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Christian1977
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Leipzig

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Insgesamt 176 Bewertungen
Bewertung vom 05.07.2023
Das Fest
Kennedy, Margaret

Das Fest


ausgezeichnet

Cornwall, im August 1947: Im etwas heruntergekommenen Hotel Pendizack trifft sich eine bunte Mischung von Personen aus den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten. Da ist beispielsweise die sehr arme Witwe Mrs. Cove, die mit ihren drei Töchtern sogar im selben Zimmer wohnt, um nur eines bezahlen zu müssen. Da ist Kanonikus Wraxton, ein zorniger Mann, dessen Tochter Evangeline offenbar an "Hysterie" oder Ähnlichem leidet. Oder die schwer kranke Lady Gifford, die sich mit ihrem Mann und den vier Kindern am Meer ein wenig von ihren Leiden erholen will. Sie alle eint nur eine einzige Sache: Sie haben sich in einem Hotel eingenistet, das dem Untergang geweiht ist. Denn in wenigen Tagen wird ein Felssturz das Gebäude unter sich begraben und nur diejenigen verschonen, die sich an jenem Abend zu einem Fest am Strand versammelt haben.

Wer glaubt, dass mit diesem Hinweis schon zu viel gesagt wurde, liegt falsch, denn schon das genial umgesetzte Cover, das in einem einzigen Bild den gesamten Klappentext darstellt, setzt den Felssturz und das dazugehörige Unglück als bekannt voraus. Vielmehr geht es um die Frage, wer überlebt und wer stirbt - und natürlich, wie es überhaupt zu diesem Unfall kommen konnte? Oder ist es vielleicht gar kein Unfall gewesen?

"Das Fest" von Margaret Kennedy (1896 - 1967) stammt ursprünglich bereits aus dem Jahre 1950. Nun ist es bei Schöffling & Co. in der deutschen Übersetzung von Mirjam Madlung erschienen. Der Verlag bezeichnet es im Klappentext als "nostalgischen Sommerkrimi aus England". Vielleicht ist es aber sogar noch mehr: ein hochspannender Pageturner, das Porträt einer vom Zweiten Weltkrieg gezeichneten Gesellschaft - oder einfach nur ein Fest der Literatur.

Denn Kennedy gelingt es nahezu spielend leicht, die Leserschaft hineinzuziehen in diese merkwürdige Ansammlung von Figuren und das drohende Unheil, das wie ein Damokles-Schwert über den Hotelgästen schwebt. Kennedy setzt dabei vor allem zu Beginn des Romans auf unterschiedliche literarische Stilmittel wie Briefe, Tagebucheinträge und erzählende Passagen. Das sorgt einerseits für Abwechslung und spielt andererseits mit zahlreichen Perspektivwechseln, so dass die Leser:innen gezwungen sind, ihre vorgefertigten Meinungen im nächsten Kapitel schon wieder zu überdenken, weil eine Figur plötzlich in einem ganz anderen Licht erstrahlt. Die Sprache, die sie dafür verwendet, verzichtet nahezu komplett auf literarische Spielereien und strahlt dennoch eine gewisse Eleganz aus. Das sorgt dafür, dass sich "Das Fest" unglaublich flüssig und unterhaltsam lesen lässt, ohne jedoch jemals in die Banalität abzurutschen. Denn dafür ist der Roman viel zu gewitzt und klug konzipiert. Margaret Kennedy fesselt ihr Publikum nicht nur durch die sich stetig und langsam aufbauende Spannung, sondern begeistert zwischendurch auch immer wieder mit sprachlichem Witz und Komik, die allerdings fern davon ist, sich über die Figuren lustig zu machen.

Ohnehin ist die Figurenkonzeption ein weiteres Plus des Buches. Obwohl es keine klassische Hauptfigur gibt, gelingt es der englischen Autorin, eine Bande zu den lieb gewonnenen Charakteren wie Zimmermädchen Nancibel oder den drei Cove-Töchtern zu knüpfen, die immer stärker wird, so dass man sich mehr oder weniger klammheimlich wünscht, dass diese doch vom Felssturz verschont bleiben mögen und stattdessen andere dran glauben sollen. Das ist clever, auch weil man sich als Leser:in moralisch hinterfragen muss: Ist es legitim, der einen oder anderen Figur den Tod zu wünschen, damit eben Nancibel davon verschont bleibt? Kennedy erreicht dies durch Empathie zu ihren erkennbaren Lieblingen, die sich in berührenden zwischenmenschlichen Szenen auf die Leserschaft übertragen.

Ausgerechnet im letzten Viertel des Buches schwächelt "Das Fest" erstmals ein wenig. Die Bewohner:innen ergötzen sich in Diskussionen über die britische Nachweltkriegspolitik, die für das damalige zeitgenössische Publikum sicherlich interessanter gewesen sein dürften als für uns heute. Zudem fehlt dem Finale - trotz eines eingefügten sehr gelungenen Nervenkitzels - vielleicht der ganz große Überraschungseffekt, da man bei der Lektüre mit der Zeit doch ein ganz gutes Gespür dafür bekommt, wer wohl zu den Todesopfern zählen wird. Letztlich haben mich diese kleineren Schwächen aber nicht besonders gestört.

Was den Roman für mich nämlich noch lesenswerter macht, ist, dass ich ein Faible für Geschichten habe, die entweder in Hotels oder in Zügen spielen, wie beispielsweise zuletzt "Was geschieht in der Nacht" von Peter Cameron, "Das perfekte Grau" von Salih Jamal oder "Ein Hummerleben" von Erik Fosnes Hansen. Ein Hotel erlebt so viele unterschiedliche Menschen und deren persönliche Schicksale, dass wohl nahezu jedes von ihnen selbst Schriftsteller werden könnte. Auch das Pendizack wüsste von den dunklen Geheimnissen seiner Bewohner und Besitzer zu berichten - wenn es nicht durch den Felssturz für immer schweigen müsste...

Bewertung vom 24.06.2023
Der letzte Sessellift
Irving, John

Der letzte Sessellift


sehr gut

Es ist schwer, John Irvings neuen Roman "Der letzte Sessellift", der jüngst bei Diogenes in der deutschen Übersetzung von Anna-Nina Kroll und Peter Torberg erschienen ist, in wenigen Sätzen zusammenzufassen. Dafür ist das Werk schlicht zu lang und ein wenig unübersichtlich, denn Ich-Erzähler Adam widmet sich nicht nur seiner eigenen Lebensgeschichte und Weltanschauung, sondern schweift auch immer wieder ab. Zudem ist das Personal unglaublich umfangreich, schließlich erstreckt sich "Der letzte Sessellift" nicht nur über knapp 1.100 Seiten, sondern auch über einen Zeitraum von etwa 70 Jahren. Freunde des 81-jährigen Irving kommen dabei durchaus auf ihre Kosten. Beliebte Zutaten eines jeden Irvings tauchen auch hier wieder auf: homosexuelle Männer und Frauen, eine Transfrau, ein Ringerteam, Politik- und Gesellschaftskritik, Schenkelverkehr. Eine Bibliothekarin spielt hingegen nur eine Nebenrolle und den Bären findet man eventuell nur versteckt und wenn man etwas um die Ecke denkt.

