Parallelen zur Natur ruft er hervor, um die Verbundenheit der Bauernfamilie zu unterstreichen; kurze Sätze und knappe Dialoge versinnbildlichen das schlichte Gemüt Tilles, der das Geschehen als Unfall sieht, der leider unvermeidlich war. Unfälle passieren halt, ohne dass jemand etwas dafür könnte. Ein schockierendes Buch, das so manchem Leser auch schwer zusetzen dürfte.

Bewertung vom 15.09.2019
Die Nachkommende
Zic, Ivna

Die Nachkommende


ausgezeichnet

Auf dem Weg zurück nach Kroatien, das bei ihrer Geburt noch Jugoslawien war, davor hieß es auch schon einmal Kroatien. Das Land, aus dem der Großvater einst vor dem Krieg flüchten wollte, die Eltern vor einem anderen Krieg flohen und das sie nur noch in den Ferien bereist. Um die Großeltern zu sehen, die Verwandten, die Kindheitsfreundinnen, zu denen sie aber weitgehend den Kontakt verloren hat. Quer durch Europa, über mehrere Grenzen, mehrere Sprachen hinweg. Und doch finden sich in ihr die Geschichten der früheren Generationen, spürt sie das, das da ist, über das man nie gesprochen hat, über das man nicht mehr sprechen will. Doch es bleiben Bilder und Erinnerungen, die sie in sich trägt und die auch sie überdauern werden.

Ivna Žics Roman ist für den Österreichischen Buchpreis 2019 nominiert und bietet genau das, was man von einem Kandidaten für diese Auszeichnung erwarten würde: ein Text, den man sich erarbeiten muss, der nicht unmittelbar und leicht zugänglich ist, der aber, wenn man sich daran macht ihn zu entfalten, viele Schichten an Denkanstößen bietet und trotz der Kürze eine unheimliche Tiefe erreicht. Es ist die Geschichte einer Generation, in deren Leben nichts stabil zu sein scheint. Weder Beziehungen noch Orte bieten Halt, immer auf der Reise zu oder weg von etwas, ohne genau zu wissen, wo man herkommt und wohin man geht.

„Jede Ankunft und jede Abreise lassen diese alte Geschichte noch älter werden. Und zugleich von vorne beginnen.“

Der sommerliche Familienbesuch der Erzählerin bietet den Hintergrund der Erzählung. Abfahren, Ankommen, die Zeit dazwischen zusammengepfercht mit Fremden in Bus oder Zug aushalten. Immer wieder dasselbe Spiel im Sommer, zu Ostern, zu Weihnachten, zu Beerdigungen und Hochzeiten. Zurück zu einer Kindheit, die langsam verblasst, in eine inzwischen fremde Welt. Die Häuser haben die Geschichte konserviert, unter vielen Lagen Farbe findet sich die vielen Lagen der politischen Systeme, der rivalisierenden Gruppen, der immer wieder neu beginnenden Zeit. Nur die Menschen schweigen:

„Der Großvater und dieses Land schwiegen bis zum nächsten Krieg und der Großvater noch etwas länger. Die Eltern, die Verwandten, alle, die gefragt werden, hören weg, winken müde ab (...)“

Die spezifische Beziehung zwischen Mensch und Raum, die dem Begriff „Heimat“ ihren individuellen Sinn verleiht, ist für diese Generation im Schwebezustand. Früh entwurzelt, um dem Krieg zu entkommen, fehlt den älteren Generationen die Kraft, ihnen das mitzugeben, was sie verorten könnte. Ganz anders als Saša Stanišić, der in seinem Roman „Herkunft“ dieselbe Thematik aufgreift – und dafür auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2019 steht – beleuchtet Ivna Žic das Schicksal der Generation von Kindern aus allen Teilen des früheren Jugoslawien, die heute über die Welt verstreut sind. In das öffentliche Bewusstsein dringt dies nicht vor, zu sehr sind sie an die neuen Länder angepasst und inzwischen von anderen Kriegsgeflüchteten abgelöst worden. Aber in der Literatur scheint ihr Thema wenigstens einen Ort zu finden.

