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Almut Scheller-Mahmoud
Wohnort: 
Hamburg

Bewertungen

Insgesamt 76 Bewertungen
Bewertung vom 28.08.2021
Gestapelte Frauen
Melo, Patricia

Gestapelte Frauen


ausgezeichnet

Ein danteskes Purgatorio
Ein phantastischer Roman? Nein, weil er nicht der Phantasie der Autorin entspringt, sondern auf Fakten basiert, die allerdings von einer Romanhandlung umhüllt sind. Ja, weil er den LeserInnen eine Welt jenseits der eigenen Erfahrungswelt bietet, ein Menü, das aus testerongeschwängerten Grausamkeiten, Verachtung und Hass besteht.

Der Roman beginnt mit einer Ohrfeige, ein männlicher Schlag in ein weibliches Gesicht. Jurist gegen Juristin. Und enthüllt somit sogleich die Mär, dass nur Männer der unteren Schichten Schläger seien. Amir ist Jurist wie die Ich-Erzählerin. Diese wird von ihrer Kanzlei nach Cruzeiro do Sul, einer Stadt im Südwesten Brasiliens geschickt. Als Berichterstatterin der Gerichtsverfahren in den Fällen von Tötungsdelikten, deren Opfer Frauen sind. Im Rahmen dieser Untersuchung soll die Autorin jeden interviewen: Mörder, Staatsanwälte, Richter, Verteidiger, Ermittler, Zeugen und überlebende Opfer und Angehörige. Eines offenbart sich klar und deutlich: die Täter sind Männer aus allen Kreisen der Gesellschaft: Soldaten, Handwerker, Bauern, Beamte, Studenten, Analpheten oder Akademiker. Sie sind Ehemänner, Freunde, Liebhaber, Brüder, Väter, Stiefväter, Schwager, Nachbarn. Sie stilisieren sich selbst zu Opfern: die Frauen würden sie provozieren, ihnen das Leben zur Hölle machen, sie herabsetzen, betrügen, ausbeuten, aussaugen, überfordern.

Die Leiche eines gefolterten vergewaltigten indigenen Mädchens wird abgelegt im Flussschilf gefunden. Auf dem Rücken im Wasser treibend, geknebelt, mit abgeschnittenen Brustwarzen und Glasscherben in der Vagina. Die drei angeklagten jungen Männer gehören zur Haute volée des Ortes und werden selbstverständlich freigesprochen. Denn Eingeborene sind keine wirklichen Menschen und Frauen noch weniger. Eine Reportage der mutigen Chefredakteurin Rita vom Diario da Estrella über das Leben der drei Playboys kostet sie das Leben. Aber auch die drei jungen Täter ereilt ihr Schicksal. Und die Staatsanwältin Carla findet in dieser Spirale der Gewalt ein ebenfalls ein tragisches Ende.

Eingebettet in diese eindringlichen Mordfälle sind die schamanistischen Reisen der Erzählerin durch Zapira, die sie durch Ayahuasca in Traum- und Wachhalluzinationen das Unsichtbare und das Verborgene in einem Kreis von mit Vogelfedern geschmückten Frauen sehen lässt. Die Frau der Grünen Steine ist ihre Anführerin. Dies sei ein Krieg, ein Gemetzel, eine Epidemie. Und sie stellt die Frage: warum töten wir Frauen nicht? Sind es die anders komponierten Hormone, die gesellschaftlichen Strukturen, die weichere Physis oder weil wir Trägerinnen des Leben sind? Denn die Männer töten nicht nur uns, sie töten die Tiere, die Flüsse, die Wälder und die Meere. Sie töten das Leben.

Die Erzählerin beginnt ein Aufklärungsprojekt: aus gesammelten Fotos und Aufzählungen der Mord- und Folterwerkzeuge, der verunstalteten Körperteile stellt sie eine Website zusammen: gestapeltefrauen.com.

Eine erschreckende Lektüre, bei der die Leserschaft sich schütteln möchte, mit offenem Mund und einem Fragezeichen im Gesicht: ist das möglich? Kann das wahr sein? Femizide sind jedoch kein „exotisches“ Problem. Auch in unseren westlich aufgeklärten Gesellschaften sind Frauen-morde und Gewalt gegen Frauen alltäglich. Sie sind nur subtiler verpackt in den Villen und Reihenhäusern. Geschieht all das im „Hier und Jetzt“, in diesen modernen Zeiten? Oder gerade, weil wir in modernen Zeiten leben?

Frau Melo gebührt großer Dank für ihre augenöffnende Arbeit und ihre intensiven Recherchen,
die uns allen, Frauen wie Männer, zum Nachdenken und Handeln anregen und zwingen sollte.
Sie ist ein Kompass durch den Dschungel, dem männlichen mit seinen „Testosteronalien“ und dem grünwuchernden des Amazonas und der Amazonen, einer bald verlorenen Welt.
Das Buch ist ein Plädoyer für Achtsamkeit im Miteinander der Geschlechter (m/w/d) und für Respekt im Sinne von Kants Kategorischem Imperativ.
Denn: Die Würde des Men

Bewertung vom 02.08.2021
Patasana - Mord am Euphrat
Ümit, Ahmet

Patasana - Mord am Euphrat


ausgezeichnet

Und der Euphrat war Zeuge. Panta rhei.

Ich bin keine große Krimi-Leserin. Und einen türkischen Krimi habe ich noch nie gelesen.

