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Bücherbummler

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Insgesamt 110 Bewertungen
Bewertung vom 05.09.2022
Ellis
Mariani, Selene

Ellis


sehr gut

Ellis, Kind einer deutschen Mutter und eines italienischen Vaters, ist bereits im schulfähigen Alter, als sie nach der Scheidung der Eltern nach Deutschland kommt und nur noch die Sommerferien in Italien verbringt. In der Schule findet sie keinen Anschluss, wird ausgeschlossen und gemobbt. Das ändert sich, als Grace in die Klasse kommt. Sie und Ellis freunden sich an, bilden eine enge Einheit. Bis Grace sich plötzlich denen anschließt, die Ellis bisher das Leben schwer gemacht haben.

Jahre später treffen sich Ellis und Grace zufällig auf der Straße wieder und beschließen, Graces Traum aus der Schulzeit zu erfüllen, und gemeinsam nach Italien zu fahren. Doch auch hier ist die Beziehung der beiden nicht einfach. Ellis wird aufgerieben zwischen dem, was sie sich von Grace erwartet, und dem, was diese bereit ist, zu geben.

„Ellis“ von Selene Mariani ist mit gerade einmal 147 Seiten ein schmales Bändchen und normalerweise würde ich an dieser Stelle anmerken, dass es sehr gut, aber leider zu kurz war. Über „Ellis“ kann ich das erstaunlicherweise nicht sagen. Mariani versteht es, auf diesen wenigen Seiten den Kosmos von Elllis’ Gefühlen kompakt und tiefgreifend darzustellen. Man spürt, wie sie etwas umtreibt, das sie selbst kaum greifen und beschreiben kann. Sich vielleicht auch gar nicht eingestehen möchte. Selten habe ich auf so engem Raum eine so komplexe Entfaltung einer Figur gelesen.

Was mir ein wenig gefehlt hat, ist die Dringlichkeit des Inhalts. Es erstaunt mich selbst ein wenig, weil es mir nicht oft passiert, dass ich hinterfrage, ob eine Geschichte hätte erzählt werden müssen, oder nicht. Aber bei „Ellis“ blieb am Ende eine leichte Unzufriedenheit, die ich nicht erklären kann, besonders, weil die Erzählung in sich durchaus rund ist. Vielleicht liegt es daran, dass ich „Ellis“ eher als schwebendes Gebilde aus Gefühlen erlebt habe, intensiv, aber wenig greifbar. Als etwas, an das man sich wie an einen Traum erinnert, nicht wie an ein reales Erlebnis. Womöglich war mein persönlicher Lesegeschmack damit einfach nicht befriedigt.

Alles in allem aber ein vielversprechendes Debüt, das neugierig auf weitere Werke der Autorin macht. Chapeau!

Bewertung vom 29.08.2022
Denk ich an Kiew
Litteken, Erin

Denk ich an Kiew


gut

Der Begriff Holodomor (ukrainisch Голодомор‚Tötung durch Hunger‘; russisch Голодомор Golodomor) bezeichnet den Teil der Hungersnot in der Sowjetunion in den 1930er Jahren in der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik. In dieser Unionsrepublik fielen dem Hunger schätzungsweise drei bis sieben Millionen Menschen zum Opfer. Die Ukraine bemüht sich seit der Unabhängigkeit 1991 um eine internationale Anerkennung des Holodomors als Völkermord, doch ist diese Bewertung bis heute umstritten.
(Quelle: Wikipedia)

Ukraine, 1929. Katjas Leben in dem kleinen Dorf Sonyaschnyky (nein, mit Kiew hat das Buch rein gar nichts zu tun) ist nicht ungewöhnlich. Sie und ihre Familie müssen hart arbeiten, aber sie haben genug zum Leben und halten zusammen. Katja und ihre Schwester Alina sind in die Brüder vom Nachbarhof, Pawlo und Kolja, verliebt, die Hochzeiten nur noch eine Frage der Zeit. Doch dann weitet Stalin seine wirtschaftlichen Pläne auf die Ukraine aus. Alle Dorfbewohner werden aufgefordert, Mitglieder der Kolchosen zu werden und ihr Hab und Gut abzutreten. Wer sich weigert, wird durch Repressalien zermürbt, wer sich wehrt, nach Sibirien deportiert oder gleich umgebracht. Eine Hungersnot ungeahnten Ausmaßes überzieht Teile des Landes und auch jene, die sich dem Regime beugen, werden nicht davon verschont. Was die Ukraine produziert, wird abtransportiert, die Bevölkerung strategisch dezimiert. Und Katjas sorgenfreies Leben wird zu einem Kampf um Leben und Tod.

