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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 895 Bewertungen
Bewertung vom 30.08.2017
Mein vergötterter Sohn Sisi
Delibes, Miguel

Mein vergötterter Sohn Sisi


gut

Ein Unsympath

Miguel Delibes war in seiner Heimat Spanien als Schriftsteller sehr erfolgreich, er hat ein beeindruckendes Œuvre von etwa 70 Büchern vorzuweisen. Zu dem auch der vorliegende, 1953 veröffentlichte Roman «Mein vergötterter Sohn Sisí» aus dem Frühwerk gehört, 1976 verfilmt und erst 2003 auch auf Deutsch erschienen. Neben den vielen Ehrungen im spanischen Sprachraum war er auch mehrfach Kandidat für den Nobelpreis. Seine frühen Romane sind stark durch den Spanischen Bürgerkrieg geprägt und werden zur sozialrealistischen Literatur eines Landes gezählt, dessen tiefe gesellschaftliche Gegensätze darin thematisiert werden.

Der deskriptive Titel deutet schon darauf hin, es handelt sich hier um einen Familienroman. Der ist zeitlich in drei Abschnitte gegliedert, wobei im ersten Buch ein Zeitraum von 1917 bis 1920 behandelt wird. Im Mittelpunkt steht dabei der wohlhabende Cecilio Rubes, der in einer spanischen Provinzstadt einen alteingesessenen Sanitärhandel betreibt. Verheiratet ist der fette, selbstgerechte, antriebslose Mann mit einer ungebildeten, frigiden Frau, die den sexuell aktiven Enddreißiger geradezu in die Arme anderer Frauen treibt. Er hält sich prompt mit Paulina eine viel jüngere, attraktive Geliebte, für die er eine Wohnung eingerichtet hat, sein Liebesnest, ohne das er nicht leben könnte. Als sich trotz unterkühlter Ehe spät, und von ihm eigentlich ungewollt, Nachwuchs einstellt, ist der auf Reputation bedachte Macho plötzlich ganz aus dem Häuschen, sein langweiliges Leben bekommt damit überraschend einen Sinn. Man erkennt schon bald, wie er den Sohn verhätscheln wird, und Cecilio Rubes macht dann auch so ziemlich alles falsch in der Erziehung, was man falsch machen kann, der vergötterte Junge wird zum Abbild seiner selbst. Im zweiten Buch dann (1925-1929) erleben wir, wie aus dem Kind ein verwöhnter, nichtsnutziger, bösartiger Tyrann wird, dessen Mutter schier verzweifelt, weil der despotische Vater jedwede Erziehung vereitelt nach dem Motto: Mein Sohn soll es gut haben, Erziehung ist was für die Armen. Schließlich aber holt im dritten Buch (1935-1938) der Bürgerkrieg den verzogenen Sisí aus seinem Lotterleben heraus, er muss an die Front, und auch der Vater erwacht am Ende aus seiner Realitätsferne, er erkennt, viel zu spät allerdings, dass er total versagt hat.

Frauen sind das beherrschende Thema in dieser ausufernden Geschichte, immer wieder werden, nicht nur im Herrenclub, ihre Hüften und Fesseln bewundert. Zeittypisch und wohl auch dem prüden Katholizismus verpflichtet ist die Sexualität hier zwar allgegenwärtig, sie unterliegt aber sprachlich einer fast schon grotesk anmutenden Verklausulierung, der Roman ist jedenfalls jugendfrei ab null Jahre. Die geschilderte, abstoßend patriarchalische Gesellschaft ist für uns Heutige einerseits schwer erträglich, man spürt aber andererseits permanent den ironischen Unterton des Autors, der durch Übertreibungen und durch grotesk überzeichnete Figuren die Distanz zum Erzählten sehr deutlich herstellt.

Weite Teile des Plots entwickeln sich aus Dialogen heraus, zu denen sich oft die innere Rede gesellt, manchmal im schnellen Wechsel mit der direkten Rede, womit das unredlich Gesagte immer wieder virtuos konterkariert wird mit dem tatsächlich Gedachten, was ich so, in dieser Konsequenz, noch nie gelesen habe. Berührend auch eine Stelle, als die Mutter von Cecilio stirbt. «Für ihn hatte seine Mutter soeben den Raum verlassen, ohne dass sich die Türen oder Fenster geöffnet hätten». Angesichts der Leiche fragt er sich: «Nun, das ist sie nicht. Was hat diese Gestalt mit meiner Mutter gemeinsam?» Dieser in der Franco-Ära geschriebene, opulente Roman lässt sich sehr viel Zeit, seine Geschichte vor uns auszubreiten. Die ersten hundert Seiten sind zäh zu lesen, bis Seite 200 etwa legt die Geschichte erzählerisch langsam zu, sie steigert sich danach allmählich zum so nicht absehbaren Ende hin. Man braucht also einiges an Geduld!

