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Havers
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Insgesamt 1378 Bewertungen
Bewertung vom 23.03.2023
Zeit der Schuld
Kapoor , Deepti

Zeit der Schuld


ausgezeichnet

Deepti Kapoors „Zeit der Schuld“ ist der erste Band einer geplanten Trilogie und startet mit einem Paukenschlag, wobei die Autorin sich nicht mit einleitenden Beschreibungen oder Floskeln aufhält, sondern uns schon mit den ersten Sätzen in einen Roman hineinwirft, der uns hinter die Fassaden eines vom Kastensystem geprägten Landes blicken lässt, in dem jeder einzelne schon von Geburt an seinen Platz in der Hierarchie zugewiesen bekommt. Ein Land, in dem Herkunft noch immer mehr zählt als Leistung, in dem korruptes Verhalten quasi zum guten Ton gehört, Moral ein Fremdwort ist.

Wir sehen die dunklen Seiten einer Nation der Extreme. Auf der einen Seite diejenigen, die das Sagen haben und sich ihren Wohlstand selten auf ehrliche Weise verdient haben, auf der anderen Seite diejenigen, die deren Befehle ohne Widerspruch ausführen. Und dann ist da noch die bettelarme Mehrheit, die unter untragbaren Bedingungen ihr Leben fristet. Sichtbar für alle, aber diejenigen, die die Möglichkeiten und die Mittel hätten, die Zustände zum Besseren zu verändern, sind in erster Linie mit sich selbst beschäftigt.

So auch die drei Protagonisten, die wir in diesem Roman begleiten. Alle sind auf der Suche nach ihrem wahren Ich: Ajay, der vom Aufstieg träumt, eines Tages als reicher Mann in sein Dorf zurückkehren will. Er wurde als Kind nach dem Tod des Vaters wie ein Stück Vieh in die Berge verkauft, wo er für seinen Lebensunterhalt schwer schuften musste. Als sein Besitzer stirbt, schlägt er sich mit Gelegenheitsarbeiten durch, bis er eines Tages auf Sunny Wadia trifft, ein typischer Playboy, der seine Tage mit ausufernden Partys verbringt, aber auch der Sohn eines skrupellosen Gangsterbosses aus Delhi. Sunny hat ambitionierte Pläne, sieht ein Leben als Philanthrop vor sich, der Gutes tun möchte. Aber das muss warten, bis er das Erbe seines Vaters antreten kann. Er nimmt Ajay mit in die Metropole, und dieser setzt alles daran ihm zu gefallen, unentbehrlich zu werden. Er ist Sunny absolut ergeben, dient sich hoch, gewinnt sein Vertrauen und wird dessen Leibwächter. Die Dritte im Bunde ist die aus einer Mittelschichtsfamilie stammende Neda, Journalistin und Sunnys Freundin, die die gesellschaftlichen Widersprüche zwar registriert, sich aber keine Gedanken über deren Ursachen macht. Alle drei haben ein idealisiertes Bild von sich und einer Zukunft vor Augen, die mit Sicherheit einer Überprüfung nicht standhalten wird.

Ein Gangsterepos und ein Familienroman, brutal und zärtlich gleichermaßen, der den Finger in eine seit Jahrhunderten schwärende Wunde legt. Die Art und Weise, in der Kapoor diese Geschichte erzählt ist brillant, geprägt von dem Prinzip des Show, don’t tell mit den kurzen, knappen Sätzen, die auf den Leser einprasseln. Dazu eine vielschichtige, düstere Handlung, die uns tief in die Abgründe des heutigen Indien mitnimmt, uns die dunklen Seiten einer Gesellschaft zeigt, die nichts mit den glamourösen Bollywood-Filmen gemeinsam hat. Anrührend, schockierend, beeindruckend. Lesen!

Bewertung vom 20.03.2023
Das wahre Motiv / Offizier Gryszinski Bd.2
Seeburg, Uta

Das wahre Motiv / Offizier Gryszinski Bd.2


ausgezeichnet

1895, Faschingszeit in Schwabing, dem verruchten Viertel, das wegen seiner lockeren Sitten von den Einheimischen mit Argusaugen betrachtet wird. Kein Wunder, man weiß ja, das die dort ansässigen Künstler ein lockeres Völkchen mit eigener Moral sind. Diese Sichtweise teilt auch Wilhelm Freiherr von Gryszinski, Major der preußischen Armee und Königlich Bayerischer Sonderermittler, ein Zugereister, und ausgerechnet er muss im Zuge einer Mordermittlung in diesen Sündenpfuhl eintauchen.

