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Buchdoktor
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Deutschland
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Romane, Krimis, Fantasy und Sachbücher zu sozialen und pädagogischen Tehmen interessieren mich.

Bewertungen

Insgesamt 612 Bewertungen
Bewertung vom 04.10.2016
Brüder für immer
Kromhout, Rindert

Brüder für immer


ausgezeichnet

Der Hintergrund: Quentin Bell (* 1910), der Icherzähler der fiktiven Geschichte, und sein Bruder Julian (* 1908) waren die Neffen von Virginia Woolf. Zusammen mit ihrer jüngeren Schwester Angelica wuchsen sie in einem exzentrischen Künstlerhaushalt im ländlichen Sussex auf. Ihr Vater kam regelmäßig aus London zu Besuch, Mutter Vanessa lebte und arbeitete zusammen mit ihrem Maler-Kollegen Duncan. Als Julian Bell in den Spanischen Bürgerkrieg zieht, kündigt Quentin an, er werde ein Buch über seinen Bruder schreiben, falls Julian nicht zurückkehrt. Dieses Buch halten die Leser in den Händen, können seine Entstehung mit verfolgen, doch geschrieben wurde es vom niederländischen Jugendbuchautor Rindert Kromhout. Kromhout war in Virginia und Leonard Woolf‘s "Monk’s House" bei Lewes/Sussex zu Besuch und bekam so auch das nahegelegene Charleston Haus der Familie Bell zu Gesicht. „Brüder für immer“ ist das erste von insgesamt drei Büchern über die Familie Bell.
"Jeder andere Bruder hätte einen Angsthasen wie mich in diesem Moment ausgelacht oder später zu Hause erzählt, was für ein Feigling ich doch wäre, aber nicht Julian. Er sah mich ernst an, kroch wieder unter dem Stacheldraht durch und nahm mich an die Hand. „Wir gehen um die Weide herum.“" (Seite 12)
Die Brüder haben ein sehr inniges Verhältnis zueinander, das sich erst ändert, als der ältere Julian sich für Politik zu interessieren beginnt und kein Zimmer mehr mit seinem jüngeren Bruder teilen will. In einem exzentrischen Haushalt mit ständigen Besuchen anderer Künstler haben die Kinder bis dahin eine idyllische Kindheit verbracht, geliebt und beschützt von ihrer exzentrischen Großfamilie. Auch wenn der seltsame Lebensstil der Familie von den Dorfbewohnern misstrauisch beäugt wird und die komplizierten platonischen, hetero- und homosexuellen Verbindungen ganz ohne Diagramm nicht leicht zu durchschauen sind, herrscht innen große Warmherzigkeit. Bis eine Lüge alles zerstört.
Selbst wenn später Quentins Begabung als Schriftsteller auf den Einfluss seiner berühmten Tante Virginia zurückgeführt werden wird, weiß er es besser. Auslöser für seine Liebe zum Schreiben war das Buch Alice im Wunderland, das seine Mutter den Kindern vorlas. Dieser Abschnitt zeigt in berührender Weise, dass Quentin schon früh unterschiedliche Perspektiven unterscheiden konnte. Zu dem auslösenden Ereignis gibt es unterschiedliche Interpretationen, die alle einen Teil der Wahrheit enthalten. Quentin wird von Virginia Woolf gefördert und sie rät ihm, regelmäßig eine Familienzeitung zu verfassen und seine Texte von anderen Personen lesen zu lassen.
„Höre gut zu, was sie zu sagen haben. Wenn sie etwas anderes verstanden haben, als du gemeint hast, taugt die Geschichte nicht. Geh dann noch einmal drüber und noch einmal, so lange, bis du den Leser dort hast, wo du ihn haben willst. So lernst du schreiben. Und lies! Lies alles, was du in die Finger kriegst. Ein Schriftsteller muss lesen und andere Schriftsteller studieren.“ (Seite 129)
Während sich in Deutschland und Italien der Faschismus ausbreitet, werden bei den Bells Gespräche darüber geführt, warum es Krieg gibt, was ein Feind ist, was Kommunismus, Anarchismus und was Faschismus. Diese Gespräche sind für die Zielgruppe ab 12 Jahren absolut verständlich – und eine der Stärken des Buches. - Anfangs habe ich mich gefragt, ob das Leben der Bloomsbury Group überhaupt ein Thema für Kinder sein kann. Doch Quentins Heranreifen und die Entdeckung seines Talents als Schriftsteller sind ein klassischer Coming of Age-Stoff. Vor dem Hintergrund des Spanischen Bürgerkriegs und mit dem anrührenden Verhältnis der ungleichen Brüder ein herausragendes Buch – nicht nur für Jugendliche.