Bewertung vom 27.08.2017
Das kunstseidene Mädchen
Keun, Irmgard

Das kunstseidene Mädchen


sehr gut

Ein Buch für die Stadt

Als «Asphaltliteratur» mit antideutscher Tendenz standen die Bücher von Irmgard Keun auf der Schwarzen Liste der Nazis, kurz nachdem die Schriftstellerin mit «Das kunstseidene Mädchen» 1932 ihren zweiten Roman mit großem Erfolg publiziert hatte. Kein Geringerer als Alfred Döblin hatte sie nach erfolglosen Versuchen als Schauspielerin zum Schreiben animiert, und Kurt Tucholsky prophezeite ihr dann als neuem Stern am Literaturhimmel eine große Zukunft. Nach Jahren im Exil konnte sie nach dem Krieg aber an ihre frühen Erfolge nicht mehr anknüpfen, erst Ende der siebziger Jahre wurde sie wiederentdeckt als prominente Vertreterin der «Neuen Sachlichkeit», einer literarischen Strömung in der Zwischenkriegszeit, für die der vorliegende Zeitroman als archetypisches Beispiel gilt.

Der Plot ist zeitlich Ende der Weimarer Republik angesiedelt, seine Ich-Erzählerin, - autobiografische Bezüge zur Autorin sind unverkennbar -, ist eine junge Frau aus der Unterschicht einer mittleren Stadt. Ihre Mutter arbeitet als Garderobiere am Theater, ihr Stiefvater ist arbeitslos. Nachdem die achtzehnjährige Doris als Stenotypistin entlassen wurde, versucht sie sich als Edel-Statistin, hat diverse Männerbekanntschaften und stielt in einem unbedachten Moment einen wertvollen Fehmantel. Aus Angst vor der Polizei flieht sie nach Berlin und sucht dort ihre Chance. Ihr Traum vom «Glanz», womit sie in ihrer unbedarften Sprache eine glänzende Karriere am Theater oder beim Film meint, aber auch eine Ehe mit einem reichen Mann, erfüllt sich in der Metropole ebenfalls nicht. Jede Form von Arbeit lehnt sie als Lebedame vehement ab, damit könne man keinen «Glanz» erreichen, glaubt sie, und schnorrt sich durch bei wechselnden Männern, hält sich jedoch nicht für eine Hure. So irrt sie also zwischen ihren verschiedenen Männerbekanntschaften und der Obdachlosigkeit hin und her, übernachtet schlimmstenfalls im Wartesaal des Bahnhofs. Vorübergehend lebt Doris im Luxus bei einem ihrer reichen Freier, wobei diese Beziehungen nie von Dauer sind und allesamt abrupt enden. Auch wenn es gegen Ende des Romans beinahe danach aussieht, eine positive Zukunft für die zwar clevere, aber ungebildete junge Frau aus dem Prekariat ist letztendlich kaum absehbar. Wenn Karl sie nicht wolle, «arbeiten tu ich nicht», dann gehe sie lieber auf den Strich. «Auf den Glanz kommt es nämlich vielleicht gar nicht so an» heißt es dazu im letzten Satz.

Dieses Melodram vom armen Mädchen in der bösen Großstadt ist in einer wunderbar dem Sujet angepassten, amüsanten Sprache geschrieben, ein alle Grammatik missachtendes falsches Deutsch wie in einem grottenschlechten Schüleraufsatz. Nach anfänglicher Irritation liest man sich schnell ein in eine derartige, auch Gossenjargon, Schlagertexte und Werbesprüche mit einbeziehende, holprig naive Prosa. Die damit aber eine Welt des Bildungsbürgertums insinuiert, in der sich statt Standeszugehörigkeit die fehlende Bildung als ein absolut gnadenloses Ausschluss-Kriterium erweist. Trotz ihrer mühelosen Erfolge bei Männern fühlt die attraktive Doris sich deshalb wie ein Niemand, sie bleibt als Frau immer ein schlechter Ersatz, Kunstseide eben statt echter Seide. «Man sollte nie Kunstseide tragen, denn die zerknautscht dann so schnell mit einem Mann» heißt es an einer Stelle im Buch. Und Gott solle ihr doch bitte «eine feine Bildung» machen, wünscht sie sich, das übrige mache sie selbst, «mit Schminke».

Immer wieder schreibt Doris trotz ihrer sprachlichen Unbeholfenheit in ihr liniertes Notizbuch. Die beißende Gesellschaftskritik mithin, die wir da lesen, erscheint quasi als Autobiografie der sympathischen Protagonistin. Deren unbeirrter Lebensmut behält stets die Oberhand in dem kunstvoll angelegten Plot, allen Rückschlägen zum Trotz. Dieser unbedingt lesenswerte Roman wurde 2003 von einer beherzten Jury in Köln zum Auftakt der Aktion «Ein Buch für die Stadt» ausgewählt. Chapeau, kann ich da nur sagen!

Bewertung vom 25.08.2017
. . . und alle Fragen offen
Reich-Ranicki, Marcel; Löffler, Sigrid; Karasek, Hellmuth

. . . und alle Fragen offen


sehr gut

Die Höflichkeit der Kritik

War früher alles besser? Keineswegs! Aber TV-Sendungen wie «Das literarische Quartett» von Marcel Reich-Ranicki, Sigrid Löffler und Helmuth Karasek im ZDF, denen trauern literarisch Interessierte wie ich heute noch nach. Denn es gibt nichts Vergleichbares mehr, die 2015 wiederbelebte Nachfolge-Version unter gleichem Namen mit Volker Weidermann ist nur ein müder Abklatsch des ursprünglichen TV-Formats. Das Beste aus den Sendungen kann man allerdings in einer sorgfältig editierten Buchausgabe unter dem Titel «…und alle Fragen offen» nachlesen, jenem Zitat von Brecht aus «Der gute Mensch von Sezuan», mit dem MRR traditionell seine Sendungen beendete. Der dickleibige Band erweist sich als nützliches Kompendium der Literaturkritik und ist geeignet, dem Leser am Beispiel der besprochenen und kontrovers diskutierten Bücher diejenigen Kriterien zu verdeutlichen, die gute Literatur von schlechter unterscheiden, - nach subjektiver Meinung der jeweiligen Diskutanten allerdings. Darüber hinaus aber erwartet den Leser eine vergnügliche Lektüre, deren Unterhaltungswert manche satirische Prosa weit in den Schatten stellt.

