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jenvo82
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Oberschöna

Bewertungen

Insgesamt 216 Bewertungen
Bewertung vom 06.03.2020
Ein wenig Glaube
Butler, Nickolas

Ein wenig Glaube


sehr gut

Das Ehepaar Hovde aus Wisconsin schaut auf ein langes, glückliches Eheleben zurück, welches sogar den Verlust des einzigen leiblichen Sohnes im Kleinkindalter verkraftet hat. Ihre Adoptivtochter Shiloh haben sie mit all der Liebe und dem Verständnis erzogen, wie sie es schon immer vorhatten. Doch obwohl die Tochter-Elternbeziehung nicht immer einfach war, lebt Shiloh nun mit ihrem 5-jährigen Sohn Isaac wieder zu Hause. Allerdings ist sie auf der Suche nach einem eigenen Heim für sich, ihr Kind und den neuen Mann an ihrer Seite. Als Lyle und Peg, den zukünftigen Mann ihrer Tochter kennenlernen, sind sie mehr als skeptisch, denn Steven ist Priester einer kleinen Glaubensgemeinschaft, die ihre Gottesdienste in einem alten Kino abhält. Der charismatische Mann hat Shiloh vollkommen für sich eingenommen und beansprucht auch den kleinen Isaac, der angeblich über Heilskräfte verfügt, die schwerkranke Menschen wieder gesunden lassen kann. Lyle und seine Frau, selbst Mitglieder der örtlichen Kirchengemeinschaft, bezweifeln die Grundsätze der neuen Glaubensgemeinschaft und behalten ihren Enkel sehr genau im Blick.
Die gewählte Erzählperspektive aus Sicht des Familienoberhauptes, der mehrere Rollen erfüllt, sowohl als Ehemann, als auch als Vater und nicht zuletzt als Großvater, empfand ich sehr stark. Dadurch entsteht zwischen dem Leser und Lyle Hovde ein inniges, verständnisvolles Bündnis, bei dem man stark auf die Seite des Mannes gezogen wird, der seine Tochter vor ihrem persönlichen Unglück bewahren möchte. Das große Plus der Erzählung liegt auf dieser starken Vaterrolle, die genauestens beschrieben wird und deren Möglichkeiten und Grenzen immer wieder in den Vordergrund rücken. Besonders schön fand ich die fast idyllische Beziehung zwischen den Eheleuten, die damals wie heute immer am gleichen Strang gezogen haben. Aber auch ihr Unvermögen, trotz der liebevollen Kindheit, die sie ihrer Shiloh geschenkt haben, jene von eigenen Fehlentscheidungen abzuhalten und sie als Erwachsene zu beschützen. Dieser Aspekt, dass Eltern die Kinder irgendwann ziehen lassen müssen, um sie nicht zu verlieren ist hier äußerst empathisch, ehrlich und voller Lebensweisheiten herausgearbeitet wurden. Demnach ist es tatsächlich ein ganz toller Familienroman mit viel Gefühl.
Was mir jedoch über die gut 300 Seiten des Buches zu kurz kommt, ist der Konflikt zwischen dem Glauben an sich und der Zugehörigkeit zur Familie. Das mag zum einen daran liegen, das Shiloh keine eigene Stimme bekommt und nie ihre Ansicht über die Thematik äußern kann, zum anderen fokussiert sich der Text zu sehr auf Lyles Leben außerhalb seiner Familie, auf Freundschaften und Gesprächspartner, die mit dem Kern der Geschichte recht wenig gemeinsam haben. Deshalb gibt es auch nur wenig Reibungspunkte und alles wirkt sehr harmonisch, obwohl es gerade im letzten Teil dramatisch wird. Diese Dramatik verschwindet jedoch immer wieder zwischen guten Gesprächen, hoffnungsvollen Abenden und schönen Tagen auf der Apfelplantage eines befreundeten Ehepaares. Dieses „weichzeichnen“ des Konflikts Liebe versus Glauben konnte mich in der Summe nicht überzeugen und ich hätte mir mehr Biss in der Umsetzung und einen starken Antigonisten gewünscht, der nicht irgendwo zwischen den Seiten verschwindet.

Ich vergebe 4 Lesesterne für diesen stimmungsvollen, harmonischen Familienroman, der sich mit der Elternrolle und ihren Möglichkeiten intensiv auseinandersetzt. Es ist eine schöne, stimmungsvolle Erzählung gespickt mit einer guten Portion Alltagsphilosophie und erzählt mit großmütigem Herzen. Und wer auf eine kraftspendende Geschichte hofft, in der nicht jede Entscheidung die richtige war, wird hier bestens unterhalten.

