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dracoma
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LANDAU

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Insgesamt 186 Bewertungen
Bewertung vom 27.05.2024
Die Stadt der Anderen
Melo, Patricia

Die Stadt der Anderen


ausgezeichnet

Patricia Melo versetzt ihren Leser nach Sao Paolo/Brasilien, eine 12-Millionen-Stadt. Das Eingangszitat aus Victor Hugos „Die Elenden“ stimmt den Leser schon ein auf das, was ihn erwartet: einen Roman über Obdachlose, über soziale Probleme, über ethnisch Diskriminierte, über sozial Deklassierte, Menschen aller Couleur, die am Rande der Gesellschaft leben und nicht in der Lage sind, sich an ihren eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen.

Melo lässt einen Figurenreigen auftreten, dessen Figuren locker miteinander verbunden sind und die eines gemeinsam haben: alle sind auf der Straße gelandet, und sie kämpfen mit unterschiedlichen Mitteln ums tägliche Überleben. Die Autorin führt die vielen Personen sehr sicher durch die Handlung, sie behält die Erzählung souverän in ihrer Hand. Traumatisierte, Bettler, Junkies, Prostituierte, elternlose Kinder, Transvestiten, Tagelöhner, Diebe und andere Kriminelle, aber auch Studenten und ehemals Bürgerliche, die in eine Schieflage geraten sind und nicht mehr herausfinden – sie alle sammeln sich an einem Platz.
Mit dieser Situation nimmt Melo aber auch andere Probleme der brasilianischen Gesellschaft ins Visier: eine korrupte Justiz, eine gewalttätige Polizei, die Lynchjustiz praktiziert, den alltäglichen Rassismus, die staatliche Förderung von Großkapital, den Pauperismus breiter Gesellschaftsschichten – kurz: die gewaltige Schieflage der brasilianischen Gesellschaft und das Versagen eines Staatswesens.

Melos Sozialkritik ist überdeutlich und auch berechtigt. Gelegentlich geht ihre Empörung mit ihr durch, etwa wenn sie als Autorin Informationen über das Gesundheitswesen gibt, die die Perspektive der jeweiligen Figur übersteigen.

Die einzelnen Figuren des großen Reigens sind voller Empathie gezeichnet. Sehr anrührend ist es, wenn sie selber ihre Träume schildern: eine Steuernummer, eine Arbeit, das tägliche Essen für sich und die Familie, ein Dach über dem Kopf. Im Zentrum der Handlung steht das sog. Makan-Gebäude, das einem weiblichen Immobilien-Tycoon gehört, die es als Spekulationsobjekt verkommen lässt. Eine Gruppe besetzt das Haus, renoviert es, installiert eine funktionierende Gemeinschaft – ein Hoffnungsschimmer für die Obdachlosen und zugleich der Ansatz einer Revolution, die allerdings durch Polizei und Militär zerschlagen wird. Was bleibt? Wer hat eine Zukunft?

4,5/5*

Bewertung vom 26.05.2024
Besondere Tage
Whitman, Walt

Besondere Tage


ausgezeichnet

Walt Whitman, the good grey poet, legt hier eine Sammlung von Tagebuchnotizen vor, die seine Autobiografie ersetzen können. Er selber bezeichnet die Sammlung zwar als „Überbleibsel“, aber sie sind geordnet und lassen sich verschiedenen großen Themenbereichen zuordnen; genealogische Betrachtungen und „Charakterquellen“, der Sezessionskrieg, der mehrjährige Landaufenthalt nach seinem Schlaganfall, Reiseerlebnisse und Gedanken zu anderen Autoren.

Den meisten Raum beanspruchen seine Notizen zu seinen Erlebnissen während des Sezessionskrieges. Dieser Bürgerkrieg war einer der verlustreichsten Kriege und ist nach wie vor tief im kollektiven Gedächtnis der USA verankert. Whitman schildert ausschließlich seine persönlichen Erlebnisse und Eindrücke. Damit bricht er die politischen Ereignisse herunter auf das Menschliche und Individuelle. Er stellt viele Einzelschicksale vor, Verwundete, die er in den verschiedenen Lazaretten besucht und betreut und deren Schicksale – und auch die ihrer Familien – ihn anrühren. Obwohl er die Südstaaten als „personifizierten Erzfeind“ bezeichnet, sieht er auch im gefangenen und verwundeten Feind in erster Linie den Menschen, der Trost und Hilfe braucht.

