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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Kata_____Lović
Wohnort: 
Bremen

Bewertungen

Insgesamt 173 Bewertungen
Bewertung vom 13.09.2023
Hässlichkeit
Hilal, Moshtari

Hässlichkeit


ausgezeichnet

»Ich würde Anwältin werden wie die Anwältinnen in den amerikanischen Serien, die um 20:15 Uhr in unserem Wohnzimmer liefen, durch Gerichtssäle, durch Manhattan, durch unseren Bildschirm. Ich würde anziehend sein. Blicke auf mich ziehen, sie halten und mir hinterher schauen lassen.« | 16

So und anders schildert die Autorin die Kindheitsvisionen ihrer weiblichen Zukunft. Moshtari Hilal ist Manhattan geworden und mehr als das. Auf 220 Seiten zeichnet sie die Kartographie ihrer Hässlichkeit. Die nicht zufällige Fixierung auf Nase, Haut und Körperbehaarung, die sie auch in ihrer Kunst thematisiert, spickt sie in diesem Essay mit Autobiographischem und Auszügen ihrer Werke. Sie fügt Gedanken und historisches Wissen zu den internalisierten Weißen und oft explizit rassistischen Traditionen einer hellen reinen haarlosen Haut und einer zierlichen Nase hinzu und stößt auf die Codes, Disziplinierungen und Begrenzungen der rassifizierten, objektifizierten Linien von Schönheit und Hässlichkeit.

Die Mischung aus Erfahrungen, Lyrik, Kunst, Phänomenen, Geschichte und Forschung ist gelungen. Im Sound ist Hässlichkeit leise, provokant, nüchtern und emotional. Durch ihre Werke werden optische Sinneskanale mit angesprochen.
Hilal lässt nachdenken über Schönheit und Hässlichkeit, sie zeigt, wie wirkmächtig Schönheitsideale gerade für Frauen insb. rassifizierte Frauen sind und wie sie sanktionieren. Der Wunsch, diese beiseite zu legen, vom Objekt zum Subjekt die Kontrolle über den eigenen Körper zu finden, scheint durch, die Fallstricke und Begrenzungen ebenso. Hilal zieht soghaft in ihre Gedanken und biographisch gereiften Standpunkte. Ihre in Worte und Werke übersetzten Erfahrungen und das Sichtbarmachen der unbehaglichen Traditionen überzeugen. Hilal erzeugt auch Reibung, denn hier schreibt eine Frau, die in vielerlei Hinsicht Schönheitsidealen entspricht, auch mit ihnen spielt und es lässt sich ergänzen, weiterdenken, erfragen und erspüren. Wie viel Sanktionierung steckt in Hässlichkeit? Was bedeutet Ästhetik, was kann sie bedeuten und wird sich nicht immer Leid und Ausschluss damit verbinden?
Gibt es Schönheit und Hässlichkeit beyond? Hilal weitet ihre Gedanken auf Gesundheit, Krankheit, Behinderung, Alter und Tod aus und es gelingt auch hier, doch gewinnt sie am meisten mit der Auseinandersetzung mit Dimensionen, die sie persönlichst berühren.
Aber wow, Hässlichkeit denkt und wirkt in mir weiter, verbindet sich mit eigenen Sanktionierungserfahrungen und Profitationen. Der Text lässt mich suchen nach Subversion, denn ich bin ein hoffnungsloser Fall. Das Warten auf diesen inspirierenden Essay zum Thema Ästhetik und Hässlichkeit hat sich gelohnt.
Sehr empfehlenswert.

