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Benutzername: 
dj79
Wohnort: 
Ilsenburg

Bewertungen

Insgesamt 200 Bewertungen
Bewertung vom 16.02.2022
Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße
Leo, Maxim

Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße


sehr gut

Amüsanter Roman über die Wahrheit
Michael Hartung ist ein Bilderbuch-Looser aus dem Osten, wenig einträglicher Job, mit davongelaufener Ehefrau. Schon zu DDR-Zeiten hat sich Hartung nicht lange an einer Arbeitsstelle halten können. Mangelnde Motivation, Jugendlicher Leichtsinn und ein ordentliches Pfund Dusseligkeit haben ihn immer wieder in schwierige Situationen, wie die Verursachung der Massenflucht per S-Bahn, hineinmanövriert.

Genau diese Massenflucht wird zum Aufhänger der Reportagen zum 30-jährigen Jubiläum der Wiedervereinigung und beschert Michael Hartung unerwarteten Ruhm. Wie er, sein Umfeld und auch alle Anderen damit umgehen, erzählt dieser witzige, gleichzeitig ernste Roman.

Mir gefällt Maxim Leos Darstellung der Medien und der Politik. Für die Medien ist die Suche nach DER Story zum Jubiläum nach dreißig Jahren schwierig, bloß nicht schon wieder die gleichen Lobpreisungen auf die friedliche Revolution, zu lange gab es schon nichts Spektakuläres zum Thema mehr. So muss der Aktenfund zu Hartungs Massenflucht-Debakel heranwachsen zu einer attraktiven Heldengeschichte. Als der Held geboren ist, soll er sofort auch der Politik dienlich sein.

In lockerem, erfrischenden Schreibstil schwelgen die Leser mit dem Helden in Kindheitserinnerungen, streifen so manches, hier wunderbar aufbereitetes Klischee. Das Ausschlachten der Heldengeschichte fühlt sich an wie ein Wettlauf, ein Run, wo nur die ersten etwas vom großen Kuchen bekommen. Die Geschichte ist aber auch ein Kampf um die Wahrheit, wessen Wahrheit, welchen Teil der Wahrheit oder um die ganze Wahrheit?

Ich habe mich beim Lesen sehr amüsiert. Es gab auch einige nachdenkliche Momente. Insgesamt war es eine witzige Angelegenheit, die ich gern weiterempfehle.

Bewertung vom 23.11.2021
Die Enkelin
Schlink, Bernhard

Die Enkelin


sehr gut

Einblick in eine fremde Welt
Ich weiß gar nicht mehr so recht, was ich von diesem Roman erwartet hatte, aber das, was ich jetzt gelesen habe, bestimmt nicht. Die Auseinandersetzung mit der völkischen Gemeinschaft war intensiv, sehr detailliert, differenziert und in seinen Auswirkungen auch ganz schön extrem. Ein paar Mal musste ich schlucken. Vermutlich war ich innerhalb dieses thematischen Rahmens recht naiv unterwegs.

Die Anlage der Figur der Sigrun hat mir gut gefallen. Ausgehend von ihrem Aufwachsen in der völkischen Gemeinschaft entwickelt Sigrun Werte, die ihr auch nach der Erweiterung ihrer Welt wichtig bleiben. Egal, welche Perspektiven und Sichtweisen ihr logisch hergeleitet werden, von einigen Ansichten kann sie sich nicht lösen. Bernhard Schlink beschreibt sehr deutlich, dass Zukunft eine Herkunft hat. Nicht jedem Menschen ist jede beliebig positive Entwicklung möglich. Manchmal sind durch Erziehung, Glaube oder auch besondere Ereignisse einige Wege bereits versperrt.

Mit Svenja tat ich mich da schon schwerer. Sie war mir einfach zu passiv. Ich verstehe, dass sie Björn dankbar ist für ihre Rettung aus dem dunkelsten Tal ihres Lebens. Dennoch hätte ich mir von einer in der DDR sozialisierten Frau weniger Hörigkeit gewünscht.

