Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Ännie

Bewertungen

Insgesamt 77 Bewertungen
Bewertung vom 27.06.2020
Dunkles Lavandou / Leon Ritter Bd.6
Eyssen, Remy

Dunkles Lavandou / Leon Ritter Bd.6


ausgezeichnet

Krimi mit Thriller-Tendenz

In Lavandou ist eigentlich alles wie immer. Die Sonne scheint, das Meer ist blau, der Rosé kalt. Die Boule-Spieler originell-knorrig, die Touristen je Tagesform nervig oder gern gesehen, die Polizei zwischen Bagatell-Fällen und „Betreuung“ der Lokalveranstaltungen schwer beschäftigt und der Rechtsmediziner sehr glücklich mit seinem inzwischen nicht mehr ganz so neuen Leben in der Provence. Leon Ritter scheint zwar irgendwie die so gar nicht zur Kleinstadtidylle am Mittelmeer passenden unglaublichen Todesfälle und Mordserien anzuziehen wie das Licht die Motten, aber er hilft ja bei der Aufklärung auch immer tatkräftig mit, mit seinem speziellen Gefühl, seinen zunächst abwegigen Ideen, die seine Freundin Capitain Isabell Morell oft auf die Spur des Täters führen, auch wenn es deren Vorgesetzten Zerna nicht so gut gefällt, dass ausgerechnet der deutsche Docteur wieder mal den richtigen Riecher hatte.
Diesem mittlerweile bewährten Schema folgt auch der neueste Fall von Leon Ritter. Zunächst will niemand wahrhaben, dass es sich bei den Todesfällen junger Frauen tatsächlich um Opfer eines Serientäters handelt, doch als Leon dann auch noch mit dem Thema Okkultismus und Exorzismus argumentiert, auf Kröten, Nadeln, Schwefel und Pentagramme stößt, wird ihm einmal mehr mit Ungläubigkeit begegnet. Mit Nachdruck und Akribie verfolgt er weiter seine Spuren, manchmal parallel, manchmal gegenläufig zur Auffassung der Gendarmerie national – und letztendlich natürlich erfolgreich, damit verrät man nun nicht zu viel.
Ich erwähnte es ja bereits, natürlich folgen die Bände um Leon Ritter in Lavandou einem gewissen Schema. Ein außergewöhnlicher Fall, Ritters Instinkte für das Verbrechen eine Prise Komplikation im Privatleben und ein kleiner Querschnitt aus Folklore, Bevölkerung und Geographie – aber es trägt. In diesem Fall fand ich den Krimi sehr spannend, das Thema und die Ausgestaltung teilweise durchaus einem (blutigeren) Thriller würdig, als es normalerweise in den etwas ruhigeren Krimis aus dem sonnigen Süden der Fall ist. Das fand ich sehr gut, und auch besser als in den letzten Fällen rund um Ritter. Das, und die Tatsache, dass es nicht in jedem dritten Absatz um Essen und Trinken geht, hebt die Reihe dann für mich ein bisschen von der sonstigen Masse der zahlreichen und austauschbaren Regionalkrimis ab und macht sie zu mehr als nur leichter Urlaubs-Lektüre.
Fazit: ein sehr guter Band der Reihe, die insgesamt empfehlenswert ist.

Bewertung vom 24.06.2020
Ich bleibe hier
Balzano, Marco

Ich bleibe hier


ausgezeichnet

Tief verwurzelt
Im Grund genommen ist der Vinschgau eine beschauliche, dörfliche Gegend. Das Leben könnte hier im 20. Jahrhundert eigentlich genau so weiterlaufen, wie es das jahrhundertelang zuvor unverändert auch tat. Politik, Ökonomie, Ökologie spielen jedoch auch hier wie in ganz Europa in die Idylle hinein – und machen Südtirol zu einem Sonderfall. Plötzlich sind die Menschen im Vinschgau keine Tiroler mehr, keine Österreicher, sondern Italiener. Spürbar wird es nach Mussolinis „Marsch auf Rom“. Die Italisierung drängt das deutsche im Alltag vehement und proaktiv zurück, verbietet beispielsweise das Unterrichten der deutschen Sprache, die nationalsozialistische Besatzung ein paar Jahre später dreht das Ruder wieder um 180 Grad herum und wäre das alles nicht belastend genug, schwebt über allem der seit Jahrzehnten geplante Staudamm, der allen Verzögerungen und Beteuerungen zum Trotz plötzlich doch den Lebensraum der Menschen bedroht.
Marco Balzano erzählt die Geschichte, das Schicksal eines ganzen Landstrichs anhand der Geschichte von Trina, einer jungen Lehrerin aus Graun, ein Einzelschicksal und doch exemplarisch für „alle“.
Sie ist zu einem nicht näher bestimmten Erzähl-Zeitpunkt seit Jahren von ihrer Tochter getrennt, und so stellt das Buch so etwas wie eine an sie gerichtete Erzählung der Mutter dar. Trina berichtet vom Dorf, von ihrer Jugend, ihrer Ehe und dem ganzen Drumherum, das den Alltag nun mal beeinflusst: die Weltpolitik, Ideologien von Diktatoren, wirtschaftliche Interessen von Unternehmen.Sie fühlt sich als Vinschgauerin, setzt sich daher für die deutsch-österreichische Kultur ein, aber später „Heim ins Reich“, in ein ihr vollkommen fremdes Land zu gehen, diese Option stellt sich nicht. Ihr Heimatgefühl ist bestimmend, aber viel regionaler, kleinräumiger. „Ich bleibe hier“ beschließt sie, gemeinsam mit Mann Erich und Sohn Michael. Die gleiche Antwort auf eine ähnliche Frage – als der Staudamm droht, Enteignung und Umsiedlung anstehen – Trina bleibt auch dann.