Bewertung vom 13.09.2023
Die Gouvernanten
Serre, Anne

Die Gouvernanten


sehr gut

Voyeurististisch werden drei junge Frauen beobachtet, die im Dienst des Hofes Austeur für fordernde Jungen Dienst tun. Drei Gouvernantinnen, die durch das Anwesen Streifen, mal Allianz mit den Hausmädchen eingehen, mal mit Monsieur und Madame, sich dann wieder mit voller Hingabe den nach Aufmerksamkeit und Devotion hungernden Jungen zuwenden. Gelegentlich verführen sie in ihrem Park fremde Männer, auch wenn das heißt, dass sie sie fesseln müssen. Regie führt der alte Mann in der Nachbarschaft, der ihre Optik stets mit dem Fernrohr beobachtet und begehrt.

Traumartig, rauschhaft und distanziert hält diese Parabel auf weibliches Begehren den Text in einem männlichen distanzierten Blick auf das Schauspiel und die drei konturlosen Frauen. Er möchte dass sie Objekt sind, dass sie faszinierend bleiben und zur gleichen Zeit unter Kontrolle. Doch Serre spickt in ihrem Debüt von 1992 subtile Ausbrüche und Perspektiven, die die männliche Kontrolle irritieren. So bekommt eine Gouvernante einen Sohn und für kurze Zeit entzieht sie sich dem begehrenden Blick. Als alle drei Governanten kurz verschwinden, fragt sich der Voyeur, ob er endlich lieben kann, wenn er von der distanzierten Idealisierung und Objektifizierung befreit ist. Die Gouvernanten verschwinden immer wieder im Park, in ihren Zimmern und am Ende löst sich alles auf.

Es ließ sich viel finden in diesen gehaltvollen 80 Seiten. Entgegen heutiger Lesegewohnheiten wird gänzlich auf eine Innenschau der Figuren verzichtet, auch kommt keine erklärende Erzählstimme zur Hilfe, keine Identifikationsmöglichkeit, keine psychologisch aufgebaute Emanzipation der Figuren, kein expliziter Spannungsbogen. Die angekündigte Verfilmung mit Lilly Depp liegt nahe, denn Die Governanten konzentriert sich auf Szenen und Bilder, ich hoffe sehr, dass sie die Geschichte mit ihren subtilen Brüchen nicht ruiniert.

Bewertung vom 13.09.2023
Vaters Meer
Utlu, Deniz

Vaters Meer


ausgezeichnet

»Wenn ein Mensch stirbt, verschwindet das Wasser nicht. Es verdunstet in die Welt, wenn er verbrannt wird. Es sickert in den Boden, wenn er begraben wird. Es regnet ab, es nährt die Pflanzen und andere Lebewesen. Es wird zu anderen Körpern, findet sich in einer Eizelle, in einem Auge, im Herzen, im Hirn. Von jemand anderem. Der Mensch geht, das Wasser bleibt in dieser Welt.« |342

Vordergründig ist »Vaters Meer« eine laut hallende Liebeserklärung an den verschwindenden Vater und eine hintergründig tragende Liebeserklärung an die Mutter. Schlicht und elegant erzählt es die Geschichte von Yunus, der als Kind zweier stolzer aus dem Südosten der Türkei eingewanderter Eltern in Hannover aufwuchs. Die Geschichten, Konflikte und Beziehungen der Eltern streifen ihn, zerrieseln wie Sand, doch für den kindlichen Yunus fügen sie sich in der Unendlichkeit des weit entfernten eigenen Erwachsenseins. Als der Vater nach zwei Schlaganfällen plötzlich ins Koma fällt und viele Jahre im Locked-In-Syndrom nur die Augen bewegen kann, beginnt Yunus sich seiner selbst bewusst zu werden. Den gefüllten Leerstellen des Vaters beginnt er Imaginationen, Geschichten und Selbsterzählungen hinzuzufügen. Er sucht sich in der Seele seines Vaters, erschafft ein kohärentes Bild, balanciert auf Brüchen und Irritationen, während die Erzählstimme das eigene Tun und die Interpretationen in Frage stellt.

