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Sagota
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Saarbrücken

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Insgesamt 68 Bewertungen
Bewertung vom 01.11.2022
Das Wolfsmädchen
Hardinghaus, Christian

Das Wolfsmädchen


ausgezeichnet

"Wolfskinder" nannte man die verlassenen, aus Ostpreußen, im Besonderen aus Königsberg, vor dem sicheren Hungertod geflüchteten Kinder, die nach Ende des 2. Weltkrieges unter Lebensgefahr dennoch den weiten Weg nach Litauen antraten, wo sie in der Regel wohlgesonnene Einwohner und "immer einen Krug Milch und ein Kanten Brot" erhielten, womit diese Menschen das Leben vieler Wolfskinder retteten.


Mir war dieser Begriff wohl bekannt, nicht aber der exakte Lebens- und Leidensweg dieser Kinder, von denen höchstens die Hälfte aller überlebt haben dürfte. Wie man im Buch erfährt, wurden einige auch adoptiert von litauischen Familien, die zu Beginn durchaus ein Herz für "die kleinen Deutschen" hatten; im Gegensatz zu den russischen Besatzern, die sich in Königsberg nach Kriegsende einfanden und die Stadt besetzten. Die verbliebenen 120000 Deutschen waren in dieser Zeit meist dem Hungertod geweiht, da sie absolut rechtlos waren und auch keine Verpflegung erhielten. Nach heutigem Ermessen würde durchaus das Wort Genozid zutreffen, denn die sowjetischen Soldaten gingen gnadenlos vor, auch gegen etwaige Unterstützer, die die Kinder in Litauen fanden: Den Litauern war es untersagt, deutsche Kinder bei sich aufzunehmen und viele wurden von den Patrouillen nach Sibirien verschleppt. Dieses Schicksal drohte auch denjenigen, die sich (zu den Mutigen zählend, wie Ursula Dorn) ins Nachbarland durchgeschlagen hatten und auf eine russische Patrouille trafen.... Mit Entsetzen begleitet man den Weg des intelligenten Mädchens, dessen Familie vor dem Hungertod steht; der Vater ist im Feld, das sich mutig auf den Weg begibt, um selbst nicht zu verhungern. Ursula sollte es gelingen, mit einem Rucksack voller Lebensmittel zurück nach Königsberg zu kommen und wiederum mit ihrer Mutter aufzubrechen: Eine Nachbarin wollte sich um die jüngeren Geschwister kümmern, bis beide mit Nahrungsmitteln zurückkehren würden.


Doch die Zeiten (wir sprechen von 1946/47 und 1948) wurden immer schwieriger, da sich litauische Partisanen ("die Waldbrüder") mit sowjetischen Soldaten Gefechte lieferten. Dadurch wurde es auch für die sich noch am Leben befindenden Wolfskinder schwieriger, etwas Essbares zu finden oder die Kälte des Winters zu überstehen. Ursula, die bereits in Königsberg zu den durchsetzungsfähigsten und intelligentesten, klügsten Kindern (sie war zu dieser Zeit erst 12 Jahre alt) zählte, schlägt sich mit ihrer Mutter Martha durch diese grauenhaften Zeiten - und überlebt. Grausam und unmenschlich empfand ich die erschütternde Lebensreise von Ursula Dorn besonders nach Einsetzen der Hungersnot (wobei Königsberg, heute Kaliningrad bis 1944 von Bomben verschont blieb) im Kindesalter; auch war mir bis zum Lesen dieses autobiografischen Buches nicht klar, dass viele Deutsche in Königsberg festsaßen und die meisten ihr Leben ließen: Der Krieg am 8. Mai 1945 für Erwachsene und Kinder in Ostpreußen noch länger nicht zu Ende sein sollte.

Positiv fand ich, dass Ursula Dorn ihre Geschichte in hohem Alter mitteilte; ja das Schreiben für sie eine Art von Selbsttherapie gewesen ist und sie auch aktiv im Leben blieb: So fuhr sie 2020 noch einmal nach Kaliningrad und hatte verständlicherweise mehr als schwer an den Erinnerungen zu tragen: Im Verein Edelweiß, der sich in den 90er Jahren gründete und der 20 frühere Wolfskinder als Mitglieder hat, gibt es einen Unterstützer, der selbst ein Buch über dieses Thema geschrieben hat: Baron Wolfgang von Stetten. Dieser sorgt auch dafür, dass die in Litauen verbliebenen (unter anderer Identität lebender) Wolfskinder zumindest eine geringe Rente erhalten: Mit Ärger erfüllt es mich, wie sehr der deutsche Staat bis heute etwaige Reparationen ablehnt - und die Thematik dieser verlassenen, vertriebenen und vom Hunger- und Kältetod bedrohten, traumatisierten Kinder aus Ostpreußen totschweigt!


