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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 832 Bewertungen
Bewertung vom 07.09.2016
33 Augenblicke des Glücks (Dreiunddreißig)
Schulze, Ingo

33 Augenblicke des Glücks (Dreiunddreißig)


schlecht

Verschwendetes Erzähltalent

In seiner ersten Buchveröffentlichung «33 Augenblicke des Glücks» von 1995 hat Ingo Schulze eigene Erfahrungen verarbeitet, die er während seiner beruflichen Tätigkeit in Sankt Petersburg gewonnen hatte, worauf auch der Untertitel «Aus den abenteuerlichen Aufzeichnungen der Deutschen in Piter» schon hinweist. Diese Großstadt bildet eine Projektionsfläche für knapp drei Dutzend Kurzgeschichten recht unterschiedlicher Länge, die von den Alltagsproblemen der Bevölkerung in «Piter», wie sie ihre Stadt liebevoll nennen, nach der Epochenwende handeln, dem Fall des Eisernen Vorhangs und den darauf folgenden Umwälzungen. Der von der Kritik auffallend konträr bewertete Erzählband fand später Aufnahme in die zweite Staffel der Anthologie der Süddeutschen Zeitung, - zu Recht?

«Ich will es ihnen erklären: Vor einem Jahr erfüllte ich mir einen langgehegten Wunsch und fuhr mit der Bahn nach Petersburg» lautet der erste Satz. Der Autor baut damit die Fiktion auf, eine Frau hätte die Mappe eines Mitreisenden namens Hofmann im Zug gefunden, in denen dieser eigene und ihm von Freunden zugetragene Erlebnisse niedergeschrieben habe. Sie schickt die Mappe dem Autor zur Veröffentlichung. «Wäre ich nicht zu der Überzeugung gelangt», schreibt jener, «dass die hier versammelten Aufzeichnungen über einen bloßen Unterhaltungswert hinausgingen und die Möglichkeit in sich trügen, die anhaltende Diskussion um den Stellenwert des Glücks zu beleben, hätte ich von dieser Aufgabe Abstand genommen». Genau diese Mappe liege nun als Buch vor dem Leser. Ein Hinweis also gleich am Anfang schon auf «Hoffmanns Erzählungen», und abenteuerlich geht es denn auch bereits in der ersten Geschichte zu.

In Episoden ohne erkennbaren Zusammenhang wird aus dem postsowjetischen Alltag berichtet, Protagonisten sind dabei die sogenannten kleinen Leute, die mit den gesellschaftlichen Veränderungen mehr oder weniger gut zurechtkommen. Die Figuren sind recht plastisch beschrieben, sie lassen die typisch russische Seele erkennen in einem bunten Panoptikum, beginnend mit der Edelhure im Hotelfoyer über einfache Arbeiter, arme Landleute, kleine Angestellte, gerissene Geschäftemacher, skrupellose Waffenhändler bis hin zu den brutalen russischen Mafiosi. Was da erzählt wird ist abenteuerlich surreal, der Autor treibt ein ironisches Spielchen mit seinen Lesern, zweigt vom Schönen, Anheimelnden, Märchenhaften plötzlich und unvermutet ins Groteske, Eklige, Grausame und leider häufig völlig Sinnfreie ab. Ein «Wilder Osten» also, der in Kannibalismus gipfelt, das im Buchtitel verheißene Glück wird ad absurdum geführt.

Es wird gekonnt erzählt in einer leicht lesbaren Sprache, wobei inhaltlich Bezüge zu verschiedenen russischen Autoren erkennbar werden, aber auch zu E.T.A. Hoffmann. Kurz nach der Kannibalismus-Episode in der Mitte hat ein Leser vor mir in das Buch geschrieben: «Ingo, Ingo. Bis hierhin bin ich nun gekommen beim Lesen, - aber so langsam denke ich darüber nach, dieses Buch nicht mehr zu Ende zu lesen». Ähnliches findet sich auch in anderen Kommentaren, viele waren froh, als die Lektüre endlich beendet war. Mir ging es ebenso! Denn die sarkastische Erzählweise führt den Leser zu einer makabren Art von «Glück», das verstörend oft die Bösewichte betrifft, zum Beispiel bei den glücklichen Mördern der kannibalischen Sauna-Orgie. Der Sarkasmus des Autors ist also schon im Titel präsent, und man fragt sich unwillkürlich, warum straft der Autor seine Leser derartig? Nicht das Makabre ist damit gemeint, auch nicht das zumeist rätselhaft abrupte Ende seiner Kurzgeschichten, sondern das ins Nichts führende, so offenkundig Sinnlose, das den Leser zweifeln lässt an seinen eigenen geistigen Fähigkeiten. Eine Art Publikumsbeschimpfung à la Handke, oder der Versuch, originell anders zu sein als Schriftsteller, und das schon gleich beim Debüt? Schade für ein zweifellos vorhandenes, aber sinnlos verschwendetes Erzähltalent am untauglichen Objekt!

