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Benutzername: 
Kata_____Lović
Wohnort: 
Bremen

Bewertungen

Insgesamt 177 Bewertungen
Bewertung vom 14.10.2023
Über die Berechnung des Rauminhalts II
Balle, Solvej

Über die Berechnung des Rauminhalts II


ausgezeichnet

Auf den zweiten Teil von die » Über die Berechnung des Rauminhalts« habe ich freudig gewartet. So inspirierend war der erste Teil, in dem die Antiquariatsbuchhändlerin Tara in einer Zeitschleife hängen bleibt. Immer wieder landet sie im achtzehnten November, Groundhogday in intellektuell. Im ersten Teil sucht Tara nach dem Ausweg und es ist am Ende offen, ob sie bereit ist für die Lücke im System, für den Sprung raus aus der ewigen Wiederholung der Außenwelt, in der sie selbst die einzige Variation ist. Auch Wochen nach dem Lesen dachte ich so einige Radfahrten darüber nach und versuchte zu erraten, was wird Balle in den folgenden sechs Bänden tun? Wird sie die Perspektive zu den anderen Figuren wechseln? Wird sie auflösen, dass es sich um ein Wahnsystem der Figur handelt? Zur gleichen Zeit war ich überzeugt, nein, das wäre viel zu einfach und linear, meine Gedanken sind zu begrenzt für diese Autorin und Geschichte, sie wird mich überraschen. Und, was soll ich sagen, ich wurde nicht enttäuscht.

Es ist nicht einfach über Band Zwei zu schreiben, ohne zu spoilern, denn der Text lebt von überraschenden neuen Perspektiven. Tara sucht nicht mehr nach Lücken, sie akzeptiert den chronischen Zustand des achtzehnten Novembers und findet zu neuen Bewegungen in diesem zeitlich begrenzten Raum. Variationen findet sie, indem sie den Blick nach außen richtet, auf die flüchtigen Einblicke in die Leben Anderer, auf kollektiv strömende Menschenmengen, deren Sog nur kurz auf sie wirkt und über die örtliche Bewegung im Raum, die ihr sogar das Erleben von Jahreszeiten ermöglicht. Auch wenn es ihr sinnlos erscheint, fast zwanghaft dokumentiert sie ihre über die Zeitschleife hinausgehenden Gedanken. Mit Band Zwei schafft die Autorin es, mich wieder in Erstaunen zu versetzen, auf eine unaufgeregt leise und langsam einsinkende Art. Sprache und Tempo bilden damit einen Kontrast zum Gewissheiten in Frage stellenden Inhalt. Balle öffnet Raum um Raum und ich hab großes Vertrauen, dass sie weiter in Erstaunen versetzen wird.

Denn das ist gesetzt, es müsste schon einiges passieren, dass ich die weiteren Bände nicht mehr lese. So müssen sich Fantasy- oder Romantasy- oder wie diese Genres heißen- Leser:innen fühlen, die der nächsten Fortsetzung mit Spannung entgegenfiebern, ich warte mit Freude auf Band Drei.

Habe ich oder andere Rauminhaltbegeisterte dein Interesse geweckt? Steig ein in diesen Zug, es ist inspirierend, klug, eine entrückte, ganz eigensinnige Welt, die viel zu sagen hat über unser Sein.

Bewertung vom 14.10.2023
Tesla oder die Vollendung der Kreise
Bremer, Alida

Tesla oder die Vollendung der Kreise


ausgezeichnet

Wer kennt Nikola Tesla? In den Ländern, die einmal Jugoslawien waren, jede:r. Tesla, ein umtriebiger Erfinder von Wechselstrom und Elektrotechnik. Was er genau erfunden hat, hab ich nie richtig verstanden, versucht es nicht, mir zu erklären, gefühlt den Kern von Allem. Tesla, ein eleganter Visionär, der serbische Wurzeln hatte, im heutigen Kroatien auf die Welt kam und um die Jahrhundertwende in New York eine schillernde Figur des öffentlichen Lebens war. Er lebte in Hotels, ließ sich sponsoren, blieb in den Erfindungen und Ideen umtriebig, als Person immer geheimnisvoll, eigen und zurückgezogen. Für die Südslawen war er ein Held, ein Symbol für die jugoslawische Intelligenz. In der neuen Welt zwischen bekannt und verkannt, in der Sowjetunion ein wenig bekannt und im alten Europa so gut wie unbekannt, eignete er sich nur zu gut als Identifikationsfigur für die im Stolz verletzten kleinen südslawischen Völker.
Heute kommt Tesla unverhofft Ruhm zu, nein, damit meine ich nicht in Südosteuropa, denn das Auto, es ist fast ein exzentrisches Kuriosum, der Tesla hat seinen Namen von Nikola, und ist damit wieder in aller Munde.