Bewertung vom 04.10.2016
Der Angstmann / Max Heller Bd.1
Goldammer, Frank

Der Angstmann / Max Heller Bd.1


gut

An einem düsteren Novembertag des Jahres 1944 wird in Dresden in einer Bootshalle die brutal zugerichtete Leiche einer jungen Frau gefunden. Kriminalinspektor Max Heller kämpft zu dieser Zeit beinahe auf verlorenem Posten; zahlreiche Mitarbeiter sind zur Wehrmacht eingezogen und seinem einzigen Spezialisten für Spurensicherung steht der Marschbefehl an die Front kurz bevor. Die Menschen ahnen das bevorstehende Kriegsende und fürchten zugleich den Einmarsch der Russischen Armee, Gerüchte machen die Runde. In diese unselige Verbindung aus Auflösung der öffentlichen Ordnung und diffusen Ängsten in der Bevölkerung platzt der Leichenfund. Augenblicklich schießen Gerüchte über das Mordopfer ins Kraut. Die Tote war Krankenschwester. Unter dem Personal des Krankenhauses und unter den Menschen, die auf der Flucht vor dem Frontverlauf auf dem Gelände Station machen, lässt sich die Tat nicht lange verheimlichen. Als eine weitere Leiche gefunden wird, weist das Dresdens letzten engagierten Ermittler auf einen perversen Serienmörder hin.

Heller hat im Ersten Weltkrieg gekämpft, er muss demnach schon vor der Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert geboren und um die 50 Jahre alt sein. Von beiden Söhnen an der Front haben die Hellers schon lange nichts gehört. Der Ermittler ist kein überzeugter Nationalsozialist und im geforderten martialischen Gehabe eher nachlässig. Heller weiß, dass er sich auf seinem Posten damit in Gefahr bringt, ganz besonders, weil sein direkter Vorgesetzter Rudolf Klepp ein SS-Mann ist und nicht aus dem Polizeidienst stammt. Klepps Ziele bleiben lange diffus – und das, obwohl während des Nationalsozialismus Kapitalverbrechen möglichst verheimlicht wurden, um die Illusion aufrechtzuerhalten, eine Diktatur könnte den Menschen Sicherheit vor Gewalttaten durch „den großen Unbekannten“ garantieren.

Fazit
Mit vielen kleinen Hinweisen, die jeder für sich unwichtig scheinen mögen, erweckt Frank Goldammer die Stimmung in den letzten Kriegsmonaten zum Leben. Von der Lebensmittelversorgung auf Marken, dem Mangel an Heizmaterial, der Angst, denunziert zu werden bis zum Schlafmangel durch die ständigen Bombenalarme und das anschließende Warten im Luftschutzkeller. Atmosphärisch besonders stark die Bombardierung Dresdens in der Nacht des 13. Februar 1945. Ort und Zeit w i r k e n sorgfältig recherchiert; dennoch fehlte mir die Identifikation mit der Hauptfigur. Auch andere Ermittler in historischen Krimis wirken ernst und zurückhaltend wie Heller; dennoch vermisse ich hier als Tüpfelchen auf dem I eine intensivere Interaktion zwischen Heller und seinen Kollegen, um mit dem Mann warmwerden zu können.

Der Kriminalfall ist zwar der Aufhänger und ein Ermittler die Hauptfigur, doch die Stadt und die Kriegsereignisse standen im Mittelpunkt des buches. Spannend fand ich Goldammers Roman, ich wollte unbedingt wissen, wie die Handlung weitergeht; aber nicht die Krimihandlung hat diese Spannung erzeugt. Unglaubwürdige Personendarstellungen haben mir m. A. zu früh Hinweise auf den Täter gegeben; die Aufklärung des Falls war danach reizlos. Dem Roman mangelt es an Fingerspitzengefühl für die Epoche und für die Denkweise von vor 1900 geborenen Personen. Eine Reihe unglaubwürdiger Details benötigen die Überprüfung durch Zeitzeugen; dem Buch fehlt ein sorgfältiges Lektorat. Wer sich mit der Zeit des Nationalismus befasst hat, wird mit historischen Romanen in Light-Version wie diesem sicher nicht glücklich. Als Roman über Dresden im Winter 1944/Frühjahr 1945 hätte ich dem Buch 4 von 5 Sternen gegeben, als Kriminalroman nur 3 ½ Sterne.

