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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Julia
Wohnort: 
Kassel

Bewertungen

Insgesamt 65 Bewertungen
Bewertung vom 25.03.2021
Die Zeit so still
Arnold, Florian L.

Die Zeit so still


ausgezeichnet

Womöglich werde ich demnächst häufiger Novellen lesen, das hat mir gut gefallen. Kurz und doch steht jede Menge auf den 100 Seiten.
Eine Pandemie beherrscht die Welt. Ist es Corona.. man weiß es nicht, es gibt Parallelen. Jedoch spielt die Handlung etwa 25 Jahre nach dem ersten Ausbruch. Die Straßen sind verlassen, niemand darf mehr das Haus verlassen. Das Virus ist tödlich und Therapien nicht verfügbar. Die Natur ist dabei, sich die Erde zurück zu holen.
Ein Mann bricht aus seinem zu Hause aus und begegnet einem Straßenbahnfahrer, der trotz Mangels an Fahrgästen unbeirrt seine Strecke fährt. Die beiden Männer erzählen sich ihre Geschichte.
Florian L. Arnold hat einigen Interpretationsspielraum gelassen, das ist wirklich gut gelungen. Die Gedanken schweifen in diesem apokalyptischen Szenario herum, man sieht alles vor sich, erlebt diese Stille mit.
Ich glaube, man liest dieses Buch jetzt - heute - anders, als man es in 5 Jahren lesen wird und vor allem VOR 5 Jahren gelesen hätte. Auch wenn der Autor eine Seuche biblischen Ausmaßen erschafft, trotzdem steckt ein beklemmendes Fünkchen Realität in der Atmosphäre dieser Erzählung.
Die verwendete Sprache fand ich ganz wunderbar. So passend, still, nachdenklich, fast nostalgisch anmutend und unaufgeregt. Nun mag der eine oder andere sagen, Pandemie muss ich nicht auch noch in meiner gepflegten Feierabenliteratur haben, das Thema verfolgt mich schon im Alltag überall hin. Aber ich persönlich empfinde die literarische Auseinandersetzung hier nicht als "Überdosierung", da es doch auch um viel mehr geht, das verrate ich jetzt aber einfach mal nicht!

Bewertung vom 08.03.2021
Die ganze Wahrheit (wie Mason Buttle sie erzählt)
Connor, Leslie

Die ganze Wahrheit (wie Mason Buttle sie erzählt)


gut

Ich bin zugegebenermaßen etwas erschüttert. Denn der Klappentext bereitet nicht ansatzweise auf das vor, was einen beim Lesen dieses Buches erwartet! Es hörte sich nach einer abenteuerlichen Geschichte an, frisch und spannend, über einen Außenseiter, als den sich viele Kinder fühlen. Aber wenn man seinem Kind dieses Buch in die Hand gibt, sollte man wissen, dass es ziemlich heftig ist. Daher hier die ganze Wahrheit über "Die ganze Wahrheit wie Mason Buttle sie erzählte".
Es ist wie in der Inhaltsangabe, Mason kann kaum lesen und schreiben, wenn er sich freut oder Stress hat werden die Gefühle vor seinen Augen zu Farben. Er wird gehänselt und ausgegrenzt weil er so schwitzt, aber das sind nicht die einzigen Dinge, die ihn zum Sonderfall machen. Sein bester Freund Benni starb bei einem tragischen Unfall und Mason wird verdächtigt, etwas damit zu tun zu haben. Die Trauer über den Verlust wird sehr eindrücklich beschrieben. Zudem starben nicht lange zuvor sein Großvater und seine Mutter. Ich weiß nicht, wieso die Autorin derart viel Tragik in die Story packt, aber so etwas gehört in den Klappentext, es gibt Kinder, die haben grade einen ähnlichen Verlust erlitten und werden völlig überrascht und möglicherweise überfordert!
Mason ist ein toller Junge, er wird so liebevoll dargestellt, auch sein neuer Freund Calvin. Die Erzählweise ist ganz toll - außer die Schimpfworte. Ich möchte in einem Buch, das für 10-Jährige empfohlen wird nicht ständig "A...gesicht" und Schlimmeres lesen, sobald die Halbstarken auf der Bildfläche erscheinen. Literatur sollte Sprache prägen. Auch den ständigen Einsatz des Mittelfingers, das geht nicht in einem Jugendbuch.
Es ist mir zu viel rein gepackt in dieses eigentlich ganz tolle Buch mit seiner großartigen Message, und seinem Witz und den tollen Hauptfiguren, aber es ist überladen und tragisch, so bedrückend, dass ich insgesamt unzufrieden mit dem Buch bin. Lest es bitte mit euren Kindern, ich habe es auch vorgelesen und teilweise Absätze und Schimpfworte übersprungen und konnte direkt auf die Ereignisse eingehen. Es ist wirklich schwer verdaulich. Und ich bin 41.