Am Ende ist „Die Enkelin“ für mich ein nachdenklicher Roman, über Verlust von geliebten Menschen, Verlust von Identität. Der Roman ruft auf, sich vor zu schnellem Urteilen zu hüten. Schön fand ich Kaspars Einsicht, Sigrun so lieben zu müssen wie sie ist, bedingungslos oder gar nicht. Echte Zuneigung kann nicht an die „richtigen“ politischen Ansichten geknüpft werden. Somit konnte ich letztlich auch die klischeebedienende Rollenverteilung verzeihen, die mir in der ersten Hälfte des Romans sauer aufgestoßen war.

Der gut lesbare Roman zog mich immer tiefer in seinen Bann. Ich war erschrocken, gleichzeitig fasziniert von einer mir bisher unbekannten Welt innerhalb unseres Landes. Für mich ist erstaunlich, wie bestimmte Gruppierungen die Bedürfnisse und Sehnsüchte der Menschen offensichtlich besser bedienen als unsere Gesellschaft an sich. Der Einblick, den uns der Autor gewährt, war interessant, hatte einen aufklärenden Touch. Ich kann die Lektüre nur empfehlen.

Bewertung vom 01.11.2021
Der rote Raum / Ingrid Nyström & Stina Forss Bd.9
Voosen, Roman;Danielsson, Kerstin Signe

Der rote Raum / Ingrid Nyström & Stina Forss Bd.9


sehr gut

Ermittlerduo im Change Prozess
Nach „Die Taten der Toten“, einem Fall der seinen Fokus auf den Mord an Olof Palme gerichtet hatte, der auch das Ermittlerteam um Ingrid Nyström und Stina Forss an die Grenze des Menschlichen und darüber hinaus katapultiert hatte, musste es Veränderungen im Team geben. Annette Hultin hat das Team verlassen, Stina Forss wird weit in den Norden versetzt, Ingrid Nyström verbleibt mit Hugo Delgardo und Lasse Knutsson in Växjö. Neu ins Team kommt die frisch ausgebildete Sara Hjalmarsson, die den alteingesessenen Kollegen erst mal den Verstand raubt.

Vor diesem Hintergrund haben die beiden Ermittlerinnen getrennt von einander sehr ähnliche Mordfälle zu lösen. Zwei Mordopfer, aufs brutalste zugerichtet, jedem Opfer fehlt ein Organ, ein Zusammenhang drängt sich auf. Während Nyström ihren Fall nach bewährtem Schema angeht, gemeinsam mit den Kollegen Hinweise sammelt, potentielle Zeugen interviewt, Hintergrundanalysen zum Opfer betrachtet und die gewonnenen Erkenntnisse geschickt kombiniert, bleibt Forss ihrer Mentalität treu und übt sich abermals in gefährlichen Alleingängen. Begleitet wird die Handlung durch die allseits beliebte, düstere Atmosphäre in skandinavischen Krimis. Hier wird das Ganze verstärkt durch das gemeinsame Trauma der Ermittler, das sich hauptsächlich im Ausgang des Palme-Falls begründet.

Die Geschichte war für mich neben dem Herantasten an die Mordfälle gleichzeitig eine Art Übergangskrimi zur Findung und Eingewöhnung in eine neue Konstellation. Die Integration von Sara Hjalmarsson in das Team Nyström war eine der wichtigsten Aufgaben dieses Teils der Serie, ebenso die Eingliederung von Stina Forss in ihr neues Umfeld. Der Ausgang hinsichtlich der Neuaufteilung der ermittelnden Personen lässt allerdings weiterhin viel Spekulationsmöglichkeiten zu, was mir sehr gut gefällt. So bleibt das Warten auf den nächsten Teil von Spannung erfüllt, wie es an dieser Stelle weitergeht.