«Meine Damen und Herren, dies ist keine Talk-Show. Was wir ihnen zu bieten haben ist nichts anderes als Worte, Worte, Worte. 75 Minuten lang Worte und, wenn’s gut geht – es ist ein Ziel, aufs Innigste zu wünschen -, vielleicht auch Gedanken. Wir werden über Bücher sprechen und über Schriftsteller. Also nichts anderes als Literatur». Mit diesen Worten leitete MRR am 25.3.1988 die erste Sendung ein. Bis Ende 2001 wurden in wechselnder Besetzung 77 Sendungen mit von niemandem für möglich gehaltenen Einschaltquoten für ein solch anspruchsvolles Format ausgestrahlt, einzelne Sendungen erreichten bis zu 1,5 Millionen Zuschauer. Zu seinem apodiktischen Konzept erklärte der Kritikerpapst: «Wir werden über Bücher sprechen, und zwar, wie wir immer sprechen: liebevoll und etwas gemein, gütig und vielleicht ein bisschen bösartig, aber auf jeden Fall sehr klar und deutlich. Denn die Deutlichkeit ist die Höflichkeit der Kritik, der Kritiker». Und weiter: «Gibt es im ‹Quartett› ordentliche Analysen literarischer Werke? Nein, niemals. Wird hier vereinfacht? Unentwegt. Ist das Ergebnis oberflächlich? Es ist sogar sehr oberflächlich».

Das Buch nun enthält auf 768 Seiten 134 Buchbesprechungen aus 63 Sendungen in verkürzter und editorisch überarbeiteter Form, ergänzt um einen Anhang mit Bücherliste und Personenregister. Das Inhaltsverzeichnis listet zu Beginn chronologisch die Sendungen und die darin jeweils besprochenen Bücher auf, im Anhang findet man außerdem eine alphabetische Liste der besprochenen Bücher nach Autoren. Dieses Sachbuch erfüllt gleich zwei nützliche Funktionen. Es ist einerseits ganz profan ein kleines Nachschlagewerk für Leser auf der Suche nach einem guten Buch, in dem man viele wichtige Autoren findet, andererseits aber auch ein Füllhorn an Beispielen für die kritisch analytische Herangehensweise an ein literarisches Werk.

Und auch wenn es dabei oft sehr polemisch zugeht in den Disputen des Quartetts, zu regelrechten Entgleisungen kommt, wenn zugespitzt subjektiv argumentiert und erkennbar ungerecht geurteilt wird, gegenüber den von Anzeigenabteilungen gepushten, wachsweich formulierten Gefälligkeits-Rezensionen des Feuilletons wird hier sehr wohltuend klare Kante gezeigt. Allerdings sind dann auch, wie bei den römischen Gladiatoren, scheinbar nur noch zwei Gesten möglich: Daumen hoch oder Daumen runter. Zwischentöne jedenfalls fehlen völlig, und Einstimmigkeit gibt es fast nie. Aber zu lachen gibt es reichlich, und en passant wird man auch noch bereichert, erfährt so manches aus dem Universum der Literatur, in dem das einzelne Buch ja nur ein winziger Stern ist am literarischen Firmament.

Bewertung vom 23.08.2017
Frau Jenny Treibel
Fontane, Theodor

Frau Jenny Treibel


ausgezeichnet

Vom Meister der Plaudertons

Dem Olymp der deutschen Schriftsteller zugehörig, ist Theodor Fontane ohne Zweifel der bedeutendste Romancier der Bismarck-Zeit, und «Frau Jenny Treibel», letzter seiner Berliner Romane, nimmt dabei den Spitzenplatz ein. Der Schillers Gedicht «Das Lied von der Glocke» entlehnte Untertitel «Wo sich Herz zum Herzen find’t» deutet ironisch auf einen Liebesroman hin. Die wahre Intention des Autors jedoch kann man einem Brief entnehmen: Dieser Roman sei geschrieben worden, erklärt er darin, um «das Hohle, Phrasenhafte, Lügnerische, Hochmütige, Hartherzige des Bourgeoisstandpunktes zu zeigen, der von Schiller spricht und Gerson meint». Mit Letzterem spielt er auf ein mondänes Modehaus der Hautevolee am Werderschen Markt in Berlin an, um damit das profan Materielle der Kleidermode in Gegensatz zum erhaben Geistigen des Dichterfürsten zu stellen, soziologisch also Bildungs- und Besitzbürgertum zu vergleichen. Wobei Fontanes uneingeschränkte Sympathie dem Geistigen gilt, und auch ein überschaubares Landleben zieht er der ungeliebten Großstadt mit ihren sozialen Fallstricken ganz entschieden vor.