Bewertung vom 06.03.2020
Dankbarkeiten
Vigan, Delphine

Dankbarkeiten


ausgezeichnet

Mischka Seld lebt nun in fortgeschrittenen Lebensjahren in einem Pflegeheim, da sie nicht mehr in der Lage ist allein klarzukommen, ihr Gedächtnis oder vielmehr die Sprache selbst kommt ihr abhanden. Zunächst sind es nur einzelne Wörter, bald fehlen ihr die Sätze, zum Schluss kann sie ihre Gedanken nicht mehr in Worte fassen. Das Alter mit seinen unerbittlichen Folgen hat sich eingenistet und zersetzt langsam aber stetig all das, was die junge Mischka, die selbstständige, energische Frau mit dem großen Herzen ausgemacht hat. An ihrer Seite gibt es nur noch zwei Menschen: zum einen Marie, eine junge Frau, die in ihrer Kindheit oft bei Mischka Zuflucht gesucht hat, wenn ihre eigene Mutter wieder einmal tagelang nicht da war, die damals und heute wie die Tochter der Betroffenen agiert und die sich nun schweren Herzens von dieser Frau verabschieden muss, die ihr immer eine Stütze war und zum anderen den Logopäden Jérome, der sich auf den Spracherhalt alter Menschen spezialisiert hat und mit ihnen kleine Übungen gegen das Vergessen unternimmt. Diese beiden treten als die Erzähler einer Geschichte auf, die den Lebensabend einer Frau miterleben und sich selbst dadurch in einem anderen Licht wahrnehmen. Und so entwickelt sich ein zartes Geflecht aus menschlicher Zuneigung, bei dem eine Person verliert und zwei andere gewinnen.

Bereits im vergangenen Jahr war ich vom Roman „Loyalitäten“ der französischen Autorin Delphine de Vigan restlos begeistert, so dass ich sehr hoffnungsfroh und motiviert in diese Lektüre gestartet bin, immer in Erwartung einer ähnlich tiefsinnigen Handlung. Und ganz klar, auch „Dankbarkeiten“ trifft mitten in mein Leserherz und beleuchtet den Lebensabschnitt des Alters auf ungeschönte aber nicht restlos pessimistische Art und Weise. Vielmehr zielt diese kleine Erzählung auf die Notwendigkeit menschlicher Beziehungen ab, den gemeinsamen Austausch zwischen den verschiedenen Generationen und den unbedingten Hinweis, sich möglichst früh darüber Gedanken zu machen, wer oder was man im Alter sein möchte und welche Spuren auch dann noch sichtbar sein werden, wenn man nicht mehr lebt.

Sprachlich besticht das Buch mit einem klaren, aussagekräftigen Text, in dem generelle Sachverhalte ebenso wie Emotionen Platz finden. Gerade durch die beiden jüngeren Erzähler entsteht eine gewisse Perspektivenvielfalt, die nicht nur Mischkas Leben in den Mittelpunkt rückt, sondern auch Aspekte aus den Lebenswegen von Marie und Jérome. Die Leere, die entsteht, wenn alle Wörter verschwinden wird ganz besonders durch die wörtliche Rede sichtbar, bei der die alte Frau zunächst noch bestmöglich versucht sich zu artikulieren, schließlich nur noch Wortsilben bildet und letztlich aufgibt, anderen irgendetwas mitteilen zu wollen.

So wirkt der Grundtenor des Romans sehr traurig, was er letztlich auch ist aber niemals so bedrückend und schwermütig, dass es nicht auszuhalten wäre. Die Autorin schafft es immer genau im richtigen Moment von der Einzelsituation in allgemeine Aussagen zu wechseln oder umgekehrt das Schicksal Vieler auf ein Menschenleben zu reduzieren. Durch diesen Schachzug wirkt der Roman authentisch, greifbar und im richtigen Maße ausgleichend, so dass es geradezu zwingend notwendig erscheint, eigene Erfahrungen und Meinungen auf die Waage zu legen und mit dem Inhalt des Buches abzugleichen.

Fazit

Ich vergebe begeisterte 5 Lesesterne für mein erstes Highlight 2020, einen Roman über das Leben selbst, das Alter im Besonderen und die Kraft der Einflussnahme nahestehender Menschen auf das Seelenheil anderer. Sicherlich fällt dieser Roman schon inhaltlich genau in mein Beuteschema, denn Bücher über den emotionalen Verlust diverser Dinge und Menschen lese ich ausgesprochen gerne, doch davon unabhängig schafft er es auch zärtlich zu berichten, warmherzig zu erzählen und letztlich eine gewisse Hoffnung zu beleben, über Spuren, die Menschen hinterlassen.

Bewertung vom 08.02.2020
Nach Mattias
Zantingh, Peter

Nach Mattias


sehr gut

„Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass es ein Buch über Trauer ist. Jemand ist gestorben, und die Hinterbliebenen müssen einen Weg finden, damit umzugehen. Aber ich finde, es ist viel mehr als das.“

Inhalt

So beschreibt der niederländische Autor Peter Zantingh seinen Text im Nachwort, der sich mit dem Leben der Bekannten, Freunde und Familie des jung verstorbenen Mattias beschäftigt, welche nach dessen Tod allein zurechtkommen müssen. Zunächst wäre da Amber, Mattias Freundin, die gerade an seinem Todestag im Streit mit ihm auseinandergegangen ist, oder Quentin sein Freund, mit dem er eigentlich in nächster Zeit eine Art Musikcafé eröffnen wollte. Und es folgen noch viele andere, die kurze, lange, intime oder oberflächliche Geschichten über den Verstorbenen erzählen, weil sie sein Leben in irgendeiner Weise berührt haben. Dadurch entsteht ein buntes Kaleidoskop an Einzelerzählungen, die sich ganz klar an der Zukunft orientieren, denn irgendwie muss das Leben nach Mattias weitergehen und das, was ihn ausmachte ist ohnehin tief im Herzen verankert, so dass sein Wirken zu Lebzeiten als Anlass genommen wird, die Zeit ohne ihn ein bisschen zu seiner Freude zu gestalten, vielleicht sogar nach seinem Willen.