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Bewertung vom 01.09.2016
Maria Stuart
Zweig, Stefan

Maria Stuart


gut

In meinem Ende ist mein Anbeginn

Der in Wien geborene Schriftsteller Stefan Zweig wird mit seinen Prosawerken auch heute noch sehr geschätzt, wobei neben seiner wohl bekanntesten Erzählung «Schachnovelle» insbesondere seine romanartigen Biografien typisch sind für ihn, das vorliegende, 1935 erschienene Buch «Maria Stuart» ist ein gutes Beispiel dafür. Die alte Erkenntnis, die besten Geschichten schreibe das Leben selbst, wird hier recht eindrucksvoll bestätigt, denn ein wahrhaft dramatisches historisches Geschehen bildet das erzählerische Gerüst für eine spannende Geschichte, die unzählige Male schon als Vorlage gedient hat in Theater, Film, Dichtung und Musik.

Bei einem Besuch im Britischen Museum in London betrachtete der Autor im Oktober 1933 die dort ausgestellten Autografen. «Darunter war der handschriftliche Bericht über die Hinrichtung Maria Stuarts. Unwillkürlich fragte ich mich, wie war das eigentlich mit Maria Stuart?» schreibt er in seinen Erinnerungen. Und spontan begann Zweig mit intensiven Vorarbeiten zur literarischen Umsetzung dieses Stoffs, ein Jahr später war sein Buch fertig. Ihn reizte insbesondere die psychologische Problematik, die den Hintergrund bildet für die schicksalhaften Geschehnisse um die schottische Königin. Bei seinen Recherchen fiel ihm insbesondere die merkwürdige Polarisierung in der einschlägigen Literatur auf, die sie entweder als bedauernswertes Opfer oder als böswillige Anstifterin zum Gattenmord hochstilisiert hat.

So ganz neutral ist auch Stefan Zweig nicht, er schildert in der ersten Hälfte der in 24 Kapitel plus Einleitung und Nachspiel erzählten Geschichte Maria Stuart als schottische Lichtgestalt, schön, klug, mutig, ehrgeizig, vielfach begabt. Sie kommt nach ihrer Rückkehr vom prunkvollen, schöngeistigen französischen Hof in ein ihr fremd gewordenes, raues Schottland. Politisch gibt es überall in Europa keinerlei Moral: «Um König zu werden, ermordete, vergiftete man seinen Vater, seinen Bruder, man warf Tausende unschuldiger Menschen in den Krieg, man räumte fort, man beseitigte, ohne nach Recht zu fragen […] Wenn es eine Krone galt, heirateten vierzehnjährige Knaben fünfzigjährige Matronen und unreife Mädchen großväterliche Greise.» Ein auch nur minimaler Ehrenkodex des Adels existiert nicht, und so wird auch die tragische Heldin in Komplotte verstrickt, als leidenschaftliche Liebe die Sinne der jungen Frau vernebelt und alle moralischen Bedenken übertönt. Das Ganze endet tragisch, wie man weiß, mehr möchte ich hier nicht ausplaudern. Denn wie der Autor war auch ich als Leser fasziniert von dieser Tragödie, deren nähere Umstände mir jedoch nicht vertraut waren. Warum kam es soweit, wie es gekommen ist? War Maria Opfer oder Täterin? Man kennt meist nur das blutige Ende, nicht die Wirrungen und Ränkespiele, die dorthin geführt haben.

In einem melancholischen Duktus geschrieben, resignativ geradezu, ist dies eine personalisierte Darstellung historischen Geschehens, die in ihrer Tragik an antike Vorbilder erinnert und bei Shakespeare im Hamlet ganz ähnlich thematisiert wurde. Das Glück, nach dem der Mensch sucht, scheitert, oft zum Greifen nahe, an den widrigen äußeren Umständen, die Protagonisten werden Opfer ihrer charakterlichen Schwächen, stehen sich selbst im Wege. Eitelkeit, Hochmut, falscher Stolz, Zaghaftigkeit, Ehrlosigkeit bringen sie ins Straucheln und führen sie ins Verderben. Wie Stefan Zweig das alles feinfühlig schildert, ist nicht nur bereichernd, sondern auch unterhaltend. Der gedrechselte, pathetische Schreibstil aber stört den Lesegenuss ebenso wie die machohafte Perspektive des Autors, und seine Parteilichkeit für Maria im Kampf gegen Elisabeth färbt suggestiv sogar auf den Leser ab, wie ich an mir selbst gemerkt habe. «En ma fine est mon commencement» hatte Maria Stuart als prophetisches Motto in einen Brokatstoff gestickt, und tatsächlich: Ihr Ende war ihr Anbeginn, es begründete katharsisartig den anhaltenden Mythos dieser historischen Figur.

Bewertung vom 24.08.2016
Frohburg  (Restauflage)
Vesper, Guntram

Frohburg (Restauflage)


sehr gut

Sachsenspiegel

Als Roman sein Erstling, in seinem Œuvre das Opus magnum, Guntram Vespers «Frohburg» markiert mit der diesjährigen Verleihung des Leipziger Buchpreises in der Kategorie Belletristik einen Höhepunkt im umfangreichen und vielseitigen Werk des frohburggebürtigen Autors. Es ist eine Art soziologischer Sachsenspiegel, eine vielschichtige Geschichtslandschaft, die Vesper in seinem mit tausend Seiten durchaus dickleibigen Buch vor uns ausbreitet, eine Hommage an seine sächsische Heimat, die sorgsam gelesen auch Anhaltspunkte liefert für das, was dieses Bundesland heute so bedenklich politisch abdriften lässt. Der Bogen spannt sich vom deutsch-französischen Krieg 1870/71 - und noch weiter zurück - über den ersten Weltkrieg, Weimarer Republik, Nazi- und DDR-Regime, Wiedervereinigung bis ins Heute. Am 30. März 2015, lässt uns der Autor wissen, zog er sich «wegen der stockenden Arbeit an einem umfangreicheren Vorhaben» ins sächsische Erzgebirge zurück, für Schriftsteller ein wahrlich «großes Projekt, … bei mir war es der ausufernde Frohburgroman.» Der dann, ein Jahr später, erfolgreich publiziert wurde.