Dennoch ist sein Nationalstolz unüberhörbar. So leidet er einerseits beim Anblick der geschlagenen Truppen, aber sein Herz lebt auf, wenn er eine Truppenparade mit militärischem Pomp und Musik erlebt. Die „hübschen amerikanischen jungen Männer“ gefallen ihm; ein homoerotisches Element ist in vielen seiner Beschreibungen nicht zu überhören. Tiefen Eindruck machen auf ihn die kurzen Begegnungen mit dem Präsidenten Lincoln, dem er sein bekanntestes Gedicht „Oh Captain! My Captain!“ widmete.

Sein Nationalstolz zeigt sich auch in sehr poetischen Beschreibungen z. B. des Weißen Hauses, die an Überhöhung grenzen. Whitmans nationales Pathos ist dem heutigen Leser fremd geworden.

Überzeitlich schön sind dagegen seine Naturbeschreibungen. Nach einem Schlaganfall führte Whitman ein fast symbiotisches Leben mit und in der Natur. Er entdeckte die Freikörperkultur für sich und führte seine Gesundung auf seine innige Verbundenheit mit der Natur zurück. Ein Fluss, der bestirnte Nachthimmel, Wolkenbilder, ein Baum – Whitman beobachtet sehr genau und beschreibt seine Beobachtungen voller Poesie. Gelegentlich rutscht er zwar ins Pathetische hinein, wenn er z. B. die heroischen Eigenschaften eines Baumes beschreibt. Dennoch waren diese Beschreibungen für mich der schönste Teil des Buches, den man ohne Übersättigung mehrmals lesen kann.

Bewertung vom 07.05.2024
Der Friedhofswärter
Rash, Ron

Der Friedhofswärter


ausgezeichnet

Mein Lese-Eindruck:

Der Autor versetzt uns in die 50er Jahre, in eine ländliche Kleinstadt in den Appalachen. Das Leben dort ist geprägt von bürgerlich-konservativen Vorstellungen. Dazu gehören auch die sozialen Unterschiede zwischen Arm und Reich, zwischen den Kaufleuten im Ort und den Farmern im Umland. Aus dieser Diskrepanz bezieht der Roman einen seiner Impulse.


Jacob Hampton, der Sohn reicher und dominanter Eltern, überschreitet die Grenzen in zweierlei Hinsicht. Einmal dadurch, dass er an seiner Kinderfreundschaft mit Blackburn Gant festhält, einem Jungen, der durch Polio entstellt wurde und der daher mit Hingabe und Sorgsamkeit der eher einsamen Tätigkeit eines Friedhofwärters nachgeht. Zum anderen widersetzt er sich den konkreten Zukunftsplanungen seiner Eltern und brennt mit Naomi durch, Tochter eines armen Kleinbauern. Und da Jacobs Eltern diese Aufsässigkeit nicht tatenlos hinnehmen wollen, entwickeln sie eine abenteuerliche und nicht recht glaubwürdige Intrige, die langfristig nicht funktionieren kann und auch nicht wird. Dank Blackburn Gant.

So bündeln sich in diesem Roman mehrere Konflikte: ein Generationen-Konflikt, die positiven und negativen Auswirkungen von wirtschaftlich-finanzieller Überlegenheit, soziale Kontrolle, soziale Ausgrenzung von benachteiligten Menschen, das Schicksal von Veteranen des Korea-Kriegs, die ambivalente Liebe von Eltern und vor allem die Frage der Belastbarkeit einer Freundschaft.

Wie Ron Rash das alles erzählt, ist ein Erlebnis. Ron Rash kann einfach wunderbar erzählen, und es ist eine Freude, dass der Verlag ars vivendi endlich eine deutsche Übersetzung herausbringt.