Meinung

Am besten haben mir die Erinnerungen an Mattias gefallen, die alle Beteiligten aufleben lassen und die in ihrer Gesamtheit den Verstorbenen wieder lebendig machen, zumindest für den Leser. Es hat jeder ein etwas verschobenes Bild, oder besser gesagt, genau das, was Mattias demjenigen gegenüber preisgegeben hat. So trauert die Mutter um den Sohn, mit dem sie intensiv dessen Kindheit teilte, nicht jedoch sein Erwachsenenleben und die Freundin hadert mit seinen hochmotivierten Plänen und Luftgespinsten, die er nur selten verwirklichen konnte. Während der Freund merkt, dass ohne Mattias die Luft raus ist und der Motivator fehlt. Das alles ist empathisch, realistisch und lebensnah beschrieben.

Dennoch kann dieses Buch nicht ganz mein Herz erreichen, weil es mir für die Thematik zu leichtfüßig geschrieben ist und die Trauer der Hinterbliebenen nur einen ganz geringen Anteil ausmacht. Ich hätte mir gerne mehr Schwermut und auch einen intensiveren Blick in die Vergangenheit gewünscht. Dabei muss ich sagen, dass mir das Interview am Ende des Buches durchaus Verständnis gebracht hat, denn Peter Zantingh beschreibt sehr gut, worum es ihm bei seiner schriftstellerischen Arbeit ging. Er fragt sich z.B. welche Leerräume entstehen in Raum und Zeit, wenn man verstorben ist und wer oder was wird diese wieder füllen. Und genau dieses Bild hat er auch entworfen, es ist der Blick in die Zukunft mehrere Menschen, die wieder aufstehen, weitermachen und ihr Leben „nach Mattias“ gestalten.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen lebensbejahenden Roman nach dem Verlust eines geliebten Menschen. Ein Blick in die nahe und ferne Zukunft, in Folge eines persönlichen Schicksalsschlags, der ganz plötzlich das Leben in eine andere Bahn gelenkt hat. Es ist kein echter Text über Trauer und Verlust in seiner reinen Form, es ist kein schweres, belastendes Buch über einen geliebten Menschen und dem Abschied von ihm. Dadurch trifft es nicht ganz meine Erwartungshaltung, doch im Nachhinein ist es nur ein anderer Blickwinkel, der hier eingenommen wird und wenn man sich der Perspektive des Autors anschließt ist es ein wunderbares, hoffnungsfrohes Buch, welches zeigt, wie wichtig vielschichtige Beziehungsgeflechte zwischen Menschen sind und das die Lücke, die ein Einzelner hinterlässt zwar geschlossen werden kann, doch die Erinnerung an ihn bleibt lebendig.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 28.01.2020
Sweet Sorrow
Nicholls, David

Sweet Sorrow


gut

Charlie Lewis erzählt rückblickend nicht nur die Geschichte seiner ersten großen Liebe, sondern lädt den Leser ein, in seine Zeit als Teenager, die für ihn die gesamte Gefühlspalette bereithielt. Angefangen bei seinen immer schlechter werdenden schulischen Leistungen, hin zu einem von Sorgen angereicherten häuslichen Dilemma, nachdem sich seine Eltern getrennt haben und er allein beim depressiven Vater bleiben muss, während seine Schwester mit der Mutter wegzieht. Über einen recht eigenwilligen Freundeskreis, der nur wenig Perspektiven bietet, bis hin zu seiner großen Herausforderung namens Fran, die ihn sofort in ihren Bann zieht und ihm durch das gemeinsame Mitwirken an einer Theaterinszenierung immer näherkommt. Nun ist Charlie erwachsen und steht kurz vor seiner Hochzeit, da bietet sich eine Gelegenheit, die Theatergruppe von damals noch einmal wiederzusehen, nach 15 Jahren, die ganz entscheidend für alle Beteiligten waren und Charlies Neugier ist geweckt, was wohl aus den Menschen von damals geworden ist und ob sie alle ihren Weg gefunden haben …

Meinung

Vor einigen Jahren habe ich bereits „Zwei an einem Tag“ von David Nicholls gelesen, ein Roman über die Liebe, der mich begeistern konnte und mir tolle Lesemomente beschert hat, deshalb war ich auf die aktuelle Story rund um den Teenager Charlie und seine erste große Liebe sehr gespannt. Aber so ganz kann diese Erzählung nicht an meine ersten positiven Leseerfahrungen anschließen. Möglicherweise bin ich mit der falschen Erwartungshaltung in die Lektüre gestartet, die für mich ganz eindeutig eine Liebesgeschichte sein sollte, die den einen Sommer, der alles verändert in Worte kleiden sollte. Doch dieses Buch ist viel mehr als nur die Betrachtung eines verliebten Jungen auf seine Jugendliebe, es ist die Geschichte seines Erwachsenwerdens, mit sämtlichen Eckpunkten, die für junge Menschen relevant sind und sich als wichtig erweisen.

Wenn man sich darauf einlassen kann, dass es ein Coming-of-Age Roman, mit vielen Bausteinen ist, bei dem die Liebe zwar eine Rolle spielt, aber nicht die alles entscheidende, dann hat man an der Lektüre sicherlich viel Freude. Der Autor hat einen wunderbar sympathischen, humorvollen Schreibstil, der nicht nur oberflächlich an der Gefühlswelt seiner Protagonisten kratzt, sondern deren Gedankengänge nachvollziehbar werden lässt. Viele Passagen des Textes werden durch die wörtliche Rede ausgeschmückt, erlebbar in intensiven Dialogen, die nur hin und wieder unterbrochen werden. Dadurch entstehen Bilder vor dem inneren Auge und die handelnden Personen bekommen ein Gesicht und eine Rolle, nicht nur im Theaterstück „Romeo und Julia“, welches sie inszenieren, sondern auch im Leben.