«Für etwaige Zweifler also sei es Roman» hat Vesper, Fontane zitierend, seinem Werk vorangestellt, der Satz steht auch am Ende seiner vielen handschriftlichen Arbeitsblätter, mit deren Hilfe er während der sechsjährigen Schreibarbeit die Übersicht behalten wollte. Denn anders, als man nach einigen dutzend Seiten glaubt, handelt es sich nicht um eine Autobiografie, auch wenn Vesper einiges aus seinem Leben erzählt. Aber eben nur einiges, vieles bleibt ausgespart, seine Vita ist kaum abzuleiten aus der gewaltigen Textmasse, die sich ungegliedert als gleichförmiger, endloser Wörterstrom dem Leser präsentiert. Unwillkürlich reißt einen dieser Strom mit, trägt einen fort in das große Ganze der Geschichte, die hier in Form kleinster historischer Geschehnisse, in den Gemütern der vielen Figuren, in ihren Schicksalen gespiegelt wird. Geschichte mithin nicht als generalisierende wissenschaftliche Disziplin, sondern als Summe erlebter oder überlieferter Wirklichkeit, lebensecht also, hautnah mitempfunden und niedergeschrieben. Man erkennt die Empathie des Autors, auch wenn er sich stilistisch nüchtern, fast abgeklärt gibt als Ich-Erzähler.

Der dann allerdings auf langen Strecken das Erzählen seinen Figuren überlässt, ziemlich eigenwillig ohne Anführungszeichen in direkter Rede geschrieben, oft als seitenlange Monologe, bei denen man zuweilen Zweifel bekommt, wer da eigentlich erzählt. Ausufernd zumeist, selbst unwichtigste Details erwähnend, die jedoch keinesfalls Arabesken sind, sondern jeweils weitere Einblicke vermitteln, die das Bild komplettieren. Dabei werden jedoch bandwurmartige Schachtelsätze benutzt, die den Leser fordern, die auch nicht immer gelingen, oft aber zu viele Abschweifungen enthalten und so, geradezu mäandernd, den Lesefluss stören. Abenteuerlich sind auch die Zeitsprünge der multiperspektivisch erzählten Geschichten, bei denen mal eben hundert Jahre hin oder her keine Seltenheit sind, zuweilen sogar im gleichen Satz.

Über all dem liegt ein melancholischer Grundton, der selbst die Schulzeit des Autors, seine Jugendstreiche mit einbezieht und die Figuren emotional merkwürdig unterkühlt zeichnet, - Humor fehlt ganz. Die manische Sammelwut des Autors, der sich übrigens als Karl-May-Fan outet, nimmt breiten Raum ein in den persönlicheren Passagen seiner Erzählung, kein Buch ist vor dem bibliophilen Guntram Vesper sicher, - Zimelien womöglich als höchstes Glück -, und so ist wohl auch die Detailfülle zu erklären, mit der diese unglaublich verdichtete Textmasse aufwartet, fünf Seiten davon würden manch anderem Autor genug Stoff liefern für einen veritablen Roman. Bewundernswert ist die Art und Weise, mit der hier autobiografische und historische Ereignisse verknüpft werden zu einem dichten erzählerischen Geflecht, in dem für den hellwachen, aufnahmebereiten Leser nie Langeweile aufkommt.

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Bewertung vom 28.07.2016
Der Tod eines Bienenzüchters
Gustafsson, Lars

Der Tod eines Bienenzüchters


schlecht

Kein Jahrhundertroman

Der jüngst verstorbene schwedische Schriftsteller und Philosoph Lars Gustafsson hat ein vielseitiges Œuvre aufzuweisen, in dem neben philosophischen, lyrischen und literaturwissenschaftlichen Werken auch die Epik eine gewichtige Rolle einnimmt. «Ich neige dazu, mich als einen Philosophen zu betrachten, der die Literatur zu einem seiner Werkzeuge gemacht hat» lautet seine Selbsteinschätzung. Seine fünfteilige Romanreihe «Risse in der Mauer» wird durch den 1978 erschienenen Roman «Der Tod eines Bienenzüchters» abgeschlossen, der von der Süddeutschen Zeitung durch Aufnahme in ihre Bibliothek «Hundert große Romane des 20. Jahrhunderts» exemplarisch hervorgehoben wurde. Zu Recht?

Bei einem solchen Titel darf der Leser natürlich keine leichte Lektüre erwarten, und so ist man hier auch schon bald ziemlich betroffen von der emotionslosen Schilderung des Sterbens – nicht des Todes – eines erschreckend vereinsamten Menschen. Der Verfasser stellt seinen Protagonisten Lars Lennart Westin als vierzigjährigen, vorzeitig pensionierten Volksschullehrer vor, früh gealtert, geschieden, kinderlos, der allein und abgeschieden in einer einfachen Kate wohnt und seinen Lebensunterhalt unter anderem als Bienenzüchter bestreitet. Ein viel zu spät erkanntes Krebsgeschwür wird seine Todesursache sein, lässt uns der Autor in einer als «Vorspiel» bezeichneten Einleitung wissen, in der ein anonymer Erzähler sich dann schließlich direkt an die Leser wendet: «Die Stimme, die ihr von jetzt an hören werdet, ist seine, nicht meine, und deshalb nehme ich hier von euch Abschied.» Es folgt eine Quellenübersicht, die drei Notizbücher nennt, deren ältestes 1964 begonnen wurde.

