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Rezensentin aus BW

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Insgesamt 217 Bewertungen
Bewertung vom 19.04.2021
Kleine Wunder um Mitternacht
Higashino, Keigo

Kleine Wunder um Mitternacht


ausgezeichnet

Eine zauberhafte Zeitreise ohne Zeitreisende.

Der Japaner Keigo Higashino hat mit seinem originellen und einfallsreichen Text eine ergreifende und überraschende Geschichte über die drei Kleinkriminellen Atsuya, Shota und Kohei geschrieben, die sich um kurz nach Mitternacht nach ihrem Raubzug in einem schon längst geschlossenen, verlassenen und verstaubten Gemischtwarenladen verstecken, weil der gestohlene Wagen sie im Stich lässt.

Gerade wollen sie sich gemütlich zurücklehnen, da fällt ein Brief durch den Briefschlitz.
Sie erschrecken natürlich. Weit und breit ist niemand zu sehen.
Die Neugierde siegt, sie öffnen den Brief, lesen vom Kummer einer Frau namens Mondhase, die „in der Klemme steckt“ (S. 17) und um die Lösung ihres Problems bittet.

Recht bald wird ihnen mit Hilfe eines alten Zeitschriftenartikels klar, dass der Inhalt des Briefes mit der anonymen seelsorgerischen Tätigkeit des früheren Ladenbesitzers Yuji Namiya zusammenhängt.

Indem sie den Brief beantworten, bringen sie einen Stein ins Rollen und beeinflussen sie auf magische Weise das Leben von Menschen zu unterschiedlichen Zeiten und an verschiedenen Orten.

Durch ihr Handeln bringen sie eine außergewöhnliche Geschichte in Gang, die Auswirkungen auf das Leben vieler Menschen hat.

Durch diese höchst kreative Einleitung und Idee kommen wir in den Genuss mehrerer kleiner Geschichten von Menschen und deren Schicksalen.

Sie alle werden durch die Geschehnisse im Gemischtwarenladen und letztlich durch Yuji Namiya verbunden.

Wir erfahren, dass der Mondhase eine Sportlerin ist, deren geliebter Freund an Krebs erkrankt ist und dass Katsuro im BWL-Studium feststeckt, obwohl er eigentlich Musiker werden möchte.
Und wir lesen von Yuji Namiya und seinem Laden. Wie alles begann, sich entwickelte und endete.

Zu Beginn hat mich der Roman aufgrund seines abrupten bzw. unerwarteten Wechsels von Ort, Zeit, Perspektive und Personal etwas verwirrt, aber schon bald merkte ich, dass es sich bei „Kleine Wunder um Mitternacht“ um einen Episodenroman handelt und ich überließ mich dem, was kommt.
Gut so, denn das, was kam, war überzeugend!

Seine Charaktere hat Keigo Higashino vielschichtig und in ihrer ganzen Komplexität und Individualität gezeichnet, so dass die einzelnen Geschichten berühren und bewegen.
Es sind wehmütige, amüsante oder zum Nachdenken anregende Geschichten, deren Sprache mal poetisch, mal derb ist, in die man gerne eintaucht und die mich jede auf ihre Art faszinierten. Jede hatte ihre eigene Atmosphäre und ihren eigenen Klang.

Ich empfehle den eindrucksvollen, märchenhaften und unterhaltsamen Roman sehr gerne weiter! Er ist eine Collage oder ein Mosaik aus vielen einzelnen wunderbaren Bestandteilen, die auf geniale Weise miteinander verbunden sind und Bezug zueinander haben.

Bewertung vom 19.04.2021
Das Glück meiner Mutter
Bayer, Thommie

Das Glück meiner Mutter


ausgezeichnet

Wir lernen in „Das Glück meiner Mutter“ den knapp 50-jährigen Philipp Dorn kennen. Er ist ein Krimi- und Drehbuchautor, der Kunst, Architektur, Rotwein und Espresso liebt und seit dem Scheitern seiner letzten Beziehung alleine lebt.

Eines Tages gönnt er sich sein Traumauto, einen Mini und macht er sich zusammen mit seiner seit drei Jahren verstorbenen Mutter auf in die Toskana, die seine Leidenschaften verkörpert.
Zusammen mit seiner verstorbenen Mutter?
Ja, denn sie, die in einer zerrütteten Ehe lebte und für die er sich zeitlebens verantwortlich fühlte, ist in seinen Gedanken als warme und schmerzliche Erinnerung immer noch sehr präsent.