Stilistisch bleiben sich die Autoren treu, schreiben in mehreren Handlungssträngen, wechseln an der spannendsten Stelle des einen in den anderen Strang. Als besonderes Highlight dient wieder ein dritter zunächst losgelöster, sonderbarer Strang, der schwer einzuordnen ist, die Leser*innen aber zusätzlich auf die Folter spannt, aus der eigentlichen Handlung rausreist. Ansonsten werden die Ermittlungen wie in den anderen Büchern zur Serie tageweise betrachtet. Jeder Tag ist in viele kurze Kapitel eingeteilt. Das ist perfekt, um immer noch eins anzufangen und dabei die Zeit zu vergessen.

Für mich waren es mal wieder spannende Fälle, die Nyström und Forss zu lösen hatten. Forss hat erneut bewiesen, dass sie niemals aufgibt. Vielleicht hätte ich mir ein früheres, dafür ausgedehnter erklärtes Auflösen der Fälle gewünscht. Insgesamt war dieser neunte Fall für mich ein Übergangskrimi, der weitere brisante Stories vorbereitet. Mir hat es gefallen, eine Empfehlung ist Ehrensache.

Bewertung vom 23.10.2021
Das verbotene Turnier / Pferdeflüsterer-Mädchen Bd.3
Mayer, Gina

Das verbotene Turnier / Pferdeflüsterer-Mädchen Bd.3


ausgezeichnet

Jeder muss sich überwinden
Die Ocean Ranch ist mal wieder in Gefahr, obwohl doch gerade eben noch eine neue Reithalle geplant war. Nun soll das Nachbargrundstück an John Hegarty gehen, der dort einen kleinen Flughafen bauen möchte. Der Lärm wäre unerträglich für die Pferde. Ruby kann das unmöglich zulassen und stellt den Besitzer des Grundstücks zur Rede. Mr Forrester reagiert ein wenig verdutzt und bietet Ruby eine Wette an. Wenn sie bei seinem Turnier gewinnt, verkauft er das Grundstück an die Ocean Ranch. Wie soll sie das machen? Wo doch ihr aktueller Reitlehrer, Patrice, absolut gegen Turniere ist.

Nachdem sich Ruby mit ihren Freunden beraten hat, erkennt sie, dass es nur eine Möglichkeit gibt. Sie muss jemanden um Hilfe bitten, dem sie eigentlich lieber aus dem Weg gehen würde. Dabei wird Rubys Geduld, ihre Disziplin und auch ihr Vertrauen ganz schön auf die Probe gestellt. Sie muss regelrecht über ihren Schatten springen. Ihren Mut und ihr Durchhaltevermögen habe ich bewundert. Später wird sie dann erfahren, dass auch andere, sogar Erwachsene, Rubys Beispiel folgend ihre Grenzen überwinden können.

Die Gestaltung des Pferderomans hat mir für die empfohlene Altersgruppe gut gefallen. Die Schrift ist groß. Der Abstand zwischen den Zeilen gibt Orientierung. Alle paar Seiten gibt es ein kleines Schwarz-Weiß-Bild passend zum Text. Die Seitenzahlen werden von kleinen Pferde-Flocken eingefasst. Der Gesamtumfang ist eine kleine Herausforderung, aber angemessen. Er kann jeweils nach ca. zehn Seiten pausiert werden, wenn ein Kapitel zu Ende geht.

Sprachlich richtet sich die Autorin ebenfalls sehr gut nach dem Möglichkeiten ihrer Zielgruppe. Der Sprachgebrauch erscheint jung, modern, passt in die heutige Zeit. Die Formierungen sind gut zu verstehen und recht einprägsam. Ich halte es auch bei Leseanfänger:innen für möglich, sowohl den Text zu lesen, als auch dem Gesamtzusammenhang zu folgen. Deshalb empfehle ich diesen Roman, also eigentlich die ganze Reihe „Pferdeflüsterer-Mädchen“, gern weiter.