Es findet sich kein Herz zum Herzen in diesem Roman, das ist die deprimierende Quintessenz dieser Geschichte, alles ist Kalkül, eine Ehe wird arrangiert und eine zweite initiiert, das alles natürlich nach erheblichen Irrungen und Wirrungen, um einen Romantitel Fontanes zu benutzen. Die Titelheldin verhindert letztendlich erfolgreich eine für die Familie finanziell unvorteilhafte Eheschließung Leopolds, ihres jüngsten, eher antriebslosen Sohnes, mit Corinna, der geistreichen und charmanten, aber vermögenslosen Tochter des verwitweten Gymnasialprofessors Schmidt. Der ist ein früherer Freier der aus einfachen Verhältnissen stammenden Jenny, die damals dann aber doch lieber den gut situierten und mit dem Ehrentitel Kommerzienrat bedachten Fabrikanten Treibel geheiratet hat. Und auch Corinna handelt mit hedonistischem Kalkül, will sich durch die Ehe mit Leopold ein finanziell sorgenfreies Leben sichern. Wie schon sein Bruder wird aber auch Leopold wohl in eine reiche Hamburger Familie einheiraten, die Mutter hat schon die entsprechenden Fäden gespannt, und die kluge Corinna geht in sich und heiratet schließlich einen viel besser zu ihr passenden Geistesmenschen, den angehenden Archäologen Marcell, ihren Vetter.

Wie immer bei Fontane entwickelt sich seine handlungsarme Geschichte fast vollständig aus einer äußerst lebendigen Konversation seiner Figuren heraus. Der dabei angeschlagene, ebenso gescheite wie amüsante und sympathische Plauderton erzeugt eine derart anheimelnde Atmosphäre, dass man als vergnügter Zuhörer gerne mit dabei wäre bei diesen, - natürlich dichterisch überhöhten -, Gesprächen der vielen Protagonisten. Wunderbar stimmig gezeichneten Figuren wie dem konzilianten Treibel oder dem durchgeistigten Prof. Schmidt mit seinen unter dem Signum «Sieben Waisen Griechenlands» regelmäßig zusammentreffenden Kollegen als Sympathieträgern stehen diametral die scheinheilige, sich permanent selbst belügende Jenny samt ihrer geltungssüchtigen, unbedarften, aber schönen Schwiegertochter gegenüber.

Insoweit ist dieser Roman über Schein und Sein weniger zeitgebunden, als es seine frühe Entstehungszeit vermuten lässt, die darin angeschnittenen Probleme jedenfalls sind ja durchweg auch heutig, der Tanz ums goldene Kalb ist virulent wie ehedem, und menschliche Selbstverwirklichung, zumal weibliche, bleibt immer noch ein weitgehend unerreichtes, hehres Ziel. Geistiges, Bildung vor allem, sofern sie nicht kommerziell verwertbar ist, zählt wenig gegenüber materiellem Besitz. Fontane ist all dies sehr verhasst gewesen, um so mehr erstaunt der versöhnliche, menschenfreundliche Duktus seiner Prosa. Die beim Leser immer wieder ein Schmunzeln auslöst und ihn, wenn er so geartet ist wie ich, in eine wohlig anheimelnde Stimmung versetzt, und ihm somit ein formidables Lesevergnügen beschert, - im wahrsten Sinne des Wortes.

Bewertung vom 20.08.2017
Bonjour tristesse
Sagan, Françoise

Bonjour tristesse


sehr gut

Eine Stilistin der Einsamkeit

Aus dem umfangreichen Œuvre der französischen Bestseller-Autorin Françoise Sagan ragt der Roman «Bonjour tristesse» besonders hervor. Ihr Erstling von 1954, den sie als siebzehnjährige Studentin in nur sieben Wochen geschrieben hat, ist nicht nur ihr erfolgreichstes, der Roman ist auch ihr bekanntestes Werk. In einer «Le Monde» Umfrage von 1999 nach dem besten Buch des Jahrhunderts liegt es auf Platz 41 der Bücher, die den 17.000 beteiligten Lesern im Gedächtnis haften geblieben sind. Man glaubt es kaum, dass dieser vielfach ausgezeichnete, millionenfach verkaufte, in viele Sprachen übersetzte und 1958 von Otto Preminger verfilmte Roman damals wegen seiner Unmoral heftiger Kritik ausgesetzt war, er verstieß gegen die drögen Moralvorstellungen konservativer Kreise in diesem katholisch geprägten Land.

«Ich zögere, diesem fremden Gefühl, dessen sanfter Schmerz mich bedrückt, seinen schönen und ernsten Namen zu geben: Traurigkeit». Der erste Satz enthält auch hier, wenn man Edgar Allan Poe folgt, schon die Quintessenz der erzählten Geschichte. Dem sorglosen Leben der 17jährigen Cécile, die mit ihrem Vater und dessen junger Gespielin Elsa unbeschwerte Sommerferien an der Cote d’Azur verbringt, droht ein jähes Ende, als plötzlich Anne auftaucht, eine Freundin der vor fünfzehn Jahren verstorbenen Mutter, die erfolgreich ihren Vater bezirzt. Spontane Heiratspläne der beiden Vierzigjährigen verändern schlagartig das bisherige dolce far niente, entfremden sie ihrem eine neue Ehe bisher strikt ablehnendem Vater, beenden auch abrupt das vertrauensvoll kumpelhafte Einverständnis zwischen ihnen, - Cécile ist unendlich traurig.