»Ich habe es mit mehreren Vätern zu tun: dem Verstorbenen, dem imaginierten und seinem Geist. Der Geist bestärkt mich in meinen Versuchen, Vater zu gedenken, ihn zu treffen in seiner Vergangenheit, in die ich reise, aber er ist auch leicht gekränkt, zeig meine Imagination ihn in düsterem Licht. Bisher kehrt er dennoch zurück. Der verstorbene Vater gibt mir Orientierung. Der Mensch, den ich mir vorstelle, die Imagination ist eher mein Kind als umgekehrt.« |317

Während sich die Suchbewegungen und Gedanken des Protagonisten permanent um den Vater drehen, webt sich in einer weiblich-mütterlichen Hintergründigkeit die Mutter ein; eine beeindruckende und leidende Figur, die eine Kulisse bildet, deren Kraft und Potenzial immer drängender auf die Bühne tritt.
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»In dieser Ewigkeit im Weltall suchte ich meinen Vater. Ich traf meine Mutter. Ich sah sie, sie sah mich nicht. Sie war allein. Sie kämpfte.«|228
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Über den Zungenschlag der Kritik an Utlus Romanauszügen auf den 47. Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt möchte ich nicht sprechen. Ich muss aber sagen, auch mir ging es so, dass der vorgetragene Auszug mich nicht sonderlich beeindruckte, vielleicht auch enttäuschte. Denn die Tiefe des Romans konnte ich nicht erspüren. »Vaters Meer« ist ein Text, der über die Länge funktioniert, der Seite um Seite braucht, um sich zu entfalten, der zuerst die vordergründige Geschichte vernehmen lässt und dann den Einstieg bietet in universelle Fragen von Menschwerdung, der Rolle von Eltern und Herkünften, sowie der Emanzipation von diesen. »Vaters Meer« ist ein großer Roman, der Beachtung findet und erstaunlicherweise bisher an den großen Preisen vorbeigekommen ist. Eine Nominierung für die Longlist des Deutschen Buchpreises wäre mehr als verdient gewesen.

Bewertung vom 13.09.2023
Livestream & Leichen
Martin, Piekar

Livestream & Leichen


ausgezeichnet

Digitale Welten handeln und kommunizieren mit uns, sie verkörpern sich im assozialen world wide web. Sie binden sich an unsere Räume. Wir können alles fragen. Alexa, Siri und Google finden Antworten und führen uns immer weiter. Im Netz stirbt nichts und bei uns gibt es Leichen, Körperlichkeit, Verwundungen, Fragen und einen vielfältigen Hunger. Das Gespräch mit den Bots und Konten bindet und wirft ein Spiegelbild zurück. Das Netz weist auf unser Leben selbst.

Laut, mitunter parolenhaft ist Martin Piekars Dichtung und hält dabei stets die Schönheit der Brüche und der Dunkelheit präsent. Neu, um reale Wirklichkeiten bemüht, sanft und warm, dringen seine Gedanken und Sätze durch. Kraftvoll sind Trauer, Sehnsucht, Hingabe und Erfüllung. Das Spielen mit Sprache und Wirklichkeit ist souverän, nein mit Sprachen, denn dem Polnischen und ganz nebenbei dem In-und Ausschluss deutscher Identitäten wird Platz gewährt, ebenso wie dem Geld und der Abwesenheit des Geldes, organisch und hinter den Glasscheiben virtuell.

Ach, wie soll ich es weiter beschreiben, Martin Piekar hat mein Herz sowieso, nein das was er macht, hat es, seine Gedichte und seine Kunst. Nina Kauns Illustrationen und Andrea Schmidts Schriftsetzung, die mich schon bei Caca Savićs Teilchenland begeisterten, fügen sich harmonisch ein und geben dem Band eine weitere sinnliche Tiefe, so dass es mich nicht wundern würde, dass sich in der Entstehung Text und Gestaltung gegenseitig beeinflussten.