Bewertung vom 04.10.2016
Meine geniale Freundin / Neapolitanische Saga Bd.1
Ferrante, Elena

Meine geniale Freundin / Neapolitanische Saga Bd.1


ausgezeichnet

Eine Frau ist verschwunden, hat ihr Leben förmlich ausradiert und einen lebensuntüchtigen erwachsenen Sohn zurückgelassen. Raffaella Cerullos Verschwinden ist der Anlass für ihre beste Freundin Elena, die Geschichte ihrer Freundschaft zu erzählen. Die Mädchen sind 1944 in einem Arme-Leute-Viertel Neapels geboren und kennen sich seit der ersten Klasse. Elenas Vater arbeitet als Pförtner, Lilas Vater als Schuhmacher. Typisch für eine Kindheit in den 50ern beschränkt sich die Vorstellung der Mädchen von der Welt auf das Haus und die Straße, in der sie leben. Das Meer haben manche noch nie gesehen. Zuhause wird Dialekt gesprochen und Konflikte um die Ehre von Schwestern und Töchtern werden mit Gewalt ausgetragen. Menschen sterben im Krieg, bei Unfällen oder an banalen Krankheiten. Konkrete wie abstrakte Ängste liegen wie eine dunkle Wolke über dieser Kindheit; Angst vor Leitungswasser, vor dem Verschlucken von Kirschkernen und vor dem unheimlichen Don Achille im vierten Stockwerk. Ängste werden Ferrantes Figuren ihr Leben lang begleiten. Raffaella, „Lila“, ragt schon als Kind aus den vom Alltag gebeugten Figuren heraus durch ihre Entschlossenheit und Furchtlosigkeit. Lila konnte schon vor der Schule lesen und schreiben, ihr scheint alles zuzufliegen, anders als Elena, die sich im Unterricht anstrengen muss. Wenn sie nicht fleißig ist, werden die Eltern sie aus der Schule nehmen, haben die Grecos gedroht. Elena hat das abschreckende Beispiel von Lilas Bruder Rino vor Augen, der für Kost und Unterkunft für den Vater arbeiten muss - und gegen den Willen des Vaters im Betrieb keinen Stich selbstständig tun darf. Dass eine Tochter aus dieser Familie überhaupt länger als unbedingt nötig zur Schule gehen darf, ist ungewöhnlich fortschrittlich. Der alte Cerullo befürchtet offenbar, dass sein Sohn sich ihm entfremden wird, wenn er ihn beruflich eigene Wege gehen lässt, während er seine Tochter loslassen kann und sie fördert. Das Bewusstsein, dass vor ihnen selbst schon Menschen gelebt haben, das Wissen über die „Sünden der Väter“ unterscheidet die Mädchen von der Generation ihrer Eltern – und dieses Bewusstsein öffnet ihnen die Tür zu Bildung. Aus dem Kellerloch des „Früher“ will Stefano Carracci unbedingt ausbrechen – mit Lilas Hilfe.
Neben der ungewöhnlichen Beziehung der beiden Mädchen lässt sich intensiv das Verhältnis zwischen Rino und seinem Vater Fernando verfolgen. Rino und Lila wollen im Geschäft des Vaters Maßschuhe anfertigen. Dessen Fantasie reicht jedoch nicht aus, um im Konkurrenzkampf gegen billige Fabrikware neue Wege zu wagen, und er ist nicht in der Lage, seine Kinder eigene Wege gehen zu lassen. Rino ist dem Willen des Vaters auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, der von der Idee nicht viel hält. Für den Sohn scheint es keinen Weg heraus aus dem Viertel und der ewigen Armut zu geben. Mädchen dagegen können durch Heirat gesellschaftlich aufsteigen – oder durch Bildung, wie Elena. Als Lila mit 16 Jahren den Sohn des Lebensmittelhändlers heiratet, ist sich Elena noch sehr unsicher, ob Reichtum durch Bildung wirklich das ist, was sie sich vom Leben erträumt hat.
Elena Ferrante beschränkt sich in ihrer Erzählung in der Ichform auf die Fakten und schränkt ihre Schilderungen mit der Bemerkung ein, sie sei sich im Rückblick ihrer Gefühle in beschriebenen Situationen nicht mehr sicher. Diese Relativierung lässt den ersten Band ihres schon 1991 verfassten vierteiligen Romans sehr aufrichtig und glaubwürdig wirken. Die Entscheidung zwischen Aufstieg durch Bildung oder durch Heirat, wie auch der Vater-Sohn-Konflikt der Cerullos sind universelle Konflikte, die von Lesern auf der ganzen Welt verstanden werden. Als großartiger Roman einer Freundschaft und Sittenbild der 50er Jahre hat „Meine geniale Freundin“ mich nicht allein mit seiner nur vordergründig einfachen Sprache beeindruckt, sondern ebenso mit wichtigen und starken Nebenfiguren wie Elenas Grundschullehrerin oder deren Cousine Nella.

