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Edda246
Wohnort: 
Hamburg

Bewertungen

Insgesamt 66 Bewertungen
Bewertung vom 22.02.2022
Der Papierpalast
Heller, Miranda Cowley

Der Papierpalast


sehr gut

Sofort ist man mitten drin in der Erzählung, die 448 Seiten und eine ganze Familiengeschichte erzählt, aus Sicht und den Erinnerungen von Ellen, der heute 50 jährigen Protagonistin.

Elle Bishop verbringt all ihre Sommer an der amerikanischen Ostküste an einem See in ihrem „Papierpalast“, einem Sommerhaus. Detailliert werden Landschaft, Zeiten und Erinnerungen beschrieben, Erlebnisse ihrer Eltern und Großeltern mit deren Zeitkolorit nach und nach eingefügt.

Aufgebaut ist ein Erzählstrang in der Jetztzeit, ein Urlaub im „Papierpalast“, komplementiert durch Rückblenden, die anfänglich in die 1960 Jahre in New York zurückgehen und dann Orte und Zeiten wechseln und dann nach über 400 Seiten an die Jetztzeit anschließen. Damit ist alles gesagt und Ellens wichtige Weggabel in ihrem 50jährigen Leben voller Entscheidungen erklärt. Doch waren es damals die richtigen?
Dem Leser wird eine großartige Reise in eine in höchstem Maße lebendige Welt geschenkt, die er selber in ihrer Intensität kaum erlebt haben mag. So bietet der Roman ein reichhaltiges Erleben und für Ellen die Frage, wie es weitergeht, ob es noch einen zweiten, gänzlich anderen Lebensabschnitt geben könnte, der noch nicht erlaubt ist, doch immer da war – ihre große Liebe.
Was den Roman ausmacht, ist die bildgewaltige Erzählung, die durchgängig spannend bleibt. Trotz düsterster Erfahrung manövriert sich Ellen durch den Strom des Lebens, - eine Romanheldin, deren letzte große Entscheidung man ihr gönnt und hierfür bis zum Schluss mitfiebert.
Miranda Cowley Heller ist nicht nur eine Entwicklerin von Serien bei HBO, dies ist ein großer Wurf, so sprachgewaltig und für sich stehend. Eine großartige Erzählerin, die die Tiefen und Untiefen einer Lebens- und Familiengeschichte bravourös erzählt.

Bewertung vom 26.01.2022
Erschütterung
Everett, Percival

Erschütterung


ausgezeichnet

Der Paläontologe Zach Wells führt, wie er zugibt, ein langweiliges Leben mit einer Ehefrau, die er schätzt, einer Tochter, die er liebt und einem sicheren Professorendasein. Er lebt in dieser geordneten Welt dennoch an der Grenze zur Depression. Eines Tages beginnt seine Tochter Sarah ihr Sehvermögen zu verlieren und die darauf folgende Diagnose erschüttert sein bis dahin geruhsames Leben vollständig. Parallel dazu erhält er, versteckt in einem Secondhand - Kleidungsstück einen merkwürdigen Hilferuf.

Im Laufe des Romans lernen wir sein Leben als Vater und Universitätsprofessor kennen. Seine Begegnungen, sein Sich-Einlassen, alles anhand von eingeschobenen Kapiteln, die in sich berührend und auch spannend sind in ihrer Aufrichtigkeit. Während seine Tochter sich mehr und mehr von der Welt abwendet und ihr ferner wird, entscheidet sich Zach dem Hilferuf, versteckt in einem gekauften Kleidungsstück, nachzugehen, seine gesamten Fähigkeiten zu bündeln, um sich auf eine gefährliche und abenteuerliche Reise zu begeben. Er versucht, mit ganzem Einsatz eine Gruppe Frauen, die als Sklaven gehalten werden, in ihre Heimat zurückzuführen. Eine Ungerechtigkeit wieder gut zu machen,

Für ihn die einzige, nicht bis an die Grenzen schmerzende innere Situation, die ein konkretes befreiendes Handeln ermöglicht, in ebenso der Entfernung, die seine Tochter psychisch angetreten hat. Er versucht, nicht nur die Frauen zu retten sondern dadurch auch sich selbst, dem Schicksal, Frieden mit seinem Schmerz abzugewinnen. „Mir kam der Gedanke, dass ich nicht imstande wäre, ihnen klarzumachen dass nicht ich sie rettete, sondern dass sie mich retteten.“

Der Roman stellt die Frage, ob dies möglich ist.

