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Circlestonesbooks.blog
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Lesebegeisterte Literaturbloggerin, https://www.circlestonesbooks.blog/

Bewertungen

Insgesamt 411 Bewertungen
Bewertung vom 15.01.2023
Ein von Schatten begrenzter Raum
Özdamar, Emine Sevgi

Ein von Schatten begrenzter Raum


sehr gut

Eine literarische Herausforderung

„Der Rest des Raumes ist ohne Schatten. Deswegen sieht es nur dort, wo der Schatten gewachsen ist, wie ein Raum aus, wie ein von Schatten begrenzter Raum“ (Zitat Seite 90) „Der Rest des Raumes war ohne Schatten. Deswegen sah er nur dort, so unsere Schatten gewesen waren, wie ein Raum aus, ein von Schatten begrenzter Raum, der sich mit Leben füllte.“ (Zitat Seite 242)

Inhalt
Die junge Ich-Erzählerin aus Istanbul flüchtet vor der türkischen Militärregierung über das Meer nach Europa. Sie hat in Istanbul die Schauspielschule besucht und hält an ihrem Traum fest, als Schauspielerin zu arbeiten. In Berlin pendelt sie als Assistentin des Regisseurs Benno Besson zwischen West- und Ostberlin. Dann holt Besson sie für sein nächstes Projekt nach Paris, anschließend kehrt sie nach Deutschland zurück, zu Claus Peymann an das Schauspielhaus Bochum. „Die Bühne ist großherzig, dort reden die Toten, und jede Nacht kommen die Zuschauer, um diese Toten zu sehen und ihnen zuzuhören. Und die Toten mischen sich nur am Theater in des Leben der Lebenden.“ (Zitat Seite 506). In Bochum schreibt sie auch ihr erstes Theaterstück.

Thema und Genre
Dieser stark autobiografische Roman handelt von der Suche nach Heimat und eigener Identität in einem fremden kulturellen Umfeld, dem Wunsch, sich selbst auch in neuen, fremden Sprachen zu finden. Auch die politische Vergangenheit und Gegenwart Europas im 20. und aktuellen 21. Jahrhundert sind prägende Themen. Doch vor allem geht es um Kultur, um Literatur und das Leben am Theater.

Charakteren
Dieser Roman schildert das Leben und den Werdegang einer vielseitigen Künstlerin als Schauspielerin, Theaterregisseurin und Schriftstellerin. Damit verbunden sind Erinnerungen an befreundete Künstlerpersönlichkeiten, an Menschen, die sie begleitet und gefördert haben.

Handlung und Schreibstil
Die Geschichte beginnt mit einem Prolog auf einer namentlich nicht genannten Insel ähnlich Alibey Atasi, von der aus man nauf die griechische Insel Lesbos, nach Europa, sehen kann. Dort endet die Geschichte auch mit einem Epilog und dieser Kreis schließt sich wortgenau: „Über uns die Nacht hat aus de dunkelsten Ecken ihrer Erinnerungen etwas herausgeholt und hat dieses Etwas zwischen der Orthodoxkirche, dem Esel, der blinden Frau und mir in der Luft leise verteilt.“ (Zitat Seite 10 und Seite 754). Wortgleiche Wiederholungen wie diese finden sich öfter auf diesen insgesamt 763 Seiten.
Die von vielen Rückblenden unterbrochene Handlung der alltäglichen Ereignisse und Beobachtungen wird in einfachen Sätzen erzählt, ähnlich den Einträgen in einem persönlichen Tagebuch. Doch immer wieder gibt es Überblendungen, plötzlich eingeschobenen Fragmente, die Ort, Zeit und Realität durch- und überschreiten. Dies, und der überbordende Stil der Schilderungen und Beschreibungen fordert sprachlich. Die poetische Sprache, ergänzt durch zweisprachige Gedichte, ist bildintensiv wie ein Film, wie expressionistische Theaterkulissen, aber auch surreal und extrem verstörend und beklemmend, wo es um die Träume der Ich-Erzählerin geht, in denen immer Ängste, Traumata und Tod eine Rolle spielen.

Fazit
Dieser Roman ist eine Herausforderung, eine wilde, anstrengende Reise zwischen dem Wunsch, das Lesen auf Grund der langen, immer wiederkehrenden Gedankenschlingen, der ausufernden Schilderungen und in ihrem Chaos nicht nachvollziehbaren Gedankenbrüche abzubrechen, und der Faszination gerade dieser imposanten sprachlichen Ausdrucksformen der türkisch-deutschen Schriftstellerin.