1 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 26.11.2010
Nein
Walsh, David

Nein


sehr gut

Mama - Papa - Auto - Nein! Die Entdeckung des Wortes Nein ist ein wichtiger Schritt in der kindlichen Entwicklung. Wenn Eltern vor der Quengelware an Supermarktkassen kein entschiedenes Nein aussprechen, haben sie die Folgen ihres unentschlossenen Verhaltens unmittelbar zu tragen. Kinder lernen schnell, dass Nein nicht Nein heißt und wie leicht ihre Eltern sich von kindlichem Zoff einschüchtern lassen. Wir alle beobachten in der Öffentlichkeit, wie Eltern sich vor entschiedenen Stellungnahmen drücken und stattdessen fremde Autoritätspersonen vorschieben: "Wenn du das jetzt nicht lässt, sage ich es dem Busfahrer...". Wer selbst keine Wünsche aufschiebt und sich in seinem Konsumverhalten vom gesellschaftlichen Druck zum Ja-Sagen und von Werbebotschaften leiten lässt, lebt seinen Kindern vor, dass heute niemand mehr verzichten oder sich für ein Ziel anstrengen muss. Lehrer beklagen zunehmende Respektlosigkeit, Disziplinlosigkeit und mangelnde Konzentrationsfähigkeit ihrer Schüler. David Walshs Beschreibung der amerikanischen Verhältnisse lässt sich auf die Entwicklung in Deutschland übertragen. Der Autor regt Eltern an, eine Bestandsaufnahme ihres Verhaltens als Erzieher vorzunehmen, neue Ziele zu formulieren und zu ihrer Umsetzung anschließend aus einer Art pädagogischem Werkzeugkasten Erziehungs-Methoden zu wählen.

Als Vater dreier erwachsener Kinder und als pädagogischer Berater konnte der Autor eine Vielzahl an Anekdoten von trotzenden und pubertierenden Kindern sammeln. Walsh ist ein entschiedener Vertreter traditioneller Werte: Beteiligung an den Pflichten im Haushalt, klare Verhaltensregeln und deutliche Konsequenzen bei Regelverstößen. Er möchte rigide Grenzen gesetzt sehen gegen Matschen beim Essen, das Ärgern von Haustieren und körperliche Übergriffe. AV-Medienkonsum von Kindern unter 2 Jahren erteilt er eine deutliche Absage und begründet seine Ansicht mit der kindlichen Hirnentwicklung, dem "geistigen Betriebssystem" eines Kindes. Walsh fürchtet, dass ein 2-jähriges Kind, dem keine Grenzen gesetzt werden, als Pubertierender aus dem Ruder laufen und wegen Disziplinlosigkeit zum Schulversager werden könnte.

Der Autor definiert die Grenze zwischen normalen familiären Machtkämpfen und psychischen Störungen, die es Kindern unmöglich machen können, auf ein elterliches Nein angemessen zu reagieren: ADH, das Asperger-Syndrom, bipolare Störungen, sensorische Integrationsstörungen und Neurosen. Die Ausführungen über die genannten fünf Störungen sind für ein allgemeines Erziehungsbuch einerseits zu umfangreich, andererseits für betroffene Eltern nicht exakt genug. Die Verständlichkeit dieser Kapitel leidet unter der schlechten Übersetzung aus dem Englischen.