Christian Hardinghaus hat die Aussagen von Ursula Dorn mit exakten historischen Daten und politischen Hintergründen verwoben, da ich hier ebenfalls "Leerstellen" hatte und jetzt ein umfassenderes Bild, danke ich hierfür besonders! "Das Wolfsmädchen" ist keine leichte Kost - aber umso wichtiger finde ich, dass es von vielen Menschen gelesen wird, die sich für die Aufarbeitung einer solch' verdrängten Thematik gerne auseinandersetzen, vielleicht auch Nachfahren ehemaliger Wolfskinder sind oder geschichtliches Interesse mitbringen. Gerade jetzt, im aktuellen Ukrainekrieg, der für viele Menschen aus den baltischen Staaten - aber auch für solche wie Ursula Dorn, eine reale Bedrohung darstellen und sie eine Warnung ausgibt, die ich sehr ernst nehme; die Schicksale der weiteren Wolfskinder, die ihre Stimme ebenfalls hier anschließen und Ursulas Beschreibungen ergänzen, sollten nicht länger überhört werden! Für einen - wenn auch mehr als bewegenden Eindruck, der anfangs eher erschüttert - in das leidgeprägte Leben eines Wolfskindes, hier Ursula Dorn, danke ich ganz herzlich und empfehle es absolut weiter! 5*

Bewertung vom 01.11.2022
Das große Brotbackbuch
Bauer, Christina

Das große Brotbackbuch


ausgezeichnet

"Das große Brotbackbuch" von Christina Bauer (die inzwischen mit ihren diversen Backbüchern keine Unbekannte mehr sein dürfte) erschien (HC, 352 S. mit Fotografien von Nadja Hudovernik) 2022 im Löwenzahn-Verlag, A-Innsbruck.


Die sympathische Autorin beweist mit 128 Rezepten wiederum in ihrem Brotbackbuch, dass Backen einfach sein kann - und Freude macht! Der/die passionierte/ BrotbäckerIn und jene, die es werden wollen, erfährt hier Basics wie die Herstellung einfacher Grundteige, alles Wichtige zum Sauerteig und geht dabei in die Tiefe: Man erfährt alles über die besten Zutaten, wie man richtig knetet, welche Utensilien zum Backen von Broten wichtig sind und detaillierte sowie hervorragend erklärte step-by-step-Anleitungen!


So beschreibt C. Bauer eingehend Mehltypen, Gehzeiten; stellt Zubehör vor (Garkörbchen, Rundhölzer, Backpinsel, Brotstempel etc.) und gibt einen tollen Überblick über die Backschritte; besonders das Backwissen Plus (Dehnen und Falten, Vorformen des Teigs) fand ich äußerst hilfreich und informativ - auch für Ungeübtere, zu denen ich mich zähle in Sachen Brot backen.


Die genialen Grundteige gliedern sich in klassischen -, süßen -, pikanten Germteig und Teig für Kleingebäck (Semmeln, Weckerl etc.) Dem Sauerteig widmet die Autorin ein umfangreiches, interessantes und äußerst informatives Kapitel. Alle Mengenangaben sind bei den Rezepten anpassbar; also 'alltagstauglich' - ein weiteres Plus dieses tollen Sachbuchs! So findet man zahlreiche Tipps zu den leckeren Rezepten, die mit entsprechenden Fotos, die wie "eye-catcher" wirken und Lust auf Brot machen, viele Rezepte zum Brotbacken; mein besonderes Interesse fiel auf Butter-Toastbrot, Gewürzbrot, Kümmelbrot (hier habe ich immer die Zeit meiner Studienjahre vor Augen, in Osthessen lieben Menschen dieses Brot, während es hier leider nicht käuflich ist); Ciabatta, die Knopfsemmeln und das Kräuter-Fladenbrot: Alle diese Brotsorten lieben wir sehr und "selber backen statt kaufen" ist nun unabdingbar!


Die Apfel-Nuss-Kipferl werden noch ausprobiert ebenso wie meine Milchbrötchen: Auch diese sind gegenüber früher leider aus den Bäckereien entschwunden zumeist und seit meiner Kindheit meine Lieblingsbrötchen. Auch die Rezepte zur "Resteverwertung" wie Scheiterhaufen und Arme Ritter sind sehr gut nachbackbar - und lecker! Abschließend gibt die Autorin noch Tipps und Tricks zu "Hoppalas"; ein Glossar schließt sich ebenso an wie ein Rezeptregister, mit dem es einfach ist, seine Lieblingsrezepte wiederzufinden.


Fazit:


Mit diesem sehr genialen Brotbackbuch, das Basics, vier Grundteige und über 120 tolle Rezepte incl. Fotos bereithält, ist der geneigte Brotbäcker für jede Backsituation gewappnet. Besser.Geht.Nicht!

Daher von mir eine absolute Empfehlung und 5*

Bewertung vom 09.10.2022
Nadiyas Lust- & Laune-Küche
Hussain, Nadiya

Nadiyas Lust- & Laune-Küche


sehr gut

Allen Gerichten dieses Kochbuchs von "Nadiyas Lust & Laune Küche" (erschienen bei arsvivendi, HC, 255 S., 2022) haben gemeinsam, dass sie schnell und unkompliziert zubereitet werden können. Wobei an Geschmack - ob süß oder herzhaft - nicht gespart wird: Ganz im Gegenteil!