Schon die erste Szene zeigt Rashs Erzählkunst, wenn er Jacobs Angst schildert, wie er als Soldat im Korea-Krieg Wache steht, nachts in der Kälte, nur durch einen Fluss vom Feind getrennt und sich dem plötzlichen Angriff eines Partisanen ausgesetzt sieht. Rash scheut auch nicht davor zurück, die Traumatisierung der heimgekehrten Soldaten zu erzählen.

Seine Figuren sind lebendig, mit Ecken und Kanten. Z. B. die Eltern Jacobs: sie wollen ihrem Sohn mit Enterbung und Betrug ihre eigenen Vorstellungen aufzwingen und bedrohen dazu auch andere Menschen; andererseits aber pflegen sie aufopfernd ihren traumatisierten und schwer verletzten Sohn und helfen anderen Menschen aus finanziellen Engpässen. Auch Naomi ist nicht nur die selbstlos Liebende; sie sieht in der Verbindung mit dem reichen Erben auch die Möglichkeit, endlich ihre Eitelkeit ausleben zu können. Nur Blackburn ist eindeutig gezeichnet, der einzig Aufrechte, der sich nicht auf Dauer korrumpieren lässt. Er ist und bleibt der treue Freund, der sich schließlich auch über Drohungen hinwegsetzt und die Wahrheit buchstäblich ans Licht bringt. Ihm hätten einige Ecken und Kanten auch gutgetan.

Rash erzählt langsam und eindringlich. Jedes Wort ist mit Bedacht gewählt, jeder Satz sitzt. Der reduzierte Stil bringt es mit sich, dass der Leser seine Einschätzung der Figuren ausschließlich aus deren Handeln gewinnt. Dazu verwebt der Autor immer wieder sehr kunstvoll und ohne jeden Bruch die Gegenwart mit der Vergangenheit. Dieses konzentrierte und trotzdem anschauliche Erzählen zieht den Leser so sehr in die Geschichte hinein, dass er manche Unglaubwürdigkeiten und Trivialitäten der Handlung verschmerzen kann.

Es ist mir unbegreiflich, dass ein so begnadeter Erzähler am deutschen Publikum bisher vorbeiging!

4,5/5*

Bewertung vom 30.04.2024
Babas Schweigen
Çimen, Özlem

Babas Schweigen


gut

„Kinder brauchen Geschichten!“ Das ist der Antrieb der Ich-Erzählerin Özlem: sie will ihren Kindern Geschichten über ihre Familie erzählen und damit dem Vergessen entgegenwirken. Diese Geschichten bilden einen eigenen Erzählstrang. Sie erzählen von unbeschwerten Kindersommern bei den Großeltern im östlichen Anatolien, und in ihren Erzählungen werden die schon länger verstorbenen Großeltern wieder lebendig. Wir lesen Geschichten von dem Diebstahl einer Wassermelone und dem schimpfenden Großvater, von der Tante, die aus dem Kaffeesatz für die Großfamilie die Zukunft herausliest und vor allem von der liebevollen Zuwendung der Großmutter. Diese Erinnerungen werden ergänzt mit Geschichten, die innerhalb der Großfamilie erzählt wurden.

Ein anderer Erzählstrang erzählt von der inzwischen erwachsenen Ich-Erzählerin. Sie wuchs als Tochter türkischer Gastarbeiter in der Schweiz auf und hat das Schweizer Bürgerrecht. Sie will ihrem Mann und ihren Kindern den Ort ihrer glücklichen Kindheitserinnerungen zeigen und stolpert über eine kurze Bemerkung ihres Onkels: das alles habe Armeniern gehört. Özlem beginnt zu recherchieren und erkennt, dass ihre Familie ihre Identität bisher versteckt hat. Sie sind keine Türken, sondern Angehörige einer kurdischen Minderheit, der Zaza: Daher sind die Kapitelüberschriften in Zazaki formuliert, auch wenn die Sprache in der Familie Özlems nicht gesprochen wird.