"Nein. Warum Kinder diese Wort hören sollten" ist ein klassisches, wertkonservatives Erziehungsbuch, das die Werte-Erziehung der 50er Jahre der modernen Mediengesellschaft anpasst. Der Autor beschreibt treffend die Probleme, die Markenwahn, Anspruchsdenken und virtuelle Lebenswelten in der Erziehung bereiten. Er unterschätzt jedoch, dass Eltern der Gegenwart nicht nur mit heimlichen Erziehern in subtilen Werbebotschaften zu rechnen haben, sondern dass Erziehung Teamarbeit zwischen Eltern, Betreuern und Pädagogen voraussetzt. Medien- und konsumkritischen Eltern wird es nicht leicht fallen, ihre Werte gegen den allgemeinen Trend (gegenüber Nachbarn, Verwandten und Erziehern ihrer Kinder) zu vertreten. Die Vermittlung von Walshs bürgerlichen Erziehungszielen stelle ich mir schwierig vor, solange es noch keine Gespräche über Erziehung quer durch alle Bevölkerungsschichten gibt.

Bewertung vom 26.11.2010
Weltwissen der Siebenjährigen
Elschenbroich, Donata

Weltwissen der Siebenjährigen


ausgezeichnet

Donata Elschenbroich wirft Fragen auf, die in jedem Kindergarten und jeder Mutter-Kind-Gruppe diskutiert werden sollten. Was braucht ein Kind? Was wollen wir unseren Kindern mit auf den Lebensweg geben? Wollen wir es schützen oder fördern? Welche Lehrmethoden der Vergangenheit waren erfolgreich, welchen Irrtümern von Pädagogen sind wir aufgesessen?

Studenten und Wissenschaftler zogen mit dem Entwurf einer Liste kulturunabhängiger Kompetenzen zu 150 Interviews und Gesprächen in unterschiedliche Länder, nachdem sie zunächst Inhalt und Absichten nicht nur übersetzen, sondern sie einer anderen Kultur verständlich machen mussten. Beispiele aus Elschenbroichs Liste: einen Kranken pflegen, darüber sprechen, was man gut kann, ein Gedicht auswendig gelernt haben, zwei chinesische Schriftzeichen schreiben, Heimweh empfinden, wissen, wie sich ein Baby anfühlt. Wissen meint eher Erfahren, Fühlen, Urteilen. Es geht nicht um Fakten, sondern um Grundlagen, auf die schulische Bildung und kognitive Entwicklung aufbauen kann. Was Elschenbroichs Liste enthält, ist nicht wichtig; das Gespräch zwischen Eltern und Erziehern aller Kulturen ist wichtig, was jeder seinen Kindern mitgeben möchte.

Die Autorin hat 7-Jährige als Forschungsthema gewählt, weil Kinder im Alter von Schulanfängern gerade entdecken, dass andere Experten außer ihren Eltern interessante Anregungen zu bieten haben. Elschenbroichs 7-jährigen Zielpersonen zeigten sich in den Interviews als kluge Beobachter, die ganz ohne Hilfestellung Erwachsener über sich und die Welt sprechen können.

Zur Einstimmung stellt E. Comenius als einen der ersten Entwickler eines Bildungs-Kanons vor. Sie interviewt Experten, die Kinder nicht wissensfrei aufwachsen sehen möchten: Herr Fischer mit dem Fischer-Dübel wünscht sich eine Gesellschaft, die kreativen Forschergeist zu schätzen weiß. Als Entwickler und Unternehmer kann er gut erklären, welchen Sachkundeunterricht Kinder für die Welt von heute benötigen. Laden Lehrplan-Kommissionen Herrn Fischer zur Mitarbeit ein? Wenn nein - warum nicht?

Die Chemikerin Frau Dr. habil Lück stellt fest, dass Erzieherinnen und Mütter naturwissenschaftlichen Fragestellungen gern ausweichen. Lücks Versuche für Kindergartenkinder sind so einfach, dass es schon an Vernachlässigung grenzt, sie Kindern vorzuenthalten. Der Grundschuldidaktiker beklagt, dass kleine Kinder bisher zu viel ansehen und zu wenig abstrahieren, obwohl sie es längst können.

Wie die Autorin war auch ich verblüfft, wie stark ihre Auswahl polarisieren kann, wie entschieden einige Posten der Liste von Eltern abgelehnt wurden. Ebenso wie Eltern bei Fremdsprachen im Kindergarten, neuen Methoden, neuen Lehrplänen "Überforderung" fürchten, wurden chinesische Schriftzeichen sofort als überflüssig abgelehnt. Eltern scheinen ziemlich humorlos ihren Kindern die Freude an Entdeckungen verderben zu wollen. Warum sollen Kinder nicht anschaulich erfahren, dass andere Kulturen keine Buchstaben haben, eine andere Schreibrichtung oder eine Bildersprache?