Gryszinski wird von Polizeidirektor Welser zum Fundort einer Leiche beordert, wo ihn ein ungewöhnliches Arrangement erwartet. Es scheint, als ob der Tote, ein junger Mann, auffallend gutaussehend, sorgfältig hindrapiert wurde. Im Laufe der nachfolgenden Ermittlungen wird sich dieser Eindruck bestätigen, denn die Szene stellt ein mythologisches Motiv nach, das in der Malschule des slowenischen Künstlers Anton Ažbe, in der der Tote als Modell arbeitete, als Vorlage dient. Als kurz darauf eine zweite Leiche auftaucht, ebenfalls als Modell tätig und effektvoll in Szene gesetzt, wird die Vermutung laut, dass ein Serientäter im Künstlermilieu seine Opfer sucht. Die Zeit drängt, und Gryszinski muss sich unter Schwabings Bohème mischen, um weitere Tote zu verhindern.

Veränderung liegt im ausgehenden 19. Jahrhundert in der Luft. Es ist eine Zeit, die von gesellschaftlichem Wandel geprägt ist. So muss auch Gryszinski in diesem zweiten Band der Reihe sich mit Neuem auseinandersetzen und sein Wertesystem hinterfragen, wenn er in die Münchner Künstlerszene eintaucht, die von so illustren Persönlichkeiten wie den Malern Anton Ažbe und Franz von Lenbach, aber auch dem Schriftsteller Frank Wedekind geprägt wird.

Wie bereits in „Der falsche Preuße“ brilliert Uta Seeburg auch im zweiten Band der Reihe mit historischen Fakten, gekonnt verwoben mit passenden atmosphärischen Beschreibungen und den Einblicken in die verschiedenen gesellschaftlichen Schichten, zu denen der Protagonist qua Herkunft und Beruf Zugang hat. Sehr interessant sind natürlich auch die Methoden zur Spurensicherung in der damaligen Zeit, aber auch hier kündigt sich langsam ein Wandel an, hat doch Gryszinski den Auftrag, diese neuen Erkenntnisse im Polizeialltag einzuführen und zu verankern. Und nicht zuletzt gibt es dann ja auch noch die Mentalitätsunterschiede zwischen Bayern und Preußen, die die Autorin mit liebevollem Augenzwinkern beschreibt.

Ein spannender, sehr unterhaltsamer und intelligent geplotteter Kriminalroman, der sowohl inhaltlich als auch sprachlich sämtliche Erwartungen erfüllt. Gerne mehr davon!

Bewertung vom 19.03.2023
Die Bibliothek der Hoffnung
Thompson, Kate

Die Bibliothek der Hoffnung


ausgezeichnet

Während des Zweiten Weltkriegs hatte speziell das dichtbesiedelte Londoner East End unter den wiederholten Bombenangriffen der deutschen Luftwaffe zu leiden. Tausende Menschen kamen ums Leben, und die, die überlebten, verloren durch die Bombardierungen, bei denen unzählige Häuser dem Erdboden gleich gemacht wurden, das Dach über dem Kopf. Unter dem Druck der Bevölkerung beschloss die Regierung, U-Bahnstationen zu Luftschutzbunkern umzufunktionieren, und so suchten zwischen 1940 und 1945 ca. 63.000.000 Menschen Schutz in den Londoner U-Bahnhöfen. So auch in der noch im Bau befindlichen Station Bethnal Green, in deren Tunneln und Bunkern nach und nach eine Stadt unter der Stadt entstand, wo es neben 5000 Schlafplätzen und warmen Mahlzeiten auch ärztliche Versorgung, ein Theater, Kinderbetreuung und eine Bibliothek gab.

Soweit die historisch belegten Tatsachen, die den Hintergrund für Kate Thompsons 1944/45 zeitlich verorteten, warmherzigen und dennoch nie kitschigen Roman „Die Bibliothek der Hoffnung“ bieten.