Aber sie ersinnt eine List, um die drohende Eheschließung zu verhindern, wobei die schmählich abservierte Elsa und der von Anne aus dem Haus verbannte, deutlich ältere Jurastudent Cyril, Céciles erste Liebe, bei dem sie gleich auch ihre Jungfräulichkeit verliert, die entscheidende Rolle übernehmen. Sie geben sich nämlich als verliebtes Paar aus, um Eifersucht und den Jagdinstinkt des casanovagleichen Vaters zu wecken. Der Frauenheld fällt auch prompt darauf herein und löst damit ungewollt ein dramatisches Finale aus. In Paris dann scheint das unbeschwerte Leben von Vater und Tochter weiterzugehen, alles ist wie früher, wären da nicht die nächtlichen Erinnerungen an diesen Sommer, bei denen etwas in Cécile aufsteigt, wie es im letzten Satz heißt, «das ich mit geschlossenen Augen empfange und bei seinem Namen nenne: Traurigkeit – komm, Traurigkeit». Ihr schlechtes Gewissen wird sie nun wohl ihr Leben lang begleiten, - vergleichbar perfide ist übrigens der intrigante jugendliche Held im deutlich amüsanteren Roman «Lob der Stiefmutter» von Mario Vargas Llosa mit gleicher Thematik.

Es ist die federleichte Sprache, in der diese melancholische Geschichte erzählt wird, aus einer fast noch kindlich naiven Perspektive der völligen Sorglosigkeit heraus, die ich besonders beeindruckend fand. Das Einfühlungsvermögen der Autorin in ihre damals gleichaltrige Protagonistin ist jedenfalls erstaunlich. Françoise Sagan zeichnet in kurzen Sätzen mit einfachen Worten, darin Hemingway ähnelnd, treffsicher ein psychologisch glaubwürdiges Bild ihrer sympathischen Romanfigur, deren entwaffnende Naivität ihre rücksichtslos egoistischen Ziele derart übertüncht, dass man ihr alles verzeiht als Leser. Der existentialistische Roman ist Ausdruck eines Lebensgefühls, welches die als «Stilistin der Einsamkeit» apostrophierte Schriftstellerin wie kein anderer mehrfach in ihren Werken beschrieben hat. Ihre von keinen Geldsorgen geplagten Figuren gehören der «armen, abgestumpften Rasse der Genussmenschen» an, wie es im Roman heißt, die damals, anders als in der Spaßgesellschaft unserer Tage, noch nicht derart dominant war. Insoweit ist «Bonjour tristesse» auch das Zeitzeugnis einer vergangenen Epoche, der schmale Band gehört ohne Zweifel zu den immer noch lesenswerten Klassikern der Weltliteratur.

Bewertung vom 20.08.2017
Ortswechsel
Lodge, David

Ortswechsel


weniger gut

Effekthascherische Trivialität

«Ein satirischer Roman» steht unübersehbar auf dem knallbunten Buchumschlag. Man ist also vorgewarnt und bereits auf Lustiges einstimmt, wenn man «Ortswechsel» von David Lodge zur Hand nimmt, 1975 erschienen, erster Teil einer später erweiterten Romanreihe des englischen Literaturwissenschaftlers und Schriftstellers. Es handelt sich um einen typischen Campusroman, dessen Protagonisten zwei Literaturprofessoren sind, die in einem englisch-amerikanischen Kooperationsprogramm ihre Arbeitsplätze tauschen, - und nicht nur das, wie das Cover schon andeutet.

«Hoch über dem Nordpol kamen am ersten Tage des Jahres 1969 zwei Professoren für englische Literatur in einer Gesamtgeschwindigkeit von 1200 Meilen pro Stunde einander näher». Die beiden vierzigjährigen Männer, beide in der Midlife-Crisis, absolvieren aus ganz unterschiedlichen Motiven ein Austauschsemester an der jeweiligen Partneruniversität und lassen für ein halbes Jahr Frau und Kinder daheim zurück. Philip Swallow kommt von der englischen Universität in Rummidge, ein camoufliertes Birmingham, Morris Zapp kommt von der Euphoric State an der Westküste der USA, für das Berkeley Pate stand, englische Provinz also und sonnig-hedonistischer, kalifornischer Campus. Was folgt ist ein «Clash of Civilizations» der moderaten Art, zu unterschiedlich sind doch die akademischen Systeme in den beiden angelsächsischen Staaten. Allein diese universitäre Andersartigkeit liefert schon reichlich Stoff für heiter ironische Beschreibungen des gegenseitigen Nichtverstehens. Lehrpläne, Prüfungen, Besoldungssysteme weichen ebenso voneinander ab wie Wohnverhältnisse, Familienleben, Essgewohnheiten, vom Klima ganz zu schweigen. Nur was die Sexualität anbelangt, - von Liebe ist im Roman übrigens keine Rede -, scheinen die Unterschiede nicht allzu groß zu sein. In Kalifornien allerdings sind die knackigen Studentinnen, - potentielle Beute der beiden Strohwitwer -, in dieser Hinsicht deutlich lockerer als ihre englischen Pendants. Gemeinsam sind beiden Hochschulen die aufflackernden studentischen Unruhen als Folge der 68er-Bewegung, die von Europa aus in die USA herüber geschwappt ist und nun den Campusbetrieb an den Unis lahm zu legen droht.