Die historische Person Tesla kommt in »Tesla oder die Vollendung der Kreise« nur flüchtig vor. Erzählt wird die Geschichte aus Sicht einer anderen historisch belegbaren Person, des kroatischen Mediziners Ante Matijaca, der 1888 in Zadar, Dalmatien geboren wurde und als junger Mann mit Ausbruch des ersten Weltkriegs in New York landete. Jugoslawien ist noch eine fixe Idee, die der leicht fiktionalisierten Figur Anton ein Ausweg zu sein scheint aus Armut und Bedeutungslosigkeit. Anton schafft den amerikanischen Traum, er steigt auf und landet in der Medizin. Als er eine Audienz beim wunderlichen und glamourösen Tesla gewährt bekommt, ist er in seinem Bann. Später überlässt Tesla ihm geheimnisvolle Papiere. Kurz vor Ausbruch des zweiten Weltkriegs folgt der Tesla sein Leben lang ergebene Arzt der Bitte seiner Eltern, in die alte Welt zurückzukehren, die Papiere hütet er wie einen Schatz, während die Zeitgeschichte Spuren hinterlässt.

Alida Bremer hat mit »Tesla oder die Vollendung der Kreise« einen runden historischen Roman geschrieben, voller Hoffnung, Spannung und Enttäuschung. Es ist ein Psychogram der südslawischen Mentalität. Fast nebenbei vermittelt der Roman viel über die Geschichte der Medizin, die Auswanderung nach Amerika, den für Weiße Südosteuropäer:innen in der neuen Welten möglichen sozialen Aufstieg und über die Geschichte der kleinen südslawischen Völker. Der Zusammenschluss erscheint als ersehnte Lösung gegen das durch die Kolonialisierung der KuK Monarchie und das durch die Herablassung des westlichen Europas gespeiste Minderwertigkeitsgefühl. Durch den großen zeitlichen Bogen des Romans, wirkt Jugoslawien wie eine kleine Episode in der Region Südosteuropa.
Sehr lesenswert.

Bewertung vom 14.09.2023
Der Geschmack von Aprikoseneis
Alani, Feurat

Der Geschmack von Aprikoseneis


ausgezeichnet

Stringent und ausgefallen in der Form folgt »Der Geschmack von Aprikoseneis« einem klaren Konzept. 1000 Dreizeiler wie Tweets, Telegramme oder SMS, reiht der Autor aneinander. Im Stil sind sie nüchtern gehalten, erzeugen so Spannung im Kontrast zum emotional geladenen Inhalt, blumigen Worten und kindgerechter Gestaltung. Sie erinnern an Haiku, Suren oder Notizen und greifen Schlaglichter der Erinnerung heraus. Auf Seitenzahlen wird verzichtet, es gibt nur die Nummerierung und stüzende, die Stimmung aufnehmende Illustrationen, die auch die Zahl drei aufgreifen. In drei Farbfamilien gehalten und im Graphic Novel Stil rahmen sie emotionale Passagen von Krieg und Spannung. Gut dosiert fügt der Autor dem Text kurze kontextualisierende Fakten, Jahreszahlen und Erklärungen hinzu.