Bewertung vom 12.10.2021
Wenn ich wiederkomme
Balzano, Marco

Wenn ich wiederkomme


sehr gut

Der Luxus der einen als Herausforderung der anderen
Eine Fernbeziehung ist nicht für jeden Charakter eine gute Wahl. Aber wie verhält es sich, wenn sich die Fernbeziehung auf eine ganze Familie bezieht und wenn die Zusammenkünfte auf Geburtstage und Feiertage beschränkt sind? Mit dieser Frage setzt sich Marco Balzano in seinem neuen Roman „Wenn ich wiederkomme“ auseinander.
Daniela ist eine engagierte Mutter, die wie die meisten Mütter möchte, dass es den eigenen Kindern später mal besser geht als ihr jetzt. Der Schlüssel zum Erfolg ist eine gute Ausbildung, besser noch ein abgeschlossenes Studium in einem lukrativen Fach. Um ihren Kindern diese Bildungschance sowie ein komfortables Leben zu finanzieren, verlässt sie ihre Heimat Rumänien in Richtung Italien, um dort betagte Menschen zu pflegen, was deutlich besser bezahlt ist als ihr bisheriger Bürojob.
Der Roman selbst erzählt nun aus drei Perspektiven, wie sich das Leben in Dauertrennung anfühlt. Zunächst kommt Danielas Sohn Manuel zu Wort. Er schildert seine Einsamkeit, erzählt von seinen schulischen Eskapaden, von seinen Problemen. Selbst bei verwöhnten Kindern sieht glücklich sein anders aus. Er machte mir einen überforderten Eindruck. Schließlich hatte Daniela ihre Entbehrungen für die Kinder mit einer Erwartungshaltung verknüpft. Danielas Part hat einen reflektierenden Charakter. Sie blickt auf die Zeit in Italien und ihre Versäumnisse zu Hause zurück. Ihre Gedanken haben einen Charme von Abwägen, was wäre wohl gewesen, wenn sie zu Hause geblieben wäre. Im letzten Teil des Romans wagt die Tochter Angelica einen Rückblick. Sie musste schnell erwachsen werden, den Bruder bei Laune halten, damit er sich schulisch nicht zum Totalausfall entwickelt. Die aufgewendete Zeit dafür hätte sie lieber in das eigene Lernen investiert.
Obwohl ich die jeweilige Perspektive der drei Hauptcharaktere gut nachvollziehen konnte, hat sich keine Nähe oder echte Zugewandtheit entwickelt. Die Drei blieben für mich auf Distanz. Ich habe mich eher als Beobachter der Situation empfunden, war nicht hineingezogen. Nachdem ich den Vorgänger „Ich bleibe hier“ mit Begeisterung gelesen habe, weil ich mit den Charakteren fiebern konnte, hätte ich mir hier ebenfalls mehr von der Geschichte ausgelöste Emotion gewünscht.
Die Aufbereitung des Textes wirft zwar verschiedene Blickwinkel auf die Trennungsgeschichte, durch die Realisierung in aufeinanderfolgenden Teilen, ergibt sich allerdings ein sehr geradliniger Schreibstil. Dieser lässt sich einerseits flüssig lesen, wirkt literarisch gesehen andererseits nicht so hochwertig wie der Vorgänger. Es entsteht keine echte Komplexität. Ich habe Danielas Geschichte trotzdem gern gelesen, mir fehlte nur der letzte Pfiff, das i-Tüpfelchen sozusagen.

Bewertung vom 04.10.2021
Reise durch ein fremdes Land
Park, David

Reise durch ein fremdes Land


sehr gut

Literarischer Danny Boy
Es ist Winter, Weihnachten steht kurz vor der Tür. Nach tagelangen Schneefällen sind die Flughäfen dicht. Toms Sohn, Luke, der außerhalb studiert ist fiebrig krank, soll nicht in seiner Studenten-WG einsam zurückbleiben. Deshalb macht sich Tom mit ordentlich Proviant und guter Musik auf den Weg durch die winterliche Landschaft, um seinen Sohn nach Hause zu holen. Doch schnell wird klar, dass irgendetwas nicht stimmt in Toms Familie, vielleicht auch zwischen Vater und Sohn.
 