In dem abgelegen Ferienhaus, das er sich in der Toskana gemietet hat, lässt er seine Gedanken schweifen und landet immer wieder bei seiner Mutter.
Sie hatte kein einfaches Leben. In jungen Jahren musste sie aus Ostpreußen flüchten und in der neuen Heimat, einer schwäbischen Kleinstadt musste sie Ablehnung und Zurückweisung ertragen.
Die folgenden Ehejahre mit ihrem nach Jahren der Kriegsgefangenschaft heimkehrenden Ehemann waren wortkarg und kompliziert und im Alter war die sehr einsam.

Es ist eine sehr spezielle und ambivalente Beziehung, die Mutter und Sohn verband und verbindet.

Eines Nachts entdeckt und beobachtet Philipp in seinem Pool eine schwimmende nackte Frau.
Sie kommen in Kontakt und in den folgenden langen, tiefgründigen und intensiven Gesprächen lernen sie sich kennen und kommen sie sich näher.
Durch den Austausch mit der schönen Fremden, die sich ihrem Vater sehr verbunden fühlt, ihre Stiefmutter jedoch zutiefst ablehnt, kann er so manche seiner persönlichen Fragen beantworten, wodurch er sich auch selbst näher kommt.

Der Autor schreibt unaufgeregt und gemächlich und beschreibt die komplexen inneren Vorgänge und verschiedenen Gefühlslagen seiner Charaktere sehr präzise, so dass man das Gefühl hat, den Figuren ganz nahe zu sein.
Er versteht es, Handlungsorte und Szenen so plastisch zu beschreiben, dass man meint, vor Ort zu sein.

Tommy Bayer hat mit „Das Glück meiner Mutter“ eine gleichermaßen zarte, leise und melancholische wie heitere, tröstliche und hoffnungsvolle Geschichte geschrieben, in der es letztlich um die Thematik Familie geht und die am Ende Fahrt aufnimmt und eine überraschende Wendung bietet.
Der Autor überzeugt mich mit seiner einfachen und schnörkellosen Sprache und seinem unaufgeregten Schreibstil in Kombination mit seiner behutsamen und einfühlsamen Art.

Ich empfehle diesen Wohlfühl- und Unterhaltungsroman, der auch literarisch anspruchsvoll ist, sehr gerne weiter!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 19.04.2021
Das bist du
Peltzer, Ulrich

Das bist du


ausgezeichnet

Der Roman spielt im Berlin der beginnenden 1980-er Jahre.
Er ist angesiedelt in einer Zeit des Umbruchs: Die 68-er sind Vergangenheit, der Mauerfall ist noch Zukunft.

Der Ich-Erzähler, ein junger Psychologiestudent, der viel liest, gern in der Stadt herumstreift, nebenbei Tickets im Kino verkauft und am liebsten ein unsichtbarer Beobachter wäre, geht mit Karla, einer Freundin in eine Diskothek.

Im „Dschungel“, diesem coolen, hellen und legendären Club im alten Westberlin entdeckt er dann eine anderen Frau und begegnet damit der Liebe auf den ersten Blick.

Es hat ihn voll erwischt.
Dieser Moment ist eine Art Schlüsselszene mit grundlegender Bedeutung für die weitere Geschichte.

Er lässt Karla sitzen und nähert sich der jungen Frau namens Leonore wie in Trance.
Es entwickelt sich eine intensive, leidenschaftliche und dramatische Liebesgeschichte, die deshalb so außergewöhnlich ist, weil sie nicht zum Selbstbild des Erzählers passt. Er, der ja lieber im Verborgenen bleiben und beobachten würde, erkennt sich nicht mehr wieder.
Ob diese Liebesbeziehung gut ausgeht oder nicht, werde ich natürlich nicht verraten

Ulrich Peltzer erzählt sehr dynamisch und temporeich und springt abrupt von einer Episode zur nächsten, wobei er die Chronologie oft nicht berücksichtigt.
Er hat ein prächtiges und typisches Zeitportrait gemalt und das damalige Westberliner Lebensgefühl mit der Aufbruchstimmung, dem Touch des Suchens und ziellosen Strebens nach Freiheit und dem orientierungslosen Abhängen in Kneipen wunderbar und präzise eingefangen.