So finden sich in diesem sehr übersichtlich gestalteten und mit vielen Fotos versehenen Kochbuch zahlreiche Rezepte, die wie folgt (zum besseren Finden der entsprechenden Rezeptsuche) untergliedert ist:

- Kräuteriges, Würziges, Cremig-Käsiges, Nussiges, Zitroniges, Rustikales, Fruchtiges und Süßes.

Ein Register und Hinweise zur Zubereitung schließen sich am Buchende an. Von den zahlreichen Rezepten fanden unser größtes Interesse:

- Rosmarin-Lammeintopf; Estragon-Hähnchen; Birnen-Ingwer-Porridge, Scharfe Karotten-Pasta, und Orangen-Knoten (um nur mal einige zu nennen ;) und auf den baldigen "Maronen-Schokoladen-Kuchen" bin ich schon sehr gespannt (muss nur noch die Maronen sammeln...).

Fazit:

Sehr vielseitig und für jeden Geschmack finden sich hier tolle Rezepte, die durch gute Zubereitungsbeschreibung leicht und locker nachgekocht werden können: Von mir gibt es für dieses sympathische Kochbuch von Nadiya 4* und eine Weiterempfehlung - an alle, für die es auch mal schneller gehen soll in der Küche - die aber auf guten Geschmack dennoch nicht verzichten wollen.

Bewertung vom 02.10.2022
London Rules / Jackson Lamb Bd.5
Herron, Mick

London Rules / Jackson Lamb Bd.5


ausgezeichnet

"London Rules" (Ein Fall für Jackson Lamb 5) von Mick Herron ist ein würdiger weiterer Nachfolge in Sachen humorvolle, schwarzhumorig und tiefgründig geschriebene Spionage-Thriller der bisher erschienenen Bände, die vom Englischen von Stefanie Schäfer ins Deutsche übersetzt wurden. Erschienen ist die Reihe um die "Abservierten" im Slough House, Finsbury, Aldersgate Street (als ungeliebter Ableger des Geheimdienstes MI5), London im Verlag Diogenes, Zürich (brosch., TB, 2022).


Da Mick Herron ausser viel Spannung und wendungsreiche Plots auch ein Faible für Poesie zu besitzen scheint, führt den geneigten Leser (zu denen ich mich seit Bd. 1 zähle) dieses Mal die Morgendämmerung ins Slough House: So schweben wir durch den Flur mit dieser in die Büros von Jackson Lamb, Catherine Standish (trockene Alkoholikerin), River Cartwright (Enkel des 'Old Bastard', der inzwischen in einem speziellen Pflegeheim lebt, nachdem klar ist, dass er nicht mehr weiß, welche Wahrheiten er verschweigt und welche Lügen er verbreitet), Luisa Guy, Shirley Dander, Roddie Ho und J.K. Coe. Letzterer ist noch nicht lange in der Truppe, die allesamt einen Fehler machten und daher ins Slough House abserviert wurden; wobei die Dogs um Whelan (Leiter des MI 5) und dessen Stellvertreterin Lady Di (Diana Taverner) allesamt hoffen, dass einer nach dem anderen freiweillig kündigt, um der stupiden Langeweile im Slough House zu entgehen. Doch sie haben nicht damit gerechnet, dass unsere schlauen und ehrgeizigen "Slow Horses" sich nicht so schnell verdrängen lassen; Jackson Lamb schon überhaupt nicht, "regiert" er doch das Slough House, nachdem er einst ein "Joe" war....


So hat unsere Truppe es schon bald mit einer Reihe von Attentaten zu tun: Eine Söldnergruppe mäht ein englisches Dorf nieder; ein Pinguingehege fliegt durch eine Rohrbombe in die Luft, in einem Zug explodiert eine Bombe (zum Glück ohne Todesopfer) und ein Attentat wird auch auf den IT-Nerd Roddie Ho verübt, der dank dem blitzschnellen Eingreifen Shirley Dander's (die gerade eine Therapie durchführt, um ihre Aggressionen besser im Griff zu haben) vereitelt wird. Was haben diese Vorgänge gemeinsam und wie kann (wenn auch widerwillig, Ho ist nicht sehr beliebt in der Truppe), Ho vor weiteren Anschlägen auf sein Leben geschützt werden?


Diesen Fragen stellen sich die Slow Horses und es stellt sich heraus, dass der MI5 alle Gründe hat, einiges unter den Teppich zu kehren, da es sonst auf Fehler des Geheimdienstes selbst zurückzuführen sein könnte. Hier schafft Mick Herron wiederum amüsante und sehr realistische Einblicke in die Realpolitik, wo Intrigen, Missgunst u.a. vorherrschen und jeder auf der Abschussliste des anderen steht. So ist nicht nur der Premierminister, sondern auch Whelan als Chef des MI5 mehr als bedacht, bloß keinen Fehler zu begehen...