Seine Stärken hat der Roman im Unerwarteten. Vermeintlich lieb gewonnene Hauptfiguren verabschieden sich auf nicht gerade glimpfliche Weise und sehr plötzlich aus der Handlung. Oder Irving streut von Zeit zu Zeit immer mal wieder die Drehbücher von Hauptfigur Adam, seinerseits Schriftsteller, ein, um von Ereignissen zu erzählen, die so schrecklich sind, dass er offenbar selbst eine gewisse Distanz benötigt, um darüber berichten zu können. Die Drehbücher lesen sich fast wie eigene "Bücher im Buch" und erstrecken sich zweimal sogar über jeweils knapp 100 Seiten. Mutig und unkonventionell und für mich die Highlights des Romans. Denn Irving gelingt es durch seine Drehbücher das Gefühl einer permanenten Bedrohung zu schaffen. Mit dem Wechsel ins erzählerische Präsens erfährt "Der letzte Sessellift" in diesen Momenten eine große Unmittelbarkeit. Man hat von Beginn an das Gefühl, einer oder mehreren Figuren könnte in diesen Szenen etwas Schreckliches widerfahren - nur wem und wie bleibt dabei unklar. Das sorgt für unterschwellige Spannung.

Außerordentlich berührend wird der Roman in den Momenten, in denen Irving besonders persönlich wird und man den Autoren hinter seiner Hauptfigur erkennt. Folgt man den Gerüchten, soll "Der letzte Sessellift" ja angeblich der letzte große Roman von Irving sein. Hat man dies im Hinterkopf, wird man auf den letzten Seiten fast überwältigt von der großen Melancholie, die dem Altmeister hier gelingt. Den letzten Satz kann man wohl nicht lesen, ohne mindestens eine Gänsehaut zu bekommen. Ohnehin hat das Buch seine starken Momente in den ernsten Szenen. Hervorzuheben ist in dieser Hinsicht die wunderbar zärtlich und liebevoll geschilderte Vater-Sohn-Beziehung zwischen Adam und dem kleinen Matthew, der im letzten Viertel den Roman bereichern darf.

Die Suche nach Adams leiblichen Vater entpuppt sich hingegen als Enttäuschung. Von mir lange Zeit als zentrales Element des Werks ausgemacht, erscheint die Auflösung doch recht lapidar. So wird allgemein nicht ganz klar, was die zentrale Aussage des Buches überhaupt sein soll. Es gibt viel Politik, viel Sex, viel Gewalt, viele Tote, viele Tränen. Und natürlich gibt es erneut Irvings großen Einsatz für Minderheiten und seinen Kampf für die Anerkennung der LGBTQ-Community, die sicherlich nicht nur für diesen Roman, sondern für sein gesamtes Lebenswerk mit in die Bewertung dieses Buches einfließen kann.

Dennoch hat "Der letzte Sessellift" auch erhebliche Schwächen. Viele der Figuren zeigen kaum Anzeichen einer Entwicklung. Das lesbische Stand-up-Comedy-Duo Nora und Em wirkt beispielsweise in Teenager-Jahren genauso wie im fortgeschrittenen Alter, so dass es nicht immer leicht ist, dem Roman bei seinen zahlreichen Sprüngen zeitlich zu folgen. Der Humor begibt sich teilweise in recht brachiale Gefilde und lässt selbst die Fäkalschiene nicht aus. Der Umgang mit unsympathischen Figuren ist bisweilen zu despektierlich. Wenn beispielsweise der demenzkranke Großvater permanent als "Windelträger" bezeichnet und ihm auch nur ein slapstickhafter Abgang aus dem Buch gestattet wird, werden die Grenzen des guten Geschmacks schon mal unterschritten.

Zudem ergötzt sich das Buch in permanenten Wiederholungen. Damit sind nicht nur Handlungsbögen gemeint, die mehrfach erzählt werden, sondern auch ständig wiederkehrende Bezeichnungen der Figuren. So war ich dem "Schneeläufer", der "kleinen Englischlehrerin", der "Pistenpflegerin" und vielem mehr doch irgendwann arg überdrüssig. Auch dadurch wird "Der letzte Sessellift" in seiner Gesamtheit viel zu lang und hätte gut und gerne um 200 oder 300 Seiten gekürzt werden können.

Alles in allem ist "Der letzte Sessellift" wahrscheinlich nicht John Irvings stärkster Roman. Er ist aber auch mitnichten eine Enttäuschung. Dafür zeigt sich der Altmeister einfach in zu guter (Erzähl-)Form und Fabulierlust. Und dafür ist auch diesmal sein Einsatz für Minderheiten wieder zu groß.

Bewertung vom 16.05.2023
Mistral
Borrély, Maria

Mistral


ausgezeichnet

In einem Dorf der Haute-Provence zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebt die junge Marie im Kreise ihrer Familie. In ihrer täglichen Arbeit hilft sie beim Sammeln von Oliven und Mandeln und bei der Herstellung von Öl. Zuhause kümmert sie sich liebevoll um ihre kleineren Geschwister. Als sie den Müllersgehilfen Olivier Roure kennenlernt, spürt sie sofort eine besondere Verbindung zwischen sich und dem jungen Mann. Bei einem gemeinsamen Ausflug kommen sich die beiden näher. Doch, was Marie nicht weiß: Olivier ist bereits einer anderen versprochen...

Als die Übersetzerin Amelie Thoma bei einem Sommerurlaub in der Provence eher zufällig auf Maria Borrélys (1890 - 1963) kleinen Roman "Sous le vent" aus dem Jahre 1929 stieß, machte sie sich "auf eine ländlich-pittoreske Erzählung gefasst". So erfahren wir es im ausführlichen und informativen Nachwort des jüngst im Kanon Verlag als deutsche Neuübersetzung erschienenen "Mistral". Doch, was sie entdeckte, war "ein echtes literarisches Kleinod", das ausgerechnet in jenem Dorf spielte, in dem sie sich gerade befand. Ein Glücksgriff, auch für die deutsche Leserschaft.