Das Herz dieser Bücherei sind die Bibliothekarin Clare, eine junge Witwe, und ihre Assistentin Ruby, die seit dem Tod ihrer Schwester (bei der Massenpanik 1943, ebenfalls historisch verbürgt) mit Schuldgefühlen und Panikattacken kämpft. Diese beiden halten den Laden am Laufen, auch wenn ihnen ihr Vorgesetzter immer wieder Knüppel zwischen die Beine wirft. Die beiden Frauen verleihen nicht nur Bücher, sie sind nicht nur für die meist weiblichen Bewohner des Shelters mittlerweile ein unverzichtbarer Bestandteil ihres Alltags geworden und unterstützen sie bei ihren Problemen. Manches geschieht offiziell, wie beispielsweise die abendlichen Vorlesestunden für die Kinder und deren Betreuung unter Tag, oder der Lesekreis für die Erwachsenen, der Abwechslung in das triste Leben zwischen Fabrikarbeit und täglichen Pflichten bringt. Anderes läuft unter der Hand, wie beispielweise die Verteilung der Broschüren über Empfängnisverhütung oder die Ermunterung und Hilfe für die Frauen, die ihre prügelnden Männer verlassen wollen. Aber Clare hat auch ein Auge auf Kinder, die ihr Potential ohne Förderung nicht entwickeln können oder ohne elterliche Fürsorge auskommen müssen. Ihnen bietet sie Unterstützung im Alltag und kümmert sich rührend um sie. So weit, so gut. Aber natürlich kommt neben diversen dramatischen Ereignissen auch die Liebe nicht zu kurz, schiebt sich aber weder in den Vordergrund noch überlagert sie das eigentliche Thema.

Kate Thompson hat eingehend für diesen Roman recherchiert, was das Nachwort und die ausführliche Literaturliste am Ende des Romans belegt. Sie verbindet gekonnt Fakten und Fiktion und lässt uns in abwechselnden Kapiteln aus der Sicht von Clare und Ruby am täglichen Leben in dem vom Krieg gebeutelten East End teilhaben. Aber vor allem ruft sie uns die Bedeutung von Bibliotheken und Büchern in schweren Zeiten ins Gedächtnis, die Hoffnung und die Zuversicht, die sie verbreiten, ihre helfende und heilende Wirkung, wenn Verlust und Zerstörung den Alltag bestimmen.

Nachtrag: Vor vielen Jahren habe ich die Kanalinseln besucht, weshalb ich die Beschreibungen über das Leben auf Jersey nach der Invasion der deutschen Truppen sehr berührend fand. Von Churchill und dessen Regierung wurden sie im Stich gelassen, weil ihnen kein strategischer Wert zugemessen und sie deshalb nicht verteidigt und zur leichten Beute der Nationalsozialisten wurden. Was folgte waren fünf Jahre Leid, Bespitzelung, Terror, Konzentrationslager und Tod für viele Menschen.

Bewertung vom 15.03.2023
°C - Celsius
Elsberg, Marc

°C - Celsius


gut

Wir erinnern uns. Als vor einigen Wochen unbekannte Flugobjekte am Himmel über den Vereinigten Staaten auftauchten, war die Aufregung groß. Spekulationen über deren Sinn und Zweck schossen ins Kraut, von Wetter- bis Spionageballon war alles dabei.

Als hätte er vermutet, dass es kurz oder lang zu einem solchen Ereignis kommen könnte, nutzt Marc Elsberg eine ähnliche Ausgangssituation zum Einstieg in seinen neuen Wissenschaftsroman „°C – Celsius“. Ich schreibe bewusst Roman, denn auch wenn es Tote gibt, ein Thriller ist das nicht, denn es sind gewichtigere Themen, die diese Publikation bestimmen.

Elsberg zeigt die Möglichkeiten auf, die der heutige Stand der Forschung bietet, um gegen den Klimawandel vorzugehen, verzichtet aber auch nicht darauf, die Risiken zu benennen, wenn der Mensch der Natur ins Handwerk pfuscht. Wie wir es von ihm kennen, hat er auch zu diesem Thema gründlichst recherchiert und versorgt uns detailliert mit gefühlt sämtlichen Informationen, deren er habhaft werden konnte. Verpackt sind diese in eine komplexe Story mit unzähligen über den gesamten Erdball verteilten Personen und Organisationen (Präsidenten, Politiker, Experten, Aktivisten, Filmemacher und ein undurchsichtiger Tycoon) plus verschiedene Handlungsstränge, die anfangs parallel verlaufen und erst später zusammengeführt werden. Das ist auf die Dauer anstrengend, weil es die permanente Aufmerksamkeit des Lesers fordert und man sich immer vergewissern muss, wer warum wie reagiert, wie handelt und welche Ziele hat.