Dennoch bin ich mit dem Gesamteindruck der Geschichte nicht ganz warm geworden, was einerseits daran liegen mag, dass ich mir viel mehr Innerlichkeit zwischen Charlie und Fran gewünscht hätte, die nach ihrem Zusammenkommen, doch nur sehr kurz ein Liebespaar waren. Und zum anderen an den Längen, die sich immer wieder einschleichen, sei es durch Szenen beim Theater oder Eindrücke aus Charlies Leben, die sich weit von einer Liebesgeschichte entfernen. Mir hätte das Buch besser gefallen, wenn es nicht ein Mix aus all diesen kleinen Erlebnissen gewesen wäre, sondern sich zielgerichtet auf etwas konzentriert hätte.

Fazit

Ich vergebe 3 Lesesterne für diesen Roman über das Erwachsenwerden begleitet durch zahlreiche Menschen, die alle ihren Anteil an der Entwicklung des Protagonisten hatten. Einfühlsam und realistisch spiegelt sich die Zeit der Jugend mit all ihren Ängsten und Problemen wider und offenbart gleichermaßen einen gewissen Weitblick, wenn man die Vergangenheit aus der Perspektive eines Erwachsenen betrachtet. Das Ende des Romans stimmt versöhnlich - dass jede Zeit im Leben ihre Überraschungen bereithält, ihre Herausforderungen stellt und ihre Spuren hinterlässt. Nur für eine Liebesgeschichte, die ich mir erhofft hatte, fehlte mir eindeutig die entsprechen

Bewertung vom 14.01.2020
1794 / Winge und Cardell ermitteln Bd.2
Natt och Dag, Niklas

1794 / Winge und Cardell ermitteln Bd.2


ausgezeichnet

Jean Michael Cardell wird erneut in einen Fall hineingezogen, der wenig Aussicht auf Erfolg verheißt. Eine junge Frau wurde in der Hochzeitsnacht brutal ermordet, die offizielle Verlautbarung geht jedoch von einem Angriff einer Wolfsherde aus, die allerdings jahrzehntelang nicht mehr in den schwedischen Wäldern gesichtet wurden. Der junge Bräutigam, ist mittlerweile ins Irrenhaus eingeliefert, weil er sich selbst die Schuld am Tod seiner Geliebten gibt, obwohl er sich an nichts mehr erinnern kann. Cardell, der Häscher mit dem Holzarm begibt sich in seinem zweiten Fall gemeinsam mit Emil Winge, dem jüngeren Bruder seines verstorbenen Kumpans auf Spurensuche in die dunklen, verruchten Gassen der Stadt. Bald hat das Duo eine mögliche Verbindung zwischen dem mutmaßlichen Täter und seinem gesetzlichen Vormund aufgedeckt, die den Fall in einem ganz anderen Licht erscheinen lässt, doch ihnen sind die Hände gebunden. Denn wenn die Bösen Unterstützung von ganz oben haben und sich bei ihnen das Geld häuft, was anderen zum Leben fehlt, werden die Rufe nach Vergeltung und Gerechtigkeit immer stiller und verstummen bald ganz …

Meinung

Der schwedische Bestsellerautor Niklas Natt och Dag hat bereits für seinen Debütroman „1793“ den Schwedischen Krimpreis erhalten und setzt seine Reihe um das Ermittlerduo Cardell-Winge nun fort. Da ich den ersten Band nicht gelesen habe, fehlen mir einige Zusammenhänge, was sich jedoch im Verlauf der Geschichte nicht dramatisch äußert, denn selbst ohne Vorkenntnisse kann man viele Dinge erschließen, zumal es sich bei der Familie Winge um Geschwister handelt und Band 1 mit dem älteren Bruder besetzt ist, während Band 2 den Jüngeren mit ins Boot holt.


Für mich ist „1794“ in erster Linie ein abwechslungsreicher Unterhaltungsroman, der sich sowohl an die historischen Hintergründe hält als auch kriminalistische Aspekte aufgreift. Für einen „echten“ Krimi fehlte es mir jedoch an Spannungselementen, insbesondere, was das Verbrechen anbelangt und für einen reinen Historienschmöker fehlt dann doch der Realitätsbezug – deshalb macht dieser Genremix zwar durchaus Spaß, spielt aber nicht in meiner persönlichen Höchstliga mit. Herausragend sind die Eindrücke und Szenarien, die der Autor bis ins kleinste Detail entwirft – gerade die Umgebung mit all dem Leid, Dreck und Verruchtsein der damaligen Zeit, entfaltet sich wie ein bunter Teppich vor dem Leser und drängt ihm viele unschöne aber eindringliche Bilder auf. Während des Lesens ist mir klar geworden, dass mich hier eine Verfilmung sicherlich noch mehr ansprechen würde als die literarische Vorlage, allein weil dort die Eindrücke viel kompakter und noch erschreckender wirken könnten.