Bewertung vom 05.03.2021
Der Zirkus von Girifalco
Dara, Domenico

Der Zirkus von Girifalco


sehr gut

"Der Zirkus von Girifalco" ist die Geschichte eines Dorfes in der italienischen Provinz. Der Einstieg bringt einem eine handvoll Bewohner näher, von den Umständen ihrer Geburt bis zum heutigen Status in der Gemeinde. Sie werden tituliert, werden beschrieben. Was ist ihnen in ihrem Leben bisher widerfahren?
Das verschlafene Kaff am Ende der Welt bereitet sich auf ihr wichtigstes Kirchenfest vor, doch der jährlich anreisende Jahrmarkt lässt auf sich warten. Stattdessen will es der Zufall, dass sich ein Zirkus in das kleine Nest verirrt - und bleibt. Es werden Ereignisse in Gang gesetzt, die das Leben der Menschen aus der Bahn wirft. Über die ganzen 520 Seiten kreisen wir weiter um die uns vertraut gewordenen Figuren, um ihre Sorgen, Ängste und ihre Verbindungen zueinander, bis zur letzten Vorstellung des Zirkus von Girifalco.

Ich bin geteilter Meinung.
Man hat hier keine Weltliteratur in der Hand, die Sprache ist... wechselhaft, ja, wie die verschiedenen Charaktere. Wird der Dorfidiot beschrieben, ist die Wortwahl ein bisschen verwunschen, geht es um die Dorfhexe sind die Worte hart und voller Hass. Gehen wir mit dem Casanova mit, denkt man, man liest einen Groschenroman, schwülstig bis oszön. Das ist sicher so gewollt, ist aber nicht optimal umgesetzt, mein Eindruck ist zudem, dass es der Übersetzung teilweise zuzuschreiben ist, aber das ist mein subjektives Gefühl.
Was ich aber sagen muss, der Aufbau, die vielen Charaktere, dieser "Rundgang" der einen immer wieder an allen liebgewonnenen Dörfern vorbei führt, das lässt sich unheimlich gut lesen. Ich habe es verschlungen.
Eine richtig tolle Geschichte, deren Poesie teilweise in der Sprache, aber ganz und gar im Erzählten zu finden ist, in den Weisheiten, im Schicksal und im Aberglaube dieser sehnsüchtigen Italiener.

Bewertung vom 26.02.2021
Nancy Cunard
Hörner, Unda

Nancy Cunard


ausgezeichnet

so sagen, doch sie hasste es. Die privilegierte Londoner Gesellschaft, die nur sich und ihre Partys im Sinn hatte. Die junge Frau hat sich früh aufgelehnt, selbst zum Außenseiter gemacht in dem Umfeld, indem sie aufwuchs. Intelligent war sie und extravagant, sie wollte auffallen. Und sie hatte die Mittel, sich ohne auf Gewinn und Verlust zu achten Herzensprojekten zu widmen. Sie wurde Teil der Kunstszene in Paris und gründete 1925 einen eigenen Verlag, die "Hours Press" und veröffentlichte dort handverlesen und hochwertug Gedichte und Schriften sowohl namhafter und unbekannter Autoren. 1934 widmete sie sich einer Anthologie über afrikanische Kunst und Künstler, alles darum faszinierte sie. Sie nannte sie "Negro".

Über die folgenden Jahre war ihr Aktivismus gegen Ausgrenzung und Intoleranz bemerkenswert, so veröffentlichte sie beispielsweise im zweiten Weltkrieg ein Pamphlet, "The white man's duty", das dazu aufrief, Menschen aus den Kolonien gleichberechtigt zu behandeln. Diese wurden derzeit zum Kampf gegen den Faschismus in Europa herangezogen. "Unter den farbigen Menschen in den Kolonien herrscht der Gedanke: Wenn in Großbritannien Not am Mann ist, dann werden wir gebraucht, aber hinterher ist alles wie zuvor." (S. 109). Ein Journalist aus Trinidad, George Padmore unterstützte bei ihrem Kampf, sie forderten "gleiche Rechte wie die Weißen in sämtlichen Lebensbereichen."