Keine Frage, das Thema ist wichtig, und die Möglichkeiten, die mittlerweile Geoengineering bzw. Climate Engineering bieten, sind interessant. Aber ab einem bestimmten Punkt war ich erschlagen von der Fülle an trocken vermittelten Informationen, die eher einem Vorlesungsskript als einen Roman ähnelten und weder Spannung noch Unterhaltung geboten haben. Kann man lesen, ist aber wenig unterhaltsam.

4 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 14.03.2023
The Veg Box
Flynn, David;Flynn, Stephen

The Veg Box


gut

Wer Wert auf Rezepte zu einer pflanzenbasierten Ernährung sucht, hat seit einiger Zeit die Qual der Wahl, da es mittlerweile eine Vielzahl von Kochbüchern gibt, die sich mit diesem Thema auseinandersetzen. Allerdings habe ich noch keines gefunden, in dem Regionalität und Nachhaltigkeit heimischer Produkte der Vorzug vor eingeflogenen Bio-Exoten gegeben wird. Das hatte ich mir von The Veg Box erhofft, dem neuen Kochbuch des Brüderpaars Stephen und David Flynn, einem Brüderpaar, das unter dem Label The Happy Pear dieses Konzept äußerst erfolgreich auf der irischen Insel vermarktet.

Schauen wir uns also dieses Kochbuch einmal genauer an. Die ersten 50 Seiten sind ein Theorieteil, der einen Einblick in die Philosophie der Flynns bietet. Es geht ihnen, wie erwartet, um umweltverträgliche Anbaumethoden, Regionalität, Nachhaltigkeit und bewussten Konsum. Dem kann ich zwar in allen Punkten zustimmen, aber Neues wurde mir hier nicht geboten, da ich mich schon sehr lange mit diesem Thema beschäftige, auch wenn ich mich nicht vegan ernähre.

Kommen wir zum Kernstück, nämlich zu den zehn Rezeptblöcken, in denen jeweils eine Hauptzutat im Mittelpunkt steht: Aubergine (In Irland? Wirklich?), Rote Bete, Brokkoli, Kohl, Karotten, Blumenkohl, Zucchini, Lauch, Pilze, Kartoffeln plus als Zugabe Saucen und Dips.

Und hier setzt meine Kritik an. Zum einen störe ich mich daran, dass manche Zutaten fast ausschließlich eingedost verwendet werden (z.B. gekochte Hülsenfrüchte wie Bohnen und Linsen sowie Tomaten), dass der Anbau von Avocados regional und nachhaltig ist, und zum anderen stelle ich mir natürlich die Frage, was vegane Ersatzprodukte (z.B. Cheddar und diese unsäglichen Sägemehlwürstchen) in durchaus fragwürdiger Zusammensetzung mit regionaler und nachhaltiger Ernährung zu tun haben. Dazu kommt, dass die Mengenangaben und die Zubereitungsanweisungen der Rezepte vorne und hinten nicht passen. Soßen sind generell zu gering bemessen und Backofenzeiten zu hoch angesetzt, was dazu führt, dass die Resultate entweder zu trocken oder komplett übergart sind.

Zum Schluss noch eine Bemerkung zur Ausstattung. Natürlich ist diese hochwertig, aber leider gibt es nicht zu jedem Rezept das passende Foto. Und keine Frage, das erwarte ich einfach von einem guten Kochbuch.

Die Rezepte in The Veg Box bieten Anregungen und eignen sich prinzipiell, da detailliert beschrieben, auch für weniger geübte Hobbyköche und Hobbyköchinnen. Allerdings sollte man Garzeiten (lieber einmal mehr checken) und Mengenangaben mit einer gewissen Skepsis betrachten und sich nicht sklavisch an die Zutatenliste halten. Dann steht einem genussvollen und leckeren Ergebnis nichts im Wege.