Ein unglücklich verliebtes junges Mädchen, ein Wetterphänomen im Titel und eine Frau als Urheberin. Wer jetzt an Emily Brontës "Sturmhöhe" denken mag, liegt nicht ganz falsch, da es durchaus Parallelen zwischen den Beziehungen Cathy/Heathcliff und Marie/Olivier gibt. Allerdings ist Olivier eher eine Art Anti-Heathcliff. Denn während der emotionale "Sturmhöhe"-Bösewicht selbst wie ein Orkan durch die Wuthering Heights fegte, entpuppt sich Olivier als laues Lüftchen, der die Liebesbotschaft seiner Verehrerin kurzerhand zerreißt. Die Naturbeschreibungen Maria Borrélys übertreffen diejenigen Emily Brontës hingegen sogar noch um ein Vielfaches. Womit wir auch schon bei der großen Stärke von "Mistral" angekommen sind. Tatsächlich entpuppt sich der Roman als regelrechte Sprachgewalt. Ob nun der Titelheld oder seine Schwester, die Montagnère, ob die Hitze des Sommers oder die eiskalten Fallwinde - Maria Borrély ist eine Meisterin des Nature Writing, das es damals so allerdings noch gar nicht gab. Auf nahezu jeder Seite zischt und grollt es und man ist als Leser geneigt, zu überprüfen, ob der Hut noch sitzt. Wenn man denn beim Lesen einen trägt. Allein diese Beschreibungen machen aus "Mistral" ein überwältigendes Ereignis, das ich in dieser Art noch nicht kennengelernt habe. Allenfalls Lafcadio Hearns "Chita" mag diesbezüglich in seinem eindringlichen ersten Teil mithalten können, oder ansatzweise Irene Solàs "Singe ich, tanzen die Berge". Wobei Maria Borrély im Vergleich zur Katalanin glücklicherweise auf zu viel Lautmalerei verzichtet.

Eine weitere Qualität von "Mistral" ist die völlig unkonventionelle Erzählstruktur. Denn Maria Borrély scheint sich um literarische Konventionen überhaupt nicht zu scheren. Da wird in den Zeiten hin- und hergewirbelt, als hätte hier der Mistral selbst seine Hände im Spiel. Vom Präsens ins Präteritum und wieder zurück, manchmal innerhalb eines Absatzes. Eine kleine Brise Perfekt darf natürlich auch nicht fehlen. Das ist einerseits gerade zu Beginn anstrengend, doch andererseits auch herrlich erfrischend und eben anders. "Eigentümlich", wie es Literatur-Nobelpreisträger André Gide formulierte, der übrigens einen erheblichen Anteil daran hatte, dass "Sous le vent" 1930 bei Gallimard erscheinen durfte. "Merkwürdig und seltsam" würde sicherlich auch passen. Oder auch perfekt unperfekt und dabei voller Leidenschaft.

Wenn man "Mistral" kritisieren möchte, bietet der Roman durchaus Angriffspunkte. Die Figuren bleiben mit einer noch zu erwähnenden Ausnahme eher blass. Die poetischen Vergleiche Borrélys passen nicht immer, sie gleiten manchmal ins Schwülstige ab und werden zu häufig eingesetzt. Auf der Handlungsebene passiert über weite Strecken verhältnismäßig wenig. Nur störte mich all dies mit zunehmender Dauer überhaupt nicht mehr, da es "Mistral" irgendwann und klammheimlich gelang, mich komplett für das Werk und die Autorin einzunehmen. Fast so, als hätte ein besonders gewaltiger Sturm irgendwann eine nicht mehr zu durchdringende Staubschicht auf diese Kritikpunkte gelegt.

Neben der wirklich wundervollen - und sicherlich nicht einfachen - Übersetzung von Amelie Thoma möchte ich abschließend noch die wohl stärkste Figur des Romans vorstellen. Es handelt sich dabei um den fast 80-jährigen Moisson, Maries Großonkel, dem zwar nur wenige Auftritte gestattet werden, die dafür aber umso erstaunlicher sind. Denn dieser Moisson spricht nicht nur wie ein biblischer Prophet, er scheint auch einer zu sein. Moisson klagt in einer kurzen Zornesrede die Menschheit an, zu wenig für den Umweltschutz und das Tierwohl zu tun. In einem Roman, der fast 100 Jahre alt ist. Das ist nahezu unglaublich und genial, denn seine Ausführungen sind von so erschreckender Aktualität, dass ich mich erst einmal vergewissern musste, ob sich beim Jahr der Erstveröffentlichung nicht doch irgendwo ein Zahlendreher eingeschlichen hat...

Bewertung vom 09.05.2023
Stories
Williams, Joy

Stories


sehr gut

Da gibt es den Prediger, der seiner sterbenskranken Frau nicht von der Seite weicht. Oder die beiden Mädchen, die durch einen Zug stromern und dabei einen Haufen merkwürdiger Menschen treffen. Und natürlich auch die Mütter verurteilter Mörder:innen, die sich an einem Ort irgendwo in den USA niedergelassen haben. Sie alle eint eine große Einsamkeit, der sie trotz aller Bemühungen offenbar nicht entfliehen können. Und sie alle sind Protagonist:innen der "Stories" von Joy Williams, die kürzlich in der deutschen Übersetzung von Brigitte Jakobeit und Melanie Walz bei dtv erschienen sind.

In den Feuilletons der deutschen Tageszeitungen und im Literarischen Quartett des ZDF wurden die "Stories" fast schon überschwänglich besprochen, und auch auf der Rückseite des Buches huldigen zahlreiche zeitgenössische amerikanische Erzähler:innen Joy Williams. Umso überraschender, dass es sich bei dem Erzählband tatsächlich um die erste auf deutsch erscheinende Veröffentlichung der fast 80-jährigen Autorin handelt. Man kann bereits jetzt voraussagen, dass es nicht die einzige bleiben wird. Insgesamt 13 Kurzgeschichten umfasst die Ausgabe, die damit ein breites Schaffensspektrum der Autorin von 1972 bis 2014 abdeckt.

Ein kluger Schachzug des Verlags ist es, mit "Liebe" die wohl zugänglichste von ihnen ganz an den Anfang zu stellen und zudem als Leseprobe anzubieten. Nicht nur wegen des gewaltigen Titels, sondern auch, weil sie im Vergleich mit den meisten anderen Stories trotz des tieftraurigen Grundthemas einer krebskranken Frau und der unbändigen Liebe ihres Ehemannes fast schon etwas Hoffnungsvolles ausstrahlt. Eine Hoffnung, die vielen anderen Geschichten eher abgeht. Ohnehin wirkt die Reihenfolge in der deutschen Ausgabe - wie bei einem stimmigen Album der Rock- oder Popmusik - alles andere als beliebig, auch wenn sie sich nicht an die Chronologie des amerikanischen Erscheinens hält. So kann es wohl auch kein Zufall sein, dass uns Joy Williams mit der letzten der gesammelten Erzählungen "Auswege" aufzeigt. Auswege, die Protagonistin Lizzie ergreifen möchte, die aber auch die Leserschaft mit einer gewissen Erleichterung zur Kenntnis nehmen dürfte, denn Joy Williams' "Stories" sind alles andere als Wohlfühllektüre. Zieht man erneut die Musik als Vergleich heran, ist die Grundtonart eindeutig mehr Moll als Dur. Oder vielleicht auch eher Tschaikowsky als Händel.