Bewertung vom 13.01.2023
Verschwiegen / Mörderisches Island Bd.1
Ægisdóttir, Eva Björg

Verschwiegen / Mörderisches Island Bd.1


ausgezeichnet

Beklemmend und düster

„Mehr haben wir nicht in der Hand, und mir scheint relativ offensichtlich, dass wir den Fall ohne neue Beweismittel nicht lösen werden.“ (Zitat Position 3643)

Inhalt
Immer wieder verlassen junge Menschen die Enge der isländischen Kleinstadt Akranes, mit dem Wunsch, nie mehr zurückzukehren. Doch manchmal gibt es im Leben Gründe, genau dies zu tun. Die Polizistin Elma verlässt nach dem Ende ihrer langjährigen Beziehung die Kripo Reykjavík und kehrt zurück nach Akranes, die Stadt ihrer Kindheit. Oder diese junge Frau, die nur kurz zurückkommen wollte und dann tot in der Nähe des Leuchtturms aufgefunden wurde. Elma und ihr Kollege Saevar beginnen unter der Leitung von Hördur Höskuldsson mit den Ermittlungen. Sie finden zwar bald heraus, wer die unbekannte Tote ist, doch auch Tage danach gibt es keine Spuren, nicht einmal Anhaltspunkte. Auf dem Computer der Toten finden sie einen Termin mit einem Anwalt in Reykjavik. Kann dies eine Spur sein?

Thema und Genre
Dieser Nordic Noir-Kriminalroman mit starken psychologischen Elementen ist der erste Band der Serie „Mörderisches Island“. Themen sind die beklemmende Struktur einer isländischen Kleinstadt und prägende Ereignisse, die in der Vergangenheit stattgefunden haben und bis in die Gegenwart reichen.

Charaktere
Die sehr unterschiedlichen Figuren der Handlung haben eines gemeinsam: jeder und jede, seien es Ermittelnde, Befragte oder Nahestehende, hat auch ihre eigenen Geheimnisse, Konflikte und Beziehungen und Familiengefüge sind hinter den verschlossenen Türen nicht immer so, wie sie vor der Öffentlichkeit scheinen.

Handlung und Schreibstil
Die aktuelle Handlung, in diesem Fall der Verlauf der Ermittlungen, die Suche nach möglichen Zusammenhängen, wird abwechselnd mit einer Geschichte erzählt, deren Ereignisse im Jahr 1989 in Akranes stattfanden. Der Schwerpunkt dieses Kriminalromans liegt nicht bei der Tat selbst, sondern bei den Ermittlungen und Recherchen, bei den Befragungen und Gesprächen, bei der Suche nach möglichen Hintergründen und Tatpersonen und vor allem bei den psychologischen Gegebenheiten und Konflikten in diesem engen Kleinstadtgefüge, wo man einander schon seit der Kindheit kennt. Die Sprache entspricht dem Genre und bleibt auch bei den Schilderungen der Menschen und des Umfeldes düster.

Fazit
Ein psychologischer Kriminalroman des Genre Nordic Noir, beklemmend und düster, mit einem von Problemen belasteten Ermittlerteam und brisanten gesellschaftskritischen Themen.

Bewertung vom 01.01.2023
Der Landvermesser
Kuhligk, Björn

Der Landvermesser


ausgezeichnet

Jeder kann tanzen und aus Müller wird Muljer

„Ja, vielleicht könnte auch er, wenn er wollte, den Rest seines Lebens in der U-Bahn sitzend in seinen Erinnerungen spazieren gehen, wie durch eine seit langem verlassene und doch vertraute Stadt.“ (Zitat Seite 96)

Inhalt
Alexander Müller, vierundvierzig Jahre alt, führt ein geordnetes Leben, ereignislos, farblos, ein Tag reiht sich im immer gleichen Ablauf an den nächsten, weil er es so will. Bis aus einem gerade begonnenen Urlaub, zwei Tage auf der Insel Hiddensee, plötzlich dreißig Tage in Cartagena, Kolumbien, werden. Kolumbien, seit Jahren die neue Heimat seines um ein Jahr älteren Bruders Thomas. Schon lange haben die Brüder keinen Kontakt mehr und nun ist Thomas tot. Durch Laura, die Freundin seines Bruders und José, den besten Freund seines Bruders, lernt er eine ihm unbekannte Seite seines Bruders kennen. Thomas, von Beruf Botaniker, wird in seiner neuen Heimat „El topógrafo“ genannt, der Landvermesser, doch womit hat er das Vermögen verdient, das er hinterlassen hat?