Dabei ist dieser Kriminalroman von Ahmet Ümit eine ganz spezielle Mixtur: da mischen sich zeitgenössische Morde mit Morden, die vor 80 Jahren begangen wurden und verweben sich mit Geschehnissen aus der 2700 Jahre zurückliegenden Vorzeit. Der Roman ist wie ein Teppich und Anatoliens Geschichte ist ein idealer Webstuhl. Hier tummelten sich so viele Völker, bekriegten sich, vermischten sich: die Hethither, die Hatti, die Assyrer, die Urartäer, die Phryger, die Armenier. Und die Namen der Könige glitzern fremdländisch wie gewebte Pailetten.

Die Grundgeschichte ist: ein Team aus Archäologen hat eine hethitische Stadt entdeckt und dort 28 Schrifttafeln in akkadischer Keilschrift unversehrt geborgen. Der Sprachexperte Timothy Hurley bestätigt, dass es sich um Tafeln des 1. Hofschreibers Patasana handelt und dass es seine persönlichen Erinnerungen seien. Es war somit das erste inoffizielle historische Dokument seiner Art.

Das Team setzt sich zusammen aus Esra, der Grabungsleiterin, Kemal, dem verantwortlichen Archäologen, der Fotografin Eilif, Teoman, Murat und Halaf ,dem Koch. Aus Timothy und Bernd, einem deutschen Archäologen.

Die Texte der hethitischen Tafeln korrespondieren alternierend mit den aktuellen Geschehnissen: nämlich Morde in der direkten Umgebung der Archäologen. Der allseits geschätzte und verehrte Haci Settar ist vom Minarett gestürzt worden. Wer war sein Mörder? Waren es fanatische Gläubige oder die kurdische Guerrilla, die seit Jahren die Region in Atem hielt? Oder vielleicht Schatzsucher?
Das 2. Mordopfer war Resat Aga, Führer der Dorfschützen. Man hatte ihn geköpft am Dorfrand gefunden, den Kopf in seinem Schoß. Welche Gemeinsamkeit hatten diese beiden Morde? Haci Setta war friedliebend und ehrwürdig, Resat Aga skrupellos und brutal. In dieser Region galt die öffentliche Rache, um die Ehre wieder herzustellen. Aber nicht diese geheimnisumwitterten Umstände. Das Opfer des 3. Mordes fand man an einem Balken aufgehängt.

Die internationale Pressekonferenz zu den Fundstücken kulminierte in einem Vortrag von Tim. Er beschrieb die Lage der Staaten 700 v.C.: er sah in Patasana einen Vorboten der heutigen Intellektuellen: er hatte sein Denken befreien können, wollte mitteilen, warnen, damit Massaker und die Liquidierung ganzer Völker sich nicht wiederholten. Er hatte die naive Hoffnung, dass der Mensch sich bessere, dass er nicht mehr töte wegen Glauben, Herkunft und Hautfarbe. Aber 2700 Jahre später bleibt der schwarze Fleck im Herzen des Menschen beständig.

Tim selbst war Soldat in Vietnam und sah im Krieg eine Seinsform des Menschen. Kriege banalisieren den Tod. Er ist Massenware.

Die Aufdeckung der Morde und die Enthüllungen dazu sind mehr als überraschend und verbinden sich mit Patasanas letzten Worten: Werdet klug, verwandelt das Leben in ein Fest, feiert das Glück, erlebt Freude statt Tränen und ein Lächeln statt Hass.

In den Texten sind vier Liebesgeschichten eingebettet: die von Patasana. Die von Bernd. Die von Kemal und Eilif und die von Esra und Esref, zwei erwachsene, reife und offene Menschen, vielleicht mit einem Happy End?


Tims exorzistisches Traktat über die Moral des Tötens, des Krieges, der Bösartigkeit und der Friedensmöglichkeit ist wie ein Destillat der menschlichen bellizistischen Vergangenheit und Gegenwart.

Für mich war die Lektüre dieses Kriminalromans nicht nur detektivische Spannung, wer wieso warum?, sondern auch ein Ausflug in die Melting Pot-Geschichte Anatoliens und vor allem in die menschliche Seele.

Und wen es interessiert: Weiterführend zur Disposition des Tötens vielleicht die Lektüre von Theweleits „Männerfantasien“ und Welzers „Täter“. Und ein Nachdenken über das Töten der Neuzeit: da gibt es Breivik, Kindersoldaten, Machetenschwinger, die Kllling Fields, Srebnica, die CIA-inspirierten Foltertmethoden, die

Bewertung vom 02.06.2021
Das glückliche Tal
Schwarzenbach, Annemarie

Das glückliche Tal


ausgezeichnet

Elegie der Einsamkeit und der Freiheit


Annemarie Schwarzenbach war eine rastlos Reisende. Immer umarmt von der Sehnsucht nach Freiheit. Sie stammte aus einer reichen Zürcher Familie, ihr Vater war einer der größten Seidenfabrikanten der Welt, die Mutter und andere Familienmitglieder liebäugelten mit dem Nationalsozialismus.

Schwarzenbach war morphiumsüchtig und mehrfach in Behandlung, auch wegen suizidaler Tendenzen. Sie ist ein Beispiel jener merkwürdigen Zeit, zwischen den Kriegen, in der Schweiz selbst verschont, geschliffen von den Codes einer „abgehobenen“ Gesellschaft, mit internalisierten, lieblosen Gesetzen. Sie selbst beschreibt es so: „Das Leben in der zivilisierten Welt braucht Hilfsmittel, um die unbequemen Träume zu vernichten.“ Ein durchstrukturiertes Leben der Pflichten.