Bewertung vom 12.03.2023
Die Bestatterin von Kilcross
Griffin, Anne

Die Bestatterin von Kilcross


gut

Jeanie Mastersons Weg ist vorgezeichnet, schließlich muss ja jemand das Bestattungsunternehmen der Familie übernehmen, wenn die Eltern beschließen, in den Ruhestand zu gehen. Und da sie, wie ihr Vater, die Stimmen der Toten hört, ist es keine Frage, dass die Wahl auf sie fällt. Widersetzen mag sie sich nicht, hat sie doch jeher genau das getan, was von ihr erwartet wurde. Zugehört und geschwiegen, zumindest dann, wenn es um ihre eigenen Bedürfnisse und Erwartungen an ihr Leben geht. 32 Jahre ein Leben voller Kompromisse gelebt, bestimmt von ihren Nächsten. Zuerst ihren Eltern und dann ihrem Ehemann. Aber nun scheint die Zeit gekommen, das zu ändern, nicht länger zu schweigen, die Stimme zu erheben und endlich für sich selbst einzustehen.

„Die Bestatterin von Kilcross“ ist eine Geschichte über verpasste Chancen und über das Bemühen der Protagonistin, ihrem Leben einen neuen Dreh zu geben. Auszubrechen aus Verpflichtungen und eigene Wege zu gehen, selbst dann, wenn sie dafür diejenigen zurücklassen muss, die sie bisher begleitet haben.

Der Wunsch nach Selbstverwirklichung und dem Ausbrechen aus alten Mustern ist ein Thema, das immer wieder in Romanen behandelt wird. Und auch wie die Autorin damit umgeht, bietet außer dem besonderen Talent ihrer Protagonistin wenig Neues, um Jeanies Geschichte, ihre inneren Konflikte und das daraus folgende Zaudern voranzutreiben. Natürlich steht sie im Zentrum, aber leider sind Anne Griffins Charakterisierungen der anderen Personen recht oberflächlich und wecken kein Interesse. Am gelungensten sind noch die Beschreibungen des irischen Kleinstadtlebens, aber auch das reicht leider nicht, um eine eher dünne Story zu tragen, die nur wenige überraschende Momente zu bieten hat.

Bewertung vom 11.03.2023
Lichte Tage
Winman, Sarah

Lichte Tage


sehr gut

„Blumen malen als Zeichen der Freundschaft und des Willkommens. Männer und Jungen sollten fähig zu Schönem sein. Vergesst das nicht, ihr beide.“ (S. 55)

Das ist es, was Dora ihrem Sohn Ellis mit auf den Weg gibt, der im England der sechziger Jahre in einer Oxforder Arbeiterfamilie aufwächst, in der kein Raum für Schönheit und Sensibilität, geschweige denn für Freiheit ist. Ein sicherer Job, das ist es, was in den Augen der Väter zählt. In Ellis Fall heißt das, tagtäglich Beulen in einer Lackiererei glätten. Kein Ort für solche Hirngespinste wie Kunst und Selbstverwirklichung. Aber glücklicherweise gibt es ja noch Michael, seinen Kindheitsfreund, seinen Begleiter auf der Reise nach Südfrankreich, seine Jugendliebe. Eine tiefe Beziehung, die auch dann bestehen bleibt, als Ellis‘ spätere Frau Annie in ihr Leben tritt. Bis zu dem Tod von Michaels Großmutter. Danach packt er seine Koffer und verschwindet in London.

„Lichte Tage“ ist so vieles. Nicht nur ein Roman über die Liebe, sondern auch über nicht gelebte Leben. Ein Roman über die Suche nach Identität in einer Gesellschaft, die keinen Raum für alternative Lebensentwürfe vorsieht. Ein Roman über Familie, über Beziehungen, über Freundschaft, über Verlust, über Trauer. Voller Melancholie, voller Poesie und voller Hoffnung. Kraftvoll, sinnlich und einfühlsam geschrieben. Romantisch und dennoch schnörkellos.

Eine Anmerkung zum Schluss: Die 1897 gegründete Tate Gallery wurde erst im Jahr 2000 in Tate Britain umbenannt. Sollte man der Übersetzerin vielleicht sagen.