Piekar kennt ihr, oder solltet es, spätestens nach seiner überzeugenden Performanz beim diesjahrigen Bachmannpreis, die völlig zu Recht mit dem KELAG-Preis und dem Publikumspreis belohnt wurde. Wagt er nun ein Genrewechsel oder einen Ausflug in die Prosa? We are watching you like Lions! Und lesen werden wir es und so gern anschauen auch.

Bewertung vom 13.09.2023
Akzente 2 / 23

Akzente 2 / 23


ausgezeichnet

»Still ist die Stille und der Grund von allem. (...) Im Anfang war nicht das Wort sondern die Stille. Die Stille, aktiv: sie lebt, wächst, breitet sich aus, vibriert, nimmt überhand oder ab.« Ilma Rakusa |55

Die Aktivität der Stille ist die Klammer der zweiten Ausgabe dieses Jahres von Hanser Akzente. Die Herausgeberin Daniela Dröscher beschäftigt das Phänomen des Schweigens schon lange, das auf dem ersten Blick eine Kargheit hat und auf dem zweiten eine der facettenreichsten Erscheinungen gerade in der Literatur ist. Ist Literatur doch eine Kunst, die meist in Stille entsteht und in Stille genossen wird, dabei innerlich resonant redet und permanent erzählt. Aber wenn sie nachhaltig zu uns spricht, ist es nicht das Plapperhafte, es ist das Innehalten, es sind die Auslassungen, die Lücken, das Schweigen, das am eindringlichsten zu und in uns spricht.

So ist es kein Wunder, dass viele Autor:innen nicht zögerten, der Einladung und Idee von Dröscher zu folgen, einen Beitrag zum Schweigen beizusteuern und damit Teil dieses Kaleidoskops des literarischen Schweigens zu werden. Die Mischung aus zeitgenössischem und klassischem, aus Gedichten, Romanauszügen, Essays, Versatzstücken, der Schätzung, dem Leiden und der gleichmütigen Betrachtung des Schweigens, ist gelungen.

Die von Hanser herausgegebene vierteljährlich erscheinende Literaturzeitschrift Akzente geht nun ins 70ste Jahr. 1953 erschien die erste Ausgabe herausgegeben von Walter Höllerer und Hans Bender, zu der noch heute bekannte damals zeitgenössische Autorinnen wie Ingeborg Bachmann, Hans Magnus Enzensberger, Thomas Mann, Elias Canetti, Paul Celan und Nelly Sachs beitrugen. Seit 2015 widmet sich Akzente je einem Thema, seit 2019 liegt die Verantwortung für eine Ausgabe bei einer Person, meist etablierten Autor:in, was die Attraktivität und Vielfalt dieser Zeitschrift erhöht.

Bewertung vom 13.09.2023
Radio Sarajevo
Sila, Tijan

Radio Sarajevo


ausgezeichnet

Wie ist es, als Kind in einem Krieg entscheidende Jahre kurz vor der Pubertät zu erleben? Wie versteht ein Kind solch einen Ausnahmezustand? Und wie sind die Auswirkungen von Belagerung, Verarmung, Gewalt, Bedrohung, den Sorgen der Erwachsenen und besonders der repetitiven Monotonie des Alltags eines Krieges? Eines Alltags, dessen Gewalt und Toxizität sich erst rückwirkend und Stück für Stück verarbeiten lässt.

Die Belagerung von Sarajevo, die 1992 begann, die Sila als 10 jähriger bis zur Flucht nach Deutschland selbst erlebte, komprimiert er auf 170 Seiten. Silas Anliegen, seiner Generation der "Vergessenen", die Krieg als Kinder und Jugendliche erleben musste, eine Stimme zu geben, scheint in diesem autofiktionalen Roman stark durch.
Wie schnell Kriege vergessen werden, die einen nicht unmittelbar betreffen, zeigte sich zu Beginn des Krieges zwischen Russland und der Ukraine, wo es irritierenderweise immer wieder hieß, dies sei der erste Krieg auf europäischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg. In den 90er Jahren gab es mehrere Kriege im ehemaligen Jugoslawien, gar nicht weit weg von hier und für einige von uns sind diese ein Leben lang prägend. Für andere oder ihre Eltern oder auch Großeltern waren und sind es andere Kriege, die auf sie und ihre Familien wirken. Die in »Radio Sarajevo« beschriebenen Ereignisse sind häufiger oder normaler, als es vielen von uns lieb und bewusst ist.