In diesem kleinen Büchlein, das tragisch durchzogen ist von wechselnden Stimmungen und Euphorien der gesuchten und zugleich gefürchteten Einsamkeit, vom Hohen Lied der Freiheit, schält sich schon sehr viel „J’accuse“ der westlichen heuchlerischen Zivilisation heraus und sie war damit ihrer Zeit voraus: „Ich habe den Sitten des Abendlandes den Rücken gekehrt. Und ich frage mich, um welchen Preis erkaufen sie dort den Frieden ihrer Seele? Angst hat Euch gepackt, wenn der Wall Eurer Sitten und Gewohnheiten nicht mehr standhält, Eure Maße und Ziele nichts mehr gelten“ .
Das Tragische an ihrem Leben ist, dass sie weder dort noch hier ihren Seelenfrieden gefunden hat. Vielleicht für Momente in den Umarmungen von Jalé, einer großen fraulichen Liebe, vielleicht in den Begegnungen mit Gauklern, Magiern, Schlangenbeschwörern, Feueranbetern, Haschisch-essern und Opiumrauchern. Vielleicht im „glücklichen Tal“ mit dem Blick auf den sich im Spiel des Lichts immer anders präsentierenden Demawend,

Immer wieder ertönen Heimwehklänge und Angst, den Heimweg als Verlorene Tochter nicht mehr zu finden. Aber auch fast trotzige Passagen: „Man hat nur ein einziges Leben und es will nicht verschwendet und vergeudet sein.“
Annemarie Schwarzenbach hat ihr kurzes Leben trotz aller Zerrissenheit nicht verschwendet und vergeudet. Denn sie war nicht zur Reisende, sie arbeitete an archäologischen Ausgrabungen mit, sie schrieb, sie fotografierte und ihr Nachlass ist ein Bild jener Zeit aus der Feder und mit dem Blick eines ganz besonderen Wesens.

Immer wieder elegische wehmutsvolle Gedanken an die vergehende Zeit: „Man müsste sich erinnern, zurückgehen, Schritt für Schritt, dann würde man sich vielleicht am Anfang wiederfinden. Alles noch einmal sehen, noch einmal zurückkehren.“ Da taucht viel Schmerz auf über das Wechselvolle des Lebens:„mein Gepäck sollte immer leichter werden, keine Gegenstände, keine Namen, keine Bilder, keine Bücher und kein Dach über dem Kopf.“
Aber können solche Wünsche nicht nur entstehen, wenn man eigentlich alles hat? Wenn da als Grundstock der Maslow’schen Pyramide die ökonomische Absicherung vorhanden ist?

Ganz wunderbar in dieser Prosa der Ich-Findung und zugleich der Ich-Entfremdung ist ihre poetische Sprache, ihre übersetzte Sprache der Natur mit wunderbaren Schilderungen des Tals, der Einöde, des Brausens des unsichtbaren Windes, des monotonen Rieselns des Gerölls.
Und die Farbigkeit der nomadischen Nachbarn, der ziegenfilzigen Zelte, der leuchtenden Röcke der Frauen und talabwärts eine andere Natur: Dschungel, Urwald, Reisfelder, Wasserbüffel.

Es ist nicht einfach, sich dem Rhythmus der Sprache und den hin und her springenden Gedanken und Gefühlswelten anzupassen, aber es ist eine Mühe, die sich lohnt.
Ein wichtiges kleines Buch aus einer Zeit, die uns heutigen Lesern so weit entfernt scheint.

Es ist elegisch wie die Duineser Elegien von Rilke, hin und her schwankend wie ein Bambusrohr wie das Glück, das sich der Klage über das menschliche Sein beugt.
Und wer möchte nicht gelegentlich ein Bambusrohr sein?

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 18.05.2021
Asche und Sand
Couto, Mia

Asche und Sand


ausgezeichnet

Ein lusitanisch-mozambikanisches Epos. "The Clash of Civilizations"


Die Mythen des Landes dienen Mia Couto als Inspiration zu seiner Imani-Trilogie.
Hier beschreibt er die Geschichte Mosambiks Ende des 19. Jahrhunderts und den Krieg gegen den König des Gaza-Reiches. Es dominieren zwei gegensätzliche Pole: Portugiesen und Mosambikaner. Europa und Afrika. Imanis Erzählungen sind der rote Faden und jedes Kapitel wird von einem Zitat, Sprichwort oder einer afrikanischen Sage eingeleitet.

Anschaulich werden einzelne Persönlichkeiten gezeichnet wie Imanis Vater, einen Marimba-Spieler oder Pater Rudolfo, ein Mann zwischen zwei Hautfarben und zwei Geschlechtern und seine zauberkundige wundenheilende Gefährtin Bibliana. Die italienische Bordellbesitzerin Bianca Vanzini. Und natürlich König Ngungunyane mit seinen Frauen und sein Gegenspieler Zixaxa.
Germano de Melo, Imanis Geliebter. Andrea Alvaro, Kapitän der Kriegsmarine. Mouzinho de Albuquerque, Oberbefehlshaber, der den König gefangen nimmt.
Im März 1896 erreicht das Schiff Lissabon. Mit an Bord auch die schwangere Imani, auf ein Wiedersehen mit Germano hoffend. Ihr neugeborener Sohn wird ihr weggenommen. Sie wird weder ihn noch Germano je wiedersehen. Germanos letzter Brief ist ein feiger Abschiedsbrief: er liebe sie und sei ihr treu, aber es gebe keine gemeinsame Zukunft, habe es nie gegeben.
Neben der Liebesgeschichte nimmt der Krieg zwischen den Portugiesen und dem König des Gaza-Reiches einen bedeutsamen Platz ein.