Chronologisch und emotional wird die Geschichte entgegen der formalen Strenge vorangetrieben, Coming of Age und Autofiktion in einer ganz anderen und aufregenden Form. Alani ermöglicht damit gemeinsam mit der im Exil aufgewachsenen Figur Alani eine emotionale Aufklärung und ein Hereinwachsen in die gesellschaftliche und politische Entwicklung des Iraks von 1989 bis 2011. Das erste Mal lernt er mit neun Jahren den Irak kennen. Die Heimat seiner Eltern zeigt sich duftend, modern, gesellig, voll und reich mit kleinen für das Kind subtilen Grenzen. "Saddam" darf niemand sagen, fällt das Wort doch, geraten alle in Spannung und sein Vater bleibt in Paris, zu groß ist das Risiko einer erneuten Inhaftierung. 1990 sieht Alani dann "Feuerwerk" am Irakischen Himmel durch das französische Fernsehen. Seine Pariser Freunde finden es lustig, während seine Familie Angst hat und weint. Ein die Bevölkerung zermürbendes Embargo wird folgen. 1992 reist Alani in ein verändertes Land und wächst weiter herein in eine Reibung zwischen der Pariser Sicherheit und der auf seinen heranwachsenden Schultern lastenden Nähe zu dem sich stets verändernden Irak. 2003 treibt es den noch nicht fertig ausgebildeten Journalisten zurück in den nun vom amerikanischen Militärs besetzten Irak.
Es entstehen erste Reportagen und immer mutigere journalistische Arbeiten, die in die Dreizeiler fließen, ebenso wie seine Liebe und Trauer um den sich stets in Unruhe und Kriegen verändernden Irak.

Sprachlich, konzeptuell, gestalterisch, inhaltlich und in der Gesamtheit ist »Der Geschmack von Aprikoseneis« ein spannendes, berührendes und dringliches Werk, dem ich viele Leser:innen wünsche. Ein besonderes und gelungenes Buch.

Bewertung vom 13.09.2023
Mystische Fauna
Bodrozic, Marica

Mystische Fauna


ausgezeichnet

»Mystischen Fauna« ist ein Essay in präziser poetischer Sprache, Nature Writing, eine intime Selbsterforschung, ein entwaffnendes sich zeigen, ein stilles Abtragen in sich selbst verkörperter Erinnerungen, eine Geschichte von Orten, Gewalt, Vertrauen und Verstehen. Bodrožić führt heilende Selbstgespräche in einem sendenden Mitteilungsbedürfnis und in einer übersprachlichen Verbundenheit, die mit dem unmittelbaren Kontakt mit Tieren, Pflanzen und Soil Kraft gibt, ohne dass sich an ihr festgeklammert wird, eine innere Freiheit in Verbundenheit.

Bodrožićs Texte brauchen Einlassung auf ihre Energie und mit Intellektualität verbundener Spiritualität. Die vertrauensvolle Offenheit ihres Werks verführt jedoch auch bei weniger Zugang zu Schwellenerlebnissen der menschlichen Wahrnehmung; zu einnehmend ist ihre archäologische, behutsame Abtragung von Wahrnehmungsschichten und Erinnerungen und ihre Verbundenheit. Intuitiv folgt Bodrožić den Kontakten mit Tieren, die bei aller Gewalt unmittelbar in Beziehung treten und steigt hinab in vorbewusste Sphären. War die Bewegung von »Die Arbeit der Vögel« die Würdigung des Unterwegsseins, des Dazwischenseins, so ist es bei der »Mystischen Fauna« das Ankommen, die Ruhe und das Vertrauen, das beim Lesen abfärbt, stärkt und Möglichkeiten der eigenen Entwicklung finden lässt ohne einen bestimmten Weg zu weisen.

Klingt abstrakt? Dann noch einmal in der Außenschau. Die Erzählstimme befindet sich auf La Gomera und scheint in einer Schwellensituation zu sein, in der sie noch nicht weiß, in welche Richtung ihr Leben weitergeht. Als eine Bekannte sie bittet, ihren Hund und Haus für eine nicht fest bestimmte Zeit zu hüten, tritt sie in eine intensive Beziehung mit dem Hund und der Natur. Sie steigt ab in verschüttete Erinnerungen ihrer Kindheit in Dalmatien, in der die Tiere ihr Kontakt und Vertrauen schenkten. Um so verstörender sind die Erinnerungen an Gewaltausbrüche ihres Opas, ihres Hauptbezugsmenschen der Kindheit, später ihrer Mutter, und an ein verschüttetes Schlüsselerlebnis, das eigene beteiligt sein am Töten eines Tieres. Sie betrachtet die aufkommenden Erinnerungen Schicht um Schicht, versprachlicht sie, würdigt ihre zerstörerische Kraft und gibt sich der heilenden vertrauensvollen Beziehung zu Tier und Natur hin, die den Weg zeigen zu der eigenen Sanftheit, dem sich anvertrauen, dem Gewahrwerden der inneren Weite und dem sich Verbundenfühlen mit der Welt.