Bewertung vom 15.09.2019
Drei
Mishani, Dror

Drei


ausgezeichnet

Drei Frauen, drei Schicksale. Orna ist von ihrem Mann verlassen worden und nun mit dem Sohn Eran, der wegen seiner multiplen Auffälligkeiten permanent in psychologischer Behandlung ist, alleine. Über eine Dating-App lernt sie einen Mann kennen, der in einer ähnlichen Trennungssituation zu stecken scheint und der in ihr die Hoffnung weckt, dass auch sie wieder einen Partner finden könnte, mit dem sie glücklich sein kann. Emilia sucht weniger nach dem Glück, nachdem der Mann, den sie mehrere Jahre lang gepflegt hat, verstorben ist. Die gebürtige Lettin benötigt dringend eine neue Arbeit, um in Israel bleiben zu können. Doch die Familie ihres neuen Pflegefalles ist ihr nicht wohlgesonnen. Auch Ellas Leben schenkt ihr gerade wenig Freude, die drei Kinder stressen sie und mit Mitte 30 hat sie immer noch nicht ihr Studium abgeschlossen. Eine zufällige Begegnung in einem Café bringt wenigstens wieder etwas Reiz in den Alltag.

Mir ist Dror Mishani bereits als Autor der Avi Avraham Reihe bekannt, die mich mit jedem Band begeistern konnte. In seinem aktuellen Roman „Drei“ kommt der Ermittler nicht vor, insgesamt erweckt der Roman zunächst ohnehin nicht den Anschein, überhaupt ein spannendes Element zu enthalten. Doch dann lässt Mishani sein ganzes Können zum Vorschein kommen und bietet dem Leser eine unglaublich clever konstruierte Geschichte, die einem immer wieder auf falsche Fährten schickt und die alle scheinbar losen Teile perfekt zusammenlaufen lässt.

Es ist nicht einfach zu diesem Roman eine Rezension zu schreiben ohne zu viel von der Handlung zu verraten und die wirklich gelungenen Überraschungsmomente für potenzielle Leser kaputtzumachen. Mishani brilliert auf allen Ebenen: der geniale Handlungsverlauf, der auf einer ausgeklügelten Figurenzeichnung basiert, wird durch den ruhigen, bisweilen fast monotonen Erzählton unterstützt, der vor sich hinplätschert, bis der Autor den Leser brutal aus der Lethargie reißt. Glaubt man ein Schema zu erkennen, hat man sich geirrt, so leicht lässt er einem nicht davonkommen.

Ein außergewöhnlicher Roman, der durchaus auch gesellschaftskritische Züge aufweist und so Spannung mit Anspruch gekonnt kombiniert und nur unterstreicht, weshalb Mishani aktuell als einer der besten israelischen Krimiautoren gilt.

Bewertung vom 14.09.2019
Cherubino
Grill, Andrea

Cherubino


sehr gut

Die Nachricht von der Schwangerschaft trifft die Opernsängerin Iris Schiffer unerwartet. Gerade in Richtung Höhepunkt ihrer Karriere und nun das. Soll sie das Kind überhaupt behalten? Und wer ist der Vater, der emotionsgeladene Sergio, ebenfalls Sänger, oder der eher kühle Geschäftsmann Ludwig? Ihre Rolle als „Cherubino“ an der New Yorker Met kann sie jedenfalls deshalb nicht riskieren und beschließt erst einmal, das Geheimnis für sich zu behalten. Doch bald schon verändert sich ihr Körper, fordert Ruhephasen und Schlaf, gleichzeitig aber auch steigt ihre Ausdrucksfähigkeit. Während man sie in New York bejubelt, hadert sie mit ihrer Rolle bei den Salzburger Festspielen: soll sie das Engagement gefährden und den Verantwortlichen beichten, dass sie ein Kind erwartet?

Mozarts „Le nozze di Figaro“ dient als Namensgeber für Andrea Grills Roman, der auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2019 steht. So wie Cherubino sich in der Oper verkleidet und vorgibt etwas zu sein, das er nicht ist, muss auch die Protagonistin eine Rolle spielen, da die Wahrheit ihr karrieretechnisch schaden würde. Cherubino spielt eine Frauenrolle, Iris schlüpft in die einer männlichen Figur und das in schwangerem Zustand – diese Absurdität wird nur von der Realität im Umgang mit Schwangerschaft und den damit einhergehenden vermeintlichen Schutzgesetzen übertrumpft, die nicht nur die Wünsche der Frauen nicht berücksichtigen, sondern wie im Falle von Iris, sogar richtig schaden können.