Sinistre rassistische Denkgebäude: Die Weißen brauchen einen Feind wie den König. Sie brauchen diesen gedemütigten Herrscher, um den Afrikanern und auch den Europäern ihre Macht zu demonstrieren, als ob sie die Herren des Kontinents seien, von dem sie nichts wissen und nichts kennen außer ein paar Weilern. Sie sehen in den Afrikanern nur gottlose, feiernde, singende und tanzende Wesen. Europa hat Afrika nicht erobert.

Imani, eine starke junge Frau, die sich zwischen den beiden Welten wie ein Fisch im Wasser bewegt und die doch der eigenen Herkunft, dem eigenen Schicksal nicht entgehen kann, strahlt wie ein Leuchtturm in diesem umfangreichen Werk.
Mia Couto skizziert ein Panorama der Menschheit mit eindrucksvollen Wort-Bildern und verbindet historische Fakten mit afrikanischen Mythen.

Ganz unerwartet der narrative Schluss, ein gekonnt eingesetzter stilistischer Überraschungseffekt dieses Romans, aus dem die Traurigkeit über die Unvereinbarkeit der Welten, der Menschen, der Seelen atmet. Mia Couto ist es gelungen, in ausführlichen Schilderungen die komplexen Denk- und Handlungsweisen beider Parteien zu schildern. Die Fotos einiger real existierenden historischen Personen aus im Anhang komplettieren dieses unbedingt lesenswerte, unbedingt empfehlenswerte Buch.
Eine Metapher der afrikanischen Denkweise: Schuhe statt bloßer Füße. Die Schuhe werden Teile Deines Körpers werden. Deine Schritte werden nie mehr Deine eigenen sein. Du wirst Wege beschreiten, die Dich von dir selbst weit weg führen. Und wenn Du die Schnürsenkel zusammenziehst, wird es Deine Seele sein, die Du einschnürst.

Bewertung vom 21.03.2021
Die von Europa träumen
Sunjic, Melita H.

Die von Europa träumen


ausgezeichnet

Ein feste Burg ist...??!!

Die Autorin lebte selbst mehrere Jahre in einem Flüchtlingslager. Nach dem Studium arbeitete sie als leitende Pressesprecherin des Flüchtlingshilfswerks der UNO, war in Afghanistan, im Sudan und im Irak im Einsatz. Sie entwickelte sie die Kampagne "www.tellingtherealstory.org", eine digitale Plattform für die Menschen aus den betroffenen Ländern. So ist ihre Kritik an den Umgang der Politik mit den Flüchtlingsbewegungen profund, nachvollziehbar und geprägt von eigenen Erfahrungen.

Sie beschreibt 9 Einzelschicksale: Asif aus Afghanistan, Djamal und Becca aus Syrien, Berhane aus Eritrea, Dorine aus Kamerun, Karim aus Syrien, Mamadou aus dem Senegal, Imani und Idris aus Somalia, Nihad aus dem Irak. Die wenigsten wussten Konkretes über das „Europa“ und was sie dort erwartete. Alle waren von den Posts in den sozialen Medien geblendet, mit denen sich Freunde und Bekannte präsentierten. Allen gemeinsam der traditionelle soziale Hintergrund: Schande und Ehrverlust für die Familie, wenn sie erfolglos zurückkehren würden. Sie selbst posteten ebenfalls Erfolgsmeldungen und taten nichts, um dieses Perpetuum aufzubrechen, obwohl sie gescheitert waren.

In der Realität wurden sie konfrontiert mit überfüllten Heimen und einer überlasteten Bürokratie, die oft Jahre brauchte, um die Asylanträge zu bearbeiten. Und nicht zu vergessen, die Ablehnung, geschürt durch einige Politiker und folgsame Medien: ein Cocktail mit inflationären Zahlen, den man wunderbar für die eigenen Zwecke mixen kann mit Begriffen wie Überfremdung, Islamisierung der christlich-jüdischen Kultur (sic!!), Testosteron gesteuerten Jungmännern, die von blonden Germaninnen träumen. ´
Bei der Lektüre überkamen mich Wut, Enttäuschung und Scham. Alle Fakten waren mir bekannt, sie aber noch einmal so detailliert zusammengefasst zu lesen, war erschreckend. Da werden von der europäischen Union Millionen Euros verteilt wie im Grimm’schen Märchen „Sterntaler“, nur dass das Geld oft in intransparenten Kanälen versickert.