Wir lernen "zwielichtige" Freundinnen kennen (besonders jene von Roderick Ho) wie auch zwielichtige Politiker, wie Zafar Jaffrey, der alles dafür unternimmt, Bürgermeister zu werden. Auch die Selbstverliebtheit wird aufs Korn genommen, die so manchen Politiker umgibt; hier in persona von Gimball: Sowohl der MI5 als auch die Slow Horses befürchten, dass einer dieser beiden zu Tode kommen könnte und so kommt es zum showdown, als klar wird, dass eine mächtige Organisation dahinter stecken könnte, die ein weiteres Attentat "vor laufender Kamera" verüben könnte: River und Coe 'sichten das Gelände' eines möglichen Tatorts, während Shirley und Louisa nach Birmingham fahren (wobei alle nicht interessiert, dass sie offiziell im "Lockdown" sein sollen). Einer der Agenten, bisher noch blass und sehr "maulfaul", hat jedoch den richtigen Riecher und eine Vergangenheit als "Wiesel", so dass er eins und eins zusammenzählen kann - und mehr redet als im Band zuvor.


Wenn ich es richtig sehe, könnte eine sehr clevere, wenn auch gehandicapte Person des MI5, die durch das "Mistvieh" - die Mutter aller Datenbanken - demnächst ihre Stelle verlieren soll, im

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 02.10.2022
Isidor
Kupferberg, Shelly

Isidor


ausgezeichnet

"Isidor" - Ein jüdisches Leben - von Shelly Kupferberg erschien (HC, geb.) im Diogenes-Verlag, Zürich (2022).


Es ist nicht der einzige Roman, den ich über Schicksale jüdischer Mitbürger - hier eines österreichischen Juden - gelesen habe, da die millionenfachen Opfer des Holocausts dadurch "Gesichter" bekommen: So würde ich "Isidor" als weiteren (literarischen) Stolperstein betrachten, die nicht übersehen oder in diesem Falle ungelesen bleiben sollten, um die Vergangenheit nicht zu vergessen.


Shelly Kupferberg führt ihre LeserInnen durch das schillernde Leben ihres Großonkels Isidor (einst Israel, der Vater war Talmudgelehrter), das als Kind armer Eltern in Galizien begann. Wir begeben uns mit der Autorin auf eine Zeit- und auch Geschichtsreise nach Galizien, Lemberg und Wien in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts: Auf den Spuren des Großonkels und auf Pfaden, die stilistisch sehr gut und spannend zu lesen sind.


Die Autorin nutzt für ihre Recherchen Archive, Akten, Fotos und Briefe sowohl in Österreich als auch in der Wohnung des Großvaters Walter in Tel Aviv (Walter sollte es im Gegensatz zu Isidor gerade noch gelingen, Europa zu verlassen....


Isidor ist bereits als Kind allem Kulturellen sehr zugeneigt, intelligent und will es einmal zu etwas bringen in seinem Leben: Er folgt seinen Brüdern nach Wien, studiert Jura und wird Kommerzialrat; finanziell gelingt es ihm, steinreich zu werden und kann später von den Zinsen leben wie auch seine Familie unterstützen. Er ist Gastgeber von Herrenklubs in der wohlangesehen Canovagasse in Wien, besucht für sein Leben gerne Caféhäuser (in denen sich Intellektuelle und KünstlerInnen gerne trafen), Opern und Konzerthäuser und liebt die kulturelle Vielfalt und das Angebot in der Metropole Wien. Anders als viele andere Juden verharmlost er jedoch lange Zeit das Aufkommen des Antisemitismus (bereits zur Jahrhundertwende gab es diesen bereits; besonders die jüdischen Einwanderer aus Russland berichteten zu dieser Zeit Schlimmes!); verkennt die Zeichen der Zeit und kann Europa demzufolge nicht mehr rechtzeitig verlassen: Die Vorstellung, dass auch ihm Furchtbares widerfahren könne, muss abseits seiner Gedankenwelt gelegen haben. Dies hat mich sehr betroffen gemacht, zumal Isidor Geller, einst Kommerzialrat und durch Fleiß wie auch Intelligenz zu Ruhm und Ehre gekommen, enteignet wurde von den Nationalsozialisten und krank sowie mittellos starb (1938).


Shelly Kupferberg hat anhand von Fragmenten und großer Recherchearbeit in der eigenen Familie wie auch in Archiven Spurensuche betrieben. Sie hat dafür gesorgt, dass eine wirklich interessante Persönlichkeit einen literarischen Stolperstein erhält, der ihm gebührt. Ich kann diesen auf wahren Hintergründen beruhenden Roman allen LeserInnen mehr als empfehlen, die sich für Zeitgeschichte und Einzelschicksale im letzten Jahrhundert, besonders jüdischer Familien, interessieren und vergebe 5* mit großem Dank an die Autorin!

Bewertung vom 10.09.2022
Die Köchinnen von Fenley
Ryan, Jennifer

Die Köchinnen von Fenley


ausgezeichnet

"Die Köchinnen von Fenley" von Jennifer Ryan wird im Oktober 2022 (brosch, 504 S.) im Verlag Kiepenheuer & Witsch verlegt: Ich hatte das Vergnügen, diesen sehr herzerwärmenden und atmosphärischen Roman vorab lesen zu dürfen.