Im Sound ist »Radio Sarajevo« ein Jugendbuch. Es liest sich eingängig und ist in der naiven Perspektive eines Jungen gehalten, die ergänzt wird von einer einordnenden heutigen Erzählstimme. Der erwachsene Blick auf die Ereignisse verdeutlicht einerseits, wie diese zwei Jahre und die darauf folgenden Belastungen auf die Familie und seine Generation weiterwirken. Andererseits stellt es einem deutschen Lesepublikum eine Einordnung der Geschehnisse bereit.
»Radio Sarajevo« eignet sich daher sehr für junge Menschen, besonders, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen und für all jene, die sich die leiseren Auswirkungen von Kriegen ins Bewusstsein holen wollen, um Empathie für viele Menschen unter uns und auch die eigene Familie zu entwickeln, ohne befürchten zu müssen, von explizit beschriebener Gewalt überrollt zu werden. Subtil ist Gewalt natürlich trotzdem enthalten und in einigen Passagen wird sie auch explizit, besonders in den Geschlechterverhältnissen, alles andere wäre auch am Thema vorbei gewesen. Ich empfehle gerade jungen Menschen, diesen gelungenen autofiktionalen vielleicht auch didaktisch-aufklärerischen Roman zu lesen. Und allen, die sich mehr zumuten wollen, empfehle ich das ebenfalls von der Belagerung handelnde bei Rowohlt 2019 im Deutschen erschienene »Zwei Jahre Nacht« von Damir Ovčina.

Bewertung vom 15.08.2023
Hier liegt Bitterkeit begraben
Fleury, Cynthia

Hier liegt Bitterkeit begraben


ausgezeichnet

Oft birgt die Lektüre von Sachbüchern, die nicht für ein Fachpublikum gedacht sind, Enttäuschungen. Sie vereinfachen, behaupten, verkürzen und begründen manchmal zu wenig oder zu unscharf für meinen Geschmack. Ganz anders die Philosophin und Psychoanalytikerin Fleury. Endlich eine Sachbuchautorin, die sich traut, in die komplexen Tiefen eines Phänomens einzutauchen und den Laien-Lesenden damit einiges abzuverlangen. Sie bleibt einladend dabei, den komplexen Theorien und Gedanken zu folgen.

Fleury wendet sich mit »Hier liegt Bitterkeit begraben« dem Phänomen der Ressentiments und den Möglichkeiten ihrer Überwindung auf individueller und gesellschaftlicher Ebene zu. Dabei geht sie wichtige Figuren der Philosophie und Psychologie ab und nähert sich dem Phänomen der Verbitterung zunächst auf sehr konkreter und -wenn wir es so nennen wollen- individualtherapeutischer Weise. Wie schwer es ist, Bitterkeit loszulassen, schildert sie mit Max Scheler, Montaigne, Nietzsche, Winnicott, Rilke, Adorno, Horkheimer, Deleuze und Anderen, sie untersucht ihre Theorien und Haltungen, befragt sie zu ihrem Beitrag zur Überwindung und Heilung von Ressentiments. Je weiter der Text voranschreitet, desto mehr nähert er sich dem Überindividuellen. Mit der emanzipativ-zugewandten gemeindetherapeutischen Haltung und Arbeitsweise Frantz Fanons, der in Algerien so wichtige interkulturelle, postkoloniale und machtperspektiven integrierende therapeutsche Konzepte entwickelte, zeigt Fleury wie es gehen kann.
Fast nebenbei führt die Lektüre von Fleury zu einer inspirierenden Auseinandersetzung mit sich selbst und motiviert ihrer Fassung von Universalismus als offene humanistische Haltung zu folgen. Für Fleury entgeht Universalismus Vereinfachungen und negiert keinesfalls Ungleichheiten, Diskriminierungen und Machtunterschiede.