Bewertung vom 08.03.2023
Fünf Winter
Kestrel, James

Fünf Winter


ausgezeichnet

Honolulu, Thanksgiving Wochenende 1941. Joe McGrady, Ex-Militär und nun Detective beim HPD wird zu einem Tatort gerufen. Zwei Leichen. Eine männlich und weiß und, wie sich herausstellen wird, der Neffe des Oberbefehlshabers der Pazifikflotte. Die zweite Tote seine Freundin, eine junge Japanerin. Beide brutal abgeschlachtet und entsetzlich zugerichtet. Und es kommt noch eine dritte Leiche dazu, denn als McGrady zum Tatort zurückkehrt, wird er von einem Unbekannten, er vermutet in ihm dem Mörder, in eine Schießerei verwickelt, die dieser mit dem Leben bezahlt. Fall gelöst? Mitnichten, denn ein weiterer Verdächtiger taucht auf, der allerdings Honolulu bereits in Richtung Hongkong verlassen hat. Mc Grady heftet sich auf seine Spur und kommt am 6. Dezember, einen Tag vor dem Angriff auf Pearl Harbour, dort an. Er gerät, weil amerikanischer Staatsbürger, unter fadenscheinigen Vorwänden in japanische Kriegsgefangenschaft, wird entführt, im Haus einer Japanerin festgesetzt, nicht ahnend, dass ihn dies lange Zeit von seiner Heimat fernhalten wird.

Fünf Jahre, „Fünf Winter“ vergehen, bis er nach Hawaii zurückkehren kann. An der Aufklärung der Mordfälle hat mittlerweile niemand mehr Interesse und McGradys Interesse, ja fast schon Besessenheit an diesem Fall, stößt bei seinen Vorgesetzten auf so wenig Gegenliebe, dass es ihn schlussendlich seinen Job kostet. Aber davon lässt er sich nicht abhalten, ermittelt auf eigene Faust weiter, angetrieben von dem Wunsch, den Opfern, deren Zahl weiter höher als angenommen ist, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

2022 mit dem Edgar Award Best Novel ausgezeichnet. Verdientermaßen, denn James Kestrel aka Jonathan Moore ist damit ein wirklich großer Wurf gelungen. Ein fesselnder Noir, ein eindringlicher Kriegsroman, eine verhaltene Liebesgeschichte, alle Facetten stimmig und ohne Ruckler verbunden. Sprachlich top, kein Wort zuviel, eindringlich und immer treffend. Charaktere, ebenso angelegt, die sich allesamt jedem Klischee verweigern. Großes Kino und die passende Vorlage für die Leinwand. Lesen. Unbedingt!

Bewertung vom 06.03.2023
Tod in Siebenbürgen / Paul Schwartzmüller ermittelt Bd.1
Werrelmann, Lioba

Tod in Siebenbürgen / Paul Schwartzmüller ermittelt Bd.1


sehr gut

Im Zentrum von Lioba Werrelmanns „Tod in Siebenbürgen“ steht der Investigativjournalist Paul Schwartzmüller. Aufgewachsen in einem kleinen Dorf in Siebenbürgen und als Jugendlicher mit seinem Vater nach Deutschland ausgewandert, wird er durch ein Anwaltsschreiben mit seiner Vergangenheit konfrontiert. Seine Lieblingstante Zinzi ist gestorben und hat ihm ihren Bauernhof vererbt. Auch wenn er kein Interesse an dem Erbe hat und den Hof schnellstens verkaufen möchte, muss Paul doch noch einmal in das Land seiner Kindheit reisen, um die Modalitäten zu klären.

Werrelmann schildert die Gegend am Fuße der Karpaten und das Dorfleben der sächsischen Gemeinschaft sehr lebendig, beschreibt das Misstrauen, das dem Rückkehrer entgegen schlägt, der nur von seinem ehemaligen Schulfreund Sorin mit offenen Armen empfangen wird, der kurz nach Pauls Ankunft in einem Mordfall verwickelt wird. Und Paul setzt alles daran, die Unschuld seines Freundes zu beweisen.