Als «Fundgrube für narrative Einfälle» hat David Lodge im Nachwort seine Idee von der erzählerischen Symmetrie bezeichnet, bei der alle Ereignisse des zweisträngig erzählten Plots sich im jeweils anderen Handlungsstrang spiegeln. Die Erzählform seines in sechs Kapitel gliederten Romans habe er in drei Kapiteln variiert, «um den Leser wach zuhalten», wie er schreibt. Er wechselt dabei vom konventionellen Erzählen zum Stil des Briefromans, es folgt ein Kapitel mit Notizen und Verlautbarungen im Zeitungsjargon, das Schlusskapitel schließlich mit seinem offenen Ende ist in Form eines Drehbuchs geschrieben. Sprachlich schlicht und leicht lesbar, wird diese Geschichte, zielsicher vorwärts drängend, flott erzählt, wozu neben jeder Menge Situationskomik auch die schlagfertigen, oft verblüffenden Dialoge der stimmig beschriebenen Figuren einiges beitragen.

Der kreative Plot mit üppiger Intertextualität strotzt nur so von köstlichen Seitenhieben auf die literarischen Fakultäten und auf versponnene Wissenschaftler, die wie Philips Frau die Frage nach ihrem Arbeitsgebiet mit «klassizistische Schäferidyllen» beantworten, oder die, wie Morris, ihre gesamte Forschungsarbeit unbeirrt Jane Austen widmen, nichts anderem. Ein solcher «satirischer» Roman, und das ist nun allerdings sein Problem, lebt davon, spielerisch möglichst viele Klischees zu seiner Thematik zu bedienen, um entsprechende Aha-Effekte beim Leser auszulösen, also lieb gewonnene Vorurteile zu bestätigen, Erwartetes zu liefern, nichts Ungewohntes, Neues, Widersprüchliches - oder gar Nachdenkliches. Wer platten Witz sucht wird hier fündig, schwarzen englischen Humor allerdings, subtil und intelligent, sucht man vergebens in diesem effekthascherischen Trivialroman.

Bewertung vom 07.08.2017
Die Rote
Andersch, Alfred

Die Rote


schlecht

Mumpitz und Humbug

Der zweite der vier Romane von Alfred Andersch, erstmals erschienen 1960, trägt seinen Titel «Die Rote» nach der Haarfarbe der Protagonistin, einer 31jährigen Frau auf der Flucht, auf der Suche nach sich selbst, nach innerer Freiheit. Eine wichtige Thematik des Existentialismus, die sich ähnlich auch in anderen Werken dieses ebenso streitbaren wie umstrittenen Autors der deutschen Nachkriegsära findet, literarisch realisiert mit Außenseitern der Gesellschaft als handelnden Figuren.

Da ihr Chef, mit dem sie jahrelang ein Verhältnis hatte, Franziska nicht heiraten wollte, hatte sie Herbert geheiratet, den Exportleiter der Firma. Bei einem gemeinsamen Geschäftstermin in Mailand eskaliert ein Streit der Beiden um die Besichtigung einer Kirche, bei dem Kunstfreak Herbert ihr schließlich die kleinen Freiheiten vorhält, die er ihr doch lasse. «Dass ich mit deinem Chef schlafe, wann immer er es wünscht, das nennst du meine kleinen Freiheiten», entgegnet sie empört, und als sie zudem erwähnt, dass Herbert sie möglicherweise kürzlich erst geschwängert habe, spricht er nur lapidar von einem «Betriebsunfall». Spontan steht sie auf und verlässt ihn, nimmt den nächsten Zug, egal wohin, nur weg! Die attraktive Frau landet ohne Gepäck und mit wenig Geld in Venedig und trifft dort auf verschiedene Männer. «Die Rothaarigen sollen ja schärfer sein als die anderen» heißt es im inneren Monolog eines ihrer machohaften Bewunderer. Aber damit hat sich’s auch schon, soviel vorweg, es geht mitnichten um Amouröses oder gar um Sex in dieser Erzählung, die temporeich einem wahrhaft absurden, vier Tage umfassenden Plot folgt, über den man sich nur wundern kann als Leser.

Zunächst begegnet Franziska Patrick, einem schwulen Iren mit eigener Yacht, der während des Krieges als Spion aufgeflogen ist und vom Gestapomann Kramer durch Folter zum Verrat an anderen Agenten gezwungen wurde. Er habe nun Kramer zufällig in Venedig wieder getroffen, wolle ihn töten und anschließend die Stadt mit seiner Yacht verlassen, er bietet ihr an, ihn zu begleiten. Die beiden Kontrahenten kennen sich und treffen sich sogar, und dabei gerät nun auch Franziska in Gefahr, denn der mafiöse Kramer fürchtet, sie könne ihn bei Interpol anzeigen. Ein zweiter Protagonist, dessen Geschichte im Wechsel mit der Franziskas erzählt wird, ist der ehemalige kommunistische Partisan Fabio, der politisch frustriert aus der KPI ausgetreten ist und nun als Geiger im Theatro La Fenice arbeitet, Franziska trifft ihn auf dem Campanile. Man begegnet ferner einem halsabschneiderischen Juwelier, - ein Jude natürlich -, bei dem die inzwischen finanziell abgebrannte Franziska notgedrungen ihren Brillantring weit unter Preis versetzt. Was dann überraschend – und völlig unlogisch - Kramer auf den Plan ruft, der den Juwelier unter Drohungen dazu bringt, ihr nachträglich einen angemessenen Preis zu zahlen.