Auch die Gespräche mit einer türkischen Mutter (die selbst nie zur Schule ging) und einem indischen Vater werfen viele Fragen auf. Warum sprechen Eltern aller Nationalitäten bei Elternabenden in Kindergarten und Schule so selten darüber, was wir unseren Kindern mit auf den Weg geben möchten? Warum findet ein indischer Vater deutsche Kinder und in Deutschland aufgewachsene Ausländer schlecht erzogen und unkonzentriert?

Stellvertretend werden zwei durchschnittliche 7-jährige deutsche Kinder vorgestellt. Am Ende ihrer Grundschulzeit fragt die Autorin nach, was aus ihnen wurde, was ihnen die Schule auf den Lebensweg mitgegeben hat. Schließlich bietet die Expertin für frühkindliche Entwicklung einen Blick in Kinderbetreuung und vorschulische Bildung der USA, Großbritanniens, Ungarns und Japans.

Das "Weltwissen der Siebenjährigen" bietet eine Fülle von Anregungen als Diskussionseinstieg in Gespräche über Erziehung und Bildung im Kindergartenalter.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 26.11.2010
ministeps: Wir sind jetzt vier!
Cuno, Sabine

ministeps: Wir sind jetzt vier!


ausgezeichnet

Moritz ist jetzt großer Bruder

Moritz bekommt bald eine kleine Schwester und darf mit seinen Eltern bei der Frauenärztin das Ultraschallbild des Babys ansehen. Die Babysachen werden vorbereitet und Moritz probiert, ob er ins Babybett passt - dafür ist er schon viel zu groß. Als Moritz Mutter zur Entbindung ins Krankenhaus kommt, passt Omi auf ihn auf. Zusammen mit seinem Vater besucht Moritz das neue Baby. Als Mama und Marlene wieder zu Hause sind, ist Moritz enttäuscht: Marlene kann noch nicht spielen. Immer wenn Moritz gerade mit Mama spielen will, braucht Marlene irgendetwas. Höchste Zeit, dass Papa sich mehr um seinen großen Sohn kümmert. Auf der letzten Doppelseite zeigt ein stolzer Moritz, was er schon alles für das Baby tun kann.

"Wir sind jetzt vier" ist ein stabiles Pappbilderbuch für Kinder ab 2 Jahren. Beim Vorlesen bieten sich viele Gelegenheiten, mit dem älteren Kind über seine Ängste und Gefühle der Eifersucht gegenüber dem Baby zu sprechen. Die Veränderungen durch die Geburt der kleinen Schwester werden realistisch dargestellt, die Geburt selbst wird nicht gezeigt.

4 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 26.11.2010
Wachsen und erwachsen werden
Thor-Wiedemann, Sabine

Wachsen und erwachsen werden


ausgezeichnet

Mütter sind meist überzeugt davon, dass sich ihre 8-jährigen Kinder noch nicht für Liebe und Sexualität interessieren. Doch spätestens, wenn sich die ersten körperlichen Veränderungen der Pubertät ankündigen, wird es Zeit für ein altersgerechtes Sexualkundebuch. Auch während Töchter noch mit Barbies spielen, können die Gefühle schon kopf stehen; der erste pubertäre Zoff kann sich ankündigen. Sabine Thor-Wiedemann und Birgit Rieger beschreiben innere und äußere Geschlechtsorgane, gehen auf Sorgen wegen Pickel&Co ein und informieren über die erste Menstruation. Sachkapitel, Frage-und-Antwort-Seiten wechseln sich locker und ansprechend illustriert mit Comics und Cartoons ab. Die Autorinnen machen deutlich, dass jeder Jugendliche das Recht auf ein eigenes Entwicklungstempo hat und das jeder über seinen Körper selbst entscheidet. Die Autorinnen erklären, was Liebe ist, warum sich in der Pubertät Freundschaften verändern können und was Pornografie mit der Wirklichkeit zu tun hat. Sie nehmen ausgewogen zum Thema Schwangerschaft, Verhütung und sexuell übertragbare Krankheiten Stellung.