Inhaltlich agiert der Autor auf verschiedenen Zeitebenen und wechselt auch die Erzählperspektiven – beides jedoch sehr gekonnt, so dass man immer genau weiß, was zu welchem Zeitpunkt geschah. Der Leser kann wunderbar eintauchen in die damalige Zeit, in die Gewalttaten, die ärmlichen Lebensumstände, die vergebliche Liebesmüh einen korrupten Staat zu Fall zu bringen und die bittere Realität der einfachen Bevölkerung. Aus den genannten Gründen erschließt sich für mich auch das unterhaltsame Leseerlebnis, während der Kern der Geschichte letztlich sehr bedeutungslos erscheint und auch nicht lange in Erinnerung bleiben wird.

Bewertung vom 11.09.2019
Der Sprung
Lappert, Simone

Der Sprung


ausgezeichnet

Manuela Kühne geht eines Tages aufs Dach und alle Umstehenden vermuten einen geplanten Suizidversuch. Plötzlich tauchen Einsatzwagen der Polizei auf, ein Sprungtuch wird positioniert und der Einsatzleiter versucht, die junge Frau dazu zu bewegen, auf normalen Weg das Dach zu verlassen. Aber Manuela bleibt standhaft und deckt in der Zwischenzeit die Dachziegel ab und wirft sie in unregelmäßigen Abständen auf die Gaffer vor dem Haus. Denn auf der Straße ist die Hölle los, so viele Schaulustige versammeln sich, einige motzen, andere schütteln den Kopf und der Laden an der Ecke, der eigentlich kurz vorm Bankrott steht, erblüht zu neuem Leben. Einen Tag und eine Nacht hält die junge Frau die Menschen in Atem, gibt ihnen Zeit darüber nachzudenken, warum man sich vom Dach stürzen möchte oder wieso gerade nicht. Und im gleichen Maße, wie Manuela provoziert, berührt sie die Alltäglichkeit und die eingefahrenen Wege der Nachbarschaft. Denn ein Sprung vom Dach will gut überlegt sein, vielleicht kann man auch im Leben etwas ändern, bevor es sich so dermaßen zuspitzt …


Meinung

Simone Lappert wählt für ihre Geschichte eine Ausnahmesituation, indem sie eine junge Frau auf das Dach eines Hauses steigen lässt, von dem sie nur durch aufgeben oder springen wieder herunterkommt. Dabei weiß man gar nicht so genau, warum sie sich das Leben nehmen möchte, oder ob es ein unglücklicher Umstand ist, der sie in diese Lage gebracht hat. Aber ihre geplante Aktion setzt diverse Denkprozesse in den Menschen ihrer Umgebung frei, die selbst ein Päckchen zu tragen haben und deren Leben längst nicht so glücklich ist, wie sie es sich eigentlich vorstellen. Nur wo ist die Grenze zwischen einer Tat, die dem Leben unwiederbringlich ein Ende setzt und der Möglichkeit, genau diesen Umstand abzuwenden?


Das grandiose an diesem Buch ist die tiefgreifende psychologische Frage nach den Möglichkeiten der Veränderung jenseits der eingefahrenen Wege. Dabei wählt die Autorin eine ungewöhnliche Erzählperspektive, denn sie gliedert das Buch in viele kleine Kapitel, die jeweils von einem anderen Protagonisten gefüllt werden. Auf diese Art und Weise wird ein ganzes Potpourri an Geschichten offenbart, angefangen vom Leben des Bettlers auf der Straße, weiter zur langjährigen Kneipenbesitzerin, deren Lokal für alle offensteht, bis hin zum jungen Polizisten, der sich der momentanen Situation nicht gewachsen fühlt, weil sie ihn zu sehr an seine eigene traumatische Vergangenheit erinnert. All jene und noch viele Menschen mehr, machen sich plötzlich Gedanken und treffen Entscheidungen, die sie andernfalls nicht in Betracht gezogen hätten.


Diese verbundenen Schicksale sind es, die den Großteil des Romans ausmachen, so dass Manuela auf dem Dach eher wie der Tropfen auf dem heißen Stein wirkt, nicht sie ist es, die bedauert werden muss, sondern all jene, denen es nicht gelingt aus eigener Kraft einen Richtungswechsel voranzutreiben. Ein weiteres Plus dieser kurzweiligen, doch intensiven Geschichte ist der unvergängliche Optimismus, der letztlich den ganzen Text durchdringt. In Anbetracht der dramatischen Ausgangslage empfand ich dieses Urvertrauen, die Kraft der positiven Gedanken regelrecht erquickend, denn es hätte sich auch ganz anders anfühlen können, wenn ein Mensch sich ernsthaft damit beschäftigt, einen so öffentlichen Selbstmord zu begehen.


Fazit

Ich vergebe begeisterte 5 Lesesterne und freue mich über ein weiteres Jahreshighlight 2019. Ein intensiver, dramatischer Roman mit einer aufrüttelnden Geschichte und einer klaren Botschaft. Dieses Buch lädt dazu ein, es auch ein zweites oder drittes Mal zu lesen und immer wieder neue Entdeckungen zu machen. Bestens geeignet für alle Leser, die Unterhaltungsliteratur mit Anspruch mögen und sich gerne in Texte hineinve

Bewertung vom 05.09.2019
Drei
Mishani, Dror

Drei


gut

Orna erlebt eine Findungsphase in ihrem Leben, nachdem ihre Ehe zerbrochen ist und sie mit dem kleinen Sohn allein dasitzt. Durch Zufall begegnet sie Gil, einem Rechtsanwalt, der ebenso wie sie in der Mitte seines Lebens nach etwas sucht, was er noch nicht gefunden hat.