Zugleich erkennt die Erzählerin die Verstrickung ihrer Familie in den Genozid an den Armeniern. Bei ihren Recherchen liest sie zum ersten Mal von den Vertreibungen, den Todesmärschen und den Massakern. Und jetzt erst versteht sie, wieso der Fluss Firat den Beinamen „der rote Firat“ bekommen hat, wieso die Familie des Vaters nicht seit Generationen in dem Dorf wohnte und wieso der botanische Name des allgegenwärtigen Aprikosenbaums „prunus armenica“ lautet. Sie wird sich bewusst, dass ihre Familie ein Nutznießer des Genozids war und daher schwieg.

Die Autorin schlägt damit zwei Themen an: einerseits die Minderheit der Zaza und deren eigenständige Kultur und andererseits den Genozid an den Armeniern. Keines der Themen wird – leider – tiefgründiger behandelt. Die Themen werden eher referiert, aber immerhin: das Schweigen der Familie ist gebrochen, die Ich-Erzählerin hat ihre Identität.

Bewertung vom 23.04.2024
Der Heumacher
Hoem, Edvard

Der Heumacher


ausgezeichnet

Der Autor spürt dem Leben seines Urgroßvaters nach. Die Quellenlage ist natürlich schlecht und beschränkt sich auf einige wenige Daten, die der Autor in Kirchenbüchern und einigen amtlichen Dokumenten fand. Wie lebte der Urgroßvater Nesje, der Heumacher, der 40 Jahre lang als erster Mäher und Knecht auf dem Hof seines Grundherrn Frondienst leistete? Und nach Ableistung dieses Dienstes sein gepachtetes Land urbar machte und bebaute?

„Ich musste ihn herbeidichten, aus Luft und aus dem Nichts, aus dem Licht über Molde und Rekneslia, aus dem Wind, der meine Haare zaust, und aus dem Regen, der auf Felder und Menschen fiel - zu seiner wie zu meiner Zeit.“ Sehr poetische Worte, die den Urgroßvater aus der Vergangenheit und Vergessenheit ins Heute bringen.

Der Autor zeichnet das Bild eines rechtschaffenen Mannes, der seinen Pflichten verlässlich nachgeht und die Sache seines Grundherrn zu seiner eigenen Sache macht. Nesje kennt seinen Platz in der sozialen Hierarchie, und er ist nicht neidisch, „Er war zufrieden damit, der zu sein, der er war.“ Aber Nesje hat Träume: er möchte eines fernen Tages sein eigenes Land bewirtschaften, um seinen Kindern ein Auskommen zu sichern.

Der Autor nimmt auch die Verwandten, die Geschwister seiner Frau, in den Blick. Auch sie arbeiten hart und ringen dem kargen Boden das zum Überleben Notwendige ab. Das Überleben wird schwieriger: die Löhne gehen zurück, der Fjord ist leergefischt, und das Getreide wird wegen der kurzen Vegetationsperioden nicht jedes Jahr reif. Nesje erkennt, dass er trotz harter Arbeit niemals die guten Tage erreichen wird, von denen er träumt.
Immer mehr Menschen entziehen sich der Armut und der Unfreiheit in Norwegen und wandern aus nach Amerika, dem Land, in dem Milch und Honig fließen und in dem sie ihre Träume vom guten Leben hoffen verwirklichen können. Der Autor begleitet sie, und als Leser liest man von Träumen, die zerplatzen und der Realität – z. B. dem beginnenden Maschinenzeitalter - nicht standhalten können.

Diese Geschichten erzählt der Autor im kargen, wortarmen Ton einer Saga. Die Figuren hält er auf Distanz zum Leser und lädt nicht zur Identifikation ein. Das Handeln seiner Figuren stellt er fast chronikhaft vor, wobei er niemals wertet. Aber im Mittelpunkt steht der Urgroßvater Nesje, der seiner Heimat treu bleibt. Wenn der Autor viele Seiten lang die mühsame Kunst des richtigen Mähens schildert, merkt man seinen Respekt vor diesem Mann und seinem harten und mühseligen Leben.

