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booktower
Wohnort: 
Rodgau

Bewertungen

Insgesamt 52 Bewertungen
Bewertung vom 24.01.2021
Das perfekte Grau
Jamal, Salih

Das perfekte Grau


ausgezeichnet

Das „Zulassen des Loslassens“

So lässt der Autor einen seiner Protagonisten seiner Geschichte bemerken. Die Aussage kann auf den gesamten Roman angewendet werden. Immer wieder wird losgelassen. Dies spiegelt auch unser Leben, denn wenn auch nicht immer bewusst, lassen wir immer wieder los.
Komplexe Zusammenhänge zeigt Jamal in einer hochpoetischen Sprache, wenn er Landschaften und Städte, Menschen und Ereignisse beschreibt. Er findet durchgehend ungewöhnliche und höchst fantasievolle Metaphern für Tatsachen, Zustände aller Art und Befindlichkeiten der Protagonisten.
Es geht hier – nicht nur – um die Flüchtlingsfrage, die erst in den letzten fünf Jahren so brisant wurde – bis heute. Jamals Geschichte ist hochaktuell, beleuchtet sie doch, wie die Befindlichkeiten der von ihm geschilderten Charaktere sein könnten. Alle sind sie Suchende, Flüchtende, die sich in einem Hotel an der Ostsee treffen, wo sie arbeiten. Das Schicksal wenn man es so nennen möchte, hat sie zusammengeführt: den Erzähler Dante, die junge Novelle, die sich selbst verloren hat, Mimi, die reifste von allen und Rofu, der für die Flüchtlinge steht, von denen wir zeitweise täglich in den Nachrichten hören. Er kam nach Europa auf dem Landweg, höchst beschwerlich und erstaunlich, wie jemand solche Strapazen durchstehen kann. Die letzte Strecke legt er auf einem Schlauchboot zurück, nach Lampedusa. Jenes Erleben hat in geprägt und besetzt seine Träume.
Alle verlassen ihre sichere wenn auch einfache Unterkunft, für die sie hart arbeiten müssen und begeben sich auf eine Reise ins Ungewisse. Sie sprechen alle Deutsch, allerdings sehr unterschiedliches. Rofu vermischt es mit Englisch, wenn ihm die Worte fehlen. Mimi hat es gelernt, Novelle spricht wenig, für das Schreckliche, das ihr angetan wurde findet sie nur schwer Worte, sie fühlt mehr und hat mit ihren Depressionen und Ängsten zu kämpfen, die viel zu heftig für eine Jugendliche sind. Sie steht für viele Jugendlich, die wir überall treffen können. Alle helfen ihr, wenn es notwendig scheint, es trägt sie für eine Weile.
Auf der Reise geraten sie an einen Biobauernhof, wo sie Jobs annehmen können als Erdbeerpflücker. Die Beschreibung dieser location könnte ohne Probleme aus Orwells „1984“ stammen. Jamals Geschichte ist jedoch keine Dystopie, sie wäre es vielleicht vor zwanzig Jahren gewesen, als die Zeiten andere waren als die hier beschriebenen. Während wir lesen, beschäftigen die ungewöhnlichen Schicksale unsere Gedanken, die Ereignisse sind packend. Die Geschichte mäandert dahin, wie die Flüsse, auf denen die vier fahren und Dantes kluge Lebensweisheiten helfen ihm und den anderen, ihre Herausforderungen zu meistern.
Seine Geschichte ist ein Zeitdokument von besonderer Qualität.