Thema und Genre
In diesem Roman geht es um Gefühle und Ängste, Verlust, Distanz, Nähe, Entscheidungen und neue Möglichkeiten. Ein Thema sind auch die politische Situation und das alltägliche Leben in Kolumbien.

Charaktere
Alexander ist die Hauptfigur in diesem Roman und ist in seiner geordneten, ängstlichen, zögerlichen Biederkeit und deutschen Gründlichkeit der Antiheld im Gegensatz zu seinem unangepassten Bruder, der sich nie untergeordnet hat und sein Leben so gelebt hat, wie er es für richtig hielt.

Handlung und Schreibstil
Die Geschichte wird chronologisch erzählt und durch viele Erinnerungen Alexanders an prägende gemeinsame Erlebnisse der beiden Brüder Thomas und Alexander ergänzt. Die Spannung ergibt sich sich vor allem aus den vielen Gedanken und der Zögerlichkeit des Hauptprotagonisten Alexander. Seine Selbstzweifel, seine Ängste und für ihn überraschende Gefühle führen zu Konflikten. Alexander hatte zuvor noch nie Europa verlassen und findet sich nun plötzlich mitten in den lauten, farbenfrohen, extremen Eindrücken Kolumbiens wieder, die sich in diesen Tagen mit den Schilderungen von Laura und José über das Leben, das Tomás in Kolumbien geführt hat, zu einer völlig neuen Geschichte verbinden. Die intensiven Beschreibungen der Schönheiten der Natur und der lebhaften, pulsierenden Stadt Cartagena runden diesen Roman zu einem lesenswerten Ganzen ab.

Fazit
Eine vielseitige Geschichte, in der es um die Überraschungen in einem bisher ereignislosen Leben geht und die Schwierigkeit, die eigenen Ängste zu überwinden und sich auf Veränderungen und neue Möglichkeiten einzulassen.

Bewertung vom 29.12.2022
Herz der Finsternis
Conrad, Joseph

Herz der Finsternis


ausgezeichnet

Von der Finsternis der Natur zur Finsternis des Herzens

„Die einzelnen Abschnitte des Stroms taten sich vor uns auf und schlossen sich hinter uns, als sei der Urwald gemächlich über die Ufer getreten, um uns den Rückweg abzuschneiden. Immer tiefer drangen wir in das Herz der Finsternis ein.“ (Zitat Seite 74)

Inhalt
Während sie auf einer Kreuzerjacht auf der Themse die Flut abwarten, erzählt der Seemann Charlie Marlow seinen Freunden, die Berufe ausüben, wie sie auch in kolonialen Handelsgesellschaften typisch sind, von seiner Reise als Kapitän eines Flussdampfers auf dem Kongo. Der bekannte und äußerst erfolgreiche Agent Kurtz leitet einen wichtigen Handelsstützpunkt, weit abgelegen im Zentrum des Elfenbeingebietes. Nun jedoch sind diese Station und somit auch die wirtschaftlichen Erträge aus dem Handel mit Elfenbein gefährdet, denn Kurtz ist krank und Marlow soll ihn mit dem Dampfer holen. Doch je weiter diese Reise auf dem Fluss führt, hinter dessen Ufern sich der dunkle, unwegsame Dschungel ausbreitet, desto dunkler werden auch die Eindrücke, die Marlow nicht nur in der Natur, sondern auch im menschlichen Verhalten sammelt.

Thema und Genre
Diese Erzählung, 1899 zunächst als Serie in einem Magazin veröffentlicht, 1902 als Buch, ist eine kritische Auseinandersetzung mit dem europäischen Kolonialismus im späten neunzehnten Jahrhundert, der damit verbundenen Menschenverachtung und Grausamkeit gegenüber den ursprünglich dort lebenden Menschen und ihre Ausbeutung.

Charaktere
Neben einem namenlosen Ich-Erzähler der Rahmenhandlung ist es der Seemann Charlie Marlow, der seine eindrücklichen Erlebnisse auf seiner Reise zu einer abgelegenen Handelsstation schildert. Doch im Mittelpunkt seiner Geschichte steht Kurtz als zunächst omnipräsenter Schatten.