Der rote Faden aller Erzählungen ist wohl die Einsamkeit der Hauptfiguren. Sei es der kleine Tommy, der in "Letzte Generation" nacheinander seine Mutter, seinen Bruder und seine beste Freundin verliert. Oder der 13-jährige Bomber Boyd in "Die blauen Männer", dessen Vater hingerichtet wurde, weil er einen Hilfssheriff und dessen Hund erschoss. Hinzu kommt eine gehörige Portion an Skurrilität, die sich in einigen Geschichten bis ins Groteske hineinsteigert, so zum Beispiel in den Dialogen zwischen Gwendal und Gloria in "Der kleine Winter" oder in der bereits kurz angerissenen Geschichte "Im Zug", in der die beiden Mädchen einem Haufen Irrer ausgesetzt zu sein scheinen. Zumindest auf den ersten Blick. Denn blickt man hinter die Fassade des Wahnsinns, offenbart sich dem Leser erneut ein zutiefst einsames Kind.

Dies ist ein Kritikpunkt, den man den insgesamt lesenswerten Stories machen könnte. Sie sind thematisch recht eindimensional. Fast überall lauern irgendwelche Abgründe, fast überall drückt die Einsamkeit der Figuren aufs Gemüt. So sind sie vielleicht eher häppchenweise als am Stück zu ertragen. Hinzu kommt, dass mich nicht alle Geschichten gleichermaßen überzeugen konnten. Während mich beispielsweise "Letzte Generation", "Die blauen Männer" oder auch "Besuchsrecht" sehr berührten, ließen mich "Rost", "Kongress" oder "Der Geliebte" eher kalt. Zentral für Williams sind jedoch immer die zwischenmenschlichen Beziehungen, die auf irgendeine Art in "Stories" durchgehend gestört sind.

Noch eine kleine Anekdote zum Schluss: Freunde seltsamer Namen und Alliterationen kommen in "Stories" ganz wunderbar auf ihre Kosten. Denn Bomber Boyd, Gloria und Gwendal sind nur der Anfang...

Bewertung vom 21.04.2023
Das Bildnis des Dorian Gray
Wilde, Oscar

Das Bildnis des Dorian Gray


ausgezeichnet

England, im späten 19. Jahrhundert: Für den Maler Basil Hallward ist der junge Dorian Gray nicht einfach nur ein Modell, das sich von ihm porträtieren lässt. Vielmehr erkennt Basil in ihm eine Art Muse, die ihn zu ungekannten Höchstleistungen antreibt. So ist es nicht verwunderlich, dass das Bildnis seine wohl beste Arbeit aller Zeiten wird. Und auch Dorian ist verliebt in sein Porträt und seine eigene Schönheit. In einem beseelten Moment äußert er den Wunsch, dass seine Schönheit und Jugend doch für alle Zeiten existieren und stattdessen das Bild altern möge. Ein faustgleicher Pakt ganz ohne Mephistopheles, aber mit ähnlich fatalen Folgen. Denn Dorian hat in diesem Moment offenbar seine Seele verkauft. Während sich nach einer unglücklich endenden Liebesbeziehung erste Falten im Porträt zeigen, erstrahlt Dorian im alten, jungen Glanz...

Oscar Wildes einziger Roman aus dem Jahre 1891 sorgte seinerzeit nicht nur wegen der zahlreichen homoerotischen Anspielungen für einen Skandal. Der Ire wurde 1895 wegen "homosexueller Unzucht" zu zwei Jahren Haft mit Zwangsarbeit verurteilt. Verarmt und gebrochen starb er 1900 im Alter von nur 46 Jahren in Paris.

"Das Bildnis des Dorian Gray" gilt als Klassiker der Weltliteratur. Seit 1901 wurde er über zwei Dutzend Mal ins Deutsche übertragen und vielfach neu aufgelegt. Braucht es also eine weitere Neuausgabe, noch dazu zu einem recht stattlichen Preis von 28 Euro? Unbedingt, wenn sie so kunstvoll illustriert ist, wie die jüngst bei Reclam erschienene Ausgabe in der Übersetzung von Ingrid Rein. Denn die Illustrationen der italienischen Zwillingsschwestern Anna und Elena Balbusso machen aus dem Buch fast schon ein eigenes Kunstwerk. Nur dass sich auf ihren Bildern glücklicherweise keine Spuren des Verfalls zeigen. Bereits das Cover deutet die Detailverliebtheit der erstmals auf dem deutschen Buchmarkt erscheinenden Künstlerinnen an. Für die Leserschaft lohnt es sich, den Blick schweifen zu lassen. Da blickt beispielsweise Edvard Munchs "Madonna" im Hintergrund gemeinsam mit Basil und seinem Freund Lord Henry Wotton, einer der wohl schillerndsten Figuren der Literaturgeschichte, auf Dorians Porträt. So kühn wie überraschend, wenn man bedenkt, dass die "Madonna" erst 1894/95 entstand - und damit vier Jahre jünger ist als Oscar Wildes Roman. Später bekommen die Bilder passend zur Geschichte nicht nur in den Farbtönen eine düsterere Note. Insgesamt entfalten die Bilder in Verbindung mit der Lektüre eine erstaunlich intensive Wirkung.

Nun ist eine Buchrezension, die sich lediglich auf die Bilder aber nicht auf den Text bezieht, wohl keine vollständige. Deshalb der Hinweis, dass sich die Lektüre des Buches selbstverständlich auch seinetwegen lohnt. Wilde fabuliert so ausschweifend und manieriert, wie seine Figuren leben. Diese Ansammlung dekadenter Dandys, die, ohne Rücksicht auf die Gefühle anderer oder auf Verluste, in der Regel nichts tut und sich täglichen Vergnügungen hingibt, ist schon ein ganz spezielles Ensemble. Und während der Titel-"Held" Dorian Gray auf immer dunklere Pfade gerät, scheint die Wurzel allen Übels doch seine Freundschaft zu dem oben bereits kurz erwähnten Lord Henry Wotton zu sein. Tatsächlich bleibt Wotton dadurch als eigentlicher Antiheld in Erinnerung - und als interessanteste Figur eines insgesamt schillernden Casts. Zudem weist "Das Bildnis des Dorian Gray", anders als bei Klassikern manchmal üblich, einen veritablen Spannungsbogen auf, der bisweilen an klassische Schauergeschichten erinnert. Und letztlich weist Reclam im Klappentext nicht zu Unrecht auf die Aktualität des Werks hin. In Zeiten zahlreicher Selbstdarstellungen und dem Streben nach Jugend und Schönheit, sind wir nicht vielleicht selbst eine Gesellschaft vieler kleiner Dorians?