Andrea Grill bietet gleich mehrere diskussionswürdige Themen in ihrem Buch an. Die Liebesgeschichte - die mich zugegebenermaßen weniger begeistern konnte – einer Frau, die zwischen zwei Männern steht und sich nicht entscheiden kann und will, da beide eine Rolle in ihrem Leben spielen. Die gesellschaftlichen Versprechungen, dass für die moderne Frau alles möglich sein, was sich aber spätestens mit Eintritt der Schwangerschaft als bloßer Schein entpuppt. Das Verhältnis von Mann und Frau: Ludwig kann sich der Vaterschaft einfach entziehen, für Iris gibt es diese Option nicht. Die Unsicherheit in der Schwangerschaft, was ist normal, was darf man, was soll man besser lassen, ein eigentlich natürlicher Vorgang, der heute maximal medizinisch begleitet und überwacht wird und allein aus diesem Grund viel mehr Gefahr ausstrahlt, als dies in den unzähligen Generationen zuvor je der Fall gewesen war. Alles überschattet jedoch die Auswirkungen auf Iris‘ beruflichen Möglichkeiten:

„Der sogenannte gesetzliche Schutz, hatte Iris sich ereifert, erreicht bei mir das Gegenteil, nämlich, dass er mich zwingt, meine Karriere am Höhepunkt abzubrechen. Was würdest du sagen, wenn man dir gesetzlich verboten würde, in Bregenz aufzutreten, weil du ein Kind erwartest? Obwohl du dich fit genug fühlst und die Rolle aus eigenem Entschluss singen möchtest?“

Ob man in ähnlicher Situation wie Iris gehandelt hätte, muss jeder Leser für sich entscheiden. Eine Lösung kann es hier nicht geben. Unabhängig von der Inhaltsebene hat mich Andra Grills Schreibstil überzeugen können. Der Roman, komponiert wie eine Oper, gefällt mir auch dramaturgisch recht gut. Vielleicht ist es gerade das bisschen zu viel Gefühlsduselei, das die Emotionen der Protagonistin wiederspiegelt, das mir persönlich zu viel war, aber genauso auch die rationale Sängerin überrascht. Nicht der ganz große Kandidat für die Shortlist, aber durchaus ein Roman, der einiges zu bieten hat.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 12.09.2019
Das flüssige Land
Edelbauer, Raphaela

Das flüssige Land


sehr gut

Der plötzliche Unfalltod ihrer Eltern wirft Ruth Schwarz völlig aus der Bahn; als ihre Tante dann noch erwähnt, dass die Eltern aufgrund ihrer engen Beziehung zu Groß-Einland dort beerdigt werden sollten, ist sie völlig verwirrt. Was ist das für ein Ort, von dem sie nie etwas gehört hat? Die Wiener Physikerin macht sich auf in die Provinz und findet tatsächlich ein beschauliches Städtchen diesen Namens, das völlig aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Eigentlich wollte sie nur kurz dort bleiben, aber ein seltsames Naturphänomen weckt ihre Neugier: Mitten im Ort befindet sich ein großes Loch, das den ganzen Lebensraum regelrecht aufzusaugen droht. Doch nicht nur dieses Loch und seine Geschichte ist höchst mysteriös, auch die Bewohner, allen voran die alles wissende und bestimmende Gräfin, lassen Ruth wundern und nicht mehr los. Aus der kurzen Visite wird plötzlich ein immer längerer Aufenthalt.

Raphaela Edelbauers Roman ist gleich für zwei Auszeichnungen nominiert, er steht sowohl auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis, wie auch auf jener für den Österreichischen Buchpreis 2019. Unweigerlich ist da die Neugier besonders groß, zwei Jurys können sich kaum irren. Was die Nominierung jedoch nicht verrät, ist, dass nicht jedes Buch zu jedem Leser passt und „Das flüssige Land“ setzt voraus, dass man das märchenhafte und fantastische Element entweder sowieso liebt oder großzügig darüber hinweglesen kann. Wer auf authentische Handlung steht, ist bei diesem Roman eher schlecht beraten.

So verlangte der Text mir auch einiges ab. Bisweilen hatte ich den Eindruck Mitten in „Alice im Wunderland“ gelandet zu sein. Das Raum-Zeit-Kontinuum scheint aufgehoben und das Figurenpersonal ist ein Sammelsurium von Kuriositäten, allen voran die Gräfin. Das hat einen gewissen Reiz, wird auch sprachlich ansprechend und überzeugend umgesetzt, entbehrt gleichermaßen aber jeden Realismus. Zwar wird die Handlung immer wieder historisch wie auch naturwissenschaftlich eingebettet, aber so ganz wurde ich den Eindruck der Fantasiewelt nicht los. Das Mysterium um das Loch bietet ein gewisses Spannungsmoment, wird aber etwas zu langatmig abgehandelt. Auch das Ende kann mich nur bedingt überzeugen, zu bemüht wird die Ordnung wieder hergestellt.