Marco Balzano gelingt etwas sehr Bemerkenswertes: er erzählt eine kleine Geschichte, eine persönliche Geschichte, in einem nicht allzu langen Roman. Und doch umspannen die rund 280 Seiten alles, was die Bewohner von Reschen und Graun in erster Linie, und sehr vergleichbar viele Bewohner Südtirols, und in noch weiter gefasstem Rahmen Millionen von Menschen in Europa im 20. Jahrhundert geprägt hat. Es entstehen Widerstände, Unzufriedenheiten, neue Führer, nicht neue Ideologien, aber neue Dynamiken der Durchdringung. Die Dichte der Ereignisse, die tiefe Spuren hinterlassen im Leben des Einzelnen sind gigantisch. Dazu das „normale Leben“, mit harter Arbeit, Liebe, Kindern, Krankheiten, Todesfällen, alles was so nebenbei passiert.
der Autor zeigt ein absolut durchschnittliches, exemplarisches Menschenleben aus dem Volk, aus dieser Region – das, was Trina passiert, ist absolut naheliegend. Alles in allem stellt es das genaue Gegenteil dessen dar, was man so landläufig vor dem inneren Auge hat, bekäme man die Eckdaten Südtirol, oberes Etschtal, bäuerliches Leben, gewachsene familiäre und dörfliche Strukturen genannt. Wer nur an der Oberfläche kratzt, kann davon nichts sehen, aber es wäre zumindest nett und sich dafür zu interessieren, was darunter liegt. Und der Reschen-See macht es einem da doch sehr einfach: denn der Kirchturm guckt da ja wirklich aus dem Wasser, er durchbricht nach wie vor die Oberfläche. Und auch wenn es kein Drei-Schluchten-Damm ist – dafür liegt er viel näher, dafür sind uns die Menschen viel näher. Das ist kein Selfie-Spot. Das ist ein Denk-mal-Spot mit Betonung auf denken, vielleicht per se das Problem mit dem schönen Selbstbildnis vor malerischer Kulisse.
Fazit: absolute Leseempfehlung, eine sehr dichte Erzählung.

Bewertung vom 08.06.2020
Kostbare Tage
Haruf, Kent

Kostbare Tage


ausgezeichnet

Wertvolle Zeit
Nichts ist so relativ wie Zeit. Sie fliegt, sie kriecht und alles dazwischen. Man blickt auf die Uhr, und nur Minuten sind vergangen, obwohl man dachte, es sei viel mehr gewesen. Man blickt auf den Kalender und ein Jahr ist vergangen wie nichts. Endlos erscheinende Schulstunden - Zeit quält. Zeit in angenehmer Gesellschaft verbracht, vielleicht noch bei schönem Wetter, Zeit zum Genießen. Tage, die sich aneinanderreihen, gleich und eintönig, oder jeder birgt ein neues Abenteuer. Tage werden endlich, wenn jemand sagt, du hast nicht mehr viele, und dann wiegen sie schwerer als zuvor.
Kostbare Tage von Kent Haruf widmet sich diesem Thema. Schauplatz ist wiederum, wie in allen seinen Werken, die Kleinstadt Holt in Colorado. Eisenwarenhändler Dad Lewis bekommt die Endlichkeit seiner Tage durch eine medizinische Diagnose aufgezeigt und fortan begleitet der Leser ihn auf seinen Tagen, die von Erinnerungen, Begegnungen und irgendwann auch dem Fortschreiten der Erkrankung gekennzeichnet sind und geprägt werden von den Menschen um ihn herum. Seine Frau Mary, seine Tochter Lorraine, Sohn Frank. Sie werden zu einem Gesamtbild seiner Geschichte. Und wie in einer Kleinstadt üblich, spielt auch die Vernetzung mit hinein, seine Angestellten, die Nachbarschaft, die Kirchengemeinde. Alle erleben diese Tage mit ihm und doch ihre eigenen Tage, mal mehr oder mal weniger kostbar, der Autor lässt den Leser einfach beobachten und teilhaben.
Kent Haruf ist ein großartiger Erzähler. Er erzählt ganz viel Kleines, alltägliches: Gespräche, Begegnungen, und einfach nur das normale tagein-tagaus der Menschen, ihre Gefühle, ihre Erinnerungen, die kleinen Aufreger in der Kleinstadt. Wieder ergibt sich ein Gesamtbild eines Nebeneinanders und Miteinanders, das mich schon in „Lied der Weite“ sehr begeistert hat, hier empfinde ich es jedoch als noch berührender und persönlicher, vielleicht einfach, weil die Geschichte mehr Tragik aufweist. Er erfindet so stimmige Personen, die dem Leser wirklich nahe gehen und jede ihre Eigenheiten hat, egal ob Mary und Dad, Lorraine, die schrullig-liebenswerten Johnsons, Nachbarin Bertha May und Enkelin Alice oder der neue Pfarrer Rob Lyle.
Die ganze Erzählweise ist ganz nah an den Menschen und schließt den Leser sehr gekonnt mit ein. Das ruhige, entschleunigte Tempo ist eventuell für den ein oder anderen Leser gewöhnungsbedürftig, aber wenn man einmal erkennt, wie viel Philosophie im Alltag, wie viel Großes im Kleinen steckt, kann man eigentlich nur zum Schluss kommen, dass es äußerst schade ist, dass der Autor nur sechs Werke verfasst hat, denn er hat wirklich etwas zu vermitteln.
Fazit: absolute Leseempfehlung. Es war nicht mein erstes Buch des Autors und die erneute Begegnung mit ihm hat mich sehr gefreut, noch mehr freut mich, dass ich noch nicht alles von ihm gelesen habe sondern ihn auch zukünftig wieder nach Holt begleiten darf.