Die eigentliche Handlung des Romans ist begrenzt auf die Autofahrt mit ihren winterlichen Herausforderungen. Spannender sind die Gedanken, denen Tom währenddessen nachhängt, die Visionen, die sich ihm dabei immer wieder aufdrängen. Die Stimmung ist düster, fast ein bisschen morbide. Depression und Schwermut werden thematisiert, einige Überlegungen auf  Nordirlandkonflikt gerichtet. Die Betrachtungsweise entspricht dem Blick durch die Linse beim Fotografieren. Es entsteht also auch im Rückblick keine durchgehende Geschichte. Stattdessen wird der Fokus auf einzelne, ausschlaggebende Situationen gerichtet, die das Leben in Toms Familie maßgeblich beeinflusst haben. Am Ende betrachtet man ein Gesamtgebilde, in dem die bittere Wahrheit offen liegt.
 
Der Blickwinkel des Autors hat mich eine ganze Weile irritiert. Ich brauchte etwas, um das eigentliche Problem einzugrenzen. Letztlich war dieses Schwammige zu Beginn dennoch förderlich. Nur so konnte ich mich in Tom richtig einfühlen, meine Perspektive für seine Situation schärfen. Typen wie ihn steckt man gern in eine Schublade, die nicht gerechtfertigt ist. Sprachlich habe ich den Roman als angenehm empfunden, schon irgendwie schön, obwohl das Lesen an sich durch die bedrückende Atmosphäre nicht so vergnüglich war. Die ein oder andere Pause war notwendig, um das Gelesene wirken zu lassen. Auch wenn thematisch nicht so erfreulich, habe ich meine Gedanken zum Roman gern weiterfließen lassen.
 
Insgesamt mochte ich diesen traurigen Roman, der auch die ganze Zeit über etwas von Abschied hatte, Abschied vom Fotografen-Beruf als aussterbende Spezies, Abschied vom Sohn, aber auch Abschied von einer lebenslangen schweren Last. In diesem Sinne hatte der Roman etwas von der inoffizielle Hymne der Iren, Danny Boy. Diese Assoziation hat sich mir gerade zum Ende hin regelrecht aufgedrängt. Passend zur dunkleren Jahreszeit empfehle ich David Parks Roman gern.

Bewertung vom 27.09.2021
Barbara stirbt nicht
Bronsky, Alina

Barbara stirbt nicht


ausgezeichnet

Walter Schmidt liebt seine Ehefrau Barbara, auch wenn ihm das in all den Jahren, die sie nun schon verheiratet sind, nicht immer gleichermaßen bewusst gewesen ist. Geheiratet hatten sie, weil ein Kind unterwegs war. Die folgenden Jahre der gegenseitigen Pflichterfüllung hat das Paar in der klassischen Rollenverteilung verbracht und später vergessen, diese Routine aufzulösen. Als Barbara eines Tages, als sie längst in Rente sind, am Boden liegt und nicht mehr aufstehen kann, ist Walter von einem Moment auf den anderen als Hausmann gefragt.

Es beginnt eine verrückte Odyssee. Die alltägliche Versorgung von Mensch und Tier stellt Walter vor ungeahnte Herausforderungen. Mit dem Charme von Ekel-Alfred ergründet er die Geheimnisse der Küche, merkt wie viel Aufwand schon allein Einkaufen und Kochen macht. Obwohl sie ihn nicht mehr unterstützen kann, wächst Walters Respekt und Achtung vor seiner Frau immer weiter. Ich mag diesen grummelnden Alten. Nicht nur sein Durchhaltevermögen finde ich bewundernswert, sondern auch, dass er mindestens in seiner Innensicht, Gefühle zulassen kann, die er sich all die Jahre nicht erlaubt, die er unterdrückt hat. Es schickt sich halt nicht für einen Mann.