Man den Roman womöglich als Parabel lesen, die unter anderem Fragen nach dem menschlichen Umgang mit der Umwelt, nach ethischer Verantwortung und vermeintlichem kollektivem Gedächtnisverlust oder auch der fragwürdigen Gesellschaftsstruktur aufwirft. Vielleicht erfreut man sich auch einfach an der geradezu fabelhaften Welt mit ihren kuriosen Figuren. Literarisch so gar nicht meine Welt, weshalb mich der Roman nicht wirklich erreichen konnte. Gerettet hat ihn der Schreibstil, viele pointierte Zuspitzungen, die gekonnt formuliert sind und ein in sich stimmiges Szenario mit liebevoll gestalteten Figuren.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.09.2019
Hier sind Löwen
Poladjan, Katerina

Hier sind Löwen


ausgezeichnet

Die Restauratorin Helen Mazavian reist nach Armenien, um die dort übliche Kunst der Buchbinderei kennenzulernen. Nicht ganz ohne persönlichen Bezug hat sie das ferne unbekannte Land ausgewählt, stammen doch ihre Vorfahren von dort. Außer dem Namen und einer alten Fotografie ist ihr jedoch nichts geblieben. Das Buch, an dem sie arbeitet, fasziniert sie, auch wenn sie zunächst mühsam die armenischen Schriftzeichen entziffern muss. Die Familienbibel ist das einzige, was die beiden Kinder Anahid und Hrant auf ihrer Flucht retten konnten und die die Spuren ihres Daseins und ihrer Familie enthält. So wie sich Helen dem Schicksal der beiden Flüchtlinge nähert, versucht sie auch ihre eigene Geschichte zu ergründen und sucht nach Spuren rund um den mystischen Berg Ararat.

Katerina Poladjan nimmt den Leser mit auf eine Reise in ein unbekanntes Land, das man zusammen mit der Protagonistin versucht zu ergründen. Die Geschichte der Armenier wird in unzähligen Begegnungen thematisiert, aber so wie das Volk in der globalen Diaspora verteilt lebt, bleibt auch das Bild, das man von Armenien gewinnt, eher eine Sammlung von Momentaufnahmen, die jedoch kein klares und vollständiges Bild liefern.

Verdient hat die Autorin die Nominierung auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2019 aufgrund ihrer unglaublich poetischen Sprache, die exakt und präzise die Handlungsabläufe der Restauratorin schildert und dies doch in einer Weise zu tun vermag, die fesselt und verzaubert. Mechanische Vorgänge erhalten so eine geradezu magische Anziehungskraft, seitenweise hätte ich dank Poladjans Ausdrucksstärke über die Buchbindekunst lesen können. Dazwischen kann sie aber auch urkomisch werden, viele Dialoge sprühen geradezu vor feinem Sprachwitz und führen die zum Teil verstaubten Ansichten aus beiden Ländern bisweilen ad absurdum.

In ihrer Protagonistin spiegelt sich die Zerrissenheit des Landes und des Volkes, dessen Geschichte von Krieg und Flucht geprägt war. Die kurzen Einblicke Kultur zeigen jedoch eine tiefe Verwurzelung rund um den Ararat und das Festhalten an Traditionen, egal ob in der Nähe oder der Ferne. Die Gegenwart droht jedoch mit ihren neuen Problemen, die geflüchteten aus Syrien, auch wenn sie Armenier sind, werden nicht unbedingt mit offenen Armen empfangen; auch Familienstrukturen, das einzig verlässliche eines immerfort bedrohten Volkes, lösen sich zunehmend auf. Die Autorin schafft den Spagat zwischen dem Gestern und dem Heute und ebenso zwischen den Kulturen, die sich zunehmend vermischen, durch die Migration neue Formen ausbilden und dadurch zunehmend eindeutige Identitäten verweigern. Jeder ist ein bisschen was von dem, was die Vorfahren weitergegeben haben, was er erlebt hat und was er sucht und findet in seinem Leben. Blinde, weiß Flecken werden jedoch bleiben, dort sind dann eben wohl die Löwen.