Handlung und Schreibstil
Der Seemann Charlie Marlow schildert Erlebnisse, Erfahrungen und auch Eindrücke, die ihn auch heute noch verfolgen. Chronologisch erzählt er von dieser abenteuerlichen Reise auf dem Kongo, beschreibt seine vielseitigen Gedanken über die Eindrücke der ihm fremden Natur und über den ihm vorerst noch unbekannten Agenten Kurtz, der ein besonderer Mensch sein soll.
Auch diese Geschichte des Schriftstellers Joseph Conrad hat autobiografische Hintergründe, seine Erfahrungen aus seiner aktiven Zeit bei der französischen und britischen Handelsmarine und vor allem die Erlebnisse seiner Kongo-Reise als Kapitän eines kleinen Dampfbootes.
Diese Ausgabe ist neu als Penguin Edition der Klassiker erschienen und in der editorischen Notiz am Buchende wird begründet, warum man die Sprache nicht unserem heutigen Verständnis angepasst hat, sondern die deutsche Übersetzung in der Sprache der ursprünglichen englischen Originalausgabe belassen hat. Dem kann ich persönlich nur zustimmen, denn Klassiker sind immer auch zeitlos gültige Dokumente der Zeit, in der sie verfasst wurden.

Fazit
Die Romane und Erzählungen von Joseph Conrad zählen zu den wichtigsten Werken der englischen Literatur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Diese Erzählung, längst ein Klassiker, war 1899 einerseits einer der ersten Beiträge zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus, gleichzeitig ist es ein spannend zu lesender Abenteuerroman.

Bewertung vom 23.12.2022
Die geheimste Erinnerung der Menschen
Sarr, Mohamed Mbougar

Die geheimste Erinnerung der Menschen


ausgezeichnet

Faszinierend, ungewöhnlich und beeindruckend

„Elimane hatte sich dort hingesetzt und die drei stärksten Trümpfe ausgespielt, die man haben konnte: Zuerst hat er sich einen Namen mit geheimnisvollen Initialen zugelegt; dann hat er nur ein einziges Buch geschrieben; und zuletzt ist er spurlos verschwunden.“ (Zitat Seite 16)

Inhalt
Das Labyrinth des Unmenschlichen“, ein ebenso umjubeltes wie kritisiertes Buch von T.C. Elimane, wurde 1938 in Paris veröffentlicht. Kurz darauf verschwindet der Autor und auch das Buch ist seither unauffindbar. Diégane Latyr Faye kennt den Namen T.C. Elimane schon seit seiner Zeit auf dem Gymnasium in Senegal. Er träumt davon, Dichter zu werden, interessiert sich für Literatur und entdeckt 2008 im Handbuch der schwarzafrikanischen Literatur einen Artikel über T.C. Elimane und sein Buch. Inzwischen studiert Diégane in Paris, hat seinen ersten Roman veröffentlicht und schreibt an seiner Doktorarbeit. Er hat Elimane und das verschwundene Buch nicht vergessen, aber seine Nachforschungen bleiben erfolglos, bis er eines Tages im Juli 2018 die die senegalesische Schriftstellerin Siga D. kennenlernt. Denn diese besitzt eine Ausgabe von „Das Labyrinth des Unmenschlichen“ und gibt es ihm zu lesen. Das Buch zieht ihn sofort in seinen Bann und er will wissen, was damals wirklich passiert ist. Entschlossen folgt er den Spuren des geheimnisvollen Autors T.C. Elimane.

Thema und Genre
Dieser Roman gleicht einer mit einer Fülle von Ideen, vielseitigen Themen, unterschiedlichen Sprach- und Erzählformen gefüllte Schatztruhe, es geht um Literatur, Literaturkritik, das Schreiben, um den Umgang mit Werken aus anderen Sprachräumen und Kulturkreisen. Ein Thema ist die Suche nach dem Gleichgewicht zwischen der eigenen Identität, der persönlichen Geschichte, den Erinnerungen der Familie und der Vorfahren, und der Geschichte, die man als Schriftsteller erzählen will. Auch die kritische Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit spielt in diesem Roman eine wichtige Rolle.

Charaktere
Die Namen der Figuren sind fiktiv, doch die Bezüge zur Realität sind deutlich. Jede der einzelnen Figuren, deren Geschichte wir folgen, fügt sich nach Irrwegen und Überraschungen in das Ganze ein. Das Leben der beiden Hauptfiguren Diégane und Elimane weist zudemde utliche Parallelen auf, wenn auch durch Jahre getrennt.