Bewertung vom 12.05.2020
Margos Töchter
Stephan, Cora

Margos Töchter


gut

Deutsch-deutsche Zeitgeschichte in Familiengeschichte verpackt

Jana hat als Kind ihre Mutter Leonore bei einem Autounfall verloren, und irgendwie hat sie so ein Gefühl, als ob mehr dahinterstecken könnte. Ihre Großmutter hatte Verbindungen zur Stasi und da die Firma ihres Mannes, ein absolutes Pionierunternehmen was Datenverarbeitung und Computertechnologie angeht, für die Konstruktion der geschredderten Akten des Ministerium für Staatssicherheit zuständig ist, besteht für sie per se eine starke Verbindung zu diesem Kapitel der deutsch-deutschen Geschichte. Sie möchte der Sache auf den Grund gehen, in der Vergangenheit forschen. Und Janas Vergangenheit ist spannend, denn Leonore ist nicht Janas leibliche Mutter, sondern hat sie adoptiert, nachdem eine politische Gefangene der DDR nach ihrer Freilassung in den Westen bei ihren Großeltern lebte und sie als Kleinkind dort zurückließ.
In zunächst zwei sich abwechselnden Handlungssträngen entfaltet sich Leonores Leben ab der Jugendzeit bis zu ihrem Tod im Jahr 1991 und die „aktuelle“ Handlung um ihre Tochter Jana im Jahr 2011. Es ist eine Reise durch Kalten Krieg, Studentenunruhen, RAF-Terror, Anti-Atom-Bewegung und Wendezeit. Familie Seliger ist mittendrin, erlebt Zeitgeschichte hautnah, fast ist es ein bisschen viel. Alles was in den Geschichtsbüchern so vorkommt, passiert auch auf persönlicher Ebene und natürlich ausgerechnet immer den Protagonisten. Später kommt ein dritter Handlungsstrang hinzu, die Stasi-Agentin Clara, eingeschleust in die BRD, um den Umsturz und die Wandlung der Gesellschaft zum Sozialismus zu unterstützen, wenn es soweit ist, hat auch noch eine Rolle im dichten Geflecht zu spielen. Erst am Ende werden viele Zusammenhänge klar und aufgelöst.
Ich weiß nicht, inwieweit diese gar keine Überraschung sind, hat man schon den Vorgänger „Ab heute heiße ich Margo“ gelesen. Ich finde, auch so konnte man sich schon vieles ab einem gewissen Zeitpunkt denken. Im Grunde ist es eine Familiengeschichte mit starken zeitgeschichtlichen Bezügen, und das liest sich stellenweise auch durchaus spannend, aber irgendwie – seicht. Es bleibt für mich so ungreifbar, warum eigentlich. Das Thema ist sehr gut gewählt, interessiert mich auch sehr, aber „man liest es so weg“. Ich denke, es liegt letztendlich an den Personen, die einfach zu blass bleiben, die nämlich „erleben die Handlung so weg“. Nichts hat mich wirklich erreicht, wirklich berührt, mit keiner Person konnte ich mich identifizieren oder Empathie entwickeln, was ich irgendwie merkwürdig fand. Es gibt Momente, die stark wirken – wie z.B. die Heimkehr der Familie aus dem verlängerten Wochenende über den 1. Mai 1986, nach wenigen Tagen ohne Zeitung, ohne Nachrichten, in eine veränderte Welt, aber das war es dann auch schon fast. Schade, denn irgendwie hatte ich dem Roman deutlich mehr Potential zugetraut.