Alina Bronsky hat wieder alles gegeben und ihren besonderen Humor hoch leben lassen. Sie legt Walters bitterböse Gedanken, die jeder von uns manchmal, Walter allerdings bei jeder Kommunikation mit seinen Mitmenschen hat, ungeschönt offen. Sein Weltbild wurde in der Nachkriegszeit geformt, hat nie eine Modernisierung erfahren. Die Autorin übt an gewissen, antiquierten, noch weit verbreiteten Verhaltensweisen Kritik, indem sie die Figur des Walters total überzeichnet. Alina Bronsky macht aber ebenso deutlich, dass unter der harten Schale dieses Mannes auch ein liebenswerter weicher Kern steckt.

Neben Walter spielen auch die Kinder, Sebastian und Karin, eine kritische Rolle. Die Zusammenkünfte als ganze Familie beschränken sich auf hohe Feiertage bis zu dem Moment als Barbara nicht mehr aufstehen kann. Plötzlich stehen sie ständig vor der Tür und überfordern damit nicht nur sich selbst, sondern auch Walter, wahrscheinlich auch Barbara. Dieser Teil von Alina Bronskys Gesellschaftskritik gibt mir auch persönlich zu denken.

Insgesamt war es ein Feuerwerk der bitterbösen Komik, das ich gern weiterempfehle. Das i-Tüpfelchen des Romans ist übrigens der Name des Hundes, den ich natürlich nicht verrate.

Bewertung vom 26.09.2021
Der Kolibri - Premio Strega 2020
Veronesi, Sandro

Der Kolibri - Premio Strega 2020


sehr gut

Das Schicksal kann gemein sein

Nachdem ich ein paar Seiten in den Roman von Sandro Veronesi hineingelesen hatte, vermutete ich eine eine Dreiecksgeschichte zwischen Marco Carrera und zwei Frauen. Angekündigt als Komödie und Tragödie zugleich, hatte ich einen bequem lesbaren, von Liebe und Eifersucht getragenen Roman erwartet. Bekommen habe ich etwas ganz anderes, mehr Realität, mehr echtes Leben, eine ganze Familie.

Der Kolibri, das ist der Protagonist dieser Geschichte, seiner Lebensgeschichte, der Augenarzt Marco Carrera. Wir begleiten ihn von der frühen Jugend bis ins Alter, jedoch nicht in der Reihenfolge wie sein Leben wirklich stattfindet, sondern bruchstückhaft in bunt gemischten Puzzleteilen. Dabei starten wir in den 1970ern, tangieren die Gegenwart und tauchen auch ein Stück weit in die Zukunft ein. Durch den Kunstgriff des fortgesetzten Zeitstrahls kann der Autor aktuelle Geschehnisse, Themen und Formate rückblickend aus der Zukunft betrachten. Das hat mir besonders im Kapitel „Der neue Mensch“ gefallen.

Marco Carrera selbst ist ein Mann ganz nach meinem Geschmack: gebildet, trotzdem bodenständig, ein Familientyp, pflichtbewusst und liebevoll. Obwohl Marco seine Jugendliebe niemals vergessen konnte und sie sein Leben lang letztlich doch geliebt hat, blieb er seiner Familie, Frau und Kind, treu ergeben. Mit Demut ertrug er die Schicksalsschläge, die das Leben für ihn bereit hielt, fügte sich fortwährend in seine Rolle und bereicherte das Leben seiner Mitmenschen. Ich hatte Marco sehr gern. Schließlich hätte er sich auch in eine negative Richtung ähnlich wie sein bester Freund entwickeln können.