Handlung und Schreibstil
Diéganes aktuelle Geschichte und die intensive Suche nach T.C. Elimane finden innerhalb eines kurzen Zeitraumes statt, es sind die einzelnen Geschichten innerhalb dieser Geschichte, die ein faszinierendes Labyrinth von Menschen und ihren Schicksalen bilden. Der Autor wechselt zwischen Erzählformen, Perspektiven und Sprache, wir finden Auszüge aus Tagebüchern, Zeitungsartikeln, Abhandlungen, Briefen und Biografien. Der Autor nimmt sich Zeit für die Schilderung der Konflikte, der Gefühlsebene seiner Figuren, für die Beziehungen und natürlich auch für die Liebe, wo die Sprache zur Poesie wird. Handlung und Sprache entfalten so eine Vielseitigkeit, die sich jedoch nie verliert und auch offene Fragen beantwortet, die Dinge langsam zusammenfügt und wichtigen Anliegen verbindet.

Fazit
„Eines zumindest kann man über einen Schriftsteller und sein Werk mit Gewissheit sagen: Beide gehen zusammen durch das denkbar vollkommenste Labyrinth, ein langer Rundweg, auf dem ihr Ziel und ihr Ausgangspunkt ineinander übergehen: die Einsamkeit.“ (Zitat Seite 13) Für mich ist dieser Roman einer der Höhepunkte meines Lesejahres 2022, denn hier stimmt einfach alles, die Sprache, die vielen unterschiedlichen Geschichten und Figuren, und immer wieder die Literatur und die Suche von Schriftstellern nach der eigenen Ausdrucksform. Nach dem Lesen der Beschreibung auf der Buchrückseite und des Klappentextes wusste ich nicht genau, was mich erwartet, ich war auf jeden Fall sofort neugierig auf diesen Roman. Was auch immer ich erwartet hatte, es wurde auf jeden Fall übertroffen: ein faszinierendes Leseerlebnis.

Bewertung vom 21.12.2022
Die Nacht, in der Jesus herabstieg
Hassan, Sherzad

Die Nacht, in der Jesus herabstieg


ausgezeichnet

Interessant, beeindruckend und poetisch

„Wir alle warten auf einen Fetzen Papier, um zu beweisen, dass auch wir das Recht auf Leben haben. Auf dem Papier steht geschrieben, warum, wie und wann wir geflüchtet sind – ein Haufen Geschichten, zusammengesetzt aus Wahrheiten und auch Lügen.“ (Zitat Seite 13)

Inhalt
Der nun sechsundvierzig Jahre alte Ich-Erzähler mochte schon als Kind keine Menschenmassen und alle hielten ihn für einen Einzelgänger. Diese Einsamkeit in ihm bleibt bestehen, auch als er längst erwachsen ist. Besonders tief sind die Einsamkeit und eine erdrückende Traurigkeit während der Weihnachtszeit. So auch in dieser Neujahrsnacht, in der er über sein Leben, seine ferne Heimat und Familie, über die Menschen und das endlose Warten auf seine Aufenthaltsbewilligung hier in Finnland nachdenkt. Genau diese Nacht wählt Jesus für seine Rückkehr auf die Erde und der kurdische Flüchtling, der allein bei Kerzenschein in seinem Zimmer in einem Flüchtlingsheim in Finnland sitzt, lädt ihn in sein Zimmer und auf ein Glas Wein ein. Aus dem Glas werden mehrere, aus dem Augenblick Stunden. Jesus ist gekommen, um alle Menschen an seine Botschaft zu erinnern, einander zu lieben. Doch seinem kritischen Gegenüber scheint der Zeitpunkt an diesem Tag, wo alle in Feierlaune sind und sicher keinen Prediger hören wollen, denkbar ungünstig. Andererseits ist er doch gespannt auf die Reaktion der Menschen.

Thema und Genre
Dies ist ein philosophischer, religionskritischer Roman mit zeitlos aktuellen gesellschaftlichen und politischen Themen. Anders als der Titel vermuten lässt, handelt es sich um eine kritische Auseinandersetzung allen Weltreligionen in unserer modernen Zeit. Der Ich-Erzähler steht der Hoffnung vieler Menschen auf eine neue Erlöserfigur kritisch gegenüber und auch dem Erlöser selbst. „Was gibt dir die Gewissheit, mich zu einem Fantasiegebilde degradieren zu können, und mich nicht als den anzuerkennen, der ich bin?“ (Zitat Seite 39)

Charaktere
Ein kurdischer Flüchtling in Finnland, Jesus Christus, für eine Nacht ebenfalls in Finnland, und viele Fragen.