Ein sehr packendes und bewegendes Lebensbild.
Ein wunderbares Buch!

Bewertung vom 20.04.2024
Nachtblaue Blumen (eBook, ePUB)
Kamber, Alexander

Nachtblaue Blumen (eBook, ePUB)


sehr gut

Kambers Vorwort gibt dem Leser Auskunft über die Herkunft des Textes: ein Zufallsfund seien diese Aufzeichnungen einer Patientin der berühmt-berüchtigten Pariser Anstalt Salpetriere. Schon dieses kleine Vorwort zeigt die Erzählkunst des jungen Autors: sie ist so geschickt formuliert, dass man darauf hereinfallen könnte!

Die Ich-Erzählerin ist eine junge Tänzerin, die vom Inhaber des Varietès dort eingeliefert wird, weil sie nicht mehr tanzen will. Sehr subtil lässt Kamber hier anklingen, wie mit unangepassten Frauen umgegangen werden konnte. Die Einlieferung in einer Nervenheilanstalt sollte diese Frauen wieder zur Anpassung und zum Funktionieren bringen. Die Diagnose „Hysterie“ ist unscharf, und ebenso unpräzise sind die Behandlungsmethoden.

Die namenlose Erzählerin erzählt vom Alltag in der Anstalt und von den Therapien, denen sie unterworfen wird. Ein deutscher Arzt mit Zigarre – offensichtlich Freud – versucht es mit Hypnose und Traumdeutung. Die anderen Ärzte führen ihre Patientinnen öffentlich vor und erklären ihre Symptome. Der Leser erkennt schnell, dass es sich um inszenierte Darbietungen handelt, die einer Zirkusvorführung ähneln. Und weil die Teilnahme an diesem Zirkus als Auszeichnung empfunden wird, herrscht unter den Patientinnen eine Art Wettstreit um die Teilnahme.
Eine Mit-Patientin ist Cleo, und sie erzählt aus ihrem „Berufsleben“, nämlich der Zusammenarbeit mit einem Magier. Dieser Magier erfand Automaten, die angetrieben wurden von einem komplizierten Räderwerk im Inneren und die dem natürlichen Vorbild zum Verwechseln ähnlich sahen.

Die Ich-Erzählerin versteht das Bild und erkennt, dass sie sowohl für den Besitzer des Varietès und nun auch für die „behandelnden“ Ärzte eine solche Automate ist und nur eines soll: sie soll funktionieren.
Eine raffinierte Doppelung der Geschichte!

Kamber schreibt diese kleine Geschichte in einem leisen und sehr poetischen Ton. Ein Lesevergnügen der besonderen Art!

Bewertung vom 16.04.2024
Gute Ratschläge
Gardam, Jane

Gute Ratschläge


sehr gut

Eliza Peabody, Anfang 50, Diplomatengattin, Expat: das ist die Protagonistin. Eliza langweilt sich und schreibt Briefchen an die Nachbarschaft mit guten Ratschlägen, aber auch ein nicht erbetener Rat-Schlag ist ein Schlag. Eliza weiß alles besser.

Gnadenlos nimmt die Autorin in diesen Briefen das Leben und Wirken der besseren Mittelstandsdamen aufs Korn. Da wird gegärtnert, Clubs werden besucht, man übt sich in Charity-Aktionen, verteilt unerwünschte Babies junger Mütter in kinderlose Familien, trifft sich zu Lese-Abenden und dergleichen mehr. Elizas Briefe mutieren sehr schnell zu einem Tagebuch, voll mit witzigen Beobachtungen, aber vor allem bösen Seitenhieben auf ihresgleichen. Hinter der zur Schau getragenen Wohlanständigkeit verbergen sich jedoch Abgründe.