Und auch für Emilia, die zweite Frau in dieser Runde gestaltet sich das Leben schwierig, nachdem der Mann, den sie die letzten Jahre voller Aufopferung gepflegt hat, verstirbt. Auf der Suche nach einem neuen Job und damit einer Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu finanzieren, wendet sie sich an Gil, der ihr die gesetzlichen Möglichkeiten erklärt, die ihr als Lettin in Israel zur Verfügung stehen.

Für Ella hingegen, die dritte im Bunde, spielt das alles keine Rolle. Als verheiratete Mutter mit drei kleinen Kindern, hat sie nur wenig Zeit für sich selbst. In einem Café raucht sie täglich eine Zigarette und schöpft daraus Kraft für ihr Vorhaben. Bis sie eines Tages Gil begegnet, der sich neben sie zum Rauchen gesellt und aus seinem Leben plaudert …


Meinung

Dror Mishani, der aus Tel-Aviv stammende Autor dieses Romans landete in Israel mit diesem Buch einen Bestseller, für den sogar schon eine TV-Serie in Vorbereitung ist. Er erkundet ein eher ungewöhnliches Feld der Literatur angesiedelt zwischen einem Frauen- und einem Kriminalroman, obwohl „Drei“ weder das eine noch das andere Genre direkt bedient. Vielmehr ist es eine Erzählung, die sich mit diversen Lebenswegen beschäftigt und mit der gesellschaftlichen Einbindung der Protagonisten in ein soziales Umfeld.

Nach der Leseprobe war ich mir recht unschlüssig, ob dieser Roman in mein Beuteschema fallen könnte, sie war zwar gut zu lesen aber nicht sehr aussagekräftig. Dennoch hat mich der Klappentext extrem neugierig gemacht, auf diese Geschichte von drei Frauen und einem Mann. Möglicherweise eine Dreiecksbeziehung? Oder ein mysteriöser Familienroman? Auf jeden Fall wollte ich mehr wissen und habe mich mit entsprechenden Erwartungen an die Lektüre gewagt.

Das Buch gliedert sich in drei Teile, die jeweils aus Sicht der beteiligten Frau erzählt wird und schon nach dem ersten Teil hatte ich mit zwei Dingen zu kämpfen: sehr unsympathische Protagonisten, deren gesunden Menschenverstand ich wirklich bezweifeln muss und einer nur mäßig spannenden Handlung, die dann allerdings jäh in eine komplett andere Richtung geht als vermutet. Zwischen beginnender Dramatik und unscheinbaren Aussagen gleitet der Text in den zweiten Abschnitt.

Von da an hält sich das Spannungsniveau und man möchte einfach wissen, wie es weitergeht, ohne jedoch irgendeinen konkreten Anhaltspunkt zu bekommen, worin der Sinn des Ganzen besteht. An dieser Stelle war ich dann wirklich etwas enttäuscht, dass es dem Autor einfach nicht gelingt, mich für die Geschichte einzunehmen, zumal sich die meisten Leser bis dato sehr positiv über den Text äußern. Mag sein, dass sich Dror Mishani bereits vor dem Schreiben ganz sicher war, wohin die Reise gehen soll, für mich fehlte einfach die Basis, das generelle Verständnis für die Handlungen und die wahren Hintergründe.

Ich mag Bücher nicht sonderlich, in denen ich keine konkrete Aussage finde, selbst wenn sie für mich unverständlich ist, dann kann ich zumindest meine Zweifel äußern, doch hier herrscht meines Erachtens mehr die Willkür oder der Zufall über den Plot. Vielleicht möchte der Autor wachrütteln und seinen Lesern zeigen, in welche Richtung sich eine nette Begegnung entwickeln kann. Plädiert er dafür genau zu prüfen, wem man sein Vertrauen schenkt? Oder zeigt er wie leicht und endgültig ein feines Netz aus Lügen und Unterlassungen ein vollkommen anderes Menschenbild entwerfen? Für einen gesellschaftskritischen Roman blieb es mir zu allgemein

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 19.08.2019
Die Leben der Elena Silber
Osang, Alexander

Die Leben der Elena Silber


gut

Konstantin Stein führt den Leser durch die Geschichte seiner Ahnen, die er selbst erst mit Ende 40 für sich entdeckt, nachdem ihm seine Mutter Maria auf die Idee gebracht hat, sich doch der Chronik der Elena Silber anzunehmen, seiner verstorbenen Großmutter, die eine Tochter des ermordeten russischen Revolutionärs Viktor Krasnow war. In zwei groß angelegten Erzählsträngen taucht der Leser nun zum einen in den Alltag von Konstantin ein und seine realen Erinnerungen an die Großmutter, seine Tanten und Onkel. Und im zweiten kommt Elena selbst zu Wort, die aus verschiedenen Zeiten ihres Lebens Bericht erstattet über ihren Mann, die fünf Töchter und die Suche nach einer echten Heimat zwischen der Kindheit in Russland und dem Erwachsenenleben in Deutschland an der Seite ihres Mannes Robert Silber…


Meinung


Der mehrfach ausgezeichnete deutsche Autor Alexander Osang lässt sich in diesem komplexen zeitgenössischen Roman von seiner eigenen Familiengeschichte inspirieren und entwirft das Bild eines Jahrhunderts, geprägt von diversen politischen Ereignissen, die verschiedene Menschen zu ganz unterschiedlichen Meinungen bringt und sich im Kern dem Leben innerhalb der direkten Verwandtschaft widmet.