Mehr will ich gar nicht erzählen, ich kann euch dieses wunderbare Buch sehr empfehlen! Unda Hörner hat in dieser spannenden Biografie viel über die Verhältnisse in den 20er- und 30er-Jahren zur Sprache gebracht, auf eine ganz angenehme Erzählweise. Sie ist kurz gehalten aber sehr präzise und verschafft einem einen guten Eindruck über eine Frau, der vieles keine Ruhe gelassen hat und die den Traum hatte, die Welt zu verbessern.

Bewertung vom 24.02.2021
Aus der Mitte des Sees
Heger, Moritz

Aus der Mitte des Sees


gut

Das Buch weckte mein Interesse zunächst durch den Titel und die schöne, klare Optik des Diogenesverlags. Die Leseprobe war interessant und die Inhaltsangabe versprach eine "ungewohnte" Geschichte. Und die bekam ich dann auch, sowohl vom Stil als auch vom Inhalt.

Lukas erzählt vom Jetzt, von ein paar Tagen im Sommer. Er führt einen inneren Dialog mit Menschen aus seinem Umfeld, erklärt sich ihnen, ergründet sich selbst dabei. Seit vielen Jahren ist er Klosterbruder, er ist mit seinen 38 Jahren der jüngste unter ihnen und Hoffnungsträger, eines der höheren Ämter in naher Zukunft zu bekleiden. Einst waren sie zu zweit, beste Freunde, Andreas und er. Doch für Andreas war es nicht der richtige Weg, er verliebte sich und ging. Eine Nachricht über die Geburt seines Sohnes erreicht Lukas auf dem falschen Fuß, bringt ihn ins straucheln. Er hadert mit dem Freund, fühlt sich verlassen und verraten, scheint aber auch missgünstig zu sein. Nach und nach reflektiert er seine Gefühle, nach einigen Tagen entschließt er sich doch zu einer Antwort.
Immer wieder kommt er zum See, täglich geht er schwimmen. Sich im Wasser treiben zu lassen wird hierbei zum Sinnbild seines Glaubens an das Getragenwerden von Gott und der Gemeinschaft.

Man erlebt eine Entwicklung mit Lukas, empfindet seine Gefühle nach. Das ist ganz ruhig beschrieben, anschaulich. Wie er in sich geht und Zwiesprache hält, wie er abwägt, aber auch projeziert. Die Vorwürfe und Argumente sind eigentlich an ihn selbst gerichtet, eigentlich stellt er die eigenen Entscheidungen infrage.
Der Roman hat eine ganz tolle Sprache, sehr poetisch und durchdacht. Es hat mich nicht gestört, dass die Handlung quasi nicht existent ist, es war trotzdem spannend geschrieben. Jeder kommt an Punkte in seinem Leben, an denen man Entscheidungen anzweifelt, Freundschaften sich in unterschiedliche Richtungen entwickelt und man nicht aus seinen Gefühlen heraus kann.

Wäre Moritz Heger 240 Seiten lang dabei geblieben, es hätte mich wunschlos glücklich gemacht.
Aber. Die Geschichte entwickelt sich im letzten Drittel aus meiner Sicht absolut zum Nachteil des Gesamtwerkes. Lukas begegnet einer Frau, Sarah. Ein platteres Klischee gibt es kaum. Warum das? Ab da wird auch die Sprache nach und nach so bildhaft, dass es 20 Seiten vor Ende in Kitsch umschlägt.
Er hätte bei den Gedanken bleiben sollen, hypothetischer oder aus der Vergangenheit sinniert. Es hätte ohne gegenwärtige Handlung bleiben sollen.
Schade um den tollen Anfang.