Und ein solcher Abgrund öffnet sich auch, was Eliza angeht. Von Anfang an scheint sie eine unzuverlässige Erzählerin zu sein, und Stück für Stück kommen ihre Phantasien und ihre Wunschvorstellungen heraus – und auch ihre Traumatisierung. Ihr trubeliges Leben an der Seite ihres Mannes half ihr dabei, ihre seelischen Wunden zu verstecken und zu verdrängen.

Eliza erzählt, dass sie in einem Hospiz arbeitet; aber dass sie dort lediglich die Geschirrspülmaschinen füllt, erfährt der Leser eher am Rande. Im Hospiz trifft sie auf Barry, einen an AIDS sterbenden jungen Mann. Barry könnte ihr Sohn sein – und ihm öffnet sie schließlich ihr Herz und kann von ihrem großen Schmerz und ihren schlimmen Verlusten erzählen, die sie jahrelang unter Verschluss halten musste.

Jane Gardams Roman erschien 1992 und handelt von einer Welt, die dem heutigen Leser fremd vorkommt. Die vielen überwiegend schrägen Personen wirken abgehoben, und das Verständnis wird zusätzlich erschwert durch Elizas Fieberphantasien und die Unzuverlässigkeit ihres Erzählens. Jane Gardams Sprache aber ist wie gewohnt ein Erlebnis: leicht, pointiert, ironisch bis sarkastisch, mit überraschenden Wendungen und makabren Effekten.

Bewertung vom 14.04.2024
Beklaute Frauen
Schöler, Leonie

Beklaute Frauen


gut

Mein Hör-Eindruck:

Die Quellenlage zu den „beklauten Frauen“ ist gut. Frau Schöler fördert also keine neuen Erkenntnisse zutage. Aber bisher wurde jede Quelle zu den einzelnen Frauen als Einzelphänomen betrachtet. Leonie Schöler nimmt jedoch das Gesamtphänomen wahr. Sie wählt einen anderen Blickwinkel und stellt die strukturellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in den Vordergrund, die dafür sorgen, dass die Leistung von Frauen marginalisiert und/oder vergessen wird. Ein Vergessen-Werden und eine Unsichtbarmachung, die bis heute anhält.

Dabei nimmt sie immer auch andere Gruppen in den Blick, deren Vergessenwerden sie leidenschaftlich und wiederholt herausstellt: Behinderte, Farbige und die ganze LGBTQIA+-Gemeinschaft. Als Ursache für ihr Unsichtbarsein macht sie das kapitalistische Wirtschaftssystem aus. Dessen System von Ausbeutern und Ausgebeuteten nutze nur einer elitären weißen männlichen Führungsschicht.
Damit und mit ausführlich geschilderten persönlichen Erlebnissen verzettelt sich die Autorin v. a. im letzten Teil. Es ist ihr ein Anliegen, die antifeministische Subkultur und ihre eigene Situation öffentlich zu machen. Verständlich, aber nicht zielführend.

Als sehr störend – neben manchen recht flapsigen Formulierungen– empfand ich den nicht nachlassenden Empörungsduktus, der von der Sprecherin mit ihrer munteren Stimmführung noch gesteigert wird. Gelegentliche Versprecher machen die Sache nicht besser.

Was die Beispiele angeht, bleibt die Autorin jedoch bei den „beklauten Frauen“, und in einem unterhaltsamen Ritt durch die Geschichte und durch mehrere Sachbereiche geht sie dem Schicksal einiger dieser Frauen nach. Sie stellt zutreffend heraus, wie unterschiedlich die Ausgangsbedingungen waren, welche überkommenen Geschlechterbilder und welche patriarchalischen Strukturen das Wirken der Frauen beschnitten. Und sehr richtig weist sie daraufhin, dass dieselben patriarchalischen Strukturen nach wie vor die Rezeption einschränken und diese Frauen im Schatten stehen lassen.

Mich persönlich hat es gefreut, dass Leonie Schöler auch die Fotografin Lucia Moholy vom Bauhaus in den Blick nimmt. Der demokratische und reformerische Ansatz des Bauhauses hinderte die Bauhaus-Männer nicht, die Bauhaus-Frauen unsichtbar zu machen. Eine davon ist die Lucia Moholy, die von Walter Gropius zu seinem Nutzen, aber zu ihrem großen Schaden um ihre Fotos betrogen wurde.