Es geht immer weiter so in dieser Kriminal-Groteske, die von einem Klischee-Fettnäpfchen ins nächste stolpert und deren Ende so kitschig war, dass der Autor sich veranlasst gesehen hat, 1972 eine überarbeitete Neufassung herauszugeben, bei der das Ende offen bleibt. Dass oral im Bier zugeführtes Strychnin nicht zum Mord geeignet ist, da man es selbst in extremen Verdünnungen herausschmeckt, ist dem Autor entgangen, es gibt Hanebüchenes mehr. Sprachlich ist der Roman uninspiriert, völlig humorfrei zudem, stilistisch dominieren oft mitten im laufenden Text einsetzende innere Monologe, hier jeweils kursiv abgesetzt, ergänzt noch um in Kleinschrift gesetzte Traumsequenzen. Patrick und Fabio sind als potentielle Gegenspieler unglaubwürdig, und völlig deplaziert ist auch der Kampf zwischen Ratte und Katze, er hat nicht das Geringste mit der Handlung zu tun. «Grauenhaft und kitschig» lautete einst das Verdikt von Marcel Reich-Ranicki, «dass der Roman ‹ein wichtiges Werk der deutschen Nachkriegsliteratur› sei, ist Mumpitz und Humbug». Dem ist meinerseits nichts hinzuzufügen!

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 05.08.2017
Am grünen Strand der Spree
Scholz, Hans

Am grünen Strand der Spree


ausgezeichnet

Decamerone in der Jockey-Bar

«So gut wie ein Roman» lautet der ironische Untertitel eines der unterhaltsamsten Bücher, die ich seit vielen Jahren gelesen habe. «Am grünen Strand der Spree», 1955 erschienen und ein geradezu sensationeller Erfolg damals, ist heute nur noch antiquarisch zu haben. Und auch dessen Verfasser Hans Scholz ist; trotz einer Neuausgabe der berühmten fünfteiligen Fernseh-Verfilmung auf DVD, - ein echter «Straßenfeger» zu jener Zeit -, und trotz diverser TV-Wiederholungen, als Autor inzwischen leider weitgehend in Vergessenheit geraten. Seinem wie ein Komet am Literaturhimmel aufleuchtenden Debütroman folgte nämlich kein weiterer.

Am Abend des 26. Aprils 1954 treffen sich einige Männer in der Jockey-Bar in der Nähe des Kurfürstendamms in Berlin, Anlass ist die Rückkehr ihres Freundes, des Majors Hans-Joachim Lepsius, aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Als Gastgeber fungiert im Auftrag und gesponsert von des Heimkehrers wohlhabendem Vetter, der selber verhindert ist, der Werbefilmproduzent Hans Schott, die Runde wird vervollständigt durch den Maler Fritz Georg Hesselbarth und den Schauspieler Bob Arnoldis. Zu später Stunde gesellen sich der trinkfesten Runde weitere Teilnehmer hinzu, und am hellen Morgen, so lange dauert das Treffen, taucht dann auch noch Barbara Bibiena genannt Babsy auf, eine von allen gleichermaßen verehrte Frau, «Sie ist nach wie vor so schön, dass ihr Anblick Kranke heilen kann» heißt es im Roman. Die Vorlage für seine Figur, ließ der Autor wissen, lieferte ihm die erste deutsche Miss Germany, Susanne Erichsen.

Nach Art von Boccaccios «Decamerone» werden an diesem Abend Geschichten erzählt oder vorgelesen, beginnend mit dem Kriegstagebuch eines verschollenen Freundes, der den deutschen Einmarsch 1941 in Russland und die SS-Gräuel, die er dabei miterlebt hat, sehr anschaulich beschreibt. Von der weit angenehmeren, da kampflosen Etappe im besetzten Norwegen erzählt ferner eine Spionage-Geschichte, die Gespräche der Fahrgäste einer Busfahrt wiederum zeugen sehr real von den profanen Alltagsproblemen des damals noch Ostzone genannten Arbeiter- und Bauern-Paradieses. Eine in den Siebenjährigen Krieg, in die Schlacht bei Kunersdorf 1759 zurückreichende Geschichte aus der Chronik der Familie Bibiena wird verlesen, eine weitere Episode um ein Soldatengrab vom Ende des Zweiten Weltkriegs im Wald nahe Berlin wirft einige Rätsel auf. Ferner wird eine höchst amouröse Geschichte aus Italien erzählt sowie eine eigentlich unmögliche Romanze aus einem amerikanischen Gefangenenlager in Frankreich. Meist stehen übrigens Frauen im Zentrum dieser Geschichten, als roter Faden quasi wirkt dabei die Figur der Babsy, die immer wieder mal auftaucht in den verschiedenen Erzählungen, sie ist bis zum glücklichen Ende präsent.

Äußerst virtuos spannt Hans Scholz die Fäden seines Plots zwischen den Figuren sowie zwischen den Epochen, in denen sie agieren, zu einem dichten Handlungsnetz zusammen, wobei ein mosaikartiges Bild Berlins und der beiden Deutschlands entsteht. Er benutzt dabei sprachlich eine Melange aus gehobenem Berlinisch, dem gemäßigten Dialekt gutbürgerlicher Kreise also, einen sehr saloppen Kasino-Jargon der Militärs, die ironisch übertriebene, fast schon snobistische Sprechweise äußerst gutgelaunter Intellektueller, die Musikersprache sowie das Idiom einschlägig geprägter Barbesucher. Er habe, sagte Scholz dazu, «nur aus meinen ewigen Saufereien ein bißchen Kapital geschlagen» für seinen Roman. Geistreicher Witz mithin ist das beherrschende Stilmittel dieses Ausnahme-Erzählers, der die Menschlichkeit selbst in den bedrückenden Passagen seiner Geschichten obsiegen lässt, eine erzählerische Meisterleistung, wie das Feuilleton damals jubelte, - auf Augenhöhe mit Tucholsky, füge ich hinzu! Die lebensecht beschriebenen Teilnehmer dieser ebenso feuchtfröhlichen wie intellektuellen Tafelrunde jedenfalls bleiben dem schmunzelnden Leser noch lange nach der Lektüre sehr angenehm im Gedächtnis.