Die neue Reclam-Ausgabe von "Das Bildnis des Dorian Gray" ist eine hinreißend gelungene, die ich jedem ans Herz legen kann. Dem bibliophilen Bücherfreund, weil er mit ihr ein wirklich besonderes Kunstwerk seiner Sammlung hinzufügen kann. Dem Liebhaber des Romans, weil er mit den Illustrationen eine ganz neue Perspektive erhält. Und dem Erstleser ohnehin, weil es in naher Zukunft wohl keine annähernd so schöne Ausgabe wie diese geben wird.

Bewertung vom 14.04.2023
Josses Tal
Rehse, Angelika

Josses Tal


gut

Als der fünfjährige Josef Tomulka im Juli 1930 mit seiner Mutter und den Großeltern umzieht, hofft er darauf, dass nun alles besser wird. Denn der kleine Junge wird lieblos erzogen. Seine Mutter scheint sich nicht besonders für ihn zu interessieren, sein Großvater schlägt ihn und die Oma grantelt ständig herum. In seiner neuen Nachbarschaft lernt er den jungen SA-Mann Wilhelm Reckzügel kennen, der sich des Kindes fürsorglich annimmt und ihn nicht nur vor dem Großvater schützt. Doch schnell wird klar, dass dieser Einsatz alles andere als selbstlos ist, denn Wilhelm erzieht Josef mehr und mehr zu seinem willfährigen Handlanger. Erst als der Junge von seiner Mutter nähere Details zu seinem für ihn unbekannten Vater erfährt, beginnt er, Schritt für Schritt an Wilhelms guten Absichten zu zweifeln...

"Josses Tal" ist der kürzlich erschienene Debütroman der 74-jährigen Angelika Rehse, die laut Klappentext des Pendragon Verlags in einem Umfeld von Heimatvertriebenen aufwuchs und zu ihrem Roman von den "erzählten und lang verschwiegenen Geschichten der Generation ihrer Eltern" inspiriert wurde. Dieser persönliche Bezug der Autorin, der auch im Nachwort noch einmal deutlich wird, ist das große Plus des Buches, denn Rehse begleitet ihre Figuren mit Empathie und Gewissenhaftigkeit.

Der Haupthandlungsstrang des Romans befasst sich mit der Zeit zwischen 1930 und 1943. Umfasst wird sie von einer Rahmenhandlung im Juli 2004, die gleichzeitig Ausgangssituation für das weitere Geschehen ist. In ihr reist eine Frau namens Helen in einen norwegischen Nationalpark, um dort Klarheit über den Tod ihrer Urgroßmutter Else zu erhalten. Denn für diesen ist offenbar Josef Tomulka verantwortlich, der in Norwegen mittlerweile Josse genannt wird und dort ein Eremitendasein pflegt. Mit der Begegnung der beiden beginnt nicht nur der Roman, sondern auch dessen größtes Problem: die Figurenzeichnung. Denn nach einem kurzen Abtasten verfällt Helen sofort in das familiäre "Josse", dabei ist der Mann, der ihr gegenübersitzt, doch vermeintlich Mitschuld am Tod Elses.

Auch der Rest der Figuren ist - mit Ausnahme von Josefs Mutter Helene - eindimensional und eher holzschnittartig gezeichnet. Da gibt es den schlagenden Großvater, die grantige Großmutter, den smarten, aber bösen SA-Mann, seinen liebenswerten hinkenden Bruder Werner als Gegengewicht und den qua seines Alters naiven Josef, der alles aufsaugt, was Wilhelm ihm vorbetet. Die Mutterfigur ist hingegen als einzige wohltuend ambivalent. Sie ist mit der Erziehung ihres Sohnes überfordert, schwach und zeigt selten einmal Liebe. Doch dann gibt es plötzlich Szenen, in denen sie förmlich ausbricht, einem Pfarrer in aller Öffentlichkeit ihre Meinung geigt und wehmütig von einer besseren Zukunft träumt. Bedauerlich ist, dass diese Figur nach den ersten etwa 100 Seiten mit einer Ausnahme kaum noch eine Rolle spielt. Denn Josefs Familie findet eigentlich nicht mehr statt, seitdem er Tag für Tag bei den Reckzügels verbringt.

Ein weiteres Problem ist, dass sich der Roman nicht ausreichend Zeit für die Opfer der Geschichte nimmt, sich für sie nicht wirklich interessiert. Protagonist Josef ist zwar anfangs auch ein Opfer des manipuliativen Nazis, entwickelt sich aber mit zunehmender Dauer zu einem Täter, denn Josef belauscht und denunziert Gegner der Nationalsozialisten mit Hingabe, so dass meine Empathie für den Jungen immer stärker abnahm.

Die Täterperspektive der Nationalsozialisten und HJ wird hingegend detailliert ausgeleuchtet. Hierbei gelingen Angelika Rehse allerdings Szenen unheimlicher Intensität, insbesondere bei der Bücherverbrennung in Berlin im Mai 1933. Der gerade einmal achtjährige Josef partizipiert aktiv an ihr und als Leser:in meint man fast, den Qualm riechen zu können. Ohnehin ist es der Schreibstil, mit dem Rehse überzeugt. Denn "Josses Tal" liest sich überwiegend flüssig, spannend und unterhaltsam, so dass einem die 400 Seiten viel kürzer vorkommen. Vorausgesetzt, man stört sich nicht an den zahlreichen Dialogen.

Nachteilig ist in diesem Zusammenhang allerdings die pausenlose Ausformulierung der Gedanken der Figuren. Durch die vielen Dialoge gibt es eigentlich schon genug Satzzeichen, doch die mit je einem Anführungszeichen eingeleiteten Gedanken stören den Lesefluss doch das ein oder andere Mal. Hinzu kommt, dass Angelika Rehse hier durchaus mehr Vertrauen in die Leserschaft hätte haben können, denn es macht ja gerade den Reiz eines Romans aus, selbst in die Figuren zu blicken und nicht ständig gesagt zu bekommen, was diese nun gerade denken und fühlen.

So ist "Josses Tal" ingesamt ein zwar unterhaltsamer, aber auch etwas ärgerlicher Roman geworden. Nicht abzusprechen ist ihm der gute Wille, die auch für die Kinder schreckliche NS-Zeit wieder ins Gedächtnis zu rufen, und ein Aktualitätsbezug, denn auch heute sehen sich Menschen jeden Alters Manipulationen jeder Art ausgesetzt. Die Umsetzung kam mir allerdings durch die blasse Charakterisierung und Eindimensionalität der Figuren zu didaktisch vor.