Jedenfalls zeigt Leonie Schöler mit ihrem Buch eines deutlich: Das Erkenntnisinteresse des Betrachtenden bestimmt die Erkenntnis. Hier zuungunsten von Frauen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 11.04.2024
Die Schwabengängerin
Lampert, Regina

Die Schwabengängerin


ausgezeichnet

Mein Lese-Eindruck:

1929: Eine 75jährige setzt sich hin und schreibt Tag für Tag ihre Erinnerungen nieder, bis sie nach vier Jahren schließlich über 1500 Seiten gefüllt hat und sie der Graue Star am Weiterschreiben hindert. Was herauskommt, ist ein einzigartiges Dokument einer untergegangenen Zeit. Regina Lampert hatte tatsächlich viel zu erzählen.
Regina Lampert ist eines der sog. Schwabenkinder gewesen: Kinder aus armen, kinderreichen Bergbauernfamilien in den rauen Bergregionen Österreichs (Vorarlberg und Tirol), der Schweiz und auch Südtirol, deren kleiner Hof die Familien nicht mehr ernähren konnte. Tausende von Kindern mussten tagelange und beschwerliche Fußmärsche auf sich nehmen, um auf den reichen Höfen Schwabens vom Frühjahr bis in den Herbst zu arbeiten, um mit dem Erlös das Überleben ihrer Familien zu sichern.

Regina Lampert schreibt ihre Erlebnisse nieder, als wären sie gerade erst passiert. Mit einer unglaublichen Genauigkeit und Lebendigkeit beschreibt sie ihre ersten Gänge ins Schwabenland. Sie war im Jahre 1864 erst 10 Jahre alt, ihr Bruder Anton sogar erst 8, als sie von Schnifis im Vorarlberg im März aufbrachen. In dem Zug waren noch kleinere Kinder dabei, alle mit einem Wanderstock, aber nicht unbedingt mit wetterfester Kleidung ausgestattet. Tagelang waren die Kinder unterwegs, bis sie schließlich in Ravensburg auf dem sog. Kindermarkt vermittelt werden konnten.

Die kleine Regina hatte, wenn man ihre Aufzeichnungen liest, offenbar Glück mit dem reichen Bauernhof, so empfindet sie es. Sie war von klein auf die harte und tägliche Arbeit auf dem kleinen Bauernhof der Eltern gewöhnt, und sie wurde wie ihre sieben Geschwister auch zur Heimarbeit eingespannt. Insofern war Arbeit, wohl aber Spiel und Freizeit, kein Fremdwort für sie. Sie nahm die harte Arbeit daher als selbstverständlich hin.

Das täuscht aber nicht darüber hinweg, wie groß die Belastungen für die Kinder waren. Aufstehen um 4 Uhr in der Früh, in der Erntezeit auch noch früher, und Vieh hüten bis 10 Uhr, „bei dunkler Nacht, bei gutem und schlechtem Wetter“. Schläge von den Knechten, nicht immer ausreichend Essen, lange Fußmärsche mit schwerem Gepäck, und auch am Sonntag muss gearbeitet werden. Regina weint viel, leidet unter Heimweh, und manchmal ist sie recht verzagt: „Mir kommt es vor, als müsse ich immer mehr arbeiten, oft fast über meine Kräfte. Ich bin manchmal so müd, so traurig müde, so dass ich nur schlafen möchte.“ Die Freude an der Natur und vor allem die Freude, Eltern und Geschwistern Geld mitbringen zu können, überwiegt ihre Erschöpfung. Sie erlebt auch andere Freuden, z. B. den Proviant, den ihr eine mitfühlende Frau mitgibt – noch nach den vielen Jahren erinnert sie sich an jeden Eierwecken und jedes Stück Schinken.