2 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 06.04.2020
Die Tanzenden
Mas, Victoria

Die Tanzenden


sehr gut

Hinter den Mauern der Salpêtrière

Paris, 1885. Jean-Martin Charcot ist Chefarzt am berühmten Hôpital de la Salpêtrière, einer Einrichtung für geisteskranke Mädchen und Frauen. Er wird zu einem Pionier in der Neurologie werden, seine Untersuchungen werden ein Fachgebiet verändern. Legendär sind seine Untersuchungen von Hysterikerinnen vor Publikum, z.B. mit der jungen Louise, die sich vorkommt, wie ein kleiner Star, wenn der Arzt sie auf die Bühne bittet. Pflegerin Genieviève wacht mit Argusaugen und Strenge über ihre Schützlinge, distanziert und kühl geht sie ihren täglichen Aufgaben nach. Es wird schon seine Richtigkeit haben, was die Männer da entscheiden, egal ob die Ärzte oder diejenigen, die mit einer neuen Patientin vor dem Tor auftauchen, egal ob eine tatsächlich auch nach heutigen Gesichtspunkten als krank zu bezeichnende Person, Vertreter der Gendarmerie, die eine Prostituierte aufgegriffen haben oder auch mal Familienangehörige, die der Meinung sind, „mit der stimmt doch was nicht“ – und dieses „was“ das kann aus unserer Sicht auch so etwas normales und harmloses sein wie der Wunsch nach mehr Selbstbestimmung, Interesse an Bildung oder Literatur. So ergeht es auch Eugénie, einer jungen, wissensdurstigen und etwas streitbaren Neunzehnjährigen, die sich plötzlich hinter den Mauern der Salpêtrière wiederfindet, allerdings auch mit einer besonderen „Gabe“, die für ihre bürgerliche Familie nicht hinnehmbar und rufschädigend ist: Eugénie besteht darauf, dass sie Tote sehen kann, mit ihnen kommuniziert.
Louise, Geneviève und Eugénie sind die Protagonistinnen des Romans von Victoria Mas, der die – für uns heutzutage – unvorstellbaren Verhältnisse und den Umgang mit (vermeintlicher) Geisteskrankheit, den „Irren“ darstellt. Vorgeführt wie im Zoo in öffentlichen Vorlesungen, eingeliefert aus nichtigen Gründen, Scham, Bequemlichkeit und ausgestellt für die feine Pariser Gesellschaft auf einem Maskenball „Le bal des folles“, der für die Patientinnen und die Gesellschaft ein Jahreshighlight darstellt und doch nichts anderes ist als ein grausames Kuriositätenkabinett auf dem Jahrmarkt. Über all dem steht die Prämisse, dass Männer alleine darüber entscheiden, was mit den Frauen und Mädchen zu passieren hat, sie selbst haben keine Stimme, keine Glaubwürdigkeit, niemand steht für sie ein, dazu der medizingeschichtliche Aspekt der Psychiatrie, ein absolut fesselndes und spannendes Thema, toll aufbereitet bis auf ein in meinen Augen doch schon recht massives Manko: Eugénies Geistererscheinungen, die eine große Rolle in der Geschichte spielen und letztlich ihr eigenes und das Schicksal anderer Beteiligter entscheidend beeinflussen. So weit so gut.
Jetzt habe ich nur ein riesengroßes Problem mit dieser einen Sache: ich glaube nicht dran. So gar nicht. Und das Buch stellt es so dar, als sei es eine Tatsache, dass es das gibt, also so im Sinne von „das ist normal“ – und das ist es für mich eben nicht. Schwierig, schwierig. Nun stört es mich nicht sonderlich, wenn jemand sich als Medium sieht, so lange er nicht andere Menschen damit betrügt, ihnen etwas vorgaukelt oder das Geld aus der Tasche zieht. Aber das Ganze als vollkommen realistisches Talent, dass jemand nun mal einfach hat, so wie eine Begabung für Tanz, Gesang, Malerei oder eine Sportart, zu sehen, das gelingt mir nun leider nicht. Bin ich zu agnostisch? mag sein. Aber dieser Umstand hat dann dazu geführt, dass ich recht oft im Laufe der Geschichte dachte … Humbug… .
Daher ist mein Fazit: für mich hätte es Eugénies Talent nicht gebraucht. Sie hätte auch über ihre Klugheit, ihre Eloquenz, einfach ihr Wesen, überzeugen können, ihr zu helfen, denke ich. So ist das ein klarer Minuspunkt für mich, weil mich die Tragfähigkeit, die Glaubwürdigkeit der Geschichte an dieser Stelle einfach verlässt. Wen das nicht stört, oder wer da einfach ein bisschen mehr glauben kann als ich, tut sich vielleicht etwas leichter mit der Akzeptanz dieses Punktes. Ansonsten begeistert der Roman sprach

Bewertung vom 30.03.2020
Das eiserne Herz des Charlie Berg
Stuertz, Sebastian

Das eiserne Herz des Charlie Berg


gut

Viel Potential, viel gewollt und leider versinkt das alles in zu vielen Körperflüssigkeiten