Etwas hadern tue ich mit dem Geständnis des Psychoanalytikers von Marcos Frau zu Beginn des Romans in Kombination mit der Geschichte, die dann folgt. Er behauptet nämlich, Marco sei in Gefahr. Gleichzeitig teilt er ihm mit, dass Marcos Ehefrau schwanger von einem deutschen Piloten ist. Ein extremer Aufschlag, auf den später gefühlt nicht mehr eingegangen wird. Dennoch hat der Psychoanalytiker von Beginn an Recht, als könnte er hellsehen. Ein bisschen verwirrend, insgesamt aber stimmig. Genossen habe ich in diesem Zusammenhang die Gespräche zwischen dem Augenarzt und dem Psychoanalytiker. Sehr komisch, vielleicht typisch kurz und knapp, wo auf ein Schweigen ein Schweigen folgt und auch dies einen Teil des Dialogs darstellt.

Am Ende habe ich einen komplexen Roman gelesen, der mich zwischendurch fast abgehängt hätte. Freundlicherweise hat Sandro Veronesi seine Kapitelüberschriften mit Jahreszahlen ergänzt, so dass eine Orientierung noch möglich war. Sprachlich waren manche Formulierungen etwas holprig für mich, manche Aufzählungsarie war mir zu viel, weil dann mein Lesen eine zu starke Beschleunigung erfuhr, bis ich ins Stolpern geriet. Die literarische Herausforderung hat sich für mich gelohnt, da sich wie erhofft ein Gesamtbild der Geschichte ergibt, das mir gefällt. Zudem war ich nach der Lektüre so gerührt, dass ich ein, zwei Tränen nicht halten konnte.

Bewertung vom 23.09.2021
Dürre
Laub, Uwe

Dürre


sehr gut

Spannender Klimathriller

In seinem neuen Thriller beschäftigt sich Uwe Laub mit dem Klimawandel und gibt damit einer der größten Herausforderungen unserer Zeit genau den Raum, den sie verdient. Die Notwendigkeit zum Aufhalten bzw. zum Verlangsamen der Erderwärmung ist fast jedem heute klar. Doch wo und wie ansetzen, damit es wirklich funktioniert und gleichzeitig gerecht zugeht?

Ausgehend von den wiederkehrenden Dürren, die es inzwischen auch in Europa gibt, setzt der Autor das heutige Szenario glaubwürdig in die nahe Zukunft fort. Europa kämpft mit Hungersnot. Erzeugte Lebensmittel sind Staatseigentum, das dann auf die Bevölkerung verteilt wird. Satt wird kaum einer. Gleichzeitig wird alles, was man tut, hinsichtlich des CO2-Abdrucks von einer App überwacht und bewertet. Verbraucht man zu viel CO2-Credits drohen Strafzahlungen, die sich kein Otto Normalverbraucher mehr leisten kann.

Vor diesem Hintergrund geraten Julian und Leni ins Visier der Behörden, nachdem ein Kurzschluss an den Solarpanels ihrer Scheune einen Brand verursacht. Obwohl die beiden jungen Leute eigentlich ganz gut mit den alltäglichen Widrigkeiten zurecht gekommen waren, werden sie jetzt regelrecht aus der Bahn geschleudert. Dabei wirkt Julian zunächst unerwartet naiv. Seine menschliche Seite und seine Gutmütigkeit erzeugen ein Verhalten, das ihn immer tiefer in die Spirale der staatlichen Sanktionen hineintreibt. Es dauerte aus meiner Sicht recht lange, bis Julian in seiner Bedrohungslage wieder vernünftige Entscheidungen treffen kann. Da Leni nicht so stark im Vordergrund steht, ist bei ihr die Unbedarftheit auch nicht so auffällig. Als Helden, die in ihre Rolle erst hineinwachsen müssen, mochte ich die beiden sehr gern.

Noch interessanter war für mich allerdings Alex Baumgart. Nerds wie er sind für mich immer mit einer gewissen Faszination verbunden. Ich mag das technische Know-How, das ihm innewohnt. Seine ungelenke Art verschleiert die überdurchschnittliche Intelligenz, den Gedanken- und Erinnerungspalast, aus dem er MacGyver-mäßig eine Lösung hervorzaubert, obwohl er gerade unter absolutem Stress steht. Gefallen hat mir darüberhinaus, dass er die sich bietende Challenge aufnimmt, ohne an damit einhergehende Gefahren zu denken. Für mich ist er der wahre Held. Seine Unzulänglichkeiten habe ich ihm gern verziehen.