USA, 2004. Ein Jahr ist es her, dass Cassie ihren Mann bei einem Autounfall verloren hat. Ihre Tochter Birdie hat knapp überlebt, spricht aber seitdem nicht mehr. Als die beiden zu Cassies langsam gebrechlich werdender ukrainischen Großmutter Bobby ziehen, findet Cassie deren altes Tagebuch. Mit Bobbys Erlaubnis und der Hilfe des Ukrainisch sprechenden Nachbars Nick, enthüllt sie langsam, was ihre Großmutter all die Jahrzehnte vor ihr und vor sich selbst verschlossen gehalten hat. Und beginnt, einen Weg aus ihrer Trauer zu finden.

Zwei mir bis vor kurzem komplett unbekannte Begriffe sind mir im Zusammenhang mit der Ukraine immer wieder begegnet: der Holodomor und das Massaker von Babyn Jar. Letztere Wissenslücke habe ich durch eine online Sightseeing-Tour geschlossen, für erstere fiel mir der Roman „Denk ich an Kiew“ von Erin Litteken in die Hände.

Die Lektüre fiel mir nicht leicht, aber leider aus den falschen Gründen: Ich fand den Roman erschütternd kitschig. Das gilt vor allem für die Kapitel, die in den USA spielen. Aber selbst wenn die Autorin sich auf die Ereignisse in der Ukraine beschränkt hätte, hätte mich das pure Ausmaß an inhaltlicher und stilistischer Melodramatik und das penetrante Gefühl, emotional manipuliert werden zu sollen (zu meiner eigenen Empörung nicht immer erfolglos), wieder und wieder aus dem Geschehen geschleudert. Ein klassischer Fall von defekter Kompatibilität zwischen Leser und Buch.

Trotzdem empfinde ich es nicht als komplette Zeitverschwendung, „Denk ich an Kiew“ gelesen zu haben, denn mein Anliegen, zu erfahren, was genau damals während des Holodomor geschehen ist, wurde erfüllt. Und man merkt, dass genau das, dieses Wissen zu verbreiten, auch der Antrieb und die Herzensangelegenheit der Autorin war. Wer dann außerdem noch unterstützen möchte, dass der Lübbe Verlag 2 Euro vom Verkauf jedes Exemplars der „Aktion Deutschland hilft – Nothilfe Ukraine“ spendet, der sollte meine Kritik komplett ignorieren und sofort den nächsten Buchladen seines Vertrauens aufsuchen.

Bewertung vom 25.08.2022
Treue (MP3-Download)
Diaz, Hernan

Treue (MP3-Download)


ausgezeichnet

Wie, oh wie soll man beginnen, „Treue“ von Hernan Diaz zu besprechen? Fangen wir mit dem Grundriss an:

Der erste Teil ist ein Roman des (fiktiven) Schriftstellers Harold Vanner, in dem die Geschichte von Benjamin Rask und seiner Frau Helen erzählt wird. Rask ist als Geschäftsmann an der Wall Street tätig, während seine Frau mit Empfängen und wohltätigen Projekten den Aufstieg in der Gesellschaft sicherstellt. Rask gelingt es, von dem Börsenzusammenbruch Ende der 1920er auf geradezu skandalöse und verdächtige Weise zu profitieren. Schnell entstehen Gerüchte um und Gerede über das Paar. Als Helen zusätzlich noch psychisch schwer erkrankt, wird sie, auf eigenen Wunsch, in eine Klinik eingewiesen, deren Heilmethoden ihrem Mann missfallen und ihn dazu bewegen, einzugreifen.

In Teil zwei begegnen wir Andrew Bevel, der sich sicher ist, dass Vanners Benjamin Rask ihn, Andrew Bevel, porträtieren soll. Und zwar unzulänglich und rufschädigend. Er setzt alles daran, den Roman aus dem Verkehr zu ziehen, und beschließt, seine eigenen Memoiren zu schreiben, die wahre Geschichte seines Erfolges zu erzählen.

Doch so richtig scheint Bevel mit seiner Geschichte nicht voranzukommen. Jedenfalls engagiert er die junge Ida Partenza, Erzählerin des dritten Teiles, die, nach seinem Diktat, seine Memoiren aufschreiben, und besonders den Stellen über Mildred, der echten Helen, eine weibliche Note geben soll. Es dauert nicht lange, bis Ida merkt, dass Bevel seine Vergangenheit so verschiebt und verformt, wie er sie haben möchte. Und bis Ida sich fragt, wie groß ihr Teil der Verantwortung ist, wenn sie diese Verfälschungen mitgestaltet.

Jahre später wird das Haus der Bevels verkauft und bei einer Durchsicht der Unterlagen stößt Ida auf Mildreds Tagebuch. Den Aufzeichnungen einer sich in einer Klinik befindenden sterbenden Frau.

Alles verstanden? Eine Geschichte, vier Versionen, so kann man es vielleicht am besten zusammenfassen, auch wenn sich die unterschiedlichen Blicke auf das Geschehen weniger ergänzen, als widerlegen. Diaz zeigt hier auf spannende Weise, wie