Ursprünglich hatte ich eine klare Vorstellung an die Verarbeitung des Themas, angesiedelt zwischen Familien – und Geschichtsroman mit Einblicken in historische Ereignisse, die sich möglicherweise im Verlauf des individuellen Lebens von Elena anders anfühlten als in ihrem tatsächlichen Ausmaß. Doch eigentlich trifft die Geschichte diesen Kern überhaupt nicht, sie tangiert ihn eher peripher.

Im Zentrum steht hier eine Frau, der zeitlebens nichts geschenkt wurde, die ihre Stärke und Entschlossenheit entwickelt hat, weil die Möglichkeiten ihr keine freie Wahl ließen und die doch so distanziert und ernst wirkt, dass mir für eine Familiengeschichte einfach die Warmherzigkeit und Liebe zwischen den Angehörigen fehlt.

Während mir ihr Enkel Konstantin zunächst sehr nah und empathisch vorkam, verliert sich sein Potential mit dem Verlauf der Geschichte. Als Sohn kämpft er mit dem Verlust seines Vaters, der in einem Pflegeheim mit der Diagnose Altersdemenz festsitzt und eine dominante Mutter, die ihm vorwirft, noch immer nicht sein Thema gefunden zu haben. Nebenbei erzieht er einen jugendlichen Sohn, der bei seiner Mutter lebt, von der sich Konstantin allerdings schon geraume Zeit getrennt hat.

Im Grunde genommen lesen sich beide Erzählstränge nicht schlecht, aber sie fördern auch keine bahnbrechenden Wahrheiten zu Tage. Spätestens ab der Hälfte des Romans plätschert die Geschichte so vor sich hin, so dass ich auch hier die reichlich 600 Seiten Text als übertrieben empfinde. Eine Kürzung und Straffung des Geschehens wäre wünschenswert gewesen.

Besonders gestört hat mich im Verlauf der Geschichte die wirklich unnötige Wiederholung ein und desselben Sachverhalts mit fast gleichem Wortlaut (Konstantin findet sein Thema nicht) und darüber hinaus die irrelevanten Nebeninformationen, die anscheinend als Füllmaterial dienen, jedoch keinerlei Nutzen für den Leser darstellen. Hin und wieder blitzt dann aber wieder ein toller Satz auf, der mich zum Nachdenken anregen konnte: „Es ging immer weiter. Dafür liebte er seinen Sohn. Er würde ein anderer Mann werden, als er es war, so wie er ein anderer Mann geworden war als sein Vater. Aber etwas blieb erhalten. Nichts war umsonst. Die Saat war ausgebracht. Vielleicht ein Segen, vielleicht ein Fluch.“


Fazit


Ich vergebe 3,5 Lesesterne für diesen komplexen, ausführlichen Familienroman, die ich jedoch eher auf 3 reduzieren möchte. Das größte Problem der Geschichte ist ihre nichtsagende Wirkung ohne konkrete Aussage, ohne einen roten Faden. Zu oft regiert die Willkür des Lebens, da

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 09.08.2019
Auf Erden sind wir kurz grandios
Vuong, Ocean

Auf Erden sind wir kurz grandios


gut

"Die Vergangenheit war niemals eine festgelegte und ruhige Landschaft, sondern man betrachtete sie stets neu. Ob wir wollen oder nicht, wir bewegen uns in einer Spirale fort und erschaffen Neues aus dem, was vergangen ist."


Inhalt


Little Dog, ein junger Mann, der zusammen mit seiner Mutter und Großmutter in die USA immigriert ist, vertraut sich und seine Gedanken einem Brief an, den er an seine Mutter richtet, obwohl diese überhaupt nicht lesen kann. Deshalb wirkt der Text vielmehr wie ein Tagebuch, in dem sich der vietnamesische Mann mit seiner Kindheit, seinen Erfahrungen mit körperlicher Gewalt und den gelebten homosexuellen Empfindungen zu seinem drogenabhängigen Freund Trevor auseinandersetzt. Sehr viel schwermütiger Inhalt, gepaart mit einer poetischen aber schnörkellosen Sprache ergibt eine Art intellektuellen Kunstroman, der sich intensiv und philosophisch mit der Frage nach der Zumutbarkeit des Lebens beschäftigt.


Meinung


„Auf Erden sind wir kurz grandios“ ist ein ungewöhnlicher, bemerkenswerter Debütroman des vietnamesischen Autors Ocean Vuong. Weniger eine zusammenhängende Geschichte, die sich chronologisch offenbart, als vielmehr „ein Schiffswrack – die Teile dahintreibend, endlich lesbar.“ Für meinen Geschmack existieren zu viele, zu unstrukturierte Gedankengänge in diesem Buch, so dass die Handlung immer fortschreitet, ohne tatsächlich vorwärts zu kommen. Dadurch erscheinen mir auch die dramatischen Lebensumstände von Little Dog weniger krass, egal ob es sich dabei um den Zwiespalt zwischen einer liebevollen oder gewalttätigen Mutter-Sohn-Beziehung handelt oder der Aussichtslosigkeit auf Lebensglück in Anbetracht von Armut und Außenseitertum.


Dennoch halt der Text nach, vor allem wegen der Melancholie, der philosophischen Betrachtungen und der unbeschreiblichen Last eines Lebens komprimiert auf einen Brieftext, der weder bittet noch anklagt, der nicht trauert und zögert aber auch keine Ansprüche stellt.