Sarah wird nicht mehr kommunizieren können, so wie es für andere verständlich sein wird.
Percival Everett benutzt ein Stilmittel, wie man am Unverständnis der Kommunikationssignale scheitern kann:
Die eingefügten kurzen Anmerkungen über Fossil- und Gesteinsproben, Schachkürzel, fremdsprachige Aussagen, die nicht übersetzt werden – sie brechen den Kommunikationsfluss ab, irritieren. Ein Nichtverstehen bleibt, über eine Kommunikation, die speziell ist.

Interessant der amerikanische Originaltitel: „Telephone“, der zum Nachdenken über das Kommunizieren anregt.
Der Vater kommuniziert gerne mit der Tochter mittels Schach, er selbst kommuniziert mit Vergangenem, verschiedene auftauchende Frauen kommunizieren direkt, ihn als Mann betreffend. Seine Tochter kommuniziert während ihres Parisaufenthaltes mit den Bildern des Louvres. Die Mexikanerin kommuniziert mittels einer Notiz.

Zach wird im Laufe seiner Reise bewusst falsche Signale einsetzen, um sein Ziel zu erreichen, absolut witzig, intelligent und direkt am Geschehen. wie z.B. die zurückgelassene Information, als er sich scheinbar auf Erdölsuche begab: „Das Auf-Papier-Kritzelnn seltsamer Symbole, Zeichen, die ebenso sinnlos sein wie Sinn tragen konnten, genau wie die rätselhaften Mikrofossilien, die ich als geologische Hinweise auf eine tiefe Geschichte und ein künftiges Geschick handelte.......“

Der Roman ist voller Hinweise, Anspielungen, Gleichnisse - mit einer Leichtigkeit, einer Selbstverständlichkeit und Humor.

Percival Everett ist ein vielschichtiger, auf allen Ebenen intelligenter Roman gelungen, ein zutiefst berührendes Werk, das eindringt und lange nachhallt.
Absolut empfehlenswert – ein wichtiges Stück Literatur.

Bewertung vom 01.12.2021
Karma
Sadhguru

Karma


ausgezeichnet

Karma - wie wir das eigene Schicksal beeinflussen können. Ein interessanter Titel, hat sich doch der Begriff Karma von der Indischen Philosophie her schon im Westen durchgesetzt. Der indische Guru Sadhguru Jaggi Vasudev, lehrt Bewusstheit aufgrund seiner eigenen tiefen Erfahrungen. Wo noch Yogananda den Begriff Yoga in den Westen einführte, ist es jetzt an der Zeit mit verständlichen Worten den Begriff Karma zu erläutern. Und ich war überrascht, mit welcher Leichtigkeit Sadhguru diese komplexe Angelegenheit darbringt. Das Buch ist in drei Teile aufgeteilt. Was ist Karma, wie sich die immer gleichen Geschichten umschreiben lassen, deren Autor der Geist ist und warum es so ist.
Übungen zur Unterstützung werden aufgezeigt und in einer App ausführlich vorgestellt.
Yoga wurde 2016 als immaterielles Weltkulturerbe anerkannt. Es dient in den verschiedenen Arten heutzutage der körperlichen Gesundheit, Fitness und Bewusstheit. Sadhguru empfiehlt Übungen, sich den Kreislauf von Ursache und Wirkung bewusst zu machen mit dem Ziel zu einem veränderten selbstbestimmten Handeln. Die Übungen, Sadhanas, sollen das Gelesene in die Praxis umsetzen.
" karmischen Ballast abzuwerfen, um für die Gnade empfänglich zu werden".
Ein Glossar der indischen Begriffe dient zusätzlich zum Verständnis. Ein Ratgeber, kompakt, doch verständlich, auf den man sich konzentriert einlassen muss. Doch die heitere, bzw. erleichternde Erklärung jenseits von Moral und Schuld kommt authentisch und echt rüber. So lässt man sich gerne inspirieren diesem nicht einfachen, vormals unbekannten und schwer vorkommenden Thema gegenüber.
Ein Ratgeber mit Gleichnissen, Übungen und überraschenden Erklärungen gibt viel Stoff zum Nachdenken und Ausprobieren.