Bewertung vom 20.02.2021
Damnificados
Wilson, JJ Amaworo

Damnificados


ausgezeichnet

Die Handlung spielt in einer nicht real existierenden Stadt, Favelada, möglicherweise in Südamerika. Hoffnungslose Menschen verschiedenster Herkunft versuchen, ein zu Hause zu finden. Sie sind Verdammte, Verbrecher, Drogensüchtige, Prostituierte, der Abschaum den niemand in seiner Nähe haben will, schmutzig, verstoßen und vertrieben. Sie kommen aus allen Winkeln der Erde und sind zu Hunderten unterwegs, Männer, Frauen, Kinder. Geführt werden sie von einem Krüppel, der sie zu einem leerstehenden Turm bringt. Auf 60 Stockwerke verteilt richten sie sich ein, bilden eine demokratische Stadt mit allem, was dazu gehört. Sie werden bald 2000 sein. Allerhand Widrigkeiten und Absurditäten widerfahren ihnen, doch sie halten zusammen. Denn einer ist wie der andere, alle sind gleich und alle haben nur einen Wunsch - an irgendeinen Ort zu gehören und dort sicher zu sein.
Geschrieben ist es in der Gegenwartsform und genau so fühlt es sich auch an, als ob es jetzt grade irgendwo auf der Welt passiert. Der Autor romantisiert, mythifiziert und phantastifiziert (ich muss eigens Worte erfinden) die Ereignisse und die einzigartigen Charaktere. Ein Albtraum, ein Wahnsinn, grausam und wunderschön.

Dieses.. Ja man kann sagen moderne Märchen ist ganz und gar außergewöhnlich, ebenso der auffällige Titel und letztendlich der Name des Autors, JJ Amaworo Wilson. Da musste ich gleich mal nachlesen, und um das hier abzukürzen denn es gibt eine Menge zu erzählen, Damnificados ist sein Debüt (unfassbar) und ist eine wahre Geschichte. Na gut, inspiriert von einer wahren Begebenheit, aber ich möchte alles so glauben, wie es in dem Buch steht, einschließlich der Wunder, des zweiköpfigen Wolfes und den Riesenmosquitos - Südamerika, was weiß ich, was es da nicht alles gibt!
Das Buch wurde ausgezeichnet mit einem Preis für "Multicultural Fiction" und das beschreibt das Genre auch schon recht gut.
Ich habe mir Artikel und Bilder zum echten Turm, dem Torre de David in Caracas, angesehen und in meiner Faszination habe ich mir nun auch noch ein Buch auf englisch ersteigert, um mehr über die Inspiration des Autors zu erfahren.
JJ Amaworo Wilson wollte eine Utopie erschaffen, er wollte zeigen, seht her, wie es sein könnte, wenn alle gleich sind, es gibt für jeden einen Platz. Ein wunderbares Plädoyer für Menschlichkeit und Zusammenhalt und den Wert des Einzelnen in einer Gesellschaft.

Bewertung vom 15.02.2021
Ariane
Anet, Claude

Ariane


ausgezeichnet

Im Original erschien die zeitlose Liebesgeschichte von Claude Anet 1920 unter dem Titel "Ariane - jeune fille russe". Der jetzige Titel orientiert sich an der Verfilmung mit Audrey Hepburn. Ein Foto von ihr ziert das Cover des sehr schönen Buches.

Wenn man sich einer so alten Geschichte widmet, steigert es in meinen Augen die Lesefreude immens, wenn sie in ein ansprechendes Äußeres verpackt wird, erst recht mit so romantischem Inhalt. Diese hier kommt in edlem bonbonrosa Leinen zu uns, mit pinkem Lesebändchen und ganz und gar hochwertig und feminin anmutend. Das stimmt einen direkt auf die Hauptfigur ein, Ariane.

Zum Inhalt:

Ariane ist eine aufgeweckte, junge Frau, intelligent und zielstrebig. Sie entschließt sich, nach ihrem Abitur ein Studium zu beginnen, Familienplanung steht nicht an, von der Liebe hält sie nichts. Gesellschaft, ja die ist ihr wichtig, bewundern lässt sie sich, doch als emanzipierte Frau macht man sich nicht zur Dienerin eines Mannes, wohin die Ehe, oder noch schlimmer Gefühle einen bringen können, das hat sie zu Genüge beobachten können. So stellt sie Regeln auf, für die Beziehungen zum anderen Geschlecht und hat klare Vorstellungen.

Frauen und Männer sind unterschiedlich, dass wird in diesem Buch deutlich, und auch, dass Liebe sich keinen Regeln unterordnet. Erst als es zu spät ist, erkennt Ariane, dass Konstantin kein Feind ist, von dem sie sich seelisch und körperlich abhängig machen würde, wäre sie verliebt in ihn. Ihre Vehemenz, ihre Freiheit um keinen Zentimeter zu verringern führt dazu, dass sie sich selbst nichts mehr zugestehen kann.