Bewertung vom 13.09.2023
Hässlichkeit
Hilal, Moshtari

Hässlichkeit


ausgezeichnet

»Ich würde Anwältin werden wie die Anwältinnen in den amerikanischen Serien, die um 20:15 Uhr in unserem Wohnzimmer liefen, durch Gerichtssäle, durch Manhattan, durch unseren Bildschirm. Ich würde anziehend sein. Blicke auf mich ziehen, sie halten und mir hinterher schauen lassen.« | 16

So und anders schildert die Autorin die Kindheitsvisionen ihrer weiblichen Zukunft. Moshtari Hilal ist Manhattan geworden und mehr als das. Auf 220 Seiten zeichnet sie die Kartographie ihrer Hässlichkeit. Die nicht zufällige Fixierung auf Nase, Haut und Körperbehaarung, die sie auch in ihrer Kunst thematisiert, spickt sie in diesem Essay mit Autobiographischem und Auszügen ihrer Werke. Sie fügt Gedanken und historisches Wissen zu den internalisierten Weißen und oft explizit rassistischen Traditionen einer hellen reinen haarlosen Haut und einer zierlichen Nase hinzu und stößt auf die Codes, Disziplinierungen und Begrenzungen der rassifizierten, objektifizierten Linien von Schönheit und Hässlichkeit.

Die Mischung aus Erfahrungen, Lyrik, Kunst, Phänomenen, Geschichte und Forschung ist gelungen. Im Sound ist Hässlichkeit leise, provokant, nüchtern und emotional. Durch ihre Werke werden optische Sinneskanale mit angesprochen.
Hilal lässt nachdenken über Schönheit und Hässlichkeit, sie zeigt, wie wirkmächtig Schönheitsideale gerade für Frauen insb. rassifizierte Frauen sind und wie sie sanktionieren. Der Wunsch, diese beiseite zu legen, vom Objekt zum Subjekt die Kontrolle über den eigenen Körper zu finden, scheint durch, die Fallstricke und Begrenzungen ebenso. Hilal zieht soghaft in ihre Gedanken und biographisch gereiften Standpunkte. Ihre in Worte und Werke übersetzten Erfahrungen und das Sichtbarmachen der unbehaglichen Traditionen überzeugen. Hilal erzeugt auch Reibung, denn hier schreibt eine Frau, die in vielerlei Hinsicht Schönheitsidealen entspricht, auch mit ihnen spielt und es lässt sich ergänzen, weiterdenken, erfragen und erspüren. Wie viel Sanktionierung steckt in Hässlichkeit? Was bedeutet Ästhetik, was kann sie bedeuten und wird sich nicht immer Leid und Ausschluss damit verbinden?
Gibt es Schönheit und Hässlichkeit beyond? Hilal weitet ihre Gedanken auf Gesundheit, Krankheit, Behinderung, Alter und Tod aus und es gelingt auch hier, doch gewinnt sie am meisten mit der Auseinandersetzung mit Dimensionen, die sie persönlichst berühren.
Aber wow, Hässlichkeit denkt und wirkt in mir weiter, verbindet sich mit eigenen Sanktionierungserfahrungen und Profitationen. Der Text lässt mich suchen nach Subversion, denn ich bin ein hoffnungsloser Fall. Das Warten auf diesen inspirierenden Essay zum Thema Ästhetik und Hässlichkeit hat sich gelohnt.
Sehr empfehlenswert.

Bewertung vom 13.09.2023
Die Gouvernanten
Serre, Anne

Die Gouvernanten


sehr gut

Voyeurististisch werden drei junge Frauen beobachtet, die im Dienst des Hofes Austeur für fordernde Jungen Dienst tun. Drei Gouvernantinnen, die durch das Anwesen Streifen, mal Allianz mit den Hausmädchen eingehen, mal mit Monsieur und Madame, sich dann wieder mit voller Hingabe den nach Aufmerksamkeit und Devotion hungernden Jungen zuwenden. Gelegentlich verführen sie in ihrem Park fremde Männer, auch wenn das heißt, dass sie sie fesseln müssen. Regie führt der alte Mann in der Nachbarschaft, der ihre Optik stets mit dem Fernrohr beobachtet und begehrt.