Charlie Berg kann es nicht fassen, sein Großvater liegt tot neben ihm im Wald. Was bleibt ihm anderes, als zu einem Mr. Ripley zu werden. Alle Unwägbarkeiten bedenken, eine wohl bedachte Vertuschungsaktion, denn dass der Hirsch, den er eigentlich erlegen wollte, zu ihm gesprochen hat, die Geschichte kann er nun wirklich niemandem erzählen und so versucht er die Ereignisse dieses merkwürdigen Tages in eine auch nur halbwegs glaubhafte nachvollziehbare Version zu pressen. Nun ist es nicht so, dass bei Charlie alles andere perfekt und rund läuft, egal ob Musiker-Vater, Regisseurinnen-Mutter, autistische Schwester, mexikanische Freundin, sexbesessener bester Freund oder seine eigenen Spezial-Talente als Autor und kongenialer Parfümeur im Stile eines Jean-Baptiste Grenouille mit schwerem Herzfehler, bei ihm ist eigentlicher jeder Tag, jedes Ereignis besonders, weil er von besonderen Menschen umgeben ist. Mit einem wahrhaft bunten Strauß an Protagonisten und Nebenfiguren, Sinneswahrnehmungen, Fähigkeiten und unglaublichen Vorkommnissen erzählt Charlie seine Geschichte, immer wieder liefert er in Rückblenden Begründungen und Hintergründe aus der Vergangenheit, so dass nach und nach ein Gesamtbild seiner Welt entsteht und der Leser erfährt, Opa ist nicht die einzige Leiche, die Charlie in seinem Leben ein wenig zu nah kommt. Das Buch ist im Grunde trotz seiner beachtlichen Länge kurzweilig, spannend und einfach eine gut erzählte Geschichte, die bei mir trotzdem nicht mehr als 3 von 5 Punkten erreichen kann, denn dieses Buch hat ein großes Manko:
Das Problem des Buches ist, dass es mich unsagbar genervt hat. Die Geschichte an sich hat mich begeistert, aber, mein Gott, dass das Hirn eines pubertären Jungen ein paar Jahre lang im Schnitt einen halben Meter tiefer beschäftigt ist – bekannt, erwartbar, absolut geschenkt. Dass er nicht nur daran denkt, sondern sich auch damit einen gewissen Teil seiner Freizeit beschäftigt, auch egal wo, mit wem etc. – dito. Aber will und muss ich fast ein ganzes Buch darüber lesen – ich glaube nicht.
Selbst wenn der Autor diese Zeit sehr originalgetreu erinnert und vielleicht auch einfach mal widergeben wollte, in welcher Intensität, in welcher Vehemenz Geschlechtsorgane, Masturbation, Geschlechtsverkehr präsent sind und auch mit welchen damit verbundenen Erscheinungen, Gerüchen und Körperflüssigkeiten das einhergeht, könnte man auch einfach berechtigterweise behaupten, wir sind alle erwachsen, die wir dieses Buch lesen und da wirkt das dann doch irgendwie alles sehr bemüht. Und dabei ist es nicht so, dass es schockiert, es ist auch nicht pornographisch, es ist einfach explizit körperlich und mir persönlich irgendwann zu viel. Ich kann mir auch meinen Teil denken, wenn irgendwas nicht bis ins letzte Tröpfchen ausformuliert ist.
Und es ist so schade, weil man davon dann letztendlich so genervt ist, denn der Autor kann was. Er formuliert fantastisch, schreibt in herrlichen Bildern und Vergleichen, detailliert, unerwartet, lebendig. Das, was Charlie Berg an Sinneswahrnehmung über die Nase erfährt, das, was seine Schwester Fritzi beim Lesen zu leisten imstande ist, so kann Sebastian Stuertz schreiben und fabulieren. Davon will ich mehr lesen, unbedingt. Er soll sich Geschichten ausdenken, mit skurrilen Charakteren, wahnwitzigen Erlebnissen, alles super. Alle Personen dann vielleicht ein bisschen reifer, ein Dutzend Geschlechtsorgane in Aktion und einen Eimer Sperma weniger und wir sind Freunde.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.03.2020
Billy mit den Bambusbeinen
Dietl, Erhard