Bewertung vom 03.11.2021
Eifersucht
Nesbø, Jo

Eifersucht


sehr gut

Verwöhnt von den Harry Hole und anderen langseitigen Romanen Nessbos , ist dieser neue Band mit Kurzgeschichten ein anderer Wurf.
Jede Geschichte ist abgeschlossen und behandelt das Thema "Eifersucht" auf ganz individuelle Weise und sehr einfallsreich in der Art wie die Protagonisten damit umgehen und die Konsequenzen tragen. Sie überschreiten Grenzen. Hier stellt sich nicht die Frage nach rechtsstaatlichen Konsequenzen,
sondern behandelt eine jeweils individuelle Rechtssprechung. In der längsten Geschichte "Eifersucht" fließt auch das Thema Schuld ein.
Die Figuren sind nicht flach, doch oft uninteressant; durch das Betrachten und Staunen bleibt man distanziert und die Erzählzeit ist vermutlich zu kurz, um mit den Protagonisten warm zu werden, der Versuch, die jeweiligen Taten zu erklären, macht die Personen nicht wirklich sympathischer.
Es bleibt beim Betrachten,Staunen und Schmunzeln. Ich wurde nicht hineingezogen und mitgerissen oder aufgefordert, zu spekulieren.
Die Geschichten stehen für sich und blieben mir, ganz im Gegenteil zu Nessbos langseitigen Romanen, in der Distanz des Betrachtens. Die Geschichten, bei denen die erzählte Zeit kurz ist, haben mir am besten gefallen und mich gut unterhalten. Anders als bei Nessbos langseitigen Romanen, die durch einen besonders konstruierten Spannungsbogen bestechen, ist ja allgemein in Kurzgeschichten alles auf wenigen Seiten enthalten, eine Kunst für sich. Das Überraschungsmoment zeichnet Nessbos kurze Geschichten aus und gute Unterhaltung, auch Spannung. Sie hallen allerdings bei mir im Gegensatz zu den Romanen kaum nach.

Bewertung vom 20.09.2021
Reise durch ein fremdes Land
Park, David

Reise durch ein fremdes Land


ausgezeichnet

Tom ist Fotograf. Jeden Weihnachten fotografiert er „den perfekten Moment“ bevor er zerspringt“. Doch dieses Weihnachten soll anders anfangen. Tom ist aufgrund der Witterungsverhältnisse gezwungen, seinen erkrankten Sohn Luke aus dem Nordosten Englands nach Hause zu holen. So macht er sich auf eine Autofahrt auf durch den Schnee von Nordirland nach Sunderland auf, ihn abzuholen. Doch nicht nur Luke ist in den Gedanken von Tom – er reflektiert Teile seines Lebens auf dieser Reise. Seine Frau Lorna und seine anderen Kinder, zuallererst sein Sohn Daniel. Dieser taucht dem Fotografen Tom während seiner Fahrt immer wieder schemenhaft auf. Es wird eine reale Fahrt zu Luke und eine innere Reise zu Daniel.
Tom lässt seine Geschichte und die seiner Familie vor seinem inneren Auge ablaufen, insbesondere die von Daniel. Der Roman nimmt langsam Fahrt auf und fängt nach und nach an zu fesseln. Das Buch hat keine Kapiteleinteilungen, es liest sich, im übertragenden Sinn, wie eine lange Autofahrt.
Zuerst dachte ich, der Leser ist Voyeur für eine sentimentale Geschichte von großer Schuld. Doch die Geschiche, so einfach sie erscheinen mag, erzeugt einen Sog durch die leisen Töne, die zwingen, genau hinzuhören. Ein Roman, der sich durch die Bildhaftigkeit einprägt – ganz genauso wie die Fotografien, die Tom, der Fotograf,beschreibt. So wird man auf verschiedenen Ebenen gefordert. Eine bildhafte Sprache, es gibt, viele Gleichnisse, Metaphern - Momentaufnahmen der Erinnerung an Vergangenes runden den Roman ab und geben Hinweise und Anregungen. z.B. „wir suchen uns unsere Unfälle nicht aus““
Eigentlich möchte niemand die Schuld von anderen lesen, ich war skeptisch. Doch es ist einen Konfrontation, der nicht auszuweichen ist, mit sich selbst in aller Ehrlichkeit, die berührt. Während dieser Reise passiert etwas mit Tom. Diese Momente sind zutiefst menschlich, dadurch eindringlich. Diese Reise hat lange nachgehallt, auch aufgrund der Schönheit der Ausdrucksweise des Autors. Der Leser ist niemals überfordert, es entsteht eine Leichtigkeit, da sich alles auf die eine Thematik bezieht.
„Doch ich könnte wahrscheinlich nicht annähernd einfangen, was in diesem Moment verborgen liegt“, meint Tom einmal in Hinblick auf seine Fotografien – Dieses kleine Buch schafft auf 190 Seiten zwar keine Momentaufnahme, jedoch mit unglaublicher Feinfühligkeit schafft der Autor, den Leser zu berühren und eine Tiefe hervorzuholen, die nachhallend ist und daher anschließend noch überrascht.