Bewertung vom 02.08.2017
Schau heimwärts, Engel
Wolfe, Thomas

Schau heimwärts, Engel


ausgezeichnet

Vom «feinsten Scheitern»

Den 1929 erschienenen Debütroman «Schau heimwärts, Engel» des amerikanischen Schriftstellers Thomas Wolfe nannte Hermann Hesse damals «Die stärkste Dichtung aus dem heutigen Amerika», und auch die Nobelpreisträger Faulkner und Lewis schätzten ihren Kollegen literarisch sehr hoch ein. Ein Riesenerfolg also gleich auf Anhieb, an den spätere Werke des früh verstorbenen Autors nicht mehr anknüpfen konnten. Seit 2009 liegt dieser inzwischen zum Klassiker avancierte Roman nun in einer überzeugend gelungenen Neuübersetzung vor.

Wir haben es mit einem typischen Entwicklungsroman zu tun, dessen Held Eugene eingebettet ist in eine kinderreiche Familie mit markanten, lebenshungrigen Charakteren, deren wechselvolles, unangepasstes Leben letztendlich das fatale Scheitern des American Dream widerspiegelt. Die autobiografischen Bezüge in diesem Erstling sind überdeutlich, so zum Beispiel der unschwer als Thomas Wolfes Geburtsstadt Ashville in North Carolina erkennbare Handlungsort, - was ihm denn auch prompt einigen Ärger einbrachte bei seinen Mitbürgern, die sich im Roman wieder erkannten und verunglimpft fühlten. Aber auch viele Gemeinsamkeiten in der Familie und insbesondere im Werdegang seines Helden sind unübersehbar, er fühlt sich ebenfalls zum Schriftsteller berufen, und auch sein Vater ist Steinmetz. So ist also der «mit einem Lächeln milder Statueneinfalt» aus Granit gemeißelte Engel im Roman nicht nur titelgebend, sondern wird schon auf der zweiten Seite auch leitmotivisch eingesetzt, er begleitet den Leser fortan ganz ohne religiöse Konnotation als sinnfällige Metapher für ein wohlbehütetes Leben.

Es ist das Auf und Ab im Daseinskampf, die Widersprüchlichkeit des Lebens, die den heranwachsenden, hochbegabten Eugene zunehmend verzweifeln lässt. Seinem stadtbekannten Vater als versoffenem, schwadronierendem Künstlertyp mit großer Attitüde steht die äußerst energische, geschäftstüchtige, aber geradezu krankhaft geizige Mutter gegenüber. Er und seine Geschwister stehen zwischen diesen Fronten eines nimmer endenden Ehekriegs ihrer völlig entzweiten Eltern, deren konträre Visionen ebenso kläglich scheitern wie die ihrer höchst verunsicherten Kinder. Ihnen allen ist kein Glück beschieden, und Eugene erlebt gleich bei seiner ersten Liebe einen schnöden Verrat, der den Gutgläubigen völlig aus der Bahn wirft. Sein Glück, soviel ahnt er dann als unschlüssig dahin Treibender nach dem Ende seines Studiums, liegt in ihm selbst, nicht in der großen weiten Welt, in die es ihn hinauszieht, in die er sich geradezu flüchten will auf der Suche nach Lebenssinn und Erfüllung.

Vom «feinsten Scheitern», wie Faulkner es umschrieb, handelt dieser stilistisch hochklassige Roman, der mit einigem Pathos erzählt wird. Er überzeugt mit einer geradezu genialen Beschreibungskunst, mit lebensecht gezeichneten Figuren und stimmigen Dialogen, mit einer sinnreich ausgeklügelter Metaphorik vor allem, die ihresgleichen sucht. Die Stofffülle ist selbst nach den radikalen Kürzungen des Manuskriptes noch sehr üppig geblieben, der gleichwohl ziemlich handlungsarme Roman erfordert zudem mit seiner geradezu ausufernden Intertextualität und den vielen historischen, politischen und kulturellen Anspielungen, - die hilfreichen Anmerkungen hierzu umfassen allein 45 Buchseiten mit 614 Verweisen -, so einiges an Durchhaltevermögen beim Leser. Der episodische Roman schildert in seiner stärksten Szene sehr ergreifend einen qualvollen Todeskampf und endet mit einer ebenso faszinierenden Geisterszene, in der Eugene auf seinen verstorbenen Bruder Ben trifft, der ihm als Todesengel die Tür zur scheinbar entschwundenen Welt weist, die in ihm selber läge. Der «Homer des modernen Amerika», wie Kritiker ihn überschwänglich nannten, folgte seiner Theorie «Wir sind die Summe aller Augenblicke unseres Lebens». Entsprechend weit verzweigt und üppig ist das Geflecht unzähliger Impressionen in diesem an den «Ulysses» angelehnten, grandiosen Klassiker.

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