Handlung und Schreibstil
1997 begann der Autor am Manuskript für diesen Roman zu schreiben, welcher im Jahr 2012 in kurdischer Sprache erschienen ist. Der Ich-Erzähler zeigt deutlich den autobiografischen Hintergrund. Die Geschichte spielt in einer einzigen Nacht, wird jedoch ergänzt durch Kindheitserinnerungen und die Erinnerungen an prägende Ereignisse, die der Ich-Erzähler seinem Gast schildert. Natürlich spielt auch das Leben Jesu vor beinahe zweitausend Jahren auf der Erde eine Rolle. Starke philosophische und metaphorische Momente lassen unserer Phantasie als Lesende viel Spielraum für eigene Gedanken und Überlegungen. Den beiden Übersetzenden ist es gelungen, die blumige, sehr poetische orientalische Ausdrucksweise auch in dieser deutschsprachigen Ausgabe beizubehalten.

Fazit
Ein interessantes, intensives Leseerlebnis, das viel Raum zum Nachdenken lässt. Mich hat die Inhaltsangabe auf diese Geschichte neugierig gemacht und ich wurde nicht enttäuscht. Es sind gerade die kleinen, unabhängigen Verlage, die bewusst und persönlich entscheiden, welche Titel sie herausbringen. Dieses überzeugte Engagement ermöglicht es uns Lesenden, die persönliche Lese-Wohlfühlzone öfter mal zu verlassen und dadurch völlig neue Eindrücke und Welten zu erkunden.

Bewertung vom 10.12.2022
Das Eis-Schloss
Vesaas, Tarjei

Das Eis-Schloss


ausgezeichnet

Stark, poetisch, außergewöhnlich

„Alles war Eis, und das Wasser spritzte dazwischen hervor und baute weiter, Stränge des Wasserfalls wurden vom Eis abgelenkt und schossen in neuen Betten dahin und bildeten neue Formen.“ (Zitat Seite 50)

Inhalt
Die elfjährige Unn ist Waise und erst vor kurzem zu ihrer Tante in das Dorf gezogen. Die gleichaltrige Siss fühlt sich von der scheuen Einzelgängerin angezogen. Doch am Tag, nachdem Siss Unn zum ersten Mal zu Hause besucht hat, verschwindet Unn auf dem Schulweg spurlos. Es ist erst Spätherbst, aber die klirrende Kälte hat den Wasserfall beim nahe gelegenen See zu einem gewaltigen Eis-Schloss gefrieren lassen. In der Schule hatten alle darüber gesprochen, wie großartig der Anblick war, ein Ausflug war geplant – war Unn an diesem Morgen schon alleine zu diesem gefrorenen Wasserfall gegangen?

Thema und Genre
In diesem 1963 entstandenen Roman des norwegischen Schriftstellers geht es um die beginnende Freundschaft zwischen zwei Mädchen. Als eines der Mädchen plötzlich verschwindet, prägt dieses Ereignis das zweite Mädchen und die gesamte Dorfgemeinschaft nachhaltig.

Charaktere
Unn ist eine scheue Einzelgängerin und als sie verschwindet, führen die Erinnerungen an Unn auch Siss in eine tiefe, selbst gewählte Isolation.

Handlung und Schreibstil
Die Geschichte spielt innerhalb eines knappen Zeitraums von wenigen Monaten. Im Mittelpunkt der Ereignisse steht die elfjährige Siss
und wir erleben, wie tief sie durch das Verschwinden ihrer neuen Freundin aus der Bahn geworfen wird. Täglich denkt sie an Unn, verspricht ihr in Gedanken, sich in eine ähnliche innere Einsamkeit zurückzuziehen, die auch Unn umgeben hatte. Die leise Sprache schildert einfühlsam die Gedankenwelt und Gefühle der jungen Siss, verbindet sie gleichsam mit der einprägsamen Beschreibung der unterschiedlichen Naturschauspiele des norwegischen Winters. Im Anhang an den Roman finden wir ein Nachwort, geschrieben von einer beeindruckten, begeisterten Doris Lessing.

Fazit
Eine magische, poetische Geschichte über Freundschaft, Verlust und Trauer, in der ein gewaltiges Naturschauspiel im kalten Winter Norwegens eine wichtige Rolle spielt, real und metaphorisch.