Der bedeutende deutsche Gegenwartsautor Ulrich Peltzer hat mit „Das bist Du“ einen beeindruckenden Roman mit autobiographischen Zügen geschrieben.
Schon der Titel ist höchst originell gewählt, denn mit dieser Aussage meint er sich selbst, als würde er sich auf einem Foto von früher betrachten und aus der Distanz heraus sagen „Das bist Du“.

Bewertung vom 16.04.2021
Solikante Solo
Kern, Björn

Solikante Solo


ausgezeichnet

Romantische Idylle und knallharte Realität.

Der 1978 im Südschwarzwald geborene Björn Kern hat mit „Solikante Solo“ einen packenden und vielschichtigen Roman über das Kleine und das Große geschrieben:
Über die Familie und über die Gesellschaft.

Auf den ersten Blick ist „Solikante Solo“ eine tragikomische Beziehungsgeschichte.
Beim genaueren Hinsehen bzw. Hinhören nimmt man daneben eine unaufdringliche, aber bedeutsame Hintergrundmusik wahr: gesellschaftspolitische Probleme und Phänomene.

Ruth, eine Psychotherapeutin und Jann, ein Unternehmer, sind ein nicht mehr ganz junges und recht spezielles Elternpaar, dessen grundsätzliche Lebensvorstellungen ziemlich divergieren.
Jann fühlt sich u. a. von der Luftverschmutzung bedroht und vermutet sein Glück auf dem Land. Ruth möchte mit der gemeinsamen Tochter lieber in Berlin bleiben.

Entspannende Ruhe und idyllische Beschaulichkeit des Landlebens versus pulsierender Lebendigkeit und multikultureller Weitläufigkeit des Großstadtgetümmels.

Tja. Wird ihre gegenseitige Liebe ausreichen, um diese grundsätzliche Gegensätzlichkeit zu überwinden? Werden die zunehmenden Streitereien die Beziehung gefährden oder gar zum Scheitern bringen?

Sisal, deren Tochter ist mittendrin und zwischendrin. Sie ist letztlich die Leidtragende und kann sich der problematischen Familiendynamik und der gespannten Atmosphäre zwangsläufig nicht entziehen.

Ich mochte den Schreibstil von Björn Kern. Er ist ein genauer Beobachter und zeichnet die Charaktere dieser beiden interessanten und extremen Persönlichkeiten Ruth und Jann ausdrucksstark, nachvollziehbar und authentisch. Dass manches etwas zugespitzt oder klischeehaft wirkt, empfand ich nicht als störend, sondern sah ich als Stilmittel, das die Thematik und Problematik unterstreicht und hervorhebt.

Die sich ergebende Not der zwischen den Stühlen sitzenden Tochter Sisal vermittelt er dabei anschaulich und glaubhaft. Er beschreibt die Gefühle und Reaktionen des Mädchens, das zur Symtomträgerin des elterlichen Dilemmas wird, sehr einfühlsam.

Die Konflikte des Paars hat Björn Kern gut ausgearbeitet und mit aktuellen gesellschaftlichen und politischen Geschehnissen und Problemen verknüpft.
Die Gegensätze prallen hier lautstark aufeinander und lösen schwere Unruhen und tiefgreifende Konflikte aus.

Ich empfehle „Solikante Solo“ von Björn Kern gerne weiter. Der Roman, gleichermaßen Familien- wie Gesellschaftsportrait, ist unterhaltsam, literarisch ansprechend und gibt Denkanstöße.

Bewertung vom 15.04.2021
Die Telefonzelle am Ende der Welt
Imai Messina, Laura

Die Telefonzelle am Ende der Welt


ausgezeichnet

Was für eine schöne, poetische und intensive Geschichte!
Was für eine wunderbare und originelle Idee, in seinem Garten eine Telefonzelle zu errichten, die letztlich einen therapeutischen Zweck erfüllt?

Mit Beginn der Lektüre begeben wir uns nach Japan.
Die Radiomoderatorin Yui lernt den Arzt Takeshi kennen.
Aber nicht irgendwo, sondern in einem ganz besonderen Garten, in dem eine Telefonzelle steht.
Diese Telefonzelle am Hang des Kujirayama in Ôtsuchi an der Küste Nordostjapans existiert im Übrigen tatsächlich!
Sasaki Itaru hat in seinem Garten eine Telefonzelle ohne Anschluss ans Netz installiert:
Das Telefon des Windes.
Dieses Telefon soll den Angehörigen der Opfer des Seebebens vom 11. März 2011 helfen, die furchtbaren Ereignisse und Verluste zu verdauen.