Die Autorin erklärt explizit die Unterscheidung zwischen Flüchtlingen und Migranten, letztere hier als Wirtschaftsflüchtlinge tituliert. Auch sie müssen ein Asylverfahren durchlaufen, obwohl sie arbeiten und lernen wollen, um dann in die Heimat zurückzukehren. Ihre Kenntnisse und Erfahrungen wären eine Bereicherung für ihr Ursprungsland und ein Faktor, die dortigen Verhältnisse zu verbessern.
Melita Šunjić unterbreitet Vorschläge zu einer ganzheitlichen Veränderung, die nicht nur bruchstückweise an den Symptomen herumdoktert. Ein erster Schritt: ein Masterplan, so dass Migranten befristete Arbeitsvisa bekommen könnten. Des weiteren: die Flüchtlinge in den Erst-Asylländern besser zu versorgen, das sei kostengünstiger und sicherer für alle. Die meisten wollen lieber in ihrem eigenen Kulturkreis bleiben und somit wäre die Sekundär-Migration leichter einzudämmen. Der allerwichtigste Schritt jedoch: die Schleppernetzwerke, die Menschenschmuggler und -händler vernetzen, zu unterwandern. Denn das ist ein mafiöses, perfekt organisiertes internationales Business. Die aufgegriffenen Helfer sind nur kleine Fische, wie kleine Straßendealer. Die Köpfe sitzen ganz oben, mit weißen Westen als Schreibtischtäter.


Eine eindringliche empfehlenswerte Lektüre, die dem, der gewillt ist zu sehen, die Augen öffnet über eine Politik, die sich mit Mäntelchen wie Humanität, Verfechter von Menschenrechten wortreich umhüllt.

PS: Auch die meisten europäischen Auswanderer nach Amerika hatten ihren Traum von einem besseren Leben und waren nach heutiger Definition Wirtschaftsflüchtlinge.
PS: Es gibt einen interessanten Roman des Somaliers Abdourahman Waberi: “Die Vereinigten Staaten von Afrika.“ Vielleicht wird sich das Schicksal der Europäer in klimawandlerischen Zeiten einmal umdrehen? Nobody knows.

Bewertung vom 02.03.2021
Das Leere und das Volle
Bouvier, Nicolas

Das Leere und das Volle


ausgezeichnet

Sesam öffne Dich.

Was fällt uns spontan zu Japan ein? Die klassischen Schlagwörter wie Zen. Teezeremonie. Geisha. Kimono. No-Theater. Shinto. Harakiri. Kamikaze. Samurai. Tusche. Hokusai. Kirschblüte. Bogenschießen. Sushi. Aikido. Tätowierung. Bonsai. Ikebana. Tatami. Futon. Yakuza. Und ganz modern und aktuell: Mangas und Hikikomori. Und natürlich ein klassischer Film wie „Rashomon“ oder die Romane von Murakami.

Nein, dies ist kein klassisches Reise-Buch. Hier geht es um die Andersartigkeit Japans: seiner Menschen, seiner Kultur und seiner Traditionen. Es ist kein Wegweiser zu Museen mit Öffnungszeiten, zu land-schaftlichen Highlights, zu Tempeln und Schreinen. Es mag ein „Sesam öffne Dich“ zur japanischen Seele sein….

Die Notizen von Nicolas Bouviers aus den Jahren 1964 bis 1970 zeigen ein Japan der Vormoderne. Inzwischen hat sich im Land selbst vieles verändert und die Gratwanderung zwischen Tradition und Moderne scheint aufgeweichter zu sein. Denn Japan ist ein Land, mehr als alle anderen Länder?, der Traditionen, der festen Verhaltens-regeln, ein „starrsinniges“ Land.

Damit hadert Bouvier, ein weit gereister Mann und Asien-Kenner, oft. Es sind subjektive Gedanken-splitter zu der japanischen Kultur, zu den japanischen Menschen und natürlich beeinträchtigt durch die Eigenaussage: „Ich schreibe über ein Land, dessen Sprache ich nur rudimentär beherrsche und dessen Schrift ich nicht lesen kann.“
Bis ins 19. Jahrhundert war Japan ein abgeschlossener Archipel: ein total abgekapseltes System. So dass dieses Japan, wie Bouvier es beschreibt, einem weltoffenen Fremden es nicht leicht macht, einzutauchen in seine Seele und seine Kultur, Distanzen zu überwinden.

Natürlich schreibt Bouvier vom Zen, von der Teezeremonie, vom No-Theater, von Landschaften, von Menschen, aber mehr noch lese ich in seinem Buch eine Art Psychogramm der Menschen. Land und Menschen wirken wie gepanzert und verschlossen wie Entenmuscheln. Zeremonien und Rituale seien dazu da, „um einen aus Leere bestehenden Kern zu rechtfertigen, um den man diesen Panzer aufbaut.“
Immer wieder stößt Bouvier an die Grenzen des Individuums. Regeln befolgen und akzeptieren, blockierende Verpflichtungen, dem Glück misstrauen, rigorose Disziplin, Mangel an Heiterkeit, Improvisation und Spontaneität, falsche Höflichkeiten und feste Verhaltenskodexe, Furcht vor Einsamkeit und Einzelgängern, Ehrerbietung und Fügsamkeit, das Lächeln – ist es aufrichtig oder geheuchelt?, das Gesicht verlieren.

Bouvier gelingt es anschaulich und hinterfragend, uns diese so anders aufgebaute und gestaltete Gesellschaft zu schildern. Seine eigenen Gefühle mitzuteilen. Beschreibt die Leere und die Fülle.

Es gilt den Zen-Lehrsatz zu verinnerlichen: Man müsse zuerst selbst die Augen öffnen, bevor man die der anderen öffnen kann. An seinem Platz bleiben und lernen aus dem Fenster zu schauen.
Ich begnüge mich mit der aufschlussreichen und zum Nachdenken und Nachforschen anregenden Lektüre dieses Buches.