Sicherlich kein Buch, das die Massen begeistert, für den richtigen Leser zur richtigen Zeit jedoch ein Hochgenuss.

Bewertung vom 09.09.2019
Schutzzone
Bossong, Nora

Schutzzone


ausgezeichnet

Im Büro der Vereinten Nationen in Genf hat Mira viel zu tun, aktuell laufen die Vorverhandlungen für den Friedensprozess auf Zypern. Auf einem Empfang trifft sie Milan wieder, bei dessen Familie sie als Kind einige Monate lebte und dessen Vater von einem Krisenherd zum nächsten flog und dessen Familie ihr die Welt der großen Politik öffnete. Auch Mira verfällt dem Glauben, etwas in der Welt bewegen, Frieden stiften und Unrecht ahnden zu können. Doch je mehr Katastrophen sie in Augenschein nimmt, desto mehr schwindet dieser Glaube und ihr Wirken und das der NGOs wird hinterfragt. Dient sie nur einem Selbstzweck, dem Erhalt der Organisation? Zugleich muss sie sich dann der Frage stellen, welchen Sinn sie in ihrer Lebensführung sieht und vor allem: was Milan ihr eigentlich bedeutet.

„und manchmal, nur manchmal, überkommt mich die Angst, das falsche Leben zu leben, als würde es das richtige irgendwo geben, aber man berührt immer nur den Ersatz, die Fälschung“

Nora Bossongs Roman, nominiert auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2019, verknüpft geschickt unterschiedliche Themen, die ihre Protagonistin beschäftigen: die große Frage nach dem Sinn des Lebens, als junge Frau der Widerspruch zwischen Karriere und Familie und vor allem die große Politik und die Sinnhaftigkeit oder Sinnfreiheit der Friedensmissionen und wie diese vor Ort an den Plätzen unglaublicher Grausamkeiten wahrgenommen werden. Hinter allem lauert aber noch die ganz große Frage, was denn eigentlich wahr ist, wer darüber die Deutungshoheit besitzt und ob es nicht zugleich mehrere Wahrheiten geben kann. Das ist eine ganze Menge und keiner dieser Einzelaspekte ist literarisch einfach und überzeugend umzusetzen. Der Autorin gelingt es aber, diese in einer einzigen Geschichte glaubwürdig motiviert und sprachlich wie dramaturgisch überzeugend zusammenzuführen.

Man weiß gar nicht, wo man anfangen soll, so viel Bemerkenswertes und Erwähnenswertes bietet der Roman. Die Erzählung auf zwei Zeitebenen – Miras Erfahrungen in den unterschiedlichen Krisenregionen einerseits, das Wiedersehen mit Milan während der Genfer Zypernverhandlungen andererseits – erlaubt die zwei großen Handlungsstränge parallel entwickeln zu lassen. Die junge Frau, die mit großen Erwartungen an die Arbeit bei der UNO geht und im Laufe der Zeit einen kritischen Blick für ihr Wirken entwickelt und am Ende sogar fast kapituliert, entwickelt sich parallel zu jener Frau, die in dem Kindheitsfreund plötzlich mehr zu sehen scheint als nur einen alten Vertrauten. Unsicherheit zu Beginn, wohin soll das führen, dann scheint es Möglichkeiten zu geben, Hoffnungen erwachsen, aber die Rechnung war zu einfach, hat wesentliche Faktoren übersehen.

Auch wenn es ein ernüchterndes Fazit ist, das die Protagonistin zieht, so waren doch die Kapitel um den Genozid in Ruanda und die Verantwortung der Weltöffentlichkeit für mich die mit Abstand stärksten. Der Kolonialherrenhabitus, der nie wirklich abgelegt wird, das systematische Wegschauen, weil’s bequemer ist, die Lebenswelt der Lokalbevölkerung, die den Helfern nie wirklich zugänglich ist und überhaupt die Blase, die diese um sich herum bauen und die die Illusion trägt, dass ihre Arbeit richtig und wichtig wäre und einen Beitrag zur Gerechtigkeit leisten könnte, werden plausibel und überzeugend durch die Handlung verdeutlicht ohne so eine mahnende oder gar besserwisserische Stimme zu benötigen.