Dieser Trost und Hoffnung spendende Garten ist inzwischen ein Pilgerort für viele Trauernde, die bedeutsame und geliebte Menschen verloren haben.

Das Telefon funktioniert nicht auf herkömmliche Art und Weise.
Man nimmt den Hörer ab, lauscht den Geräuschen des Windes und taucht in Erinnerungen ein.
Man teilt seinen geliebten verstorbenen oder vermissten Menschen mit, was man ihnen eigentlich schon zu Lebzeiten hätte sagen sollen.

Yui und Takeshi müssen beide traumatische Geschehnisse verarbeiten.
Yui verlor im Tsunami von 2011 ihre Mutter und ihre dreijährige Tochter und Takeshi, ein alleinerziehender Vater, trauert um seine Frau.

Die beiden beginnen, von nun an gemeinsam einmal im Monat von Tokio nach Ôtsuchi zu fahren.
Auf den langen Autofahrten lernen sie sich immer besser kennen.
Sie kommen sich näher.
Behutsam und zart beginnt sich durch ihre Begegnung in ihren Leben etwas zu verändern.

Die Autorin erzählt gefühlvoll und bewegend von Verlust, Trauer und Einsamkeit, von Hoffnung, Zuversicht und Schönheit.
Sie gleitet dabei niemals ins Schwermütige oder Kitschige ab, sondern vermittelt gleichermaßen kraftvoll wie zart, wie bedeutsam es für das emotionales Gleichgewicht und die seelische Gesundung ist, sich zu öffnen, seine Gefühle zuzulassen, mitzuteilen und zuzuhören.

„Die Telefonzelle am Ende der Welt“ erzählt zart, leise und berührend von tragischen Schicksalen und vermittelt einen wunderbaren Einblick in die fremdartige japanische Kultur.
Die italienische Autorin Laura Imai Messina, die seit ihrem 24. Lebensjahr in Japan lebt, bringt dem Leser japanische Begriffe und Bräuche näher, wodurch das Ganze sehr authentisch wirkt.

„Die Telefonzelle am Ende der Welt“ hat mich beeindruckt. Ich empfehle dieses außergewöhnliche literarische Werk sehr gerne weiter!

Bewertung vom 05.04.2021
Frostmond
Buchholz, Frauke

Frostmond


sehr gut

Was für ein Kriminalroman!
Informativer Inhalt, interessante Thematik, fesselnder und spannender Plot, äußerst gefälliger Schreib- Sprach- und Erzählstil ... literarisch durchaus ansprechend, wenn auch kein literarisches Highlight.

Aber jetzt erst einmal der Reihe nach!

Mit Beginn der Lektüre landen wir in Kanada.
Die 15-jährige Jeanette Maskisin wird in Montreal tot aufgefunden. Die junge Frau wurde, bevor sie leblos am Ufer des Flusses angeschwemmt wurde, gefoltert, misshandelt und schließlich durch einen Kopfschuss getötet.

Die Medien berichten ausführlich und detailliert darüber.
Der Ermittler Sergeant Jean-Baptist LeRoux und der Profiler Ted Garner werden beauftragt, den Fall zu lösen.
Sie haben kein unkompliziertes und harmonisches Verhältnis, aber ihre Vorurteile der indigenen Bevölkerung gegenüber verbindet sie. Aus diesem Grund strotzen sie nicht vor Enthusiasmus und legen keinen besonderen Eifer an den Tag, als sie sich an ihre Arbeit und die Aufklärung des Falles machen.

Da Jeanette aus einem Cree-Reservat im hohen Norden Quebecs stammt, geht die Reise des unsympathischen und ziemlich klischee- und schablonenhaft gezeichneten Ermittlerduos zunächst dorthin.

Sie werden aber alles andere als herzlich willkommen geheißen, weil die First-Nation-Familien nachvollziehbarerweise gekränkt und misstrauisch sind.

Seit Jahren verschwinden junge Frauen ­indigener Herkunft spurlos entlang des Transcanada-Highways.
Seit Jahren hat sich die Polizei nicht besonders dafür interessiert.
Seit Jahren hat sich die Polizei nicht sonderlich darum gekümmert.
Seit Jahren werden die Natives benachteiligt, unterdrückt und diskriminiert.

Eine Mitarbeit der Cree-Indianer wäre aber nicht nur wünschenswert sondern dringend notwendig, denn es werden weitere Opfer befürchtet.