Bewertung vom 09.09.2021
Das Glashotel
Mandel, Emily St. John

Das Glashotel


ausgezeichnet

Das Hotel Caiette liegt in der Wildnis, nur zu erreichen durch ein Boot, doch ist es eine Sehenswürdigkeit durch dessen gläserne Fassade. Hierher kommen Hotelgäste, die geschützt hinter Glas beobachten wollen. Es vermittelt fast, so wird gesagt, das Gefühl außerhalb von Zeit und Raum zu sein. ( Auch das Cover wird verständlich durch das Beschreiben der Bilder der Malerin Olivia, deren Landschaften in eine völlig anderes, als das reale, Licht getaucht waren.)
Jäh nimmt das Schicksal der Barkeeperin Vincent einen anderen Verlauf, als auf einer der Glasscheiben eine Aufforderung zum Selbstmord eingeritzt wird. Vincent lernt den älteren und reichen Jonathan kennen, den Hotelbesitzer. Sie ergreift die Gelegenheit ihres Schicksals und in all dessen Wirrungen und Verwirrungen im Laufe von 392 Seiten ist das Ziel ihre ureigene Freiheit.
Der Roman beginnt mit der Perspektive der beiden Geschwister Vincent und Paul. Doch es sind nicht die einzigen Protagonisten, die Perspektiven wechseln, die Zeiten wechseln, dicht verwoben wird erzählt, doch immer leichtfüßig und niemals langweilig. Der Ball wird weiter geworfen. Ein zu langes Haften am Einzelnen ist nicht das Anliegen. Es hat mich nicht gewundert, zu lesen, dass Emil St. John Mandel Tanz studiert hat. Der Roman ist wie eine Choreographie, Menschen begegnen sich, teilen Schicksal, entfernen sich, nähern sich.“ und das in einer geschriebenen Leichtigkeit, die dennoch in die Tiefe geht. Es geht um Schicksalswege, die so nur in den USA so stattfinden können, dort, wo es das soziale Auffangen wie hier nicht gibt. Dafür der Witz und das Ergreifen von Möglichkeiten zum Überleben – das Abenteuer Leben. Ein Buch voller neuer Wendungen, Erkenntnissen, Täuschung und Wahrhaftigkeit und auch Rätselhaftes, wie der Spruch am Hotelfenster, der sich erst zum Schluss des Romans erklärt.
Eine durchgängige und wunderbare Lesefreude, großartig geschrieben, verwoben und sehr bereichernd. Eine absolute Empfehlung!