Mein Eindruck:

Im Laufe der Zeit wurden in den diversen Übersetzungen teils Passagen gestrichen oder sogar etwas hinzugefügt. Auch die Verfilmung von 1957 weist - nach der Inhaltsangabe zu urteilen - wesentliche Unterschiede zum Buch auf. Nach nunmehr 100 Jahren wurde Anets Roman nun aber glänzend von Kristian Wachinger aus dem französischen neu übersetzt. Im Nachwort wird Wert darauf gelegt, dass es sich hierbei um die ursprüngliche Fassung handelt, was ich sehr wichtig finde. Und mir hat die Geschichte genau so sehr gefallen. Sie setzt sich mit Emanzipation auseinander, die in Russland zu der Zeit viel weiter vorangeschritten war als irgendwo sonst auf der Welt, aber reflektiert auch deren Fallstricke. Ariane ist fehlgeleitet und desillusioniert durch falsche Vorbilder und fürchtet nichts so sehr wie die Liebe. Sie glaubt, man könne Gefühle unterbinden und reglementieren. Erst, als es zu spät scheint, erkennen beide, dass sie keine Gegenspieler sind, sondern Verbündete.

Die Charaktere sind lebhaft beschrieben, detailreich, so dass man sie genau vor sich sieht. Wechselnd erhält man kurze, teils nur einen Satz umfassende, feinsinnige Einblicke in die Gedanken der Protagonisten. Anet bedient sich dabei allerhand geschlechtsspezifischer Klischees, ich verzeihe sie ihm schmunzelnd. Genau diese Klischees handeln ja den Hauptfiguren erst den ganzen Ärger ein. Dabei driftet die Handlung nie ins Kitschige oder Vorhersehbare ab. Keine Dramatik sondern Zartheit, bei Handlung und Sprache. Es hebt sich ab und ist von außen wie innen wunderbar gelungen.

Bewertung vom 15.02.2021
Der Klang der Wälder
Miyashita, Natsu

Der Klang der Wälder


ausgezeichnet

Ein Buch wie Urlaub, Meditation. Man kommt zur Ruhe. Man fühlt und hört und riecht und genießt.
Der Roman "Der Klang der Wälder" erzählt, wie Tomura durch eine Begegnung mit seinem späteren Lehrmeister von der Arbeit eines Klavierstimmers eingenommen wird. Beseelt von dem perfekten Klang, dem eine Erinnerung an seine Kindheit innewohnt, schließt er eine Ausbildung ab und findet eine Anstellung in einem kleinen Betrieb. Doch will ihm einfach nicht gelingen, den Klavieren Töne solcher Intensität zu entlocken. Hat er vielleicht kein Talent? Lernt er nicht fleißig genug?
"Hell, ruhig und klar, an wehmütig Erinnerungen rührend, zugleich aber mit einer milden Strenge in die Tiefe gehend. Schön wie ein Traum und greifbar wie die Wirklichkeit.
Ja, das war es. So musste ein Klavier klingen."
Es geht um Perfektion, um Fleiß, Ehrgeiz. Aber auch um Leidenschaft und Selbstverwirklichung. Zu lieben, was man tut.
Der Roman ist eine Hommage an die schönen Dinge. Das Herz der Geschichte sind die Dialoge, in denen ergründet wird, was es mit dem Stimmen eines Klaviers aus technischer Sicht auf sich hat, dass aber der Kunde im Klang etwas bestimmtes sucht. Und so ist es ein sehr philosophisches Buch, bei dem die Erfahrung von Musik als ganz individuell gesehen wird. Die Begegnungen der Klavierstimmer mit ihren Kunden und deren anschließenden Analysen nach getaner Arbeit regen zum Nachdenken über das Leben an sich an.

Tomura-Kun ist ein so wunderbarer junger Mann, der so aufmerksam beobachtet und mit ganzem Herzen lebt und in die Welt blickt. Ein außergewöhnliches Buch über einen außergewöhnlichen Beruf.

Bewertung vom 26.01.2021
Sprich mit mir
Boyle, T. C.