Als Ich-Erzähler berichtet Westin nun zunächst selbst von seiner Untersuchung in der Klinik, deren Ergebnis ihm per Brief zugeht, den er aber aus Angst vor dem darin enthaltenen Befund nicht öffnet. «Diesen Brief benutzte er als Fidibus» heißt es am Ende des Kapitels, er verbrennt ihn ungelesen. Nach zwei weiteren Kapiteln über seine Ehe und seine Kindheit werden immer wieder seine Schmerzen thematisiert, denen er trotzig gegenübertritt, dem Motto von Nietzsche folgend: «Was mich nicht umbringt, macht mich stärker». Überirdisches ist Thema im Kapitel «Als Gott erwachte», eine herbei fantasierte Wunschwelt, die uns mit einem grenzenlos gütigen Gott überrascht. Nach einer Rückblende auf glückliche Zeiten in der Jugend unter dem Titel «Memoiren aus dem Paradies» leitet das letzte Kapitel mit kurzen Textfragmenten in die Schlussphase der Krankheit ein, endend mit dem Krankenwagen, der ihn holen kommt. «Man kann immer noch hoffen» lautet der letzte Satz, der im Roman des Öfteren zitiert wird

Der handlungsarme Roman ist in einer einfachen Sprache geschrieben, nüchtern und sachlich wird da erzählt, nordisch unterkühlt, wie ich finde. Mehr Verlorenheit als bei dieser einsamen Figur des Bienenzüchters ist selten zu finden, er ist extrem beziehungsarm und geht einem einsamen Tod entgegen. Sein Hund und die Natur, die seine Kate umgibt, sind alles, was sein Dasein ein wenig erhellt, Westins Sterben ist eher ein Krepieren in einer selbst gewählten Isolation. Philosophische Mutmaßungen über das Ich, die seelische Verfassung des trostlosen Protagonisten, eine selbstkritische Inventur seiner Versäumnisse, die verpassten Gelegenheiten bestimmen große Teile dieses Romans. Überzeugt hat mich letztendlich weder die Geschichte selbst noch ihre sprachliche Umsetzung, das Fragmentarische wirkt arg konstruiert, es erzeugt zudem keine positive Wirkung im Rahmen des kargen Plots. Das sogenannte «Vorspiel» ist einfach nur stilistische Spielerei, und auch die Wechsel der Erzählperspektive tragen nichts erkennbar Positives bei, sie erscheinen mir reichlich unmotiviert. Von den Bienen schließlich erfährt man so gut wie nichts, dabei hätten ihr Sozialverhalten für die aufgeworfenen philosophischen Fragen so manche Anregung geben können. Wahrlich kein Jahrhundertroman!

Bewertung vom 15.07.2016
Der dritte Zustand
Oz, Amos

Der dritte Zustand


gut

Licht von droben

Im Werk des hochgeehrten israelischen Schriftstellers Amos Oz greift auch «Der dritte Zustand» von 1992 Themen auf, die typisch sind für ihn sind, - im selben Jahr wurde ihm prompt der «Friedenspreis des deutschen Buchhandels» verliehen. Da sind zunächst die permanenten politischen Spannungen in Israel als objektiver Faktor zu nennen, dem die zutiefst menschlichen Eigenschaften seiner Figuren als subjektive Faktoren gegenüber gestellt sind. Aus diesen existenziellen Urtrieben und den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen erwachsen permanent Konflikte, ein Dilemma konträrer Einflüsse also, das den Nährboden bildet für seine stets mit ironischem Unterton erzählten Geschichten. In denen dieser alltäglich zu bewältigende Balanceakt zwar nicht immer gelingt, die aber gleichwohl auf ein hoffnungsvolles, tröstliches Ende hinauslaufen, so auch im vorliegenden Roman.

In dreißig Kapiteln wird die Geschichte von Efraim Nissan erzählt, einem vierundfünfzig Jahre alten Intellektuellen, von seinen Freunden zuweilen Effi, meistens aber Fima genannt. Er ist geschieden und kinderlos, lebt allein in einer vom wohlhabenden Vater finanzierten Wohnung in Jerusalem, arbeitet weit unter seinen geistigen Fähigkeiten am Empfang einer gynäkologischen Gemeinschaftspraxis. Ein liebeswerter, blitzgescheiter Wirrkopf, weltfremd und lebensuntüchtig, «… das Abbild eines Schlemihls, der mit zwei linken Händen auf die Welt gekommen war und niemals lernen würde, einen tropfenden Hahn zu reparieren oder einen Knopf anzunähen», wie es im Roman lapidar heißt. Der von diversen Rückblenden ergänzte, linear erzählte Plot ist im Jahre 1989 angesiedelt und greift in seinen gesellschaftlichen Aspekten die damalige Situation in Staate Israel auf, zeigt die seinerzeit agierenden Politiker und maßgeblichen Wissenschaftler in ihren politischen Auseinandersetzungen. Fima nun führt mit seinen Freunden erbitterte Diskussionen über strittige politische Fragen und über vielerlei andere Probleme. Er erweist sich dabei einerseits als äußerst intelligenter Kopf mit unorthodoxen Ideen, ist andererseits aber auch sehr gefürchtet als lästiger, Ort und Zeit ignorierender Disputant, den man kaum noch loswird, hat er sich erstmal in ein Thema verbissen.