Bewertung vom 26.08.2021
Ritchie Girl
Pflüger, Andreas

Ritchie Girl


ausgezeichnet

Ritchie Girl von Andreas Pflüger

Wie in seinen vorherigen Romanen ist die Protagonistin eine intelligente junge Frau.
Hier ist der rote Faden die Geschichte von Paula Bloom, die in den Irrungen der Nachkriegszeit im eroberten Deutschland zum Einsatz kommt. Ausgebildet als Richie Girl – in Camp Richie in Maryland, wo seit 1943 auch emigrierte Frauen rekrutiert wurden, um zurück nach Deutschland, bei der Nazi - Identifizierung zu helfen. So gelangt Paula zurück in ihr damaliges Heimatland und steht vor der Aufgabe, einen vermeintlichen Sowjetagenten, Johann Kupfer, zu enttarnen. Hierbei wird sie mit ihrer eigenen Geschichte konfrontiert und muss sich ihr stellen –

Kameradschaft, wie in Pflügers Romanen um Jenny Aaron, ist hier nicht das Hauptaugenmerk, hier spielt der Geheimdienst. Was ist wahr, wem kann man Vertrauen, welches sind die Motive des Einzelnen und kommen ans Licht - ein hochinteressanter Aspekt und sehr wandlungsfähig im Laufe der Zeitgeschichte, der Schuld auflädt – auf welcher Seite auch immer man steht. Pflüger entlarvt – durch Dialoge – humorvoll und intelligent und schafft es, den roten Faden: unbedingtes Vertrauen und Liebe bis zum Schluss zu spinnen - übrigens mit einer überraschenden Wendung und sehr spannend.
Das Wiedererkennen bedeutender Persönlichkeiten der Geschichte, die später Berühmten, wie Otto Dix, Marlene Dietrich,Charlie Chaplin, Schriftsteller wie Hemingway oder Graham Greene zum Beispiel, heben die Betroffenheit auf eine amüsante Ebene. Sie werden zu Begegnungen, Erinnerungen an Begegnungen; aus Zukunftssicht berichtet und beschrieben – und so entstanden bestens recherchierte, phantasievolle und in hohem Maße auch humorvolle Dialoge. Gerade die Dialoge und Gedanken der Protagonisten machen den Roman aus. Dialoge, die es in der Gegenwart des Geschehens so niemals geben könnte – oder doch? - das macht den unglaublichen Zauber und die Anziehung des literarischen Könnens von Andreas Pflüger aus. Kurze, mit Sinn vollgepackte Sätze, Satzfragmente, deren Inhalte lange zum Nachgrübeln und Reflektieren anregen. Der Roman ist keineswegs leichte Kost und durch die geschichtlich umfangreich recherchierten Personen und Orte, die man sich vergegenwärtigen muss, ist es teilweise auch mühsam, voranzukommen. Doch die Belohnung ist reichhaltig. Kennt man schon und ist verwöhnt von vergangenen Romanen, z.B. „Operation Rubikon“ die beste Recherche, so toppt Andreas Pflüger mit diesem großen Wurf „Ritchie Girl“ sein Können.
Ein dichter zeitgeschichtlicher Roman ganz nah am damaligen Geschehen, geschrieben mit literarischer Kunst.
„Du hast dein ganzes Leben lang diesen Roman in dir gehabt und es nicht gewusst“, kommentiert er. Andreas Pflüger, in den 1960ger Jahren aufgewachsen, konfrontiert mit einem Großvater, der Nazi war, arbeitet in diesem Roman seine und somit deutsche Vergangenheit auf ,indem er authentisch beschreibt und aufdeckt.
Die Sonderseiten des suhrkamp Verlages sind sehr aufschlussreich und komplementieren das Gelesene. Mit Fotografien des Nachkriegsdeutschlands , einem „Kaleidoskop der Zeit“ wird man bereichert mit den im Roman auftretenen Personen in echten und geschichtlichen Begebenheiten.
So ein komplexes sowie fiktives Werk mit großartigem literarischem Können ist einzigartig auf diese Weise und ist Lehrbuch und beeindruckende Literatur in einem.

Bewertung vom 20.07.2021
Was fehlt dir
Nunez, Sigrid

Was fehlt dir


ausgezeichnet

Der Versuch einer Annäherung an ein Thema, das ein schwieriges ist, die Sterbensbegleitung.

Der originale Titel „What are you going through“ ist für mich treffender, als die deutsche Übersetzung. Dieses Buch beschreibt einen Zeitabschnitt, indem sich zwei ehemalige Freundinnen während eines ungewöhnlichen Lebensabschnitts, ihre damals tiefe Freundschaft erneuern.