England, 1942, Dorf Fenley:

Um die Moral der Menschen in Kriegszeiten zu stärken, in der die Bevölkerung mit Rationierungen der Lebensmittel auskommen musste, soll Ambrose Hart, der BBC-Moderator der Radiobeiträge "Kitchen Front", einen Wettbewerb ausrufen, um einen weiblichen Co-Moderation zu gewinnen. Diesem Kochwettbewerb stellen sich 4 sehr unterschiedliche Frauen, die allesamt von einem neuen und vor allem besseren Leben träumen. Wer der Ladys wird den Wettbewerb gewinnen?

Meine Meinung:

Wir lernen hier vier sehr liebenswürdige junge Frauen kennen wie auch ihre familiären Hintergründe (gut, eine der Frauen ist anfangs alles andere als liebenswürdig; wandelt sich jedoch im Laufe der Handlung, so dass immer mehr Verständnis und auch Sympathie aufkommt). Zwei sehr ungleiche Schwestern bewerben sich: Audrey und Gwendoline: Erstere verlor ihren Mann Matthew im Krieg und hat drei Söhne durchzubringen sowie die Angst auszuhalten, ihr Haus zu verlieren, das ohnehin sanierungsbedürftig ist. Gwen hat es da gut getroffen: Sie hat Sir Strickland, einen sehr reichen und ebenso ehrgeizigen und an Aufstieg bedachten Mann geheiratet, hilft Audrey finanziell, lässt diese jedoch spüren, dass "sie es bereits schaffte" und auch den Kochwettbewerb mit Selbstverständlichkeit gewinnen will: Dabei greift sie auch auf unerlaubte Unterstützung durch einen Chefkoch, der wiederum bereits im Leben von Zelda Dupont (ihr eigentlicher Name lautet anders) Spuren hinterlassen hat. Als Quartiersmeisterin bringt Gwen eine schwangere Evakuierte bei Audrey unter, die ihrerseits bereits mehr als ausgelastet ist, zumal sie ihr Zubrot durch Backen und Kochen damit verdient, bis in die Nacht hinein in ihrer Küche zu stehen (u.a. versorgt sie Fenley Hall, das Gwen mit Sir Strickland bewohnt, mit diversen Köstlichkeiten aus ihrem Garten). Zelda arbeitet als Chefin in der Küchenbrigade der Fabrik und legt als gelernte Köchin ("Haute Cuisine") viel Wert auf Qualität - in Zeiten des Krieges allerdings mehr als schwierig, wie sich herausstellen sollte. Auch sie ist ehrgeizig und will ein selbständiges Leben führen, in einem sehr guten Restaurant arbeiten wie zuvor in London. Die vierte im Bunde ist Nell Brown, ein Küchenmädchen von Fenley Hall, einst im Waisenhaus aufgewachsen, unsicher mit wenig Selbstwertgefühl, allerdings sehr talentiert und kreativ in der Küche, die sie mit ihrer Mentorin, Mrs. Quince, der alten Köchin von Fenley Hall, teilt: Besonders diese Figur geht aus ihrer anfänglichen Schüchternheit heraus und wird selbstsicherer, um ihres italienischen Freundes willen und besonders für Mrs. Quince! So begleiten wir die Frauen, die sich immer mehr annähern und feststellen, dass Solidarität in schwierigen Zeiten unerlässlich ist für das persönliche Glück und Weiterkommen, durch die 3 Teile des Wettbewerbs, die stilistisch für die drei Romanteile stehen: Die Vorspeise, das Hauptgericht und - das Dessert.

Wie im Romanvorgänger (Der Frauenchor von Chilbury) versteht es Jennifer Ryan auch hier, sehr viel Atmosphäre in die Handlung zu bringen; die Figuren sehr gut und detailliert auszuleuchten und es zu ermöglichen, Sympathie beim Lesen für jede Frau zu empfinden, die sich durch Stärke, Freundschaft und Zusammenhalt in Kriegszeiten auszeichnen. Zudem hervorragende Köchinnen sind und sich dem Wettbewerb stellen.

Fazit:

Eine gelungene Hymne an die Freundschaft und den Zusammenhalt sowie Solidarität, zu der Frauen gerade in schwierigen Zeiten wie hier dem 2. Weltkrieg, fähig sind: EngländerInnen lieben Wettbewerbe und die Radiosendung "Kitchen Front" hat es in der Tat bei BBC gegeben, wurde ab 1942 ausgestrahlt. Die Basis dieses Romans waren Gespräche mit Zeitzeugen und ist eine Hymne auf die menschliche Stärke in schweren Ze

Bewertung vom 16.08.2022
Das Glück auf der letzten Seite
Bonidan, Cathy

Das Glück auf der letzten Seite


ausgezeichnet

"Das Glück auf der letzten Seite" von Cathy Bonidan wurde in deutscher Übersetzung von Ina Kronenberger im Verlag Zsolnay, Wien (HC, geb., 269 S.) veröffentlicht: Der Roman ist für mich einer der schönsten Briefromane, die ich bisher lesen durfte und sei jedem Leser ans Herz gelegt, der jemanden kennt - oder selbst "ein Zeichen braucht", um das Leben wieder positiver zu gestalten!