Bewertung vom 15.02.2021
Rue du Pardon
Binebine, Mahi

Rue du Pardon


ausgezeichnet

Rue du pardon. Von Mahi Binebine.

Der Tanz des Lebens.

Mahi Binebine ist ein marokkanischer Schriftsteller. Seine Bücher sind von gesellschaftspolitischer Kritik geprägt.
Sein aktuelles Buch „Rue du pardon“, dessen Narrativ den Aufstieg aus der „Gosse“, den Zusammenhalt unter Frauen und die Doppelmoral der marokkanischen Gesellschaft aufzeigt. Er verbindet das Leben zweier aussergewöhnlicher Frauen, die sich in ihren Platz an der Sonne erkämpfen.
Ausgangsort ist eine bescheidene Gasse in einem bescheidenen Viertel von Marrakesch.
Die Erzählerin Hayat („das Leben“) mit ihren blonden Locken, die im Tratsch der schwarzhaarigen Nachbarschaft zu etwas Fremdartigem, Unmoralischem stilisiert werden, lebt in einer Atmosphäre der Düsternis mit einer schweigenden Mutter und einem übergriffigen, missbrauchenden Vater.
Sie entkommt dieser gewalttätigen Tristesse mit 14 Jahren und findet Unterschlupf bei einer Nachbarin, der berühmten Serghinia. Einer bauchtanzenden Künstlerin, die zu ihrer Familie, Freundin und Gönnerin wird. In ihrem „Nähstübchen“mit der schwarz-goldenen Singer-Maschine im Kreise vieler Frauen, die nähen und sticken, plaudern und tratschen, literweise Minztee trinken und sich mit Baklava füllen lernt sie das Lachen, die Zärtlichkeit und die Verbundenheit unter Frauen in einer dominierenden Männerwelt. kennen. Man könnte dies als feministische Aussage werten. Ich sehe darin eher Reminiszenzen an ein verblasstes Matriarchat.
Bei Serghinia, die zu ihrer Mamyta wird, lernt sie das Königreich des orientalischen Tanzes kennen, eine Welt des Körpers und der Sinnlichkeit. Der Körper als Instrument, das mit wilden Schwingungen alle Körperteile erfaßt. Isolierte Bewegungen zu einem fließenden, harmonischen Gesamtbild modellierend. Ein erotischer Tanz mit seinem archaischen Ursprung in Fruchtbar-keitsriten.
Der Tanz ist ein Meisterwerk, der jahrelange Übung und Lebenserfahrung erfordert. Kühle Technik wie sie in speziellen Bauchtanzkursen gelehrt werden, erreicht niemals das pralle Lebensgefühl und die mittanzenden Traditionen.

Unter Mamytas Obhut wird Hayat zu einer erwachsenen selbstbewussten jungen Frau, die sich aus dem Käfig ihrer Kindheit befreit. Sie wächst hinein in dieses tanzende Leben, das von den Reichen wie von den Armen bejubelt wird: da wechseln sich sexueller Frust und Leidenschaft, Verrufenheit und Anrüchigkeit bis hin zu kollektiver Hysterie ab.

Wichtig für jede Tänzerin und ihre Truppe sind die Männer, die ihnen den musikalischen Background, den rhythmischen Anstoß liefern. Und eine ganz wichtige Persönlichkeit in diesem aussergewöhnlichen „Familienroman“ ist Omar, Ex-Ehemann der großen Serghinia, der als Portier im Grand Palace-Hotel zu einer lebenden Legende wird. Er ist für Hayat der „Großvater“, ein zärtlicher, aufmerksamer, großherziger Großvater mit einer Adlernase und schalkvollen Augen.

Diese schillernde glitzernde Welt wird durch Boshaftigkeit und Neid und durch eine Unze Hyänenhirn, 1 Teelöffel spanische Fliege, eine Handvoll Couscous aus dem Mund eines Verstorbenen, der Milz einer Kröte, dem Auge eines Wiedehopfs und dem Ei eines Chamäleons und geriebenem Horn eines unfruchtbaren Ziegenbocks zerstört. Und nimmt nach dem Tod Mamytas und 10-jähriger Absence von Hayat einen neuen Weg. Wie Phönix aus der Asche geht sie den Weg des Triumphes bis in den Königspalast. Denn die Menschen brauchen Träume, Tanz und Musik. Und sie geht ihren Weg zurück in die Vergangenheit.

Binebines Roman ist eine Hymne an die Kunst, an die Leidenschaft und an die Freundschaft, ein Plädoyer für den Mut zur Freiheit. Er ist eine Ode an das sinnliche Leben, an den sinnlichen Tanz.
Er ist ein Pas de deux zweier Frauen, zweier Künstlerinnen, die sich selbst gefunden und in einer Männerwelt behauptet haben.Der Autor konfrontiert seine Leserschaft mit den Themen Männerwelt vs. Frauenwelt, Befreiung aus materiellem und mentalem Elend, Selbstfindung. Und das ist eben nicht nur exotisch, sondern im Hier un

Bewertung vom 07.01.2021
Die Ameiseninsel
Kemal, Yasar

Die Ameiseninsel


sehr gut

Vom großen Unglück und vom kleinen Glück, Vertreibung und Krieg, Heimat und Freundschaft.