Bewertung vom 11.04.2023
Das Fräulein
Andric, Ivo

Das Fräulein


ausgezeichnet

Sarajevo, zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Als Rajkas Vater seiner 15-jährigen Tochter auf dem Sterbebett einprägt, sie solle im Leben sparen, sparen und sparen, ahnt er wohl selbst nicht, wie sehr er damit dem Leben des Mädchens eine unaufhaltsame Richtung vorgibt. Dabei wollte der Geschäftsmann bloß vermeiden, dass sie dieselben Fehler wie er begeht. Denn Obren Radakovic steht kurz vor seinem Tod vor dem finanziellen Ruin. Rajka nimmt sich die Worte des geliebten Vaters zu Herzen und spart künftig an allen Ecken und Enden. Während ihre finanziellen Mittel anwachsen, wird Rajka selbst immer einsamer, denn bei ihrer Geschäftstüchtigkeit kennt das Fräulein im wahrsten Sinne des Wortes keine Verwandten. Als die Stadt vom Attentat auf den österreich-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand geschockt wird und der Erste Weltkrieg vor der Tür steht, ändert sich auch für Rajka alles. Wem kann sie jetzt noch trauen, auf welches Pferd soll sie setzen, um ihren Reichtum nicht zu gefährden?

Literatur-Nobelpreisträger Ivo Andric (1892 - 1975) schrieb seinen Roman "Das Fräulein" während der deutschen Besetzung Belgrads 1944. Es ist nach "Wesire und Konsuln" und "Die Brücke über die Drina" der dritte Teil seiner sogenannten "Bosnischen Trilogie", dessen drei Werke unabhängig voneinander lesbar sind und die alle innerhalb eines Zeitraums von drei Jahren entstanden. Seit 2011 bringt Zsolnay überarbeitete Fassungen der deutschen Übersetzungen heraus. Das jüngst erschienene "Das Fräulein" bildet auch in dieser Reihe den Abschluss.

Andric erzählt das Leben dieser Rajka Radakovic von ihrem einsamen Tod in Belgrad 1935 ausgehend und blickt mit psychologisch scharfem Blick zurück, wie sich das "Fräulein", wie sie von allen genannt wird, zu diesem verhärmten Menschen entwickeln konnte. Das große Plus des Romans ist dabei die unendlich groß wirkende Fabulierkunst des jugoslawischen Schriftstellers. Schon mit den ersten Sätzen des Werks gelingt es ihm, die Leserschaft mitten hineinzuziehen in das Belgrader Geschehen. Äußerst kleinteilig und atmosphärisch spinnt Andric ein Netz aus poetischen und dennoch zugänglichen Sätzen, in dem man sich leicht verfängt und nicht mehr losgelassen wird. Ein Stil, der sich durch die knapp 300 Seiten zieht. Dabei beweist der Autor, dass es gar nicht so wahnsinnig viel Handlung benötigt, um einen sehr guten Roman zu schreiben. Denn oftmals folgt man dieser Rajka einfach nur durch die Straßen Sarajevos und später Belgrads, partizipiert an ihren Gedanken, an ihren Ängsten und trifft mit ihr Menschen, die es gut oder weniger gut mit ihr meinen.

Die Figuren werden gerade zu Beginn so detailliert und bunt beschrieben, wie ich es zuletzt bei Maxim Billers "Sechs Koffer" kennenlernen durfte. Dabei werden ihre Eigenschaften oft bis ins Groteske gesteigert. Gerade Protagonistin Rajka erscheint wie die Karikatur eines Kapitalisten, eines Geizhalses. Der auktoriale Erzähler spottet manchmal ein wenig über das Fräulein, verlacht sie aber nicht und bleibt stets an ihrer Seite. Viele Schilderungen bekommen einen tragikomischen Unterton, denn blickt man auf das unselige Ende des Fräuleins, bleibt einem das Lachen schon mal im Halse stecken.

Aus psychologischer Sicht besonders stark sind die Szenen, in denen in Sarajevo aufgrund des Attentats großer Aufruhr herrscht und man als Leser eine Mischung aus Euphorie und Bedrohung spürt. Sarajevo und seine Bewohner:innen öffnen sich in dieser Szene und sehen weltbewegenden Ereignissen entgegen, während sich Rajka verschließt, noch stärker abkapselt als zuvor und lediglich daran interessiert ist, ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen und auf Seiten der Gewinner stehen zu wollen. Andric setzt diesen apollinisch-dionysischen Kontrast hervorragend um. Im letzten Drittel gelingt ihm zudem ein überraschender Coup, indem er zwei Figuren einführt, die Rajkas bisherige Welt und ihre Anschauungen stark ins Schwanken bringen. Auch hier begibt er sich ganz tief in die Psyche seiner Titel-Antiheldin.

Auf emotionaler Ebene erreicht einen das Buch hingegen eher selten. Lediglich im letzten Drittel bekommt man so etwas wie Mitleid mit Rajka, erkennt in ihr die menschlichen Seiten, die einem über weite Strecken des Romans durch ihr egozentrisches Verhalten verwehrt blieben. Dennoch ist der Roman wegen der Sprache und der Figuren ein insgesamt wirklich gelungener, der Lust darauf macht, noch mehr Werke von Ivo Andric kennenlernen zu wollen.

Bewertung vom 04.04.2023
Den Teufel im Leib
Radiguet, Raymond

Den Teufel im Leib


sehr gut

Frankreich, während des Ersten Weltkriegs: Der 15-jährige François verliebt sich in die drei Jahre ältere Marthe. Doch nicht nur der Altersunterschied ist heikel, denn Marthes Ehemann Jacques kämpft für sein Vaterland an der Front. Mit Leichtigkeit wickelt der Junge die verheiratete Frau um den Finger. Als Marthe schwanger wird, steht sie vor einem Dilemma. Wie soll sie es ihrer Familie und ihrem Mann erklären, der immer mal wieder auf Heimaturlaub ist? Doch trotz der dramatischen Zuspitzung können die beiden einfach nicht voneinander lassen...

Raymond Radiguets "Den Teufel im Leib" erschien im Original erstmals 1923 - und damit nur kurz vor dem viel zu frühen Typhus-Tod des damals 20-jährigen Autors, der sein Werk bereits drei Jahre zuvor, also mit gerade einmal 17 Jahren, beendete. 100 Jahre später ist das Skandalpotenzial mit Sicherheit nicht mehr so hoch wie damals. Dennoch sollte es dem Pendragon Verlag gelingen, mit seiner liebevoll gestalteten Neuausgabe und -übersetzung für Aufmerksamkeit zu sorgen.