Traumartig, rauschhaft und distanziert hält diese Parabel auf weibliches Begehren den Text in einem männlichen distanzierten Blick auf das Schauspiel und die drei konturlosen Frauen. Er möchte dass sie Objekt sind, dass sie faszinierend bleiben und zur gleichen Zeit unter Kontrolle. Doch Serre spickt in ihrem Debüt von 1992 subtile Ausbrüche und Perspektiven, die die männliche Kontrolle irritieren. So bekommt eine Gouvernante einen Sohn und für kurze Zeit entzieht sie sich dem begehrenden Blick. Als alle drei Governanten kurz verschwinden, fragt sich der Voyeur, ob er endlich lieben kann, wenn er von der distanzierten Idealisierung und Objektifizierung befreit ist. Die Gouvernanten verschwinden immer wieder im Park, in ihren Zimmern und am Ende löst sich alles auf.

Es ließ sich viel finden in diesen gehaltvollen 80 Seiten. Entgegen heutiger Lesegewohnheiten wird gänzlich auf eine Innenschau der Figuren verzichtet, auch kommt keine erklärende Erzählstimme zur Hilfe, keine Identifikationsmöglichkeit, keine psychologisch aufgebaute Emanzipation der Figuren, kein expliziter Spannungsbogen. Die angekündigte Verfilmung mit Lilly Depp liegt nahe, denn Die Governanten konzentriert sich auf Szenen und Bilder, ich hoffe sehr, dass sie die Geschichte mit ihren subtilen Brüchen nicht ruiniert.

Bewertung vom 13.09.2023
Vaters Meer
Utlu, Deniz

Vaters Meer


ausgezeichnet

»Wenn ein Mensch stirbt, verschwindet das Wasser nicht. Es verdunstet in die Welt, wenn er verbrannt wird. Es sickert in den Boden, wenn er begraben wird. Es regnet ab, es nährt die Pflanzen und andere Lebewesen. Es wird zu anderen Körpern, findet sich in einer Eizelle, in einem Auge, im Herzen, im Hirn. Von jemand anderem. Der Mensch geht, das Wasser bleibt in dieser Welt.« |342

Vordergründig ist »Vaters Meer« eine laut hallende Liebeserklärung an den verschwindenden Vater und eine hintergründig tragende Liebeserklärung an die Mutter. Schlicht und elegant erzählt es die Geschichte von Yunus, der als Kind zweier stolzer aus dem Südosten der Türkei eingewanderter Eltern in Hannover aufwuchs. Die Geschichten, Konflikte und Beziehungen der Eltern streifen ihn, zerrieseln wie Sand, doch für den kindlichen Yunus fügen sie sich in der Unendlichkeit des weit entfernten eigenen Erwachsenseins. Als der Vater nach zwei Schlaganfällen plötzlich ins Koma fällt und viele Jahre im Locked-In-Syndrom nur die Augen bewegen kann, beginnt Yunus sich seiner selbst bewusst zu werden. Den gefüllten Leerstellen des Vaters beginnt er Imaginationen, Geschichten und Selbsterzählungen hinzuzufügen. Er sucht sich in der Seele seines Vaters, erschafft ein kohärentes Bild, balanciert auf Brüchen und Irritationen, während die Erzählstimme das eigene Tun und die Interpretationen in Frage stellt.

»Ich habe es mit mehreren Vätern zu tun: dem Verstorbenen, dem imaginierten und seinem Geist. Der Geist bestärkt mich in meinen Versuchen, Vater zu gedenken, ihn zu treffen in seiner Vergangenheit, in die ich reise, aber er ist auch leicht gekränkt, zeig meine Imagination ihn in düsterem Licht. Bisher kehrt er dennoch zurück. Der verstorbene Vater gibt mir Orientierung. Der Mensch, den ich mir vorstelle, die Imagination ist eher mein Kind als umgekehrt.« |317