Billy mit den Bambusbeinen


sehr gut

Wie siehst du denn aus?
Was für ein aufregender Tag für Billy! Endlich darf der kleine Insekten-Junge mal alleine los, die Eltern schicken ihn auf seinen ersten Flug ohne Begleitung! Aber natürlich ist er aufgeregt, wen oder was wird er kennen lernen? Und schnell folgt die Ernüchterung, irgendwie sind all die anderen Insekten viel cooler und schöner als er. Er hat keinen Stachel, keine bunten Flügel, kann nicht springen… Billy fühlt sich gar nicht wohl. Doch dann trifft er jemanden, der ihm zeigt, dass er auch etwas besonderes hat, etwas das ihn von allen anderen Insekten unterscheidet, was all die anderen eben nicht haben und worauf er stolz sein kann.
„Billy mit den Bambusbeinen“ vermittelt nun keine neue Botschaft im Kinderbuch-Sektor, aber eine wichtige auf sehr humorvolle Art – und eben in der Welt der Insekten. So gibt es nicht nur Billys Abenteuer zu begleiten, sondern auch ein paar Flieg- und Krabbeltierchen mit ihren Besonderheiten und Unterschieden kennen zu lernen. Die Illustration hat mir sehr gut gefallen, sehr kreativ, farbenfroh und detailverliebt. Hierzu passt auch ganz ausgezeichnet die „Suchseite“ am Ende des Buches, so dass hier fast ein direkter Mehrwert entsteht: viele kleine Tiere in den Illustrationen warten darauf entdeckt zu werden. Die Reime fand ich an und an ein wenig holprig, vielleicht muss man sich aber da auch rein finden: als ich merkte, dass die jeweiligen Sprecher einfach anderen Rhythmen folgten, passt auch das. Also: gleich versuchen, mit unterschiedlichen Stimmen für die einzelnen Akteure zu arbeiten, dann klappt‘s auch mit den Reimen.
Fazit: schönes Kinderbuch, das in erster Linie durch die optische Gestaltung überzeugt.

Bewertung vom 21.02.2020
Rote Kreuze
Filipenko, Sasha

Rote Kreuze


sehr gut

Lebenswege
Minsk, Weißrussland. Anfang des Jahrtausends. Ein Mann, dreißig Jahre alt, eine Frau, neunzig Jahre alt. Zwei Schicksale, die von Verlust geprägt sind. Ein Hausflur, ein rotes Kreuz an seiner Tür, das sie angebracht hat, damit sie sich erinnern kann, wo sie wohnt, denn sie hat Alzheimer. Und Redebedarf. Als Tatjana Alexejewna ihren neuen Nachbarn Alexander im Treppenhaus geradezu überfällt, ihn in ihre Wohnung bittet, ist er komplett überfahren. Jede ehrliche Reaktion wäre eine Ausgeburt der Unhöflichkeit, also beißt er in den sauren Apfel und folgt ihr, hört zu. Erst widerwillig, dann irgendwann gespannt. Denn Tatjana hat eine Geschichte zu erzählen, eine Geschichte, die ein Spiegel der gesamten polit-sowjetischen Geschichte des 20. Jahrhunderts darstellt. Sie ist ein Teil, ein lebendiger Teil der Lenin-Ära, die sie als Kind erlebt, und hat später die Gräuel der Stalin-Ära am eigenen Leib erfahren, in all ihrer Willkür, Brutalität, Konsequenz, Endgültigkeit. All das erfährt Alexander nach und nach und öffnet sich seinerseits der alten Frau. Berichtet, wie es ihn nach Minsk verschlagen hat. Ob eine Freundschaft oder eine Schicksalsgemeinschaft entsteht, wer will das auf die Goldwaage legen, es entsteht ein empathisches Gebilde, was für beide in einer entscheidenden -überschaubaren, weil endlichen- Lebensphase eine Konstante darstellt.
Sasha Filipenko macht es dem Leser nicht leicht. In seinem nur rund 280 Seiten starken Werk steckt eine Menge drin. Viel für verhältnismäßig wenige Seiten. Die Geschichte zweier Menschen, ein ganzes Jahrhundert Staatsgeschichte, große Fragen nach Moral, Vergangenheitsbewältigung, Menschenwürde und Schuld. Gewaltige Themen, facettierte Inhalte – und doch, heruntergebrochen auf eigentlich wenige Tage des Erzählens zwischen den beiden Protagonisten. All das bedingt einen – und fast widerspricht es sich – verknappten, berichtenden Erzählstil, der auch häufig wechselt zwischen direkten und indirekten Berichten, der ersten und dritten Person und wahnsinnig viel Gehalt. Im Grunde kommt man viel zu schnell voran in der Erzählung, um alle Fakten und alle Zwischentöne zu erfassen, so dass man letztendlich sagen muss, eine zweite Lektüre würde sich fast aufdrängen. Gebremst wird der Lesefluss allerdings durch zwei Faktoren. Zum einen sind – in meinen Augen, verzichtbare Gedichte und ähnliches in den Text eingebunden. Leider sind dies für mich immer für die Handlung irrelevante Faktoren, da ich sie in den seltensten Fällen lese – und schon gar nicht so aufmerksam, dass ich ihnen gerecht würde. Will also der Autor etwas mit diesen Texten sagen, geht es, ganz ehrlich, an mir vorbei. Das mag jetzt mein persönliches Pech sein, ich wähne mich aber nicht alleine mit diesem Problem auf der Welt. Zum anderen enthält der Roman viele Auszüge aus (Original-)Dokumenten, Briefe oder Mitteilungen, die irgendwie sich auch selten so wirklich harmonisch in den Text einfügen. Insbesondere in Passagen, in denen Tatjana in direkter Rede erzählt, und dann ein Dokument folgt, fand ich das merkwürdig. Sie wird Alexander ja das Schriftstück nicht nach Jahrzehnten wortwörtlich memoriert und vorgetragen haben. Das hat mir einfach nicht so gut gefallen. Den Stil an sich mochte ich dahingegen sehr gerne, sowohl der nicht verschnörkelte direkte Ton als auch einige sehr gelungene Vergleiche (beispielhaft: ein Abgrund in Form eines Menschen, S.9, gefangen war der Mensch nicht länger in einem Anstaltsgebäude, sondern in seinem eigenen Schicksal) haben mich durchweg begeistert und an das Buch gefesselt.