Yasar Kemal ist ein sozialkritischer und politischer Autor mit Anregungen zum Hinterfragen der Gegebenheiten. Wieso warum wozu weshalb?
Hintergründige Hauptthemen dieses Romans sind die Kaukasusfront des 1. Weltkriegs und der Bevölkerungsaustausch von Griechen und Türken.
Nach dem Zusammenbruch des „Kranken Mannes am Bosporus“ marschierten griechische Nationalisten in Anatolien ein, wurden jedoch zurückschlagen. Der Friedensvertrag von Lausanne von 1923 beinhaltete die Rückkehr von über einer Million Griechen und einer halben Millionen Türken. Alle in der Türkei lebenden Griechen werden nach Griechenland zwangs-umgesiedelt so wie ihr türkisches Pendant von Griechenland in die Türkei. Niemand dieser beiden Volksgruppen ging freiwillig: was sollten sie dort in der Fremde? Und was sollte sie dort erwarten? Offene Arme, freudige „Seid Willkommen“-Rufe? Oder Misstrauen und Missgunst: was wollen die hier, was sollen die hier? Die nehmen uns Land weg, die nehmen uns Arbeit weg…..ein altbekanntes Lied.

Die Protagonisten sind Musa der Nordwind, der ein Haus und eine Mühle kauft auf der Insel kauft und Vasili Atoynaranoglu. Der erste komm als Fremder, um hier ein Refugium, Frieden und eine neue Heimat zu finden, der andere stammt von hier und weigerte sich, zu gehen.
Wunderbare Naturschilderungen, poetisch, leuchtend und duftend, manchmal fast ein bisschen zu schwelgerisch. Eine flügelschlagende, wellenbrechende, blumige Poesie.

Und die Menschen: Panos Valyanos – der beste Fischer weit und breit. Hat allen das Fischen beigebracht. Ohne ihn wäre das Meer kein Meer, die Insel keine Insel, der Fisch kein Fisch. Rais Yani, der alle Steine im Meer kannte, der es anbetete und der die Sprache der Fische sprach. Yordanis Güzeloglu, der einfüßig aus dem Krieg heimkehrte, aber sein Lächeln nicht verloren hatte, der sogar über den verloreren Fuß ein Lied singen konnte. Lena Papazoglu, einstmals besungen und gerühmt: Heute eine alte gebeugte Frau. Hadschi Remzi Bey, der dem Perikles Karagüloglu die goldrandigen Teller, die Kelims und die Sessel und vor allem sein Boot abkaufen wollte. „Und wenn Du es mir nicht verkaufen willst, lasse ich Deiner Tochter Gewalt antun.“
Die menschliche Triebfeder der Habgier: auch hier wiederholt sich Geschichte der ewigen Profiteuere von Vertreibungen.

Vasili wird immer wieder heimgesucht von grauen erregenden Kriegserinnerungen: die Schlacht von Sarikamis: 10.000 erfrorene Soldaten der Allahuekber-Berge. Ein Wald der Schneemänner. Ein Bild, das sich durch die Retina des Lesers in seinem Gehirn abspeichert.

Musa jagte mit seiner Einheit Jesiden, raubte und plünderte, watete in einem Meer aus Blut. Auch hier ein Bild, das einen nicht losläßt: Abgeschnittene Brüste im Wüstensand. Jesiden waren schon damals ein Fremdkörper im „Volkskörper“. Auch hier wiederholt sich die Geschichte. Oder ist die Vertreibung und Mordung der Jesiden durch den IS schon wieder aus dem kollektiven Gedächtnis entschwunden?.
Er findet Ruhe und Heimat auf der Ameiseninsel mit Vasili, der alten Lena und Kapitän Kadri und dessen Mutter. Kadri, der mit sieben Jahren als Lehrling bei Panos, dem besten Fischer, begann.
Ein Roman mit Happy end also? Ein stilisiertes Paradies?

Der Roman ist orientalisch ausschmückend, voller wundersamer Bilder, die im Kopf bleiben. In langen Passagen und langen Weilen erfühlen wir das Glück der Natur, in Düften und Farben, lebensprall, zartblütig. Die Gegenüberstellung menschengemachter Grausamkeit und der Natur: „Die Schönheit der Welt ohne Menschen. Sollte es der Mensch sein, durch die sie hässlicher und schmutziger wird? Aber ohne die Wärme eines Menschen wird die Welt eiskalt“.

Es ist ein politisches Buch voller Schönheit und Grausamkeit und zugleich eine Hymne auf das Leben.

Bewertung vom 10.11.2020
Die Geheimnisse des Roten Meeres
Monfreid, Henry de

Die Geheimnisse des Roten Meeres


ausgezeichnet

Alles Schrifstellerleben sei Papier, heißt es.

Henry de Monfreid lockte die Liebe zur Freiheit in ein Abenteuerleben am Horn von Afrika unter Piraten, Waffenschmugglern, Perlentauchern und Sklavenhändlern. Er entführt uns in diese entfernte Weltgegend, wo Franzosen, Briten, Türken und Italiener ihre „Claims“ abgesteckt hatten und um Besitz und Einflussnahmen rivalisierten.
Er schreibt autobiographisch, sein Leben speist sich aus Wagemut, Unbekümmertheit und seinem Freiheitsrausch: ohne erfundene Ausschmückungen abenteuerlicher Phantasien wie bei Karl May. Weder Jack London, noch Lawrence of Arabia, Thesiger oder Richard Burton waren bei ihren Reisen so sehr auf die persönliche Freiheit fixiert.