In ihren Beschreibungen konzentriert sie sich aber nicht auf Beschreibungen des kuscheligen Dorflebens, sondern behält glücklicherweise die Realität im Blick. Dubiose Investoren, die Ländereien zu Spottpreisen aufkaufen, um unter Vorspiegelung falscher Tatsachen EU-Subventionen (deren Verwendung natürlich nicht kontrolliert wird) einzustreichen und dabei gleichzeitig die Landschaft und das Grundwasser vergiften, aber auch die Vorurteile der Sachsen gegenüber den Țigani, die in der Nachbarschaft unter sehr schlechten Bedingungen leben. Und auch die dunklen Jahre unter Ceaușescu und seiner Geheimpolizei Securitate werden anhand von Pauls Familiengeschichte stimmig in diesen Roman eingearbeitet, der zwar Mord und Mörder aufzuweisen hat, aber dennoch mehr als ein Krimi ist.

Es gab drei Gründe, warum ich dieses Buch unbedingt lesen wollte: Erstens natürlich die Autorin. Lioba Werrelmann hat bereits mit „Hinterhaus“, ihrem mit dem Glauser-Preis ausgezeichneten Krimidebüt bewiesen, dass sie spannend und intelligent plotten kann, und ohne vorgreifen zu wollen, das beweist sie auch hier erneut. Die beiden anderen Gründe sind eher dem Bereich persönliche Erinnerungen zuzuordnen.

„Tod in Siebenbürgen“ ist ein gelungener Reihenauftakt, den ich sehr gerne gelesen habe, weil er einen interessante Einblicke in das Leben der Siebenbürger Sachsen bietet, auch wenn er mangels möglicher Täter als Kriminalroman nur bedingt funktioniert. Und auch das Dracula-Schloss, das glücklicherweise nur am Rande erwähnt wird, hätte ich nicht unbedingt gebraucht. Aber offenbar war das die Konzession der Autorin an die Leserschaft, die bei der Erwähnung der Karpaten sofort den blutsaugenden Grafen vor Augen hat.

Ich freue mich auf die Fortsetzung der Reihe und hoffe, dass diese auch bei den kommenden Ermittlungen in Rumänien verortet bleibt.

Bewertung vom 03.03.2023
Das Liebespaar des Jahrhunderts / Biographie einer Frau Bd.2
Schoch, Julia

Das Liebespaar des Jahrhunderts / Biographie einer Frau Bd.2


gut

„Ich liebe dich.“ und „Ich verlasse dich“, zwei Drei-Wort-Sätze, die Anfang und Ende einer Beziehung markieren. Julia Schoch schaut auf ihre Beziehung, stellt sie auf den Prüfstand, möchte raus und fürchtet doch die letzte Konsequenz. Unzufrieden-heit, Zweifel, Hadern mit der Entwicklung, die das gemeinsame Leben genommen hat. Dreißig Jahre mit ihrem Lebenspartner, Höhen und Tiefen, Alltag. Und immer wieder der Wunsch nach einem Neuanfang, einem Leben ohne ihn.

Aber was tut sie, um den Status Quo zu verändern? Ehrlichkeit im Umgang miteinander sehe ich kaum, jeder lebt für sich in seiner Blase. Probleme werden nicht angesprochen und somit auch nicht gelöst. Was bleibt ist ein Paar, das sich auseinander gelebt, den Austausch und die Kommunikation aufgegeben hat und sprachlos. Und trotz dreißigjährigem Zusammenleben offenbar noch immer nicht gemerkt hat, dass eine Beziehung Arbeit ist und manchmal auch anstrengend sein kann. Ein Loblied auf die Liebe sehe ich hier weit und breit jedenfalls nicht.

Man merkt es deutlich, den begeisterten Rezensionen zu Julia Schochs autofiktionaler Erzählung „Das Liebespaar des Jahrhunderts“ kann ich nur bedingt zustimmen. Dieses ständige Soll-ich-oder-soll-ich-nicht, das depressive Grübeln, die Erinnerungen an glücklichere Zeiten, all das mag ja handwerklich sauber beschrieben sein, ist mir aber unterm Strich zu viel Nabelschau, was allerdings autofiktionalen Romanen meist immanent ist. Das Kreuz mit diesem Genre sind meiner Meinung nach nämlich die Schilderungen, die durchaus ans Eingemachte gehen können, aber leider nur aus einer Perspektive vermittelt werden und somit das involvierte Gegenüber außen vor lassen. Nicht vergessen, it takes two to tango. Und gerade hinsichtlich der Bestandsaufnahme und Beschreibung einer langjährigen Beziehung, die auf der Kippe steht, ist das für mich durchaus ein Mangel.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.