Fazit: ein Buch, das sich schnell lesen lässt, aber vermutlich nicht schnell gelesen werden sollte, oder zumindest mit sehr viel Muße zum Denken im Nachgang, wirklich zum Sammeln und Resümieren dessen, was man da eigentlich alles in so furchtbar kurzer Zeit erfahren und hoffentlich auch erfasst hat. An den Holprigkeiten – wechselnde Perspektive, Sprünge, Einschübe sollte man sich nicht allzu fest verbeißen, sondern das gro

Bewertung vom 19.02.2020
Der Empfänger
Lenze, Ulla

Der Empfänger


sehr gut

Welche Rolle hast du gespielt?
Niemand stellt diese Frage eindringlicher als er selbst. Josef Klein, ein deutscher Immigrant aus dem Rheinland in New York. Eigentlich interessiert er sich nicht wirklich für Politik, ob die Druckerei in der er arbeitet, nun für der NS-Ideologie nahestehende Organisationen Flugblätter druckt, oder nicht, es ist ihm eigentlich egal. Nichts kommunistisches zumindest, aber darüber hinaus, egal. Es ist sein Job. Sein Hobby hingegen ist das Funken. Darüber lernt er nicht nur Lauren kennen, sondern wird auch interessant für manche Personen in der deutsch-amerikanischen Gemeinschaft. Er kann morsen, er kann sogar ein Funkgerät zusammenbauen oder reparieren und er ist hinreichend naiv, unambitioniert, gleichgültig, um nicht allzu viele Fragen zu stellen, Dinge mit sich machen zu lassen, zumindest eine Zeit lang. Alle um ihn herum scheinen zu verstehen, für wen er da eigentlich etwas tut, aber vor sich selbst kann Josef seine Rolle nicht definieren. Klammerst sich an die Vorstellung, möglicherweise kein echter, ein „Schein‘-Mitarbeiter gewesen zu sein, er wählt für sich selbst die Rolle des Bauernopfers. Nicht einmal nach dem Krieg, nach einer Inhaftierung, nach einer Internierung, als er seinen Bruder in Neuss besucht, kann er mit der Wahrheit herausrücken, und man weiß gar nicht so genau, warum. Auch da wirkt sein Verhalten passiv, in sich gekehrt, farblos. Er ist nicht einverstanden, wie sein Bruder sich verhält, wie er mit seinen Kindern umgeht, wie er aus seiner Sicht seine und die eigene Rolle im Krieg definiert. Er bleibt ein Schatten, als solcher ist er gekommen, als solcher zieht er weiter. Fast wie ein Automatismus, nächste Station Südamerika, wie so viele Deutsche, die Teil des Systems waren und sich ins Ausland retten wollten. Nur dass er sich ja eigentlich gar nicht als Teil des Systems empfindet.

Letztlich gleicht Josef Kleins Geschichte einer Odyssee. Wird er jemals irgendwo wirklich ankommen, glücklich werden, sich etwas dauerhaftes aufbauen? Der Roman beantwortet diese Frage nicht. So wie Ulla Lenzes Buch ohnehin viel Raum für „das eigene Denken“ lässt. Der Empfänger ist kein Spionage-Thriller, er erzählt die Geschichte eines Mannes. Unaufgeregt, leise – so wie der Mann selbst ist. Er beleuchtet seine Herkunft, prägende Aspekte seiner Kindheit, wie den prügelnden Vater, der dann im Weltkrieg kämpft, den Plan, nach Amerika auszuwandern, alleine, nachdem ein Unfall dem Bruder die Immigration unmöglich macht. Das Leben in einer neuen Welt, in Armut, multi-ethnischen Stadtvierteln, die aber doch von den Gruppierungen der Herkunftsländer bestimmt werden, den Iren, den Deutschen, den Italienern, den Schwarzen, die ihre Straßenzüge prägen und so alte Heimat in der neuen Heimat bieten. Die gemeinsame Sprache, Tradition, vielleicht auch Werte binden aneinander und im Falle von Josef, stärker als er vermutlich je wollte.
Ulla Lenzes Roman liest sich leicht, wieder dieses Attribut: leise, unaufgeregt, aber er ist keine leichte Lektüre. Vieles steckt hier unter der Oberfläche. Die Autorin schafft es Atmosphäre zu schaffen, Schwingungen zwischen Menschen in Worte zu fassen, den Leser in Situationen mit hinein zu ziehen, was man (ich) aber oft gar nicht unmittelbar während des Lesens so bewusst merkt, sondern erst in einer Lesepause vielleicht. Das hat mir sehr gut gefallen und macht mich sehr neugierig auf andere Werke der Autorin.