Bewertung vom 29.04.2020
Ab Yssin
Redflower, Jaana

Ab Yssin


ausgezeichnet

Kally und Yv sind zwei eng verbundene Freundinnen. Sie leben jede mit ihrem Großvater Knuddel und Großmutter Mümmelchen. Ihre Leben und das von Nationen ändern sich über Nacht nach dem Ereignis, das als „Das Große Unglück“ bezeichnet wird. So treffen wir die beiden und werden mit den Schicksalen ihrer Familien und Freunde bekannt gemacht. Leser*innen tauchen ein in ein Endzeitszenario, in eine vollkommen fremde, bisher unbekannte Welt.
Allein der Titel und Einband dieser neuen ungewöhnlichen Erzählung von Jaana Redflower erzeugt eine visuelle Verlockung, das Buch anzufassen und darin zu blättern.
Die Geschichte zieht uns gleich hinein in die unerhörten Ereignisse, in denen alle Menschen hier leben. Nach und nach verstehen wir ohne weitere Erklärungen, was diese beiden, Kally und Yv, erleben und was letztlich dazu führt, dass sie sich entschließen, endlich ganz neue Wege auszuprobieren, wie sie mit den Ereignissen fertig werden können. Sie, ihre Freunde und Familien leben seit sechs Jahren im Ausnahmezustand. Sie kämpfen sich durch den Alltag, haben Angst vor denen, die die Fäden ziehen in ihrem Leben. Sie suchen sich Verbündete, die auch ihre Liebsten verloren haben und sind trotz des Unsäglichen getragen von der Hoffnung, dies alles zu bewältigen und eine bessere Zukunft für sich zu finden.
Wir lernen die weiteren Charaktere kennen in diesem Szenario des Erschreckenden und Schrecklichen. Justus, Rieke und Walter, sowie Babbel und Bosch beraten sich mit Kally und Yv und entschließen sich, gemeinsam zu fliehen, um einen neuen Weg und eine andere Zukunft zu suchen als ein quälendes Leben ertragen zu müssen, wie es jetzt von ihnen gefordert wird. Sie beginnen eine Reise ohne Wiederkehr. Rieke ist schwanger von Justus. Sie alle hoffen, aus dem „Schrecklichen“ herauszukommen, das ihnen überall auflauert, kaum haben sie ein Hindernis bezwungen, stellt sich ihnen schon das nächste in den Weg.
Jaana Redflower schreibt in einer Weise, dass wir mit ihnen allen fühlen, wir empfinden das Grauen darüber, was Menschen ertragen müssen und wie sie sich mit noch nie dagewesenen Umständen auseinandersetzen müssen. Wir erleben hautnah, was ihnen allen, über die „Das große Unglück“ hereingebrochen ist, widerfährt und wie sie sich verzweifelt dagegen aufbäumen, was „das Unsichtbare“ mit ihnen vorhat.
Die Art und Weise wie die Charaktere miteinander über ihre schrecklichen Lebensumstände sprechen, ganz wie Menschen in ihrem „normalen“ Leben ist sehr berührend, wenn man liest, was sie durchmachen. Auf diesem neuen Weg werden sie vor Herausforderungen gestellt, die kaum jemand bewältigen kann und dabei seine geistige Gesundheit bewahren. Dennoch gehen sie unverzagt weiter, vom Ruhrgebiet über Belgien und Frankreich und noch viel weiter. Die Handlung wird spannend vorangetrieben.
Jaana Redflower entwickelt so klug und eindringlich ihre Erzählkunst, dass wir uns ihrem Sog nicht entziehen können. Wir tauchen ein in ein ungeheuerliches Szenario. Die Gruppe muss Verluste hinnehmen. Es bleibt ihnen keine Zeit, diese zu betrauern, sondern sie müssen immer weiter und weiter flüchten auf der Suche nach Erlösung vom Grauen, das sie umklammert hält.
Wichtige Probleme, die die Menschheit bewegen – günstigere Energiequellen, Nutzung der Meere als Ausweg aus Umweltproblemen werden in diesem fesselnden Roman angesprochen. Wir sehen die die Vermessenheit des menschlichen Geistes und was sich daraus entwickeln könnte. Diese Geschichte wirkt nach, nachdem man sie beendet hat, sie lässt einen lange nicht los in ihrer Intensität.

Ein ausführliches Verzeichnis aller wichtigen Begriffe, das Flora und Fauna, wie Gegenstände und Umgangssprache umfasst, hilft, sich in dieser Welt zurechtzufinden.