»Hier liegt Bitterkeit begraben« braucht Anstrengung, schlägt eine Brücke für Menschen mit weniger Vorwissen und lohnt sich viel mehr, als vermeintlich einfacher geschriebene Sachbücher. Ich empfehle Zeit und Mühe in diese Lektüre zu stecken, um danach die lebensbejahenden Früchte zu ernten.

Bewertung vom 15.08.2023
Augustblau
Levy, Deborah

Augustblau


ausgezeichnet

Deborah Levy ist eine der Autorinnen in aller Munde, die ich ohne schlechtes Gefühl an mir vorbei ziehen ließ. Ich vernahm die Begeisterung von mir geschätzter Leserinnen. Aber ach, es gibt so vieles, dachte ich mir, doch da fand sich nun doch ein Weg in meinen Briefkasten.
Das Blau in der Gestaltung des Covers ist Aki-typisch atmosphärisch, aufwendig und ausgesucht. Die Künstlerin Shirana Shahbazi ist spannend. Schon ansprechend, »August Blau«, im Sommer, aber der Inhalt? Zumal ein aktuelles Werk?

Es brauchte nur ein bis zwei Seiten, und alle Skepsis verflog. Wow Deborah Levy, was für ein Gefühl diese Autorin hat für Szenerie und Figuren, wie interessant, intensiv, genau und dabei leicht, wie nebenbei komponiert ist dieser Text, dabei sitzt jede Beobachtung, jedes Wort. Es stören noch nicht einmal die Beschreibungen der Pandemie, die beiläufig eingestreut werden ohne eine Hauptrolle zu spielen, die ich in anderen Romanen bisher oft als gewollt und nicht ganz gelungen empfand.

»Ich berührte das Klavier, und es berührte mich. Ich empfand es wie den Körper meiner Mutter. Wir würden niemals wieder getrennt sein.« | 104

Die Hauptfigur Elsa, nein Ann, oder noch ganz anders, ein Wunderkind der klassischen Musik, löst sich von der Trauer Rachmaninoffs. Sie war unfähig, das ausverkaufte Konzert in Wien zuende zu spielen und bleibt verstört zurück. In Athen findet und verliert sie ihre Doppelgängerin. Sie stiehlt ihren Trilby, die Pferde bekommt sie nicht. Innere Dialoge und flüchtige Begegnungen spiegeln sie in London, in Paris und in Sardinien. In Liebe und Beziehungen ist sie scheu, nüchtern beobachtend. Sich fallen lassen und sich zeigen ist ihre Sache nicht, auch nicht die Freiheit, dabei dreht sich alles um die verlorene Mutter und alles ist da.

Es ist gar nicht die Geschichte, die mich hier begeistert, es ist die Art des Erzählens, der Sound, die lässige Intensität, der Hauch von Abgrund, die Prise Naivität, die Tiefe, die Ahnung der Innenwelt der Nebenfiguren, die ganz andere Geschichten erzählen würden, die Entwicklung der Figur, die nicht erklärt und auch nicht gezeigt wird, sie entpuppt sich.