Mit Chamissos Märchenfigur Schlemihl hat Amos Oz die Tragik seines Helden treffend umschrieben. Er leidet unter dem Identitätsverlust eines einst hoffnungsvollen Wissenschaftlers, dessen Karriere nicht stattgefunden hat, dessen geistige Fähigkeiten sich nur noch in gelegentlichen Zeitungsartikeln artikulieren oder in hitzigen Debatten im privaten Kreis. Ein hoch gebildeter, gutmütiger Spinner, immer hilfsbereit, bei den Frauen erfolgreich auch ohne männliche Ausstrahlung, attraktiv allein durch seine Bereitschaft, zuzuhören, mitfühlend auf Probleme einzugehen. Ein ewiger Grübler, im Roman sprachlich in Form häufiger innerer Monologe dargestellt, deren Sätze sehr oft mit Fragezeichen enden. Den titelgebenden «dritten Zustand» schließlich verortet Fima kontemplativ zwischen Wachsein und Schlaf: «Nur wenn ein Wintermorgen wie dieser in einem durchscheinenden Lichtschleier aufzieht, den vielleicht der archaische Ausdruck nehora ma-alja, Licht von droben, umschreibt, nur dann kehrt die Wonne der ersten Berührung auf die Erde und in deine sehenden Augen zurück».

Mit ausgedehnten philosophischen Exkursionen, aber auch mit einer unverkennbar versöhnlichen, dem gesunden Menschenverstand verpflichteten Situationsanalyse dieser Krisenregion im Nahen Osten, bereichert dieser Roman seine Leser immer aufs Neue. Störend fand ich die als Chaot maßlos überzeichnete Figur des Protagonisten Fima, den sein Autor in alle denkbaren Fettnäpfchen treten lässt, was anfangs noch zu amüsieren vermag, irgendwann aber als klischeehaft überladen nur noch lästig ist. Amos Oz nutzt seinen Protagonisten - mit gutem Recht - als Sprachrohr für eigene Auffassungen und Erkenntnisse, es lohnt sich deshalb, diesen Roman aufmerksam zu lesen.

Bewertung vom 06.07.2016
Billard um halb zehn
Böll, Heinrich

Billard um halb zehn


sehr gut

Balsam auf des Lesers Seele

Wer würde sich das nicht wünschen, als unverrückbaren Fixpunkt «Billard um halb zehn» in seinem Tagesablauf eingebaut zu haben wie der Statiker Robert Fähmel in Heinrich Bölls gleichnamigem Roman von 1959? Nach einer Stunde Büroarbeit nämlich verbringt sein Held täglich eineinhalb Stunden am Billardtisch im besten Hotel der Stadt, bei gutem Cognac, versteht sich, und niemand darf ihn stören dabei. Der Autor erzählt die Geschichte dreier Generationen einer Kölner Architekten-Dynastie, in der sich die politischen Ereignisse von 1907 bis 1958 spiegeln, fünf Jahrzehnte also, die überdeutlich ihre Spuren hinterlassen haben mit zwei Weltkriegen, zwischen Kaiserreich und Wirtschaftwunder.

Vordergründig spielt sich der Roman in der (damaligen) Jetztzeit ab, mit Kulminationspunkt am 6. September 1958, dem achtzigsten Geburtstag des Patriarchen Heinrich Fähmel. Dessen erster Großauftrag, nach überraschendem Gewinn einer Ausschreibung für ein neues Kloster, legte einst den Grundstein für seinen Erfolg als Architekt. Sohn Robert hat sich lieber der Statik zugewendet, am Ende des Zweiten Weltkriegs sprengt er als hochqualifizierter Spezialist die gesamte Klosteranlage, - vordergründig auf Anweisung eines verrückten Generals, der freies Schussfeld fordert zur Abwehr des alliierten Vormarsches, letztendlich aber auch nicht ganz ohne eigene politische und persönliche Motive. Enkel Joseph wiederum ist als Architekt am Wiederaufbau der Abtei seines Opas beteiligt, will die Arbeit aber nicht zu Ende führen und lieber als Statiker in das Büro des Vaters eintreten. In weiträumigen Rückblenden wird um diesen engen Handlungsrahmen herum die wechselvolle Geschichte der Architekten-Familie erzählt, beleuchtet aus den unterschiedlichsten Perspektiven, auch Freunde und Randfiguren sind intensiv mit einbezogen. Dabei steht, wie immer, die Moral im Mittelpunkt von Bölls Interesse, der Gegensatz von hochanständig handelnden Menschen zu den skrupellosen Opportunisten, im Roman von ihm symbolisiert als «Lamm» versus «Büffel», die Konflikte ziehen sich quer durch die Familien. Obwohl hin und wieder ein wenig Humor durchscheint, ist dies eine eher tragische, geradezu elegische Geschichte, die in einem Pistolen-Attentat auf einen der Nazitäter gipfelt. Gleichwohl wird am Schluss der Geburtstagskuchen angeschnitten, ein grandioses Modell des Klosters, aus Teig geformt, - ein ebenso überraschendes wie versöhnliches Ende, unerwartet nach dem, was voranging.