Insgesamt hat mir der neue Thriller gut gefallen. Wie auch schon bei Leben ist das Geschehen immer spannender geworden, bis ich in der zweiten Buchhälfte gar nicht mehr aufhören konnte zu lesen. Lediglich auf die Figur des Diego und die Wandlung seiner Rolle hätte ich verzichten können.

Bewertung vom 13.09.2021
Shuggie Bain
Stuart, Douglas

Shuggie Bain


ausgezeichnet

Zerstörerischer Alkohol

Die Geschichte bewegt sich im Glasgow der 80er Jahre. Die Zechen haben längst dicht gemacht, Arbeitslosigkeit ist weit verbreitet, ein Leben von der Stütze ist an der Tagesordnung. Die Armut und Perspektivlosigkeit sind schier unerträglich, so dass viele Menschen ihre Sorgen betäuben.
 
So auch Shuggie’s Mutter, Agnes, die vom Ehemann verlassen wurde und nun mit ihren drei Kindern und sich selbst total überfordert ist. Abgeschoben in eine dreckige Sozialsiedlung wartet die einstmals schöne und immer noch auf ihr Äußeres bedachte Frau auf die nächste Zuteilung vom Amt, die umgehend in Alkohol investiert wird. Für Lebensmittel reicht das Restgeld dann nicht immer, was für die Kinder einen leeren Magen bedeutet. Neue Kleidung gehört zu den Luxusgütern, die im Katalog auf Pump angeschafft werden muss. Schlimmer als die Armut an sich habe ich allerdings die Umkehr in der Fürsorge empfunden. Die noch sehr jungen Kinder, insbesondere der zunächst 8-Jährige Shuggie, müssen auf die Mutter achten, dass sie sich nichts antut, dass sie nicht verunfallt, dass sie wenigsten ein paar Münzen zum Füllen der Mägen mit einfachsten, sättigenden Nahrungsmitteln erübrigt.
 
Mein liebster und der gleichzeitig titelgebende Charakter Shuggie liebt seine Mutter nicht nur, sondern er vergöttert sie. Er gibt ihr mehr als sie ihm Fürsorge, Wärme und Geborgenheit. Nach seinen Möglichkeiten deckt er Agnes Fehlverhalten, verteidigt sie gegenüber anderen. All das tut Shuggie in einer so zarten Art und Weise, dass mir mein Herz aufging. Vor meinem inneren Auge konnte ich regelrecht diesen hübschen Jungen mit seiner stark ausgeprägten femininen Seite wahrnehmen. Es hat mich jedes Mal durchzuckt, wenn Shuggie dafür, für seine Liebenswürdigkeit in Person, Schläge einstecken musste.

Besonders wird der Roman durch den Schreibstil. Douglas Stuart schreibt aus meiner Sicht sehr atmosphärisch. Das Grau in Grau der Sozialsiedlung, der Kohlestaub sind allgegenwärtig. Die Darstellung von herrschendem Neid und Missgunst fand ich wirklich glaubwürdig. Die Übersetzung des Sprachgebrauchs der glasgower Unterschicht kommt einem in deutsch gelesen zwar erstmal etwas seltsam vor, wirkte auf mich dennoch passend. So wurde direkt vermittelt, wie unsauber die Sprache in Shuggie‘s Umfeld ist.

Letztlich ist dieser Booker Preis prämierte Roman weit entfernt von leichter Kost. Der Autor steigt tief in die Abgründe der Alkoholsucht hinab, arbeitet die Problematik der Co-Abhängigkeit von Agnes‘ Kindern deutlich heraus. Es ist kein Thema, mit dem man sich gern beschäftigt, dem man sich dennoch mit diesem Roman ein Stück weit annähern kann.