Regina erzählt nicht nur von ihren Schwabenjahren, sondern auch von ihren Erlebnissen an anderen Dienststellen, u. a. in einem Kloster, vor dessen unerträglichen Arbeitsbedingungen und Strafmaßnahmen sie schließlich floh.
Sie schreibt so lebhaft, wie ihr der Schnabel gewachsen ist, und es ist dem Überarbeiter sehr schön gelungen, ihre urwüchsige und dialektal geprägte Sprache beizubehalten und nur dann einzugreifen, wenn die Verständlichkeit in Gefahr gerät.

Ein lohnender Blick in die Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts!

Bewertung vom 05.04.2024
Krummes Holz
Linhof, Julja

Krummes Holz


sehr gut

Jirka kehrt heim. Nach 5 Jahren im Internat kehrt Georg, genannt Jirka, in einem drückend heißen Sommer zurück auf das Gut seiner Eltern, um dort zu bleiben. Alles hat sich verändert. Das Gut ist heruntergekommen, die harte und lieblose Großmutter ist dement, der Vater abwesend, die ältere Schwester Malene unfreundlich und wortkarg. Leander, der Sohn des letzten Verwalters, hält zusammen mit Malene den Hof mehr schlecht als recht am Laufen. Die Rückkehr in die Kindheit ist für Jirka also alles andere als die Heimkehr des verlorenen Sohnes, die mit einem Fest gefeiert wurde.

Es ist Jirkas Sicht, die dem Leser die Familiengeschichte näherbringt. Langsam und in vielen Zeitsprüngen entsteht im Leser das Bild von Jirkas Kindheit: vom frühen Tod der psychisch kranken Mutter, vom gewalttätigen Vater, von der harten und lieblosen Großmutter, aber auch vom Miteinander mit der Schwester und der Freundschaft zu Leander, mit dem ihm tröstliche Erlebnisse verbinden. Einige der Zeitebenen gehen nahtlos ineinander über, und einige Rückblenden stellen sich assoziativ bei Jirka ein. Manche Ereignisse werden nur angedeutet wie Schlaglichter, die in der Erinnerung Jirkas aufblitzen. Die Vergangenheiten der Personen, vor allem die des Vaters, vermischen sich mit der Gegenwart, oft gibt es keine festen Grenzen, die Zeiten vermischen sich und verwischen. Die Autorin hätte es ihrem Leser durchaus etwas leichter machen können, ohne in Geschwätzigkeit zu verfallen!
Stück für Stück entsteht das Bild einer generationsbedingten traumatischen Kindheit, in der das Kind Jirka nur beim Verwalter und dessen Sohn Leander menschliche Wärme, Schutz und Geborgenheit erfuhr.

Besonders klar sind die Figuren gestaltet. Die Autorin stellt ihrem Roman das bekannte Zitat Immanuel Kants über das krumme Holz des Menschen voran, und genau so sind ihre Personen: krummes Holz. Keine Figur ist eindeutig gut oder böse, keine lässt sich in eine Schablone pressen, alle sind sie lebensechte gemischte Charaktere.

Der Roman ist auf der Gegenwarts-Ebene ausgesprochen handlungsarm, aber trotzdem von großer erzählerischer Dichte. Auf das einem Krimi entlehnte Ende hätte ich allerdings gerne verzichtet. Die Beschreibungen der sommerlichen Hitze sind plastisch, ebenso die ausführlichen Beschreibungen des Hausinneren, wenn der Leser mit Jirka zusammen die altbekannten Räume und die Veränderungen erkundet. Die junge Autorin zeigt ein enormes sprachliches Geschick. Ihr gelingen eindringlich schöne und poetische Sprachbilder, z. B. wenn sie die Depression der Mutter als „schwarzer Strom, der sie ins Tal spülte“ beschreibt. Gelegentlich übertreibt sie allerdings mit der Freude am Bild, wenn sie z. B. Jirka seine Jugend als „das verwachsene Unterholz aus Wut und Einsamkeit, aus dem mein Vater seine arthrosesteifen Finger häkelt“ resümieren lässt.

Insgesamt ein erfreuliches Debut, das neugierig macht auf Kommendes!