Denn der Verlag mit dem freundlichen kleinen Drachen im Logo gönnt dem Klassiker zu seinem 100-jährigen Bestehen nicht nur eine Neuübersetzung durch Hinrich Schmidt-Henkel, sondern versieht seine Ausgabe mit umfangreichen Anhängen wie Zeichnungen des Radiguet-Freundes Jean Cocteau, erstmals in deutscher Sprache veröffentlichten Texten Cocteaus sowie Gedichten und Briefen von Raymond Radiguet.

Ich-Erzähler François, dessen Name im gesamten Roman nie erwähnt wird, präsentiert sich gleich zu Beginn als zwölfjähriger Don Juan, dessen Liebesbrief an die Klassenkameradin allerdings noch nicht zum Erfolg führt. Der Ton für den Rest des Romans ist damit gleich gesetzt, denn nahezu alles dreht sich in "Den Teufel im Leib" im Folgenden um die Liebe zu Marthe. Das ist vor allem zu Beginn aufregend und zeigt deutlich die Gefühle und Verwirrungen der Jugend. Denn Radiguet schreibt so, wie sein Protagonist liebt. Wild und ohne Rücksicht auf Verluste. Manchmal lamentierend und wehleidig. "Meine Tränen brannten. Wenn eine davon auf ihre Hand fiel, war ich immer darauf gefasst, dass sie aufschrie", heißt es beispielsweise auf S. 55. Große Emotionen, die solche Liebesklassiker schon immer auszeichnete. Marthe selbst bleibt als Figur ein wenig blass, auch wenn sie, die Ehebrecherin, die noch dazu einen Soldaten betrügt, durchaus auch etwas Rebellisches an sich hat. Dennoch ist die Figur des Ich-Erzählers so dominant, dass Marthe es in ihrem Schatten schwer hat.

Zugegebenermaßen verliert sich der Roman mit der Zeit ein wenig in seinem immer gleichen Duktus. François präsentiert sich zunehmend unsympathisch, die beiden können ihre Beziehung trotz aller Widrigkeiten nicht beenden. Ein tragischer Ausgang ist früh zu erkennen. Und auch sprachlich sitzt nicht unbedingt jeder Vergleich, jede Stilblüte.

Man sollte das Ganze daher im historischen Kontext sehen und das Alter Radiguets berücksichtigen. Er war 17, als er diesen Roman schrieb. Mit 15 Jahren ging er von der Schule ab. Und "Den Teufel im Leib" schrieb er 1920, als es noch keine Popliteratur gab, keine Beat-Generation. Nur kurz nach dem Ersten Weltkrieg wagte es dieser Junge, die moralischen und gesellschaftlichen Normen und Werte einfach über den Haufen zu werfen. Das Buch ist Rebellion, Aufbegehren, Aufregung. Also alles, was die Literatur oft so gern sein möchte und es doch recht selten ist. Betrachtet man das Werk unter diesen Gesichtspunkten, ist es etwas Besonderes.

Mit "Den Teufel im Leib" beweist der Pendragon Verlag jedenfalls einmal mehr sein Herz für in Vergessenheit geratene und viel zu früh verstorbene Autoren, wie er es zuletzt durch mehrere Stephen Crane-Veröffentlichungen schon getan hat. Es ist dem Verlag und Raymond Radiguet zu wünschen, dass ein Funken seines Rebellentums auch auf die Leserschaft überspringen wird.

Bewertung vom 30.03.2023
Der Keim
Vesaas, Tarjei

Der Keim


ausgezeichnet

Eine Insel, irgendwo in Norwegen: Während eine Sau gerade Junge bekommt und auf den Feldern und in den Scheunen allgemeine Betriebsamkeit herrscht, betritt ein Fremder namens Andreas Vest das Eiland. Offenbar ist er gekommen, um längere Zeit auf der Insel zu bleiben. Die Einheimischen beäugen ihn zwar skeptisch, bemerken aber auch etwas Anziehendes in seinen Augen, seinem Blick. Andreas seinerseits hört Stimmen und denkt noch immer an das verheerende Fabrikunglück zurück, bei dem er damals fast sein Leben verlor. Als er der 17-jährigen Inga im Wald begegnet, nimmt das Unheil seinen Lauf - und ein Keim nistet sich in der Inselgesellschaft ein...

Dem Guggolz Verlag ist es zu verdanken, dass der norwegische Autor Tarjei Vesaas (1897 - 1970) in den letzten Jahren wieder ins Blickfeld des deutschsprachigen Publikums geraten ist. Mit dem sehr guten "Das Eis-Schloss" und dem überragenden "Die Vögel" brachte der umtriebige Verlag die zwei bekanntesten Romane Vesaas' in wunderbaren Neuübersetzungen von Hinrich Schmidt-Henkel heraus. Mit "Der Keim" ist nun erstmals ein früheres und unbekannteres Werk des Norwegers bei Guggolz erschienen. Ein Wagnis, das sich gelohnt hat.

Bereits 1940 erschien das wie gewohnt auf Nynorsk verfasste Buch unter dem Namen "Kimen" und Vesaas stand dabei unter dem Eindruck der Besetzung Norwegens durch die Nationalsozialisten. In seinem Roman lassen sich verschiedene Szenen in diesen historischen Kontext bringen, doch er funktioniert auch als vornehmlich unpolitischer Gesellschaftsroman. Über allem schweben die großen Themen wie Tod, Trauer, Moral, aber vor allem Schuld und Vergebung.

Wie schon in den beiden Vorgängern setzt Vesaas auch in "Der Keim" auf ein buntes Figurenensemble, verzichtet dabei aber überraschenderweise auf eine echte Hauptfigur. Die Perspektive schwankt von einer Figur zur nächsten, der Erzähler begleitet fast jeden einmal, bleibt dabei aber stets neutral. So ist es an der Leserschaft, ihr Urteil zu fällen über Schuld und Schuldige. Denn bereits in der ersten Hälfte geschehen nahezu unfassbare Verbrechen, über die der Klappentext leider ein wenig zu viel verrät.

Vesaas erzählt in knappen Sätzen, verkürzten Dialogen und lässt vieles offen. Ein Großteil dieser Lücken ist der Sprachlosigkeit der Inselbewohner:innen zuzuschreiben. Sie können nicht umgehen mit den Folgen dieser Verbrechen, können ihre Trauer nicht in Worte formulieren, schämen sich ihrer selbst. Vesaas gelingt es in diesen Szenen brillant, Empathie und Verachtung zu vereinen. Sicher ist jedenfalls, dass wohl keine einzige Szene die Leser:innen kalt lassen wird. Dafür passiert einfach zu viel, auch im Ungesagten.