Inhaltlich ist "Wachsen und erwachsen werden" für Interessierte von 8- bis 12-Jahren geeignet. Es enthält alles, was Kinder über ihren Körper wissen müssen und passt ideal in die Zeit der ersten körperlichen Veränderungen. Das Buch kann Lesemuffel dazu anregen, sich damit einmal ungestört zurückzuziehen.

8 von 8 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 26.11.2010
Was Familien trägt
Juul, Jesper

Was Familien trägt


ausgezeichnet

Ein unübersehbares Angebot an Erziehungsratgebern zeugt von elterlicher Ratlosigkeit und der Suche nach Orientierung. Eltern seien verunsichert und empfänden Erziehnung als anstrengend, weil es keinen gesellschaftlichen Konsens mehr darüber gebe, was "gut erzogen" sei, meint der Autor. Am Beispiel von Patchwork-Familien und bi-nationalen Ehen zeigt Jesper Juul, dass jede Familiengründung die Fusion unterschiedlicher Erziehungssysteme ist. Diese Fusion kann dann gelingen, wenn Rollen und Verantwortung sinnvoll und gereicht verteilt sind und wenn die Kommunikation untereinander gelingt. Der dänische Familientherapeut sieht Erziehung nicht als Trick-Kiste, mit der erwünschtes Verhalten hervorgezaubert werden kann. Er befasst sich mit der Persönlichkeit der Erziehenden, ihrer Partnerbeziehung und den Werten, die sie durch ihr Vorbild vermitteln. In seiner Werte-Beschreibung geht es Juul nicht um Kopfnoten oder Disziplin, sondern um die Erarbeitung gemeinsamer Werte in der Familie.

Juul fordert als Grundqualifikation und Voraussetzung zum Erreichen von Erziehungszielen Gleichwürdigkeit in der Familie, Authentiziät und Integrität der Erzieher, sowie die Bereitschaft, Verantwortung und die Führungsrolle in der Familie zu übernehmen.
+ Unter Gleichwürdigkeit versteht Juul, dass Ansichten und Wünsche aller Partner ernst genommen werden, ohne Unterschied von Alter oder Geschlecht.
+ Integrität erfordert nach Juul, die eigene Machtposition gegenüber den Kindern zu akzeptieren und eigene Standpunkte glaubwürdig zu vertreten.
+ Authentizität wird durch Glaubwürdig erreicht und wenn Eltern als eine Art Leuchtturm Signale senden, an denen Kinder sich orientieren können.
+ Verantwortung zeigen Erziehende durch ihr eigenes Vorbild, durch ihre Entscheidungen und das Setzen von Grenzen.

Jasper Juul formuliert knapp, übersichtlich und leicht verständlich grundlegende Gedanken zur Erziehung und zur derzeitigen Werte-Diskussion. Der Autor sieht Erziehung nicht als Sammlung von Maßnahmen an, um ein bestimmtes kindliches Verhalten zu erreichen. Er fordert eine klare Aufgabenteilung der Eltern, authentische Kommunikation und Glaubwürdigkeit. Allein Juuls sorgfältige Abgrenzung von Begriffen wie Macht, Verantwortung und Fürsorge macht sein Buch lesenswert und regt zum Nachdenken an.

6 von 6 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 26.11.2010
Die gewandelte Frau
Riedel, Ingrid