Individueller menschlicher Größe steht hier die massenhafte Verblendung gegenüber, der kollektive Größenwahn eines fehlgeleiteten Volkes, der in der Katastrophe enden muss. Böll gelingt es, seine Figuren absolut wahrhaftig, wunderbar stimmig darzustellen, man sieht sie greifbar vor sich beim Lesen, authentische Charaktere verkörpernd, die man zu kennen glaubt. Erzählerisches Glanzstück war dabei für mich gleich zu Beginn die humorvolle Szene mit dem Faktotum Jochen im Hotel Prinz Heinrich, wo detailreich und listig aus dem Alltag eines Hotelportiers erzählt wird, eine ganz eigene Welt heraufbeschwörend, in der es menschelt allenthalben. Dieses zutiefst Menschliche ist es, was Bölls originäre Prosa vor allem auszeichnet und das Lesen zur reinen Freude werden lässt. Wobei seine Sympathie unübersehbar den kleinen Leuten gehört, den Schwächeren, den Verlierern, - auch das ist Balsam auf des Lesers Seele.

Sprachlich eine leicht lesbare Lektüre, mit viel rheinischem Lokalkolorit, komprimiert und ohne schwülstige Abschweifungen zielgerichtet erzählt, stellt dieser Roman an die Aufmerksamkeit seiner Leser dennoch erhöhte Anforderungen. Nicht immer erschließt sich einem nämlich sofort die Perspektive, aus der, meist in Form des inneren Monologs, berichtet wird, ein literarisches Puzzle also, bestehend aus nicht chronologisch geordneten Rückblenden, die sich erst allmählich zu einem Gesamtbild formen. Das allerdings ist dann wirklich überzeugend.

Bewertung vom 29.06.2016
Willkommen in Wellville
Boyle, T. C.

Willkommen in Wellville


weniger gut

Autointoxikation allenthalben

Der 1993 veröffentlichte Roman «Willkommen in Wellville» ist typisch für den US-amerikanischen Autor T. C. Boyle, dessen Werke durch ihre zumeist originellen Inhalte die Kreativität eines Erzählers unterstreichen, der nicht, wie viele seiner Kollegen, ans Autobiografische gebunden ist in seiner Thematik. Was bedeutet, dass viel Recherchearbeit nötig wird; man merkt sie dieser Geschichte jedenfalls an, denn außer dem Namen Kellog, der uns vom Supermarktregal her vertraut ist, dürfte vielen Lesern herzlich wenig bekannt sein aus dem speziellen Milieu, von dem Boyle uns hier erzählt.

Im Zentrum steht der Arzt Doktor John Harvey Kellog, der sich nach heftigem Streit mit seinem Bruder aus dem Geschäft mit Cornflakes zurückgezogen hat und ein Sanatorium betreibt, welches, seinen Vorstellungen von gesunder Ernährung folgend, schnell zu einem Mekka wird für mehr oder weniger hypochondrische, in jedem Fall aber reiche Patienten. Eigentlich sogar eher Jünger, die ihm als selbstherrlichem Guru bedingungslos folgen, einer verschworenen Sekte ähnlich. Zeitlich Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts angesiedelt, erleben wir in parallelen Handlungssträngen die Geschichte eines Fabrikantensohns und seiner Frau Eleanor, die im Sanatorium Heilung suchen, ferner die eines zwielichtigen Glücksritters, der ins boomende Geschäft mit den Frühstücksflocken einsteigen will, und natürlich auch die turbulenten Ereignisse, die der missionarisch unbeirrbare Doktor Kellog während des wenige Monate umfassenden Plots in Battle Creek, Michigan zu überstehen hat.

Der Gesundheitswahn seiner Patienten, deren unreflektierte Medizingläubigkeit zumal, sind ein hervorragender Nährboden für Kellogs obskures Sanatorium, in dem es zugeht wie in einem Gruselkabinett. Das Klistier ist im Dauereinsatz, lebensgefährliche Apparate werden eingesetzt, Sex ist streng verboten, weil gesundheitsschädlich, die strikt vegetarische Ernährung spottet jeder Beschreibung. Alle Patienten sind einer permanenten Gehirnwäsche ausgesetzt, werden mit pseudo-wissenschaftlichem Hokuspokus in durchaus auch betrügerischer Absicht manipuliert. Boyle hat aus dem Vollen geschöpft bei seiner ausufernden Geschichte, die leicht lesbar den geneigten Leser unterhält über sehr viele Seiten hinweg. Zu viele allerdings, es stellen sich bald quälende Längen ein, insbesondere was die endlose Aufzählung von Diäten oder medizinischen Behandlungen anbelangt, die immer den gleiche Nonsens enthalten. Ebenso überzogen ist der Handlungsstrang des Möchtegern-Unternehmers, die handelnden Figuren sind ähnlich wie Kellogs Patienten als Volltrottel dargestellt, sie agieren auf Dick und Doof-Niveau. Dass schließlich die übereifrige Eleanor einem Scharlatan in die Hände fällt, und zwar buchstäblich, der ihre Beschwerden mittels «Handhabungstherapeutik» oder, konkreter, Unterleibsmanipulation zu heilen verheißt, fügt dem ansonsten jugendfreien Plot eine für US-amerikanische Autoren erstaunliche, aber durchaus gelungene, erotisch aufgeladene Episode hinzu, - Sex sells, das gilt übrigens auch für das Buchcover.