Bewertung vom 08.12.2022
Winterkalt: Thriller
Shepherd, Catherine

Winterkalt: Thriller


ausgezeichnet

Spannende Unterhaltung, perfekt für diese Jahreszeit

„Es glitzert und strahlt. Das Licht bricht sich tausendfach und erschafft eine atemberaubende Zauberwelt, einen Palast aus Eis.“ (Zitat Seite 1)

Inhalt
Kriminalkommissar Florian Kessler erhält in einer kalten Winternacht einen Anruf. Er muss zu einem Tatort und bald danach bittet er die Rechtsmedizinerin Julia Schwarz, zu diesem großen Platz an dem kleinen, künstlich angelegten See mitten in Köln zu kommen. Zunächst sieht sie nur eine prächtige Eisskulptur, etwa zwei Meter hoch. Sie wird von extra aufgestellten Scheinwerfern angestrahlt. Dann erkennt Julia es: in der Statue schwebt eine tote Frau, eingefroren. Ein ungewöhnliches Kunstwerk, entsetzlich und gleichzeitig wunderschön. Eine Eiskönigin und ein Eiskünstler, der gerade erst begonnen hat …

Thema und Genre
Dieser Thriller ist Teil der Serie um die Kölner Rechtsmedizinerin Julia Schwarz, ist jedoch ein in sich abgeschlossener Fall und kann unabhängig von den anderen Bänden gelesen werden. Starke psychologische Momente verbinden sich mit Themen aus dem Kunstbereich.

Charaktere
Julia Schwarz, in ihrem Institut wegen ihrer Unnahbarkeit heimlich „Eislady“ genannt, ist nicht nur eine brillante Rechtsmedizinerin, sondern auch eine hervorragende Ermittlerin. Ihr Chef lässt ihr zum Glück freie Hand, eng mit der Kriminalpolizei zusammenzuarbeiten. Zunächst etwas skeptisch ihrer neuen Assistentin Lenja Nielsen gegenüber, erkennt Julia rasch, dass diese ihr ähnlich ist, was Einsatz und rasche Auffassungsgebe betrifft und zudem sofort bereit ist, sie bei ihren gefährlichen Alleingängen zu begleiten.

Handlung und Schreibstil
Die Handlung beginnt mit einem kurzen Prolog und verläuft chronologisch. Auch der Prolog passt bereits in die Abfolge der Ereignisse. Parallel zu den Ermittlungen werden weitere Geschichten abwechselnd geschildert, die zunächst keinen Bezug zu diesem Fall zu haben scheinen. Dazu kommen noch Szenen, in denen die Tatperson mit Gedanken und Handlungen im Mittelpunkt steht. Dies erlaubt eine Fülle von eigenen Überlegungen und Vermutungen betreffend die Täterschaft, denn es gibt eine Reihe von Verdächtigen und alle könnten auch ein Motiv und das entsprechende Fachwissen über den Umgang mit Eis haben. Auch für persönliche Konflikte der Hauptfiguren nimmt sich die Autorin Zeit. Die Sprache passt zum Genre und zu dieser rasanten Geschichte.

Fazit
Ein spannender Thriller, sympathische Hauptfiguren und eine sehr gut entwickelte Geschichte mit Überraschungen und unvorhersehbaren Wendungen.

Bewertung vom 08.12.2022
Mein Herz so weiß
Marías, Javier

Mein Herz so weiß


sehr gut

Anspruchsvoll, aber es lohnt sich

„Jeder zwingt jeden, nicht so sehr, etwas zu tun, was er nicht will, als etwas zu tun, von dem er nicht weiß, ob er es will, denn fast niemand weiß, was er nicht will, es ist nicht möglich, das zu wissen.“ (Zitat Seite 217)

Inhalt
„Ich wollte es nicht wissen, aber ich habe es erfahren …“ so beginnt dieser Roman. Juan, der nun erwachsene, seit weniger als einem Jahr selbst verheiratete Ich-Erzähler, wächst mit Andeutungen auf, die Ehefrauen seines Vaters Ranz betreffend. Es geht um Teresa, die kurz nach der Rückkehr von ihrer Hochzeitsreise gestorben ist. Teresa war Juans Tante, denn sein Vater hat später deren jüngere Schwester Juana geheiratet, Juans Mutter. Nach Juans Heirat mit Luisa mehren sich in Juans Bekanntenkreis Andeutungen an die Geschehnisse in der Vergangenheit und vor allem Luisa möchte wissen, was damals wirklich passiert ist. „Vielleicht hat er all diese Jahre darauf gewartet, dass in deinem Leben jemand wie ich auftaucht, jemand, der zwischen ihm und dir vermitteln kann, ihr Väter und Söhne seid sehr ungeschickt miteinander.“ (Zitat Seite 169)

Thema und Genre
In diesem Roman, heute ein moderner Klassiker, geht es um die Möglichkeiten der Sprache als Ausdrucksmittel und Kommunikationsform, um Beziehungen, Familie, um Geheimnisse der Vergangenheit, die auch in der Gegenwart präsent sind und diese prägen und um die Frage, ob Verschweigen bereits eine Lüge ist. Wird eine Schuld durch ein Geständnis geringer, oder aber, indem man darüber schweigt und sie eines Tages dann weit zurück in der nicht mehr veränderbaren Vergangenheit liegt?