Sprich mit mir


gut

Ein Forschungsprojekt mit Schimpansen soll Aufschluss darüber geben, wie weitreichend ihr Bewusstsein ist. Dazu werden mehrere von ihnen in Familien von Wissenschaftlern integriert und wie Menschen erzogen, sie sollen glauben, sie seien Menschen. Mittels Gebärdensprache kann man mit ihnen kommunizieren und Aufschluss über ihr Denken erhalten. Sam ist einer von ihnen, und als Guy Schermerhorn Unterstützung bei der Rundumbetreuung sucht ist die junge Studentin Aimee sofort Feuer und Flamme und baut eine ganz besondere Beziehung zu dem Tier auf.
Mein erstes Buch von T. C. Boyle lässt mich etwas ratlos zurück.
Ich hatte mir die Kritik etwas deutlicher vorgestellt, hatte mehr Anklage erwartet, aber diese war kaum spürbar, so dass ich mich frage, ob ich das Buch und seine Absicht dahinter - und die wird es doch bei dem Thema geben? - richtig gedeutet habe..
Für mich waren tatsächlich die "Beschützer" des Affen, die Forscher, in deren Obhut Sam aufwächst, die ihn (v)erziehen und im Menschsein beibringen die eigentlichen Übeltäter. Im Glauben an die Wissenschaft und von der Richtigkeit ihres Vorgehens überzeugt verraten sie das Lebewesen, das sie angeblich lieben. Sie sind egoistisch und verantwortungslos und völlig ungeeignet, Sorge für jemand anderen außer sich selbst zu tragen. Die Charaktere sind derart unsympathisch und unfähig auf vielfältige Art und Weise.
Alles spitzt sich am Ende recht vorhersehbar zu, und auch da ist nur große Traurigkeit spürbar, kein Einsehen, keine Reue, kein Schuldbewusstsein.
Von dem Autor habe ich schon des öfteren gehört, ich hatte einen aggressiveren Ton erwartet, eine offensichtlichere Kritik, von Ironie und Witz war bei seinen vorherigen Büchern die Rede. Da kam mir dieses Buch jetzt eher zurückhaltend vor. Auch sprachlich sticht es nicht hervor, die Ausdrücke sind eher roh, ins vulgäre reichend, ich hatte keine Poesie erwartet, aber doch einen gewissen Anspruch oder etwas Wiedererkennbares im Schreibstil.
Auch die wechselnden Sichtweisen der Protagonisten fand ich befremdlich, sie haben keinen Mehrwert für mich bedeutet, ich muss sogar sagen, dass sich Boyle mit Sams Sicht vielleicht ein bisschen zu weit aus dem Fenster gelehnt hat, manches fand ich regelrecht unglaubwürdig.
Ich habe die Geschichte in kurzer Zeit gelesen, es ist spannend und kurzweilig, allerdings meiner Meinung nach zu wenig differenziert betrachtet, zu oberflächlich.

Bewertung vom 06.01.2021
Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid
Schröder, Alena

Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid


ausgezeichnet

Evelyn steht am Ende ihres Lebens, eine distanzierte, etwas herrische alte Frau. Auf ihr bewegtes Leben blickt sie nicht gern zurück. Ihre Enkeltochter Hannah ist die letzte Angehörige, die ihr geblieben ist - und auch andersherum ist Evelyn für Hannah die letzte Verwandte. Als die junge Frau einen Brief findet, in dem eine Kanzlei um Kontaktaufnahme wegen verschollener Kunstwerke aus einem jüdischen Nachlass bittet, will Hannah herausfinden, was es mit Evelyns Familiengeschichte auf sich hat - ob diese es gutheißt oder nicht.

Es handelt sich hier um eine ganz besondere Familiengeschichte, die Anfang des 20. Jahrhunderts mit Evelyns Mutter beginnt und deren Leben zu großen Teilen begleitet wird. Abwechselnd, Kapitel für Kapitel, wird aus der Vergangenheit erzählt, dann wieder aus der Gegenwart, was einen unheimlichen Lesesog entwickelt hat, da sich nach und nach das Rätsel lüftet, warum Evelyn ist, wie sie ist, was ihre Gefühls- und Gedankenwelt ausmacht, was sie und ihre Familie erlebt hat. Wir lernen aber auch Hannah nach und nach kennen, die ziellos ist und in vielem nicht weiß, wo sie steht.
Die Figuren, eine gut überschaubare Anzahl für die 360 Seiten des Buches, wurden mir sehr vertraut. Allesamt sind keineswegs unfehlbar, sondern werden authentisch und ganz wunderbar unperfekt beschrieben, so dass man sie einerseits anklagen möchte, andererseits aber auch Verständnis für sie aufbringt.
Die liebevolle, detaillierte Charakterzeichnung und die Sprache, die mit einer so treffenden Wortwahl aufwartet, waren für mich so hervorstechende Eigenschaften, dass das Buch wirklich eine große Lesefreude für mich war.
Für einen Debütroman ganz außerordentlich stimmig und harmonisch.