Mit dem Zauberberg, das sei noch angemerkt, hat Boyles Roman nur den Handlungsort gemeinsam. Wo bei Thomas Mann feine Ironie im Spiel ist und viel tiefgründig Philosophisches, wartet Boyle mit slapstickartiger Satire auf, maßlos überzogen bis an die Grenze des Erträglichen. Und was das sprachliche Können beider Autoren anbelangt, darüber hüllen wir Boyle zuliebe gnädig den Mantel des Schweigens. Seine Groteske über Gesundheitsapostel, Vegetarier, Nudisten, Alkohol- und Sex-Abstinenzler, allesamt vergiftet durch falsche Ernährung, wie Kellogs Standarddiagnose «Autointoxikation» behauptet, mag ja für manche Leser durchaus unterhaltsam sein. Boyle folgt hier konsequent seinem Credo, das da heißt: «Literatur kann in jeder Hinsicht großartig sein, aber sie ist nur Unterhaltung». Wer den Roman «Der Zauberberg» liest, wird allerdings feststellen, dass sie auch Kunst sein kann!

Bewertung vom 22.06.2016
Aus dem Leben eines Fauns
Schmidt, Arno

Aus dem Leben eines Fauns


ausgezeichnet

Schon der Titel des Kurzromans «Aus dem Leben eines Fauns» von 1953 weist deutlich auf das Wesen seines Protagonisten hin. Der dem Autor Arno Schmidt in vielem ähnelnde Ich-Erzähler flüchtet aus der Öde seines langweiligen Beamtenalltags, der Trostlosigkeit seiner familiären Situation und den zutiefst verachteten politischen Verhältnissen in eine entlegene Einsamkeit, wo er faunisch, als lüsterner Waldgeist, ein von allen Zwängen befreites Doppelleben genießt. Der dreiteilig aufgebaute Roman, in der NS-Zeit angesiedelt, beleuchtet das Bürgertum in typischen Phasen dieser verhängnisvollen geschichtlichen Epoche aus einem ganz speziellen Blickwinkel. Dem des kritischen, aber nicht rebellierenden Intellektuellen nämlich, der seinen Rückzugsraum in der inneren Emigration findet.

Im mit «Februar 1939» überschriebenen ersten Teil wird Heinrich Düring als gebildeter Beamter geschildert, der im Landratsamt von Fallingbostel einer ihn deutlich unterfordernden Beschäftigung nachgeht. Im Privaten findet er keinen Ausgleich, seine Frau weist ihn sexuell ab, der Sohn schließt sich, provokativ ihm gegenüber, der Hitlerjugend an, die pubertierende Tochter bleibt ihm fremd. Er findet seinen Ausgleich in der Natur, unermüdlich die geliebte Heidelandschaft durchstreifend, außerdem in der Beschäftigung mit alter Literatur, die ihm als geistige Fluchtburg aus der realen Welt dient. Dabei erweist er sich als glühender Verehrer Wielands, hebt aber auch Ludwig Tieck Prosa heraus: «Und wie steifbeinig-altklug dagegen Goethes ‚anständige’ Geheimratsprosa: der hat nie eine Ahnung davon gehabt, dass Prosa eine Kunstform sein könnte». Als ihn der Landrat mit der Errichtung eines Kreisarchivs betraut, kann er der Ödnis seines Berufslebens nun wenigstens zeitweise entfliehen.

Im zweiten Teil «Mai/August 1939» stürzt er sich begeistert in die Arbeit, lebt regelrecht auf dabei. Besonders fasziniert ihn die Geschichte eines Deserteurs aus dem Deutsch-Französischen Krieg, der jahrelang versteckt im Moor gelebt haben muss, ohne dass man ihn ergreifen konnte. Zufällig entdeckt er dessen Hütte und errichtet dort sein Refugium, das zum Liebesnest wird, als die Nachbarstochter sein Liebchen wird. Den nahen Krieg richtig einschätzend hebt er schließlich all sein Geld vom Konto ab und deckt sich mit Dingen ein, von denen er aus dem Ersten Weltkrieg weiß, dass sie schon bald kaum noch zu haben sein werden. Nach dem Zeitsprung zum dritten Teil «August/September 1944» werden seine Vermutungen bestätigt, man lebt in bitterer Not, wobei schließlich die hartnäckig verkündeten Endsieg-Phrasen in einer Art Autodafé widerlegt werden, bei dem die benachbarte Munitionsfabrik im Bombenhagel zerstört wird. Die mich unwillkürlich an Picassos berühmtes Guernika-Gemälde erinnernde Schilderung des Infernos aus Bomben und explodierender Fabrik ist in seiner drastischen Ausformung kaum zu überbieten, der zweifellos stärkste, aber natürlich auch am meisten schockierende Teil dieses Romans.