Die todkranke Freundin der Protagonistin ist selbstbestimmt und stellt sich ihre letzten Tage mit einer Begleitung in einem schönen Haus in schöner Umgebung vor.
Ein sehr trauriges Ereignis, doch die beiden machen sich auf zum unbekannten Abenteuer. Die gemeinsame letzte Zeitspanne wird von der Ich-Erzählerin betrachtet und durch viele Essays bebildert. Intelligent und berührend, man kann sich dem Charme und feinem Humor dieser kurzen Erzählungen nicht entziehen und taucht gerne ein, Der rote Faden ist das reale Verhältnis der Erzählerin zu ihrer Freundin und ist nicht ein bedrückendes Schwergewicht des Romans, macht aber das sensible Thema Sterben und wie man damit umgeht, leichter. Die Menschlichkeit durch die eingefügten, traurigen doch auch urkomischen Essays, Anekdoten, über Ausschnitte anderer Schicksale, lassen nicht unberührt zurück. Es wird ein emotionaler Bogen gespannt zu dem tatsächlichen Roten Faden, das Sterben der Freundin und die Sterbensbegleitung. Ist es doch ein Thema, zu dem wir nichts sagen können da es uns selbst noch nicht betroffen hat.
Sigrid Nunez schreibt intelligent, sensibel, mit großem Herz für ihre Mitmenschen und gesunder Distanz. Mag man auch manche sprunghaften Gedanken nicht nachvollziehen, bleibt es doch ein nachhallender Roman, überraschend ehrlich, dadurch humorvoll und nie aufdringlich. Ein gelungener Spagat zwischen Betrachtung und Tiefe.
Schöne Literatur, die leise und doch kraftvoll nachklingt.

Bewertung vom 17.05.2021
Letzte Ehre
Ani, Friedrich

Letzte Ehre


ausgezeichnet

Ein Roman über Frauen als Opfer mit einer weiblichen Protagonistin von einem männlichen Autor.

Der Verdächtige Barig im Fall der verschwundenen Finja führt in die dunkle Welt der Fantasien. Doch das ist erst der Anfang.
Es geht in diesem Roman um vier Frauen, die zu Opfern wurden – von jeder erfahren wir ihr Schicksal und ihre Konsequenz, damit umzugehen.
Fariza Nasri, die Oberkommissarin konfrontiert sich mit eigenen sowie den Abgründen der Frauen, mit denen sie zu tun hat. Vermisst, vergewaltigt, geschändet. Als es ihre beste Freundin trifft, schafft sie es gegen Widerstände, den Fall aufzunehmen; gerät selbst in das Visier von Anfeindungen.

Es gibt keinen schützenden Gott, wie den Kindern glaubhaft gemacht wurde, doch es gibt eine Gerechtigkeit. Fariza Nasri ist deren Gehilfin. Sie ist prädestiniert für die Gesprächsführung – hat sie nicht auch eine dunkle Seite, die verdrängt ist. Auch sie schaut in den Spiegel und sieht. Mit feinem psychologischem Gespür für Wahrheit und Lüge und im Bewusstsein, dass das Aussprechen, die Gnade ist und eben nicht die Beichte in der Kirche, die oft missverstanden wurde. Alles Unausgesprochene wird zur Qual. Fariza ist die „Geburtshelferin. Durch ihre Art des Einlassens in die Fälle der vermissten und geschändeten Frauen, von sehr jung bis alt, deckt sie Verborgenes auf. Und die Lebensgeschichten der Frauen sind aufwühlend.

Friedrich Ani, der Autor, gibt in seinem Roman diesen Frauen, ganz besonders Frau Nasri, die letzte Ehre. Die Fälle verknüpfen und kommen Fariza Nasri immer näher, die Oberkommissarin, die feinsinnig und gnadenlos Wahrheiten aufdeckt;
Die männlichen Täter bewegen sich in Grauzonen, die hiermit einen Namen bekommen - Grauzonen wie Gier, Wegsehen, Machtmissbrauch und Vertuschung – ausgeführte männliche Fantasien; ein verwerfliches Sittenbild,
Niemals langweilig, unglaublich berührend – große tiefsinnige und intelligente Spannung und ein kluger Aufbau, sehr feinsinnig umgesetzt und poetisch erzählt.

Ich hatte Tränen in den Augen so ergreifend. Ganz großes Erzählen – ein Meisterwerk.