Inhalt:

Der geneigte Leser/die Leserin findet hier eine ausgefallene, frische und sehr lebendige Romanidee in Briefform, in dem ein vor 30 Jahren verschollenes Manuskript (das überdies von zwei verschiedenen AutorInnen zu stammen scheint!) die Hauptrolle spielt: Anne-Lise Briard, eine Literaturagentin aus Paris, die gerade bei ihrer besten Freundin Maggy in der schönen Bretagne weilt, findet per Zufall in ihrem Hotelzimmer (genauer gesagt in der Nachttischschublade in No. 128 des Beau Rivage) ein Manuskript, das sie liest und das sie sehr berührt: Da sie nicht weiß, von wem diese zeitlosen und wundervollen Zeilen, "die ein Leben verändern können", wie wir erfahren, stammen, macht sie sich gemeinsam mit Maggy auf die Suche nach dem Autor.....

Meine Meinung:

Die beiden Freundinnen Anne-Lise und Maggy stehen bei der Suche in regem Briefaustausch mit allen, die das Manuskript besessen und gelesen haben - was jedoch trotz aller Beharrlichkeit kein leichtes Unterfangen ist. Umso vergnüglicher, berührender, menschlicher ist die Freude, all' die Briefe, die Korrespondenz zwischen den auftauchenden ProtagonistInnen William Grant, David, Nahima, Roméo, Sylvestre, Elvire und Claire zu lesen, die sehr humorvoll, aber auch mit viel Tiefgang und seitens Anne-Lises großer Beharrlichkeit geschrieben sind!

Wie ein Ariadne-Knäuel entwirrt sich nach und nach der Faden zu den Anfängen des besagten Manuskripts, dessen Seiten einer der ProtagonistInnen lediglich bis Seite 156 schrieb und alle mehr und mehr rätseln, wer den Rest "hinzukritzelte"; so dass der Roman ein Ganzes ergab. Als LeserIn dieser Korrespondenz ist es spannend und teils köstlich, sowohl Maggy als auch William und Sylvestre, ganz besonders aber Anne-Lise, die man einfach sofort (durch ihre Offenheit, Unverblümtheit, aber auch Ehrlichkeit und Neugierde sowie durch die Freude, die sie daran empfindet, anderen Menschen zu helfen, diese auch mal zu analysieren) immer besser kennenzulernen. Auch ihren jeweiligen persönlichen Hintergrund, der selten ohne Narben verläuft. So bleibt die Suche nach den/r "Urhebern" des Manuskripts durch den Briefwechsel mehr als spannend und man freut sich, wie sich einige menschenscheue Personen allmählich zu öffnen beginnen, deren Verhalten zuvor wie einer verschlossenen Auster war. Die "Recherche-Reise" geht von Paris über die Bretagne bis ins Lozére und nach Montpellier; auch machen wir einen kleinen Abstecher nach London (William Grant) und Schottland sowie nach Montréal in Kanada. Zum Schluss wohnen wir dem Fest bei, das Sylvestre im Lozère organisiert und an dem alle Menschen, die das Manuskript gelesen haben, anwesend sind.

Dieser (Brief)roman ist ein Appell:

Da es ein Leben ohne Narben (zumeist) nicht gibt, geht es darum, sich dennoch immer wieder Neuem zu öffnen, sich nicht zu verschließen oder gar zu verbittern: Wenn das Glück an die Türe klopft, sollte man es hereinbitten!

Fazit:

Eine Hommage an die Freundschaft, an das Briefe schreiben und an Bücher, die Literatur selbst, die zuweilen in der Lage ist, ein Leben zu verändern; oftmals zum Positiven! Ein grandioser, lebensbejahender und humorvoller Briefwechsel, den ich zu meinen Buchhighlights 2022 hinzufüge (zugegeben, ich liebe Briefromane sehr :-) und bedingungslos weiterempfehlen möchte: Meine Wertung ist daher die Bestnote und 5*!

Bewertung vom 09.08.2022
Weißdornzeit
Harrison, Melissa

Weißdornzeit


sehr gut

Weißdornzeit" von Melissa Harrison erschien (HC mit Lesebändchen; 286 S.) 2022 im Dumont-Verlag, Köln. Nach dem Début (Vom Ende eines Sommers), das mir sehr gut gefallen hat, konnte die Autorin mich auch dieses Mal durch Romanhandlung und Schreibstil "mitnehmen". Und so landete ich im fiktiven Dörfchen Lodeshill, irgendwo im ländlichen England....

Hier begegnete ich Jack, einem natur- und freiheitsliebenden jüngeren Mann, der gerne abseits ausgetretener Pfade, einen Bogen um jede Stadt machend, zu Fuß unterwegs ist. Immer auf der Suche nach einer Aushilfsbeschäftigung, um für sich selbst aufzukommen. Menschen geht er allerdings gerne aus dem Wege, ist jedoch lyrisch veranlagt (er erscheint singend in einem Garten in Lodeshill, was die Einwohner verunsichern sollte), schläft am liebsten unter freiem Himmel und kennt auch die Nahrungsmittel, die die Natur völlig unentgeltlich für ihn bereithält. In der Vergangenheit hatte er einige Gefängnisstrafen zu verbüßen wegen Landstreicherei und Betreten privatem Eigentums: Von daher allzu verständlich, dass Jack nie mehr in einem "Menschenkäfig" (Gefängnis) einsitzen will.