Charaktere
Juan arbeitet als Dolmetscher und Übersetzer, wie auch Luisa, mit der er seit knapp einem Jahr verheiratet ist. Sogar seine Gedanken sind von der Kraft der Sprache und der Worte durchdrungen. Am Tag seiner Hochzeit fragt ihn sein Vater: „was nun?“ und genau diese Frage stellt sich auch Juan bereits während der Hochzeitsreise und immer wieder in den Monaten danach.

Handlung und Schreibstil
Die Geschichte spielt innerhalb einer Gegenwart, die nicht ganz ein Jahr umfasst, und einer erinnerten nahen und ferneren Vergangenheit. Die Handlung besteht aus einzelnen Episoden, deren Zusammenhänge man erst gegen Ende der Geschichte erfährt, oder auch nicht. Juan schildert seine Geschichte als Ich-Erzähler, wobei seine Gedanken, Überlegungen, Befindlichkeiten und Ängste den größten Raum dieses Romans einnehmen. Es ist bekannt, dass bei Javier Marías die Sprache im Vordergrund steht, die genauen, sehr ausführlichen Beschreibungen der Gedanken seiner Hauptfiguren in langen Satzgebilden. Auch die Konflikte hinterfragen das Verhalten der Menschen in familiären Beziehungen und beobachten es aus unterschiedlichen psychologischen Blickwinkeln und Fragenstellungen.

Fazit
Sowohl die Problematik, die Fragen aufwirft und zum Nachdenken anregt, als auch die kraftvolle Sprache mit langen Sätzen und Satzfolgen, noch ergänzt durch weitere Gedankensprünge und Einschübe in Klammern, machen aus diesem Roman keine Lektüre, die man eben mal so zwischendurch liest, dieses Buch verlangt die Aufmerksamkeit der Lesenden von der ersten bis zur letzten Seite. Diese Zeit sollte man sich nehmen.

Bewertung vom 03.12.2022
Das Buch
Jung, Jochen

Das Buch


ausgezeichnet

Interessant und unterhaltsam

„Ich fahre immer gerne auf Buchmessen, denn mehr überraschende Angebote als auf Buchmessen kann einem keine Bibliothek und kein Buchhändler vorlegen.“ (Zitat Seite 10)

Inhalt
Ein kleines Buch aus der Serie „Dinge des Lebens“. Hier schreibt jemand, für den Bücher tatsächlich zum täglichen Leben gehörten und auch heute noch gehören. Der Germanist, Schriftsteller und Verleger Jochen Jung war zunächst Lektor, später Geschäftsführer des Residenz-Verlages und gründete im Jahr 2000 den eigenen Jung-und-Jung-Verlag. Hier nun schildert er seine persönliche Beziehung zum Buch, in diesem Fall aus Überzeugung zum gedruckten Buch.

Umsetzung
In kurzen Essays erzählt Jochen Jung aus seinem Leben als Verleger und Leser, schreibt über Bücher, die ihn geprägt haben und über Begegnungen mit Autoren und Autorinnen. Es geht um die Vielfalt der Themen, Geschichten, um die unterschiedlichen Figuren und die Textsprache von Romanen, auch der Lyrik widmet er ein Kapitel. Doch wir erfahren auch Interessantes über die praktische Seite des Verlagswesens, zum Beispiel eine sachliche Erklärung zur Preisgestaltung von Büchern. Das letzte Kapitel beschäftigt sich mit der Vielfalt der Bücher, den Erfahrungen beim Lesen und der besonderen Vorfreude und Neugier, die uns erfasst, wenn wir die erste Seite eines neuen Buches aufschlagen und zu lesen beginnen.

Fazit
Dieses kleine Buch birgt eine Fülle von Anregungen und klugen Aussagen für jeden und jede Lesebegeisterte. So schreibt er über Autoren und Autorinnen: „Es versteht sich: Das Herz eines Buches ist immer eines, das vorerst in einem Menschen schlägt.“ (Zitat Seite 25). Ich selbst habe dieses Buch durch Zufall auf einer Buchmesse, der BuchWien entdeckt und mir selbst geschenkt, denn es ist das perfekte Geschenk für alle Lesenden.