Nora Bossong entlarvt geschickt Ambivalenzen sowohl auf moralischer wie politischer Ebene und hinterfragt große Begriffe, mit denen sie Ihre Kapitel überschreibt: Frieden, Wahrheit, Gerechtigkeit, Versöhnung. Ein Roman, der bisweilen unter die Haut geht und sich nachdrücklich einbrennt. Für mich der heißeste Kandidat auf den Gewinn des Buchpreises in diesem Jahr.

Bewertung vom 08.09.2019
Flammenwand.
Streeruwitz, Marlene

Flammenwand.


ausgezeichnet

Im März ist es noch erschreckend kalt in Stockholm. Adele wollte nur schnell Kaffee kaufen und ist schon wieder auf dem Rückweg, als sie vor sich auf der vereisten Straße Gustav entdeckt, der offenbar bereits die gemeinsame Wohnung verlassen hat. Sie folgt ihm, vermutlich ist er auf dem Weg in ihr Café, wo sie gerne immer am selben Tisch das Frühstück genießen. Doch sie kann ihn nicht einholen, Bilder vermischen sich in ihren Gedanken, der aktuelle Tag mit bereits erlebten, immer wieder denselben Begebenheiten. Doch längst ist schon nicht mehr alles im Lot, denn sie weiß von Gustavs Doppelleben, von der unerfüllten Liebe, die sie wieder einmal erlebt hat. Die Gedanken beginnen zu kreisen, alles in ihrem 52-jährigen Leben muss sie nun plötzlich in der Fremde infrage stellen.

Marlene Streeruwitz lässt ihre Protagonistin durch die Hölle gehen. Eine ganz bestimmte Hölle, die sie mit dem Titel bereits verortet: die Flammenwand findet sich in Dantes „Göttlicher Komödie“ auf der siebten und damit letzten Terrasse des Läuterungsberges und gilt als der Ort, an dem das sexuelle Begehren überwunden werden muss, bevor der Weg ins Paradies geebnet ist. Die sinnliche Welt muss verbrennen, um den Blick für das Göttliche frei zu machen. Viel dramatischer und höher könnte die Autorin die Referenz kaum setzen als sich auf eines der epochalsten und einflussreichsten Werke der westlichen Literatur zu beziehen. Aber kann sie diesem selbstgesetzten Vergleich gerecht werden?

„Sie liebte. War das nicht das erhoffte Abenteuer. Das hatte sie doch herbeigewünscht. Herbeigesehnt. Dieses Teilen, das aus allem mehr machte. Aber es ließ sich nichts aufrufen. Die Bilder flach. Die Bilder zerrannen. Nur die Kälte zu spüren.“

Das Ende einer Beziehung ist nie schön, vor allem für denjenigen, der zu lange im Glückstaumel war und den Blick für die Realität verloren hatte, der blind vor Liebe war und die Anzeichen nicht erkannte. Adele muss schmerzlich erkennen, dass sie betrogen wurde und alles verloren hat, nicht mal mehr ein richtiges Zuhause hat sie, nachdem sie für Gustav von Wien nach Stockholm gezogen ist. Die gänzlich unabhängige Frau, die sich abhängig machte und teuer dafür bezahlen muss. Ausgerechnet einem Mann mit längst überholten, patriarchalen Vorstellungen verfallen zu sein.

Der Stream of Consciousness der Protagonistin wird mit jedem neuen Kapitel unterbrochen. Daten, die zunächst nicht zur Handlung passen wollen, versehen mit Fußnoten, die tagtäglich neue politische Absurditäten aus Österreich vermelden. Schnell jedoch sind die Parallelen offenkundig: wie Adele in die Liebesgeschichte taumelt, aus der sie verkatert erwacht, scheinen unsere südlichen Nachbarn die politische Gefahr, in der sie sich befinden, trotz der offenkundigen Zeichen wegen der rosaroten Brille nicht sehen zu wollen oder zu können. Streeruwitz war ihrer Zeit voraus, denn der Ibiza Skandal, der das Land erschüttern sollte, wurde erst im Mai 2019, wenige Tage vor der Buchveröffentlichung bekannt.

Keine leichte unterhaltsame Lektüre, aber ein sprachlich wie dramaturgisch gelungenes Buch, dessen Feuer sich langsam entwickelt und das Potenzial im Laufe der Geschichte entfaltet. Nicht unverdient findet sich der Roman auf der Longlist sowohl für den Deutschen Buchpreis 2019 wie auch für den Österreichischen Buchpreis 2019. Für mich bis dato ganz eindeutig einer der heißen Favoriten.