Die gewandelte Frau


sehr gut

Neuorientierung, Gelassenheit und aufregende Träume

Ingrid Riedel sieht Veränderungen im Alter als langfristigen Prozess. Die Schwelle zum Altern beginne bereits mit 40 Jahren, die eigentliche "Wandlung" finde im 5. Lebensjahrzehnt statt und sei mit 60 Jahren abgeschlossen. Die Psychoanalytikerin nutzt C. G. Jungs Begriff der Lebenswende. Jung definiert damit einen Prozess, der nicht plötzlich eintritt, wie durch den populären Begriff der Midlife-Krise suggeriert wird, sondern der bei jeder Person zu einem individuellen Zeitpunkt stattfindet und unterschiedliche lange dauern kann. Wandlungsprozesse als Bestandsaufnahmen mit darauf folgenden beruflichen oder privaten Neuorientierungen gibt es in jedem Lebensalter. Beispiele seien Kinderwunsch 30-jähriger, Beginn einer Aus- oder Weiterbildung, nachdem die Kinder tagsüber im Kindergarten sind, Auswanderungspläne, Auseinandersetzung mit dem Altern der eigenen Eltern. Zur Neuorientierung gehöre das Erkennen der eigenen Endlichkeit und die Verabschiedung von unerreichten oder unerreichbaren Zielen. Im Alter von 40 bis 50 Jahren setzten sich gerade Frauen mit Abgrenzungen und Trennungen auseinander. Ihre Ideale würden an der Realität oder Erreichbarkeit gemessen; die eigene Neuorientierung wird nun stärker gegen Rücksichten auf Familienmitglieder abgewogen. Die Autorin befasst sich zwar auch mit der Aussagekraft körperlicher Symptome während der Wechseljahre. Ihr Schwerpunkt ist jedoch die spirituelle und mentale Neuorientierung. Mit dem populären Geburtstagsgedicht "Was hat sie schon? Was braucht sie nicht? Was kriegt sie nicht?" charakterisiert Riedel eine Frau in der Lebensmitte mit Durchhaltevermögen, die die eigenen Grenzen kennt, keine Bevormundung mehr braucht und sich realistische Ziele setzt. Nach dem 55. Lebensjahr nehme die geistige Leistungsfähigkeit oft wieder zu, langjährige Freundschaften würden gepflegt und geschätzt; der Blick richte sich wieder stärker auf die eigene Herkunftsfamilie. Zwar würden gerade beim Sport die körperlichen Grenzen im Alter deutlich; doch größere Gelassenheit lasse engagierte Seniorinnen sich nun nicht mehr für jedes Problem persönlich zuständig fühlen.
Geprägt von der eigenen Tätigkeit als Analytikerin und Psychotherapeutin sieht Riedel für Frauen in der Lebensmitte eine Vielzahl von beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten als Beraterin, Lehrerin oder Ausbilderin. Ingrid Riedel gibt einige Beispiele für Übergangsrituale, die sich zu runden Geburtstagen gestalten lassen, und analysiert ausführlich die Symbolik einer Reihe intensiver Träume, die ihr eine Frau in den 50ern beschrieb.

Riedels teils pathetischer Stil ist zunächst gewöhnungsbedürftig. "Die gewandelte Frau" ist ein kluges Buch über das Altern und wird alle Leserinnen ansprechen, die sich für die Bedeutung von Träumen interessieren. Das Idealbild der Autorin der bis ins hohe Alter geistig regen und beruflich aktiven Psychoanalytikerin beschränkt sich in der Realität auf eine sehr kleine Bevölkerungsgruppe und lässt sich im Berufsalltag anderer Berufsgruppen selten realisieren.

4 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 26.11.2010
Der ganz normale Wahnsinn
Lelord, François;André, Christophe

Der ganz normale Wahnsinn


ausgezeichnet

Jeder von uns ist ein bisschen wahnsinnig. Doch wir sind in guter Gesellschaft: Obelix kann ohne Asterix sein Leben nicht organisieren und Woody Allen scheint die Neurose in Person zu sein. Wer hat sich nicht schon gewünscht, wenigstens einen nervigen Charakterzug eines Mitmenschen verstehen zu können, wenn er denn schon nicht zu ändern ist. Zwei französische Psychologen geben mit ihrem humorvoll geschriebenen Ratgeber Einblick in die Gründe von Ängsten, Empfindlichkeiten und den Motiven jener anstrengenden Zeitgenossen, die sich in zwanghafte Rituale verstricken. Das Autoren-Duo beschreibt überzeugend, wie die von ihnen skizzierten Querulanten die Welt sehen und warum sie ihre Umwelt nur aus ihrer Perspektive wahrnehmen können. Die portraitierten Charaktertypen werden mit treffenden Beispielen aus Film, Fernsehen und Literatur vorgestellt. Jeder Leser kann sich selbst auf exzentrische Angewohnheiten testen. Die Antworten der Autoren auf die realistische Frage "Und was tue ich, wenn die beschriebene Persönlichkeit mein Chef, meine Kollegin oder mein Ehepartner ist?" nehmen einigen der schlimmsten vorgestellten Charakterzüge tröstend die Spitze.

Auch wer sich gerade an keinem schwierigen Chef die Zähne ausbeißt, wird das unterhaltsame Buch mit Gewinn lesen. Lelord/Andrés geschickte Auswahl alltäglicher Beispiele aus Familie, Nachbarschaft und aus dem Berufsleben finde ich realistisch und ansprechend.

4 von 5 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.