Schmid hat von Pointillier-Technik gesprochen bei seiner expressionistischen Erzählweise, die aus aneinander gereihten, im Layout deutlich erkennbaren kurzen Textschnipseln bestehend den Leser ständig zum ergänzenden Mitdenken zwingt. Über weite Teile als innerer Monolog angelegt, spiegeln die Textfragmente die menschliche Denkweise wider; sein Leben sei «kein Kontinuum», lässt Düring den Leser gleich auf der ersten Seite wissen. In seinen Reflexionen formuliert er vehement, oft auch polemisch, seine Antipathien gegen Religion, NS-Regime, Übervölkerung, vermeintlich schlechte Literatur; aber auch gegen bergige Landschaften, die seinem Flachland-Ideal widersprechen. Der überbordende Wortwitz von Arno Schmidt wird von unzähligen kreativen Neubildungen jenseits aller Dudenregeln noch übertroffen, oft auch verballhornt im Argot des Alltags, «Heilitler» heißt die Grußformel dann. Eine ungemein bereichernde Lektüre mithin, für denkfreudige Leser geradezu ein Muss!

Bewertung vom 22.06.2016
Der Abituriententag
Werfel, Franz

Der Abituriententag


sehr gut

Die können es einfach

Wie Kafka in Prag geboren und mit ihm befreundet, hat Franz Werfel ein breitgefächertes Œuvre bedeutender Werke aufzuweisen. Dazu gehört neben dem berühmten Lourdes-Roman «Das Lied der Bernadette» auch der Roman «Die vierzig Tage des Musa Dagh», der die Verfolgung der Armenier zum Thema hat und nicht nur in den USA sehr erfolgreich war. Eine Freundin kommentierte ihre diesbezügliche Leseempfehlung mit den Worten «Die können es einfach» und meinte damit pauschal die jüdischen Autoren dieser Literatur-Epoche. Entsprechend erwartungsvoll also bin ich an den 1928 erschienenen Roman «Der Abituriententag» herangegangen, vom Autor selbst als «Geschichte einer Jugendschuld» bezeichnet, was seine Thematik schon recht deutlich umreißt und mich denn doch neugierig gemacht hat.

Örtlich unbestimmt, vermutlich im Prag der Zwischenkriegszeit angesiedelt, entwickelt sich der Plot aus dem titelgebenden Zusammentreffen eines Abiturienten-Jahrgangs heraus, an dem der Untersuchungsrichter Dr. Sebastian teilnimmt. Er hatte vorher einen mutmaßlichen Mörder verhört, in dem er den ehemaligen Mitschüler Franz Adler wiedererkennt, der ihn seinerseits nicht zu kennen scheint und äußerst verstört wirkt. Als der Richter bei dem Treffen von seiner Begegnung mit Adler erzählt, halten nach anfänglichem Zögern doch etliche der früheren Mitschüler ihn des Mordes an einer Prostituierten durchaus für fähig. Sebastian setzt sich nach der Feier spätabends an seinen Schreibtisch und beginnt geradezu zwanghaft, seine Lebensbeichte aufzuschreiben, er ist nämlich mit Adler aus seiner Zeit als Pennäler schicksalhaft verbunden. Werfel schildert meisterhaft die Geschehnisse in dieser oberen Gymnasialklasse, wo der intelligente Adler wegen seines Talents zum Schreiben hochgeachtet ist, während Sebastian nur durch freches Plagiieren eines vergessenen Autors mit «seinen» Gedichten Eindruck machen kann bei seiner Clique. Aus Neid und Missgunst nutzt Sebastian beim Turnen eine Gelegenheit, den unsportlichen Adler lächerlich zu machen. Der bisher unangetastete Nimbus Adlers leidet daraufhin zusehends, die Mitschüler treiben ihn gnadenlos ins Abseits, nutzen dabei die in seinem introvertierten Wesen begründete Wehrlosigkeit.

Die Schülerclique übertreibt es irgendwann, ist völlig disziplinlos, schwänzt die Schule, die Leistungen aller sinken rapide ab, - Adler gar wird sitzenbleiben, prophezeit ihm der Lateinlehrer. Sebastian, der sich schuldig fühlt an dessen Niedergang, bietet ihm reumütig an, für Adler das Klassenbuch zu fälschen, er besitze eine Tinktur, mit der das spurlos gelingt. Im Lehrerzimmer werden die Beiden überrascht, ohne dass feststellbar ist, wer von ihnen die Fälschung begangen hat. Es droht der Schulverweis, außerdem auch eine Strafanzeige wegen Urkundenfälschung. Sie sind verzweifelt, wollen sich umbringen, Sebastian aber erkennt plötzlich eine Chance, heil aus der Sache herauszukommen, indem er Adler zur Flucht überredet, was einem Schuldgeständnis gleichkommt.

Man ist an «Die Verwirrungen des Zöglings Törleß» von Musil erinnert in diesem Bildungsroman, nur das hier das Mobbing-Opfer nicht sexuell gedemütigt wird, es wird vielmehr psychisch geradezu zerstört. Werfel entwickelt mit seiner souveränen Erzählkunst stilistisch und inhaltlich gekonnt seine Parabel von der Schuld, dabei mit feinem Sinn für Psyche seine Figuren ausleuchtend bis in deren äußerste seelische Tiefen. Täter und Opfer, Gut und Böse, Macht und Ohnmacht sind die Pole, welche der Handlung eine permanente Spannung verleihen, die bis ganz zum Schluss unvermindert anhält. Den zuweilen für diesen Roman apostrophierten Konflikt Christen versus Juden konnte ich übrigens nirgends finden, das Judentum wird an keiner Stelle thematisiert. Der Roman ist sehr flüssig zu lesen, nach seinem überzeugenden Ende bleibt festzustellen, dass besagte Freundin wohl Recht hatte mit ihrer pauschalen Aussage über jene begnadeten Erzähler, - auch Franz Werfel «kann es einfach»!