Dann traf ich Howard und Kitty, einem Ehepaar, das aus London nach Lodeshill gezogen ist, um dort seinen Lebensabend zu verbringen: Während Howard eher pragmatisch ist, gerne alte Radios repariert, die er im Internet aufstöbert; jedoch unsicher ist, ob ein Leben auf dem Lande wirklich 'seines' ist; hat Kitty (für die Howard deren Traum erfüllte, im Alter auf dem Lande zu leben) guten Zugang zur Dorfbevölkerung, geht gerne in die Kirche und malt gerne die Schönheiten der Natur, die nunmehr vor ihrer Haustür liegen.

Während ich Howard und besonders Jack sehr mochte, sehe ich in Kitty eher einen ambivalent angelegten, nicht aufrichtigen Charakter, von dem ich nicht sehr angetan war.

Während des Romans, der bereits im Prolog das Unheil schildert, das sich anbahnt, lernte ich noch einen weiteren Protagonisten und dessen Familie kennen: Jamie. Als der beste Freund von der benachbarten Farm (Jamie wuchs in Lodeshill auf) Culverkey wegzieht, bricht für den Jungen (er ist 13) eine Welt zusammen: Wissend, dass seine Mutter 'anders' ist als andere Mütter, geht es nun bei ihm bergab. Er verdingt sich im Lager eines Logistikunternehmens, lernt Megan kennen und träumt davon, eines Tages mit ihr (und der Clique) ins Pub zu fahren: Mit seinem Corsa, den er aufwendig tunt, bis er sehen will, "was in dem Wagen steckt". Der Großvater von Jamie hat beginnende Demenz und läuft weg: Auch bei Howard und Kitty brechen Familienkonflikte durch, als sich die beiden erwachsenen Kinder für ein Wochenende ankündigen und Howard seine Tochter, die in China war, vom Flughafen abholen möchte...So nimmt das Schicksal seinen Lauf, als sich die Figuren unerbittlich einander nähern...

Der Stil von Melissa Harrison ist sehr atmosphärisch, die Natur spielt wie auch im vorigen Roman eine bedeutende Rolle , er entbehrt auch nicht einer gewissen Poesie - für mich jedoch auch immer wieder Momente der Melancholie, da man als Leser weiß, worauf die Romanfiguren zusteuern.

Die Autorin versteht es außerordentlich gut, zum einen bildhafte Landschaften des ländlichen Englands vor dem inneren Auge des Lesers zu erschaffen, als auch die Gefühle und Gedanken der ProtagonistInnen sehr einfühlsam und prononciert auszuleuchten. Am sympathischsten war mir Jack mit seiner bedingungslosen Liebe zur Freiheit und seinem Lebensstil, der daraus resultiert: Kompromisslos und sicher nicht der einfachste, aber ein sehr ehrlicher Weg! Howard hätte ich mehr Durchsetzungsvermögen und Offenheit, wenn es um eigene Gefühle ging, gewünscht - und Jamie mehr "Weitblick" und Reife.

Ein schöner und lesenswerter Roman, den ich gerne weiterempfehle, auch wenn mich dieser etwas traurig und auch melancholisch zurückließ. Gerne vergebe ich gute 4 Sterne.

Bewertung vom 23.05.2022
Atlas der Unordnung
Papin, Delphine

Atlas der Unordnung


ausgezeichnet

Die beiden französischen Autoren unterscheiden hier zwischen geographischen, kulturellen und ideologischen Grenzen; greifen auch Historisches auf, was sehr interessant und spannend aus den Karten zu ersehen ist. Von Kap. I bis C ist eines interessanter als das andere, faszinierend und sehr informativ:


- Grenzen als Vermächtnisse

- Meere und Grenzen

- Mauern und Migration

- Spezielle Grenzen

- umstrittene Grenzen


sind die Hauptkapitel, die sich in zahlreiche Unterkapitel gliedern, welche sich über den gesamten Globus erstrecken. Es wird auch der Frage nachgegangen, "wann ist ein Staat ein Staat": In Zeiten von Unruhen und Kriegen stehen Grenzen gerade jetzt - mitten im Ukrainekrieg und einigen anderen Kriegsgebieten auf der Welt - im Mittelpunkt der Geopolitik.


In diesem Zusammenhang fand ich (Kap. umstrittene Grenzen) "Russlands Comeback" (Wiedereroberung der alten Einflusssphäre) und "Ukraine gegen Moskau" äußerst interessant und politisch aufschlussreich. Auch das "Spinnennetz Chinas" ist sehr gut dargestellt und lässt einen (zumindest mich) aus guten Gründen erschaudern.

"Eine Welt voller Mauern" stellt graphisch die Barrieren dar, die überall auf der Welt vorhanden sind. Die europäischen Grenzen ("Todesfalle Mittelmeer") sind auch aktuell sehr verbesserungswürdig in Sachen Menschlichkeit.