Nicht nur LeRoux und Garner sind hinter dem Täter her. Auch Leon, der Cousin der ermordeten 15-Jährigen, macht sich an die Arbeit, um den Mörder von Jeanette zu überführen.

Die 1990 geborene Frauke Buchholz hat mit „Frostmond“ einen ganz besonderen, tief- und abgründigen Kriminalroman über eine Thematik geschrieben, die nicht erfunden ist: der Rassismus und die Gleichgültigkeit gegenüber der indigenen Bevölkerung und die Mordserie an indigenen Frauen entlang des sogenannten "Highway of Tears“ sind keine Erfindung.
Die Diskriminierung im Alltag existiert, es gibt die Morde tatsächlich und die Behörden geben ihrer Aufklärung in der Tat keine große Priorität.

Frauke Buchholz zeigt eine Schattenseite Kanadas auf, führt uns zwei Parallelgesellschaften, nämlich die weiße und die indigene Bevölkerung, vor Augen und schreibt schonungslos, unverblümt und glaubhaft über ein Milieu, das vielen Lesern fremd und neu sein mag.

Man kann aus dem Text förmlich ihre Kompetenz und ihr Wissen herauslesen.
Es verwundert nicht, dass sie über zeitgenössische indigene Literatur promoviert und einige Zeit in einem Cree-Reservat in Kanada verbracht hat.

Ich empfehle diesen spannenden und schlüssigen Pageturner, der ein überraschendes und actionreiches Ende mit fulminantem Finale hat, sehr gerne weiter!

2 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.04.2021
Als wir uns die Welt versprachen
Casagrande, Romina

Als wir uns die Welt versprachen


ausgezeichnet

In diesem interessanten, bewegenden, berührenden, aber auch humorvollen Buch lesen wir über die sogenannten „Schwabenkinder“ und tauchen damit in ein vergessenes und düsteres Kapitel der deutsch-italienischen Geschichte ein.

Was sind Schwabenkinder?
Das sind Tausende von armen Bergbauernkinder aus Tirol..., die über drei Jahrhunderte hinweg, vom Anfang des 17. Jahrhunderts bis in die frühen Jahre der Nachkriegszeit nach dem zweiten Weltkrieg, im Frühling über die Alpen gewandert sind, um unter harten Bedingungen in der Fremde und fernab ihrer Familien bei oberschwäbischen Bauern zu malochen.

In drei aufeinander folgenden Abschnitten lernen wir erst zwei Schwabenkinder, die 10-jährige Edna und ihren Freund Jacop, dann die erwachsene Edna auf Reisen und schließlich das Pärchen Adele und Max kennen, das sich um die alte Edna sorgt, die gruß- und spurlos verschwunden ist.

Es ist herzergreifend und macht Spaß, Edna zu begleiten, die als junges Mädchen von ihren armen Eltern an Padre Giovanni verkauft wurde und auf einer mühsamen Reise mit ihm zu schwäbischen Bauern gebracht wurde, um dort für Kost und Logis zu schuften.
Ihre Freundschaft mit Jacop half über manche Härte und Mühsal hinweg.

Die 90-jährige Edna auf ihrem abenteuerlichen und beschwerlichen Roadtrip vom Vinschgau nach Deutschland zu begleiten, macht Spaß und ist sehr bewegend.
Sie, die sich in ihrem abgelegenen Häuschen mit dem verwilderten Garten verschanzte und dort von ihrer freundlichen Nachbarin Adele, der Betreiberin des Dorfladens, mit Lebensmitteln und dem „Stern“ versorgt wird, beharrt darauf, ihre einstige schwere Reise per pedes, Bus und Bahn zu wiederholen.
Wie sie darauf kommt?
Na ja, sie hat im „Stern“ ein Foto vom in Ravensburg verunglückten Jacop entdeckt und blitzartig ploppten alte Erinnerungen sowie der Wunsch ihn zu besuchen und ihm Papagei Emil zurückzugeben, auf.