Bewertung vom 15.08.2023
Gespräch über die Trauer
Martynova, Olga

Gespräch über die Trauer


sehr gut

»Abwesenheit der Gegenwart. Gleichzeitiger Lauf der Vergangenheit und der Zukunft. Dazwischen ein Vakuumkorridor. Eine temporale Anomalie einer Grenzverfahrung.« |7

Die Bachmannpreisgewinnerin von 2012 nimmt es auf mit der Abwesenheit der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Luftleer und erfüllend zeichnet sie die Trauer um Ihren Geliebten Oleg Jurjew. Sie nähert sich über die Literatur einem Thema, das viel sagen möchte und meist laut zu schweigen vermag. Dabei ist schon viel gesprochen, geschrieben und geredet worden über jenen Teil des Lebens, der in unser aller Verstummen enden wird. Wie es ist, zurück zu bleiben, zu trauern, weiterzuleben mit der Trauer und gar nicht das Ziel zu haben, sie wieder loszulassen, darum handelt »Gespräch über die Trauer«.

Wenn Martynova von Gespräch schreibt, meint sie einen inneren Monolog, einen nicht verhallenden Dialog mit ihrem verstorbenen Liebsten und den intertextuellen Gedankenaustausch mit Texten über Trauer, die meist selbst schon verstorbene Autor:innen verfassten. Martynova geht ihrem Trauertext nach, sie mischt dabei eigene Tagebucheinträge, essayistische Gedanken mit jenen von relevanten Anderen. Dabei streift sie Fragen der Identität einer russischen Intellektuellen im Exil in Zeiten des Krieges mit der Ukraine, die den Rückzug und die Wahlverwandtschaft zu ihrem Oleg und den anderen Verstorbenen ihrer Profession intensiviert.

Die Eindringlichkeit des Essays ist von wechselhafter Qualität. Er spiegelt die changierende Intensität des aus der Welt gefallen Seins stimmig, doch fällt der Text selbst in alle Richtungen. Mehr Halt oder weniger Text und Themen, dafür prägnantere Passagen hätten mir noch besser gefallen, aber das bräuchte eine andere Verfassung von Autorin und Text.

Bewertung vom 15.08.2023
Zweistromland
zu Stolberg, Beliban

Zweistromland


sehr gut

»Das Kurdisch ist so natürlich wie der Lauf des Tigris. Die Sprache wurde lange, Hunderte Jahre an diesem Ort gesprochen, sie verweigert den Zusammenhang mit dem Staatsgrenzen. Sie hat keine Ehrfurcht vor der Nation. Stetig fließt sie fort.« |85

Für Dilan ist es die heimliche Sprache ihrer Eltern, verschlossen in einem Sekretär, verschwiegen, schwer und stark bemüht um Vergessen. Türkisch und Deutsch sind die Sprachen ihrer Kindheit am norddeutschen Deich mit ihren Freundinnen Rike und Jelena, die nur in Grenzen die Geheimnisse und das Gewicht des Schweigens in ihrer Familie verstehen. Dilan treibt es zum alten Beruf ihres Vaters, sie wird Juristin, sie gerät an einen schweigsamen Mann, den Schweden Johan, der ihrem Weg nach İstanbul folgt. Doch als ihre Mutter stirbt und sie selbst ein Kind in sich trägt, drängt alles in ihr zum Tigris. Hochschwanger und ohne Gepäck zieht es sie nach Diyarbakır, in die heimliche Hauptstadt Kurdistans, das sie aus den türkischen Nachrichten als Hort des Terrors von Landesverrätern kennt und wo Kämpfe zwischen türkischem Militär und der kurdischen Bevölkerung an der Tagesordnung sind. Entsprechend misstrauisch wird die hochschwangere deutschtürkische Frau mit kurdischem Vornamen von allen Seiten beäugt. Doch sie findet Wege und Verbindung.

Sprachlich stockt Zweistromland und transportiert ein Schweigen, das in seiner Intensität hemmend wirkt und spiegelt damit die Entwicklung der Figur Dilan. Auch wenn ihre Reise kühn und mutig erscheint, verschwindet sie fast hinter den lauten und intensiven Kulissen von İstanbul und Diyabakır. Zweistromland ist ebenso verschlossen wie einladend, sich mit kurdischer Geschichte und Gegenwart in dem Vielvölkerstaat Turkei zu beschäftigen.