Allerdings benötigt der Leser auch starke Nerven. Denn einige dieser Szenen sind so unerträglich, dass sie sich wohl lange ins Gehirn einbrennen oder sich wie ein Keim erst nach und nach entwickeln, um dann die volle Grausamkeit zu entfalten. Beispielsweise, wenn eine Sau ihre neugeborenen Ferkel frisst. Oder wenn ein rasender Mob sich aufmacht, um einen einzelnen Mann über die gesamte Insel zu jagen. Apropos Keim: Der Titelheld spielt natürlich auch eine tragende Rolle in diesem Roman. Äußerst klugt spielt Vesaas mit diesem Begriff, so dass der Keim seine Bedeutung immer wieder wechselt. Von einer bedrohlichen Krankheit wird er zum vermeintlichen Hoffnungsspender. Oder aus dem Tod entsteht wieder neues Leben.

"Der Keim" von Tarjei Vesaas ist ein eindringlicher und intensiver Roman, der inhaltlich und sprachlich viel wagt und dabei die Leserschaft von Beginn an einbindet in diese seltsame Inselgesellschaft - ob sie es will oder nicht. Er zeigt auf und warnt gleichzeitig davor, wie schnell Menschen dazu in der Lage sind, ihre Zivilisiertheit aufzugeben, um in wilder Raserei mehr als nur ein Leben zu zerstören. Mit Blick auf gesellschaftliche Vorkommnisse wie zuletzt in den USA, aber auch in Deutschland, wirkt der Roman dabei erschreckend aktuell und sollte dringend gelesen werden. So erstaunt es nicht, dass eine moralisch geächtete Figur in einer besonders bewegenden Szene ausgerechnet von einer Stute Trost erfährt und sich ein Tier einmal mehr menschlicher als der Mensch verhält. Hervorzuheben ist zudem noch das vor allem auf der emotionalen Ebene sehr gelungene Nachwort von Michael Kumpfmüller und die gewohnt schöne Gestaltung des Buches.

Es bleibt die Hoffnung, dass Guggolz auch in Zukunft auf Romane von Tarjei Vesaas setzen wird und die dritte Veröffentlichung nicht die letzte ist.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 27.03.2023
Seht mich an
Brookner, Anita

Seht mich an


gut

Frances Hinton arbeitet in der Bibliothek eines medizinischen Forschungsinstituts und verwaltet dort das Bildmaterial, das sich vor allem dem menschlichen Wahnsinn in seinen verschiedensten Formen widmet. Privat fühlt sie sich häufig einsam und allein. Sie lebt nach dem Tod ihrer Mutter noch immer mit der gemeinsamen Haushälterin zusammen und auch die Männerwelt liegt ihr nicht unbedingt zu Füßen. Als sie Nick Fraser, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts, und dessen Frau Alix näher kennenlernt, scheint sie der Einsamkeit Schritt für Schritt entfliehen zu können. Doch zu welchem Preis? Denn die beiden entpuppen sich als besitzergreifend und rechthaberisch und versuchen, immer größeren Einfluss auf Frances' Leben nehmen zu wollen...

"Seht mich an" ist der dritte Roman von Anita Brookner (1928 - 2016), der als deutsche Übersetzung bereits 1987 erschien und nun in einer neuen Ausgabe des Eisele Verlag, versehen mit einem informativen Nachwort von Daniel Schreiber, erneut veröffentlicht wurde. Der Verlag folgt damit seiner Prämisse, in Vergessenheit geratene Autorinnen wieder ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken, wie zuletzt so bewegend und erfolgreich mit Margaret Laurence und ihrem Roman "Eine Laune Gottes". Für ihren bekanntesten Roman "Hotel du Lac" gewann Brookner 1984 den Booker Prize, der kurz darauf zudem fürs Fernsehen verfilmt wurde.

Eher Fernsehfilm- als Kinoniveau hat dann auch "Seht mich an", obwohl das Buch durchaus vielversprechend beginnt. Ich-Erzählerin Frances reflektiert klar und präzise über ihre Arbeit und die Verbindung zwischen Kunst und Wahnsinn. Dabei merkt man der Autorin ihren kunsthistorischen Hintergrund an, ohne dass dieser belehrend oder artifiziell wirken würde. Vielmehr weckt Brookner in wenigen Worten großes Interesse an ihrer Protatonistin und deren Tätigkeit. Problematisch ist allerdings, dass sich dieses Interesse im Folgenden nicht aufrechterhalten lässt.

Denn die Hauptfigur entpuppt sich als relativ farblos und langweilig. Attribute, die sich ohne Weiteres leider auf den Roman im Ganzen übertragen lassen. Ein Grund dafür sind die Figuren und ihre fehlende Entwicklung. Frances, eigentlich eine kluge Frau, verfällt den vermeintlich charismatischen Nick und Alix mit Haut und Haar. Dabei ist an Alix das Aufregendste schon der Name. Ansonsten entpuppen sich die beiden als nerviges Spießerpaar, das Bohemiens gleichen soll, aber beim Fernsehabend mit Pralinen nur um sich selbst kreist. Es bleibt völlig unverständlich, was Frances an ihnen findet, wodurch dem Roman gleichsam seine Grundlage entzogen wird. Über weite Strecken plätschern die angenehme, aber selbst für 1983 etwas altmodische Sprache und die stagnierende Handlung ohne große Überraschungen oder Aufreger vor sich hin. Man folgt Frances in ihren Gedanken, in ihrem Alltag, ihrer Langeweile, die sich nahtlos auf die Leserschaft überträgt und ihrer Einsamkeit.

Trotzdem gelingt es Anita Brookner im Mittelteil plötzlich, für einen kurzen Moment einen veritablen Spannungsbogen zu erzeugen. Frances plant einen Weihnachtsurlaub mit Nicks Kollegen James, zu dem eine Liebesbeziehung möglich scheint. In der Folge geht es darum, diesen vor Nick und Alix so gut wie möglich zu verheimlichen. Dabei beginnt Alix, die Protagonistin in der Bibliothek mit ihren Anrufen zu stalken. Man fiebert in dieser Phase mit der ansonsten unzugänglichen Hauptfigur, die es so gut wie nie schafft, so etwas wie Empathie mit ihr zu empfinden. Doch so schnell diese Ideen auftauchen, so zügig werden sie wieder verworfen. James zieht aus der Wohnung seiner Mutter aus, um bei Alix und Nick zu wohnen, obwohl er sich in deren Anwesenheit merklich unwohl fühlt. Warum? Das bleibt leider Anita Brookners Geheimnis, denn aus den insgesamt wenig komplexen Figuren lässt es sich nicht herauslesen.

So funktioniert "Seht mich an" nur teilweise als psychologisches Drama über die Einsamkeit. Hervorzuheben bleibt dennoch, das wirklich wunderbare Anliegen des Verlags, vergessene Autorinnen wieder in Erinnerung zu rücken. Ich persönlich freue mich aber lieber auf die nächste Margaret Laurence-Veröffentlichung, als es noch einmal mit einem Brookner zu versuchen.