Die 1977 geborene Romina Casagrande hat mit „Als wir uns die Welt versprachen“ einen wunderbaren Pageturner geschrieben, in dem ich viel Neues lernte und der mich prächtig unterhielt.
Ich mochte sowohl ihren Schreib- Sprach- als auch ruhigen Erzählstil und hatte den Eindruck, mittendrin und dabei zu sein.
Es ist ein authentischer, ungeschönter und glaubhafter Roman über eine innige Verbundenheit, die Zeit und Entfernung trotzt und im Kontext einer grauenvollen historischen Begebenheit entstanden ist.
Absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 03.04.2021
Der ehemalige Sohn
Filipenko, Sasha

Der ehemalige Sohn


ausgezeichnet

Gleich vorneweg: „Der ehemalige Sohn“ ist ein Meisterwerk aus der Feder des 1984 in Minsk geborenen Autors Sasha Filipenko, dessen ausdrucksstarker und wortgewaltiger Schreib- und Sprachstil mich überzeugt hat.

Wir schreiben das Jahr 1999, reisen nach Minsk und lernen den 16-jährigen Franzisk Lukitsch kennen, der überwiegend bei seiner Großmutter, Elvira Alexandrowna lebt.
Als er sich auf dem Weg zu einem Rockkonzert befindet, passiert ein erschütterndes Unglück:
Zisk wird von einer Menschenmasse niedergetrampelt, als er, wie unzählige Andere wegen eines Unwetters Schutz in einer U-Bahn-Station sucht.
Sie ist dem Ansturm an Menschen nicht gewachsen, es wird viel zu eng, Panik bricht aus.
Es gibt Tote und Verletzte.
Zisk muss ins Krankenhaus.
Zisk liegt im Koma.
Jahrelang.

Aber Babuschka, seine Großmutter, gibt ihn nicht auf. Sie hält hartnäckig und beharrlich daran fest, dass Zisk wieder ins Leben findet. Sie ist überzeugt: das Wunder wird geschehen!

Sie besucht ihren Enkel täglich, erzählt ihm Anekdoten aus der eigenen oder gemeinsamen Vergangenheit, sie berichtet ihm von Ereignissen und von den Übeln im gegenwärtigen Belarus.
Und nach 10 langen Jahren passiert das Unfassbare: Zisk erwacht aus dem Koma, obwohl niemand außer der Großmutter, weder Eltern, Freundin, Freunde noch Ärzte daran geglaubt oder damit gerechnet haben.
Die Welt um ihn herum stellt sich dar, als wäre sie stehen geblieben und gleichzeitig ist es eine völlig veränderte Welt, in der Zisk sich erst einmal zurechtfinden muss.

Sasha Filipenko verbindet das Kleine mit dem Großen, das Private mit dem Politischen.
Er schreibt dermaßen feinfühlig, anschaulich und eindringlich, dass man meint, vor Ort zu sein.
Man wird emotional mitgerissen, aber die Geschichte ist zu keinem Zeitpunkt kitschig oder schwülstig.

Zisk zu begleiten und in seine Geschichte einzutauchen, war berührend und der politischen Hintergrundmusik, die von den Missständen in Belarus erzählt, zu lauschen, war interessant.
Ich fand es extrem bereichernd, über die Geschichte von Zisk einen Einblick in ein mir bis dahin fremdes Land zu bekommen und etwas über die politischen und sozialen Verhältnisse in Belarus zu erfahren.

Ich empfehle diesen gesellschaftskritischen, unterhaltsamen und interessanten Roman unbedingt. Ein Highlight!

Bewertung vom 02.04.2021
Frühling / Jahreszeitenquartett Bd.3
Smith, Ali

Frühling / Jahreszeitenquartett Bd.3


ausgezeichnet

Endlich ist er da: „Frühling“, der dritte Teil des Jahreszeitenquartetts von Ali Smith.
Mit großem Vergnügen habe ich schon die beiden Vorgänger „Herbst“ und „Winter“ gelesen und meine Erwartung an diesen dritten Teil wurde nicht enttäuscht.

Der Titel passt so wunderbar zum Inhalt. Faszinierend!

Wir lernen den unbekannten und erfolglosen Regisseur Richard, einen Mann mittleren Alters kennen, der in einem Bahnhof in Schottland sitzt und vergeblich auf den Zug wartet. Er schwelgt in traurigen Erinnerungen um Verlorenes und Vergangenes.
Vor einigen Monaten hat er seine geliebte Freundin und Arbeitskollegin Paddy verloren und denkt unter anderem an ihr letztes Gespräch, in dem es um Rilke und um Katherine Mansfield ging, die beide ohne sich zu kennen gleichzeitig im selben Ort in der Schweiz gelebt haben.
Richard ist verzweifelt und deprimiert. Er denkt darüber nach, sich das Leben zu nehmen.