Fazit


Ich vergebe 3 Lesesterne für diesen ungewöhnlichen Roman, der für die gesamte menschliche Gefühlspalette ein mächtiges, erdrückendes Bild entwirft, obwohl er mir stets zu distanziert blieb. Inhaltlich empfand ich ihn mühsam und bitter, während er sprachlich überzeugen konnte. Ganz klar erfüllt er nicht meinen Anspruch an ein bewegendes Leseerlebnis, weil er mir innerlich so fremd blieb und keine konkrete Form annimmt. Es fiel mir schwer, mich auf die Gedankenspiele einzulassen und das Gewicht der markanten Worte nachzuempfinden – wem das allerdings gelingt, der hält einen kleinen Schatz in den Händen.

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.06.2019
Die Nickel Boys
Whitehead, Colson

Die Nickel Boys


gut

„Und wenn die Welt ein einziger Mob wäre – Elwood würde sie durchmessen. Er würde auf die andere Seite gelangen, selbst wenn man ihn beschimpfte und anspuckte und verprügelte. Er wäre erschöpft und würde bluten wie ein Schwein, doch er würde es schaffen.“


Inhalt


Eigentlich hat Elwood Curtis das Glück, eine Großmutter zu haben, die ihn unterstützt und nur das Beste für ihn möchte. Sein angestrebter Studienbeginn steht bevor und er ist ein intelligenter, rechtschaffener junger Mann, der große Zukunftspläne hegt. Gerade weil er aus einem bildungsarmen Umfeld stammt und immer nur dafür belächelt wird, wie strebsam er durchs Leben geht, sieht er nun seine Chance gekommen, dem vorgezeichneten Weg zu entkommen. Doch als er ohne sein Verschulden in einem gestohlenen Auto aufgegriffen wird, bestätigt sich das Vorurteil, dem nicht nur er, sondern fast jeder schwarze Junge der Gegend ausgesetzt ist – er gehört zu den Kriminellen und muss in eine Besserungsanstalt für Jugendliche. Im Nickel spielt Bildung keine Rolle, dort zählt nur das Überleben, jede Prügelstrafe muss erduldet werden, jede Isolationshaft überstanden und bei guter Führung gelangt man vielleicht eines Tages wieder an die Freiheit. Elwood nimmt sich vor das Nickel zu überstehen und gibt insgeheim nie seine Pläne für eine Zeit danach auf. Gemeinsam mit Turner, seinem Freund plant er von langer Hand eine mögliche Flucht, während er sich ganz normal in den Alltag einbringt, vielleicht bekommt er eines Tages die Möglichkeit dazu, seine Hoffnungen zu verwirklichen …


Meinung


Dies ist bereits mein zweiter Roman aus der Feder des amerikanischen Autors Colson Whitehead, der mich bereits mit seinem Werk „Underground Railroad“, für welches er den National Book Award erhielt, überzeugen konnte. Erneut widmet er seine Erzählstimme den dunkelhäutigen Menschen, die von den Weißen als Menschen zweiter Klasse behandelt werden und sich tagtäglich mit Gewalt, Vorurteilen und Schuldzuweisungen konfrontiert sehen. Das allein ist nur nichts Neues und ich habe schon zu viel und zu ausführlich davon gelesen, als das mich die Thematik ohne eine dramatische Geschichte drumherum ausreichend fesseln könnte. Und genau diese Story möchte der Autor hier liefern, nur konnte mich die Ausführung über die Maschinerie des permanenten Elends in einer amerikanischen Besserungsanstalt für jugendliche Straftäter nicht wirklich erreichen.

Er bemüht sich um eine objektive Erzählung, in Anlehnung an Tatsachenberichte, er beschönigt nichts, geht aber auch nicht ins Detail. Er berichtet über Dinge, die man nicht bis ins Letzte durchdringen möchte, aber er reißt sie nur an, wechselt dann abrupt die Zeitform von der Vergangenheit in die Gegenwart und schafft Charaktere, die nicht griffig sind, die leider blass bleiben und deren Namen schnell in Vergessenheit geraten. Selbst sein Hauptprotagonist Elwood scheint nur einer von vielen armen Seelen zu sein, die vollkommen unverschuldet im Sumpf gelandet sind, weil es Menschen gibt, die sie dort gerne sehen möchten und ihnen jedwede Selbstbestimmung absprechen.

Eigentlich habe ich mir von diesem zeitgenössischen Roman etwas anderes versprochen, ich habe sehr auf die psychologische Komponente gehofft, doch der widmet sich der Autor nicht. Er hinterfragt nicht, er zeigt weder Verzweiflung noch Hass noch Rachsucht oder irgendeine andere emotionale Seite des Ganzen, nein er beschränkt sich aufs Wesentliche und fordert den Leser auf, sich selbst in diese Vorgänge hineinzuversetzen. Leider ist dieses Konzept bei mir nicht aufgegangen, denn ich empfand die Erzählung zwar literarisch ansprechend aber ansonsten ungemein zäh und langatmig.


Fazit


Ich vergebe 3 Lesesterne für diese Auseinandersetzung des nicht enden wollenden Traumas der amerikanischen Geschichte, deren tief verwurzelter Rassismus den Stoff für derartige Geschichten liefert. Whitehead nutzt sein schriftstellerisches Werk, um Erinnerungen wach zu rufen, um vergangenes Leid greifbar zu

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