Während sich die Suchbewegungen und Gedanken des Protagonisten permanent um den Vater drehen, webt sich in einer weiblich-mütterlichen Hintergründigkeit die Mutter ein; eine beeindruckende und leidende Figur, die eine Kulisse bildet, deren Kraft und Potenzial immer drängender auf die Bühne tritt.
.
»In dieser Ewigkeit im Weltall suchte ich meinen Vater. Ich traf meine Mutter. Ich sah sie, sie sah mich nicht. Sie war allein. Sie kämpfte.«|228
.
Über den Zungenschlag der Kritik an Utlus Romanauszügen auf den 47. Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt möchte ich nicht sprechen. Ich muss aber sagen, auch mir ging es so, dass der vorgetragene Auszug mich nicht sonderlich beeindruckte, vielleicht auch enttäuschte. Denn die Tiefe des Romans konnte ich nicht erspüren. »Vaters Meer« ist ein Text, der über die Länge funktioniert, der Seite um Seite braucht, um sich zu entfalten, der zuerst die vordergründige Geschichte vernehmen lässt und dann den Einstieg bietet in universelle Fragen von Menschwerdung, der Rolle von Eltern und Herkünften, sowie der Emanzipation von diesen. »Vaters Meer« ist ein großer Roman, der Beachtung findet und erstaunlicherweise bisher an den großen Preisen vorbeigekommen ist. Eine Nominierung für die Longlist des Deutschen Buchpreises wäre mehr als verdient gewesen.

Bewertung vom 13.09.2023
Livestream & Leichen
Martin, Piekar

Livestream & Leichen


ausgezeichnet

Digitale Welten handeln und kommunizieren mit uns, sie verkörpern sich im assozialen world wide web. Sie binden sich an unsere Räume. Wir können alles fragen. Alexa, Siri und Google finden Antworten und führen uns immer weiter. Im Netz stirbt nichts und bei uns gibt es Leichen, Körperlichkeit, Verwundungen, Fragen und einen vielfältigen Hunger. Das Gespräch mit den Bots und Konten bindet und wirft ein Spiegelbild zurück. Das Netz weist auf unser Leben selbst.

Laut, mitunter parolenhaft ist Martin Piekars Dichtung und hält dabei stets die Schönheit der Brüche und der Dunkelheit präsent. Neu, um reale Wirklichkeiten bemüht, sanft und warm, dringen seine Gedanken und Sätze durch. Kraftvoll sind Trauer, Sehnsucht, Hingabe und Erfüllung. Das Spielen mit Sprache und Wirklichkeit ist souverän, nein mit Sprachen, denn dem Polnischen und ganz nebenbei dem In-und Ausschluss deutscher Identitäten wird Platz gewährt, ebenso wie dem Geld und der Abwesenheit des Geldes, organisch und hinter den Glasscheiben virtuell.

Ach, wie soll ich es weiter beschreiben, Martin Piekar hat mein Herz sowieso, nein das was er macht, hat es, seine Gedichte und seine Kunst. Nina Kauns Illustrationen und Andrea Schmidts Schriftsetzung, die mich schon bei Caca Savićs Teilchenland begeisterten, fügen sich harmonisch ein und geben dem Band eine weitere sinnliche Tiefe, so dass es mich nicht wundern würde, dass sich in der Entstehung Text und Gestaltung gegenseitig beeinflussten.

Piekar kennt ihr, oder solltet es, spätestens nach seiner überzeugenden Performanz beim diesjahrigen Bachmannpreis, die völlig zu Recht mit dem KELAG-Preis und dem Publikumspreis belohnt wurde. Wagt er nun ein Genrewechsel oder einen Ausflug in die Prosa? We are watching you like Lions! Und lesen werden wir es und so gern anschauen auch.

Bewertung vom 13.09.2023
Akzente 2 / 23

Akzente 2 / 23


ausgezeichnet

»Still ist die Stille und der Grund von allem. (...) Im Anfang war nicht das Wort sondern die Stille. Die Stille, aktiv: sie lebt, wächst, breitet sich aus, vibriert, nimmt überhand oder ab.« Ilma Rakusa |55

Die Aktivität der Stille ist die Klammer der zweiten Ausgabe dieses Jahres von Hanser Akzente. Die Herausgeberin Daniela Dröscher beschäftigt das Phänomen des Schweigens schon lange, das auf dem ersten Blick eine Kargheit hat und auf dem zweiten eine der facettenreichsten Erscheinungen gerade in der Literatur ist. Ist Literatur doch eine Kunst, die meist in Stille entsteht und in Stille genossen wird, dabei innerlich resonant redet und permanent erzählt. Aber wenn sie nachhaltig zu uns spricht, ist es nicht das Plapperhafte, es ist das Innehalten, es sind die Auslassungen, die Lücken, das Schweigen, das am eindringlichsten zu und in uns spricht.