Er kauft eine Dhau, um mit der Perlenfischerei finanziell ein freier Mann zu bleiben. Er trifft er auf windige Händler von Perlen, Waffen, Sklaven und Drogen und auf Piraten. Er bewundert das einfache Leben der Völker und Stämme. Das Leben seiner zivilisierten Zeitgenossen sieht er fremdbestimmt und eingeengt von Gendarmen und Zöllnern, Gefängniswärtern, Soldaten und Gouverneuren. Er kleidet sich wie die Einheimischen, spricht Arabisch und achtet ihr Wesen, ihre Mentalität und Religion. Er konvertiert sogar zum Islam.

Das Buch enthält Sozialkritik und Auflehnung gegen den Hochmut der Weißen, Nachdenkliches über den Einfluss des Westens auf das Leben und die Kultur. Er konstatiert auch bei sich selbst eine koloniale Denkweise, die er aber er hinterfragt. Exotische geographische Namen tauchen auf (Vorschlag an den Verlag: die Integration einer kleinen Karte zur Orientierung). Menschen werden vorgestellt wie Ato Joseph, Jaques Schouchana, Zanni, Said Ali, Cheik Issa, Sergent Chevet, sein Freund Lavigne, Monsieur Cocalis und die verschiedenen Beamten.

De Monfreids Lebensbericht endet durch Intrigen: natürlich ist ein intelligenter freiheitsliebender Mann, der die schon damals üblichen Manipulationen um Macht und Geld aufdeckt, den engstirnigen moralinsaueren Hütern von Recht und Ordnung ein Dorn im Auge.

Dieser Roman ist ein lebenspralles authentisches Werk, nicht zu vergleichen mit der heutigen
Reiseliteratur, die privilegierte Aussteiger-Literatur ist. Anschaulich werden die einzelnen Charaktere der indigenen Bevölkerung wie der ansässigen Weißen skizziert. Meereslandschaften beschreibt er aufwühlend und farbig: Meerespoesie. Aber auch die erdigen und himmlischen Landschaften sind mitreißend poetisch verewigt. Seine Sprache ist malerisch, wie mit dem Pinsel geschrieben.

Wer ein Faible für das Meer hat, wer wahrheitsgetreue virile Abenteuer in exotischen Landstrichen und Meeresbuchten schätzt – dem Seemännischen wird in epischer Breite gehuldigt – wer zudem noch wissbegierig ist zu nicht alltäglichen Fakten, für den ist dieses Buch ein Schatzkästlein.
Dieses ist wahrhaftig kein papiernes Schriftstellerleben, sondern strotzend vor Leben. Es ist ein Beweis für Amor fati.


Interessant, das Damals mit dem Heute zu vergleichen: überall der Orient klischeehaft in Szene gesetzt, kaum noch Ursprüngliches.

Bewertung vom 10.11.2020
Spaziergänger Zbinden
Simon, Christoph

Spaziergänger Zbinden


ausgezeichnet

Ein Mensch, der spaziert, kann überhaupt nicht unglücklich sein.

Ich hätte nicht erwartet, von einem Poetry Slammer einen so wunderbaren, einfühlsamen Text zu lesen. Ein sensibler Text von einem jungen über einen alten Mann. Ein Text, der achtsam und zugleich gekonnt die Erinnerungsebenen mischt, liebevoll, zart und humorvoll, kombiniert mit scharfer Beobachtungsgabe, dem Leser die spaziergängerische Philosophie des Lukas Zbinden nahebringend.

Er mischt die Erkennnisse des alten Lehrers und seines langen Lebens mit den Kurzbiographien seiner Mitbewohner in einem Berner Altersheim, er stellt sie Kazim, von dem man nicht viel mehr erfährt, als dass er Zivildienstleistender ist und rudert, erzählerisch mit ihren Charakteristika und ihren kleinen Macken vor.
Er lässt uns treppauf, treppab durchs Seniorenheim tapern, immer in Begleitung von Kazim. Er erzählt, und was Kazim fragt oder antwortet, bleibt offen. Aber immer und überall, im Vordergrund wie auch im Hintergrund, ist die große Liebesgeschichte von Emilie und Lukas präsent: Denn es gab ein Leben vor dem Altersheim.

„Wenn ich noch hundert Leben hätte, ich würde immer wieder Spaziergänger werden wollen.“
„Aber alles Schwierige, Wahrhaftige, Bereichernde erschließt sich niemals beim ersten, schnellen Gebrauch: Die Orgelwerke von Bach, die Dramen von Shakespeare, die Geheimnisse des Weltraums oder die Decke der Sixtinischen Kapelle. Alles braucht eine tiefe, sich vertiefende, liebevolle Annäherung.“

Man versinkt in einer fast meditativen Lektüre und kann dieser Liebeserklärung an das Leben nur zustimmen. Denn der Spaziergang ist nur eine Metapher für achtsame Wahrnehmung der kleinen Glücksmomente am Wegesrande. Wege wie Perlen auf einer Schnur:
Wege, die eine Ode an die Sonne singen. Schwache Wege, hinterhältige Wege, tyrannische Wege, verspielte Wege, einsiedlerische Wege, verspielte Wege, weise Wege, wohlbeleibte Wege, düstere Wege. Wege als Mikrokosmos im Makrokosmos.

Christoph Simon hat uns wie sein Landsmann Robert Walser mit dessen Erzählung „Der Spaziergang“ ein Kleinod geschenkt: voller Herzlichkeit und Weisheit, voller liebevoller Erinnerungen und auch voller Wehmut.