Geschichtlich widmen sich die Autoren auch der wachsenden Zahl der Grenzen und der Verschiebungen im Laufe der Geschichte; auch den kulturellen Kulturkreisen weltweit, die sowohl mit der Geographie als oftmals auch mit Religionen verbunden sind. Auch das Kapitel "Pässe aus aller Welt" - unser aller 'Daseinsberechtigungsschein' - als Türöffner oder auch nicht - gibt zu denken. Der einzigartige, unglaubliche Bild- und Graphikenband endet mit dem Kapitel zur Zukunft Europas, umfasst auch die "50 Linien" (Verteidigungslinien) und zahlreiche weiterführende Literaturangaben.


Fazit:


Ein sehr empfehlenswerter, einzigartiger Bildband mit informativen, prägnant recherchierten, geopolitisch interessanten Inhalten zu Grenzen der Welt, die - menschengemacht - auch absurd sein können. Das Buch macht tatsächliche und auch absurde Grenzen auf faszinierende (und teils auch beklemmende) Weise sichtbar. Chapeau dem Autorenpaar und von mir 5*!

Bewertung vom 05.05.2022
Das versunkene Dorf
Norek, Olivier

Das versunkene Dorf


ausgezeichnet

Meine Meinung:


Olivier Norek hat einen sehr flüssigen, gut zu lesenden Schreibstil, der den Leser gleich abholt: Noémie, deren Verletztheit (physisch wie auch psychisch) während des ganzen Kriminalromans gefangen nimmt und die mit Hilfe eines Psychologen versucht, ihre Persönlichkeit so anzunehmen, wie sie jetzt ist, sich selbst zu mögen, trotz des entstellten Gesichts, hat mich zutiefst beeindruckt. Die Dialoge mit Melchior haben mich trotz der Schwere ihrer Verletzungen zuweilen sehr zum Schmunzeln gebracht, wie es auch an anderen Stellen nicht an Humor mangelte (entfernt erinnerte mich "la facon d'écrire" - der Schreibstil von Norek an meine Lieblingskrimiautorin, die ebenfalls Französin ist: Fred Vargas). Die Figuren und Hintergründe werden authentisch und nachvollziehbar beschrieben, besonders Noémie charakterlich sehr gut ausgeleuchtet: Sie ist lieber Kämpferin als Opfer und arbeitet daran, den Cold Case mit Erfolg abzuschließen, um Schlimmeres zu vermeiden (ihre Tätigkeit bei der Polizei ist ihr absolut wichtig) und evtl. sogar degradiert zu werden. Der "Fall" um das Verschwinden von Alex, Cyril und Elsa legt auch offen, durch welche Hölle Eltern gehen, deren Kind spurlos verschwunden ist oder entführt wurde. Wir lernen die Familien Dorin, Madame Saulnier und die Familie Casteran kennen, deren Leben auf die eine oder andere Weise im Jahre 1994 endete und die noch heute von dem Verlust und der Ungewissheit gezeichnet sind. Da auch die hinzugerufene Flussbrigade aus Paris unter dem erfahrenen Taucher Hugo Massey keine weiteren eindeutigen Beweise zutage fördert, trotz lebensgefährlicher Tauchgänge im See, wird der Stausee auf Weisung der Staatsanwaltschaft geleert: Nun wird sich zeigen, ob der See weitere Kinderleichen birgt - und auch, wer hier Blut an den Händen hat: Da Noémie, starrsinnig, stur und sehr vorsichtig in ihrem Job, in der weiteren Ermittlung niemandem trauen kann (es wurden mehrere Anschläge auf sie verübt), hält sie wichtige Informationen zunächst zurück, bis es zum shut down kommt, der absolut nicht vorhersehbar für mich war und mich überraschte.


Viele sozialkritische Aspekte habe ich in dem Krimi gefunden (z.B. wie ausländische Arbeitnehmer als Billigkräfte zum Hungerlohn schuften, Sékour war mit die tragischste Figur in diesem Krimi!; aber auch Rassismus, Ausgrenzung und auch Vorurteile der Städter gegenüber der Provinz: Trottel gibt es auch (in allen Diensten, nicht nur bei der Polizei) in Haupt- und Großstädten! Insofern ist der spannende, im Plot stimmige und sehr unterhaltsame Kriminalroman aus der Feder von Olivier Norek auch eine Hommage an das Aveyron im Herzen Frankreichs: Der Autor ist selbst dort aufgewachsen und daher "ortskundig". "Das versunkene Dorf" weckt in mir das Bedürfnis, diesen schönen französischen Landstrich, der mir selbst unbekannt ist, auch einmal sehen zu wollen!


Fazit:


Spannend, sozialkritisch, psychologisch raffiniert und auch humorvoll. Norek gelingt es, den Spannungsbogen bis zum Schluss zu halten; ein sehr lesenswerter Kriminalroman, dessen knifflige Lösung bis zum Schluss den Leser in Spannung hält. Gelungen! Kleiner Kritikpunkt: Ich bin sicher, dass Noémie (oder eine andere Person) viel längere Zeit benötigt, um nach einer Gesichtsentstellung wieder zu sich selbst zu finden. Ja stärker aus der Verletzung hervorzugehen, sich selbst wieder annehmen und lieben zu können, wie sie dies zuvor konnte. Dennoch eine Empfehlung und 4,5 Sterne am Krimifirmament!