So ist es kein Wunder, dass viele Autor:innen nicht zögerten, der Einladung und Idee von Dröscher zu folgen, einen Beitrag zum Schweigen beizusteuern und damit Teil dieses Kaleidoskops des literarischen Schweigens zu werden. Die Mischung aus zeitgenössischem und klassischem, aus Gedichten, Romanauszügen, Essays, Versatzstücken, der Schätzung, dem Leiden und der gleichmütigen Betrachtung des Schweigens, ist gelungen.

Die von Hanser herausgegebene vierteljährlich erscheinende Literaturzeitschrift Akzente geht nun ins 70ste Jahr. 1953 erschien die erste Ausgabe herausgegeben von Walter Höllerer und Hans Bender, zu der noch heute bekannte damals zeitgenössische Autorinnen wie Ingeborg Bachmann, Hans Magnus Enzensberger, Thomas Mann, Elias Canetti, Paul Celan und Nelly Sachs beitrugen. Seit 2015 widmet sich Akzente je einem Thema, seit 2019 liegt die Verantwortung für eine Ausgabe bei einer Person, meist etablierten Autor:in, was die Attraktivität und Vielfalt dieser Zeitschrift erhöht.

Bewertung vom 13.09.2023
Radio Sarajevo
Sila, Tijan

Radio Sarajevo


ausgezeichnet

Wie ist es, als Kind in einem Krieg entscheidende Jahre kurz vor der Pubertät zu erleben? Wie versteht ein Kind solch einen Ausnahmezustand? Und wie sind die Auswirkungen von Belagerung, Verarmung, Gewalt, Bedrohung, den Sorgen der Erwachsenen und besonders der repetitiven Monotonie des Alltags eines Krieges? Eines Alltags, dessen Gewalt und Toxizität sich erst rückwirkend und Stück für Stück verarbeiten lässt.

Die Belagerung von Sarajevo, die 1992 begann, die Sila als 10 jähriger bis zur Flucht nach Deutschland selbst erlebte, komprimiert er auf 170 Seiten. Silas Anliegen, seiner Generation der "Vergessenen", die Krieg als Kinder und Jugendliche erleben musste, eine Stimme zu geben, scheint in diesem autofiktionalen Roman stark durch.
Wie schnell Kriege vergessen werden, die einen nicht unmittelbar betreffen, zeigte sich zu Beginn des Krieges zwischen Russland und der Ukraine, wo es irritierenderweise immer wieder hieß, dies sei der erste Krieg auf europäischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg. In den 90er Jahren gab es mehrere Kriege im ehemaligen Jugoslawien, gar nicht weit weg von hier und für einige von uns sind diese ein Leben lang prägend. Für andere oder ihre Eltern oder auch Großeltern waren und sind es andere Kriege, die auf sie und ihre Familien wirken. Die in »Radio Sarajevo« beschriebenen Ereignisse sind häufiger oder normaler, als es vielen von uns lieb und bewusst ist.

Im Sound ist »Radio Sarajevo« ein Jugendbuch. Es liest sich eingängig und ist in der naiven Perspektive eines Jungen gehalten, die ergänzt wird von einer einordnenden heutigen Erzählstimme. Der erwachsene Blick auf die Ereignisse verdeutlicht einerseits, wie diese zwei Jahre und die darauf folgenden Belastungen auf die Familie und seine Generation weiterwirken. Andererseits stellt es einem deutschen Lesepublikum eine Einordnung der Geschehnisse bereit.
»Radio Sarajevo« eignet sich daher sehr für junge Menschen, besonders, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen und für all jene, die sich die leiseren Auswirkungen von Kriegen ins Bewusstsein holen wollen, um Empathie für viele Menschen unter uns und auch die eigene Familie zu entwickeln, ohne befürchten zu müssen, von explizit beschriebener Gewalt überrollt zu werden. Subtil ist Gewalt natürlich trotzdem enthalten und in einigen Passagen wird sie auch explizit, besonders in den Geschlechterverhältnissen, alles andere wäre auch am Thema vorbei gewesen. Ich empfehle gerade jungen Menschen, diesen gelungenen autofiktionalen vielleicht auch didaktisch-aufklärerischen Roman zu lesen. Und allen, die sich mehr zumuten wollen, empfehle ich das ebenfalls von der Belagerung handelnde bei Rowohlt 2019 im Deutschen erschienene »Zwei Jahre Nacht« von Damir Ovčina.