Dann begegnen wir Brit in ihrem heftigen und harten Berufsalltag in einem Flüchtlings- bzw. Abschiebezentrum in der Nähe von London.
Sie ist dort noch nicht lange für den Sicherheitsdienst tätig und muss sich erst noch an den herablassenden Umgang mit den Flüchtlingen und an deren erschütternde Lebensgeschichten gewöhnen.
Wir erleben mit, wie sie an ihrem Arbeitsplatz die 12-jährige Florence kennenlernt und sich von ihr überzeugen lässt, in einen Zug nach Schottland einzusteigen.

Richard sitzt in Schottland im Bahnhof und will sich gerade vor den Zug legen und Brit und Florence sind auf dem Weg nach Schottland und kommen genau an diesem Bahnhof an.

Wie man leicht ahnt, treffen die drei nun aufeinander.
Wie sich das Aufeinandertreffen und die Bekanntschaft nun weiter entwickelt, erzähle ich natürlich nicht.
Nur soviel: Florence ermöglicht mit ihrem jugendlichen Enthusiasmus und mit ihrer Beharrlichkeit Blicke hinter die Kulissen und ebnet damit den Weg für Veränderungen.
Sie hat etwas Rebellisches und Stürmisches (wie der April) und widersetzt sich dem Althergebrachten.
Etwas Neues keimt.
Ein Neubeginn scheint möglich. Hoffnung und Lebendigkeit blitzen auf (wie im Frühling).
Das Ende ist nicht vorhersehbar, interessant, schlüssig und stimmig.

Wieder einmal überzeugte mich Ali Smith mit ihrem Talent, auf hohem literarischen Niveau zu unterhalten und gleichzeitig politische Sachverhalte aufzugreifen, bzw. unaufdringlich unterzubringen.

„Frühling“ ist ein beeindruckender und besonderer Roman, der berührt und zum Nachdenken anregt. Sowohl die Gedanken Richards, als auch die Gespräche zwischen Brit und Florence animieren dazu, über das eigene Leben zu sinnieren.

Ali Smith ist eine brillante und scharfsinnige Beobachterin. Sie experimentiert und spielt mit den Wörtern und Sätzen und schreibt kraftvoll, wortgewandt, anschaulich, ergreifend und poetisch.

Ich empfehle den Roman und freue mich sehr auf den nächsten und zugleich letzten Band „Sommer“, der wohl im Juli 2021 im Luchterhand Verlag erscheinen wird.

Bewertung vom 28.03.2021
Sommer der Träumer
Samson, Polly

Sommer der Träumer


gut

London, 1960.
Erica Hart ist fast 18 Jahre alt, als ihre Mutter stirbt. Das gefüllte Sparbuch, das die Mutter der Tochter hinterlässt ist zwar kein Trost, aber es ermöglicht Erica, mit ihrem älteren Bruder Bobby und ihrem Freund Jimmy auf die griechische Insel Hydra zu reisen.
Auf diese Weise entkommt sie erstmal dem dominanten Vater und hat sie die Chance, sich von ihrer großen Trauer etwas abzulenken.

Charmian Clift, eine Freundin ihrer Mutter, lebt auf Hydra in einer Künstlerkolonie und hat sie eingeladen, sie zu besuchen.

Erica erlebt dort inmitten von Schriftstellern und Musikern einen wunderbaren ungezwungenen Sommer voller Freiheit und Freizügigkeit. Sie bewundert Charmian und ist von der Insel fasziniert.
Aber es gibt auch Schattenseiten. Bei Erica und Jimmy läuft es nicht mehr so gut und wenn man genauer hinschaut, dann ist auch auf Hydra nicht alles Gold, was glänzt.

Es gefiel mir, dass Polly Samson in ihrem Roman Menschen auftreten lässt, die in den 60er Jahren tatsächlich auf Hydra gelebt haben. Der kanadische Sänger und Songwriter Leonard Cohen oder der norwegische Autor Axel Jensen zum Beispiel. Ich hätte mir allerdings etwas mehr Tiefgang gewünscht.

Ich mochte den lebendigen und leicht lesbaren Schreibstil der Autorin. Sie vermittelt die Atmosphäre eines griechischen Sommers und die Schönheit der griechischen Insel Hydra wunderbar eindrücklich und hautnah.

„Sommer der Träumer“ ist kein literarisches Highlight, aber vergnügliche Unterhaltung für zwischendurch.