Bewertung vom 17.02.2020
Ein wenig Glaube
Butler, Nickolas

Ein wenig Glaube


ausgezeichnet

Gefährliche Verblendung
Lyle und Peg Hovde sind überglücklich, als ihre Tochter Shiloh nach ein paar wilden Jahren mit ihrem kleinen Sohn Isaac zurück zu ihnen zieht, ins ländliche Wisconsin. Insbesondere der kleine Enkel bringt fortan einen ganz neuen Aktivitätsschub in ihr Leben und sie genießen ihre Großeltern-Zeit. Insbesondere Lyle und Isaac haben eine enge Beziehung, der „alte“ und der „kleine“ Kumpel verbringen viel Zeit miteinander, während Peg es genießt ihre geliebte Tochter wieder um sich zu haben. Warum genau Shiloh zu ihren Eltern zurückkam, wird nicht ganz klar, denn sie beginnt schnell, einer neuen allzu engen Bindung den Riegel vorzuschieben. Sie gehört einer kirchlichen Gemeinschaft an, die sich in einer nahen Kleinstadt namens La Crosse eine Gemeinde aufgebaut hat. Deren Prediger Steven hat eine Beziehung mit Shiloh, und in jedem Fall eine Menge Einfluss. Obwohl Lyle seinen eigenen Glauben vor langem verloren hat und Peg eigentlich fest in ihrer protestantischen Tradition verankert ist, besuchen die beiden gemeinsam mit ihrer Tochter die Gottesdienste der Gemeinschaft. Schnell wird vor allem Lyle klar, dass ihm die gesamte Konstellation nicht koscher erscheint, die Haltung der Gemeinschaft zu bestimmten Themen ist sehr rigoros – und schwer nachvollziehbar. Doch jede Kritik oder vorsichtige Nachfrage führt dazu, dass Shiloh damit droht, den Eltern den Kontakt zu ihr und vor allem Isaac gänzlich zu untersagen, selbst in extremen Situationen ist sie rationalen Argumenten – und Tatsachen – gegenüber nicht mehr empfänglich.
Seit „Die Herzen der Männer“ bin ich ein großer Freund von Butlers Stil. Seine genaue Beobachtungsgabe, sein feinfühliges Gespür für leise Töne bei großen Themen und vor allem auch hier wieder, der Blick eines männlichen Protagonisten auf einen Themenkomplex, der so gerne als weiblich besetzt oder dominiert dargestellt wird. Die klassischen 3K -Kinder Küche Kirche. Vergessen werden sollte jedoch nicht, dass selbstverständlich die Männer sich ebenfalls in diesem Feld bewegen – ihr Alltag dadurch bestimmt wird. Der Leser erlebt am Beispiel von Lyle so unittelbar mit, wie er zum einen die Zeit mit Isaac genießt, wie wohl er sich fühlt, Geschichten und Erfahrungen weitergibt und auf der anderen Seite, wie sehr er darunter leidet, was durch Shilohs völlige Ausrichtung nach den Glaubenssätzen ihrer Kirche dann geschieht. Wunderschön fand ich das Motiv der Apfelplantage, auf der Lyle tätig ist. In meinen Augen setzt Butler sie als Allegorie zu den anderen Geschehnissen im Buch ein.
Für mich persönlich, sehr rational, eher agnostisch als gläubig, auf jeden Fall evolutionistisch und nicht kreationistisch, ist das alles, was hier geschieht, sehr schwer fassbar. Ich kann einfach nicht nachvollziehen, dass Menschen so denken und handeln – man könnte glatt sagen, mir fehlt der Glaube… aber ich weiß natürlich, dass es das gibt. Und das ist tragisch. Aber auch das ist ja meine Außensicht, meine naturwissenschaftlich geprägte, „unverständige“ Art. Ich finde es sehr schwierig zu beschreiben, was ich darüber denke, eigentlich möchte man/möchte ich sagen, „ich weiß es besser, ihr seid auf dem Holzweg, ihr seid gemeingefährlich, für euch, für andere, das ist Fahrlässigkeit bis zum schlimmsten“ – und andererseits glaube ich an die Prämisse, dass jeder für sich entscheiden müssen darf, was er glaubt, solange es in den Grenzen der Gesetzgebung stattfindet UND aber auch, solange nicht das Wohl eines Menschen gefährdet ist, der diese Entscheidung nicht getroffen hat. Deshalb habe ich ein Problem mit nicht-impfenden Eltern, deshalb möchte ich auch Shiloh hier im Buch am liebsten an den Schultern packen und schütteln. Diese Grenze auszuloten, ist nicht nur eine der im Buch angesprochenen Schwierigkeiten des Themas.
Fazit: Nickolas Butler hat es wieder geschafft, mich weit über die Lektüre hinaus mit der Thematik seines Romans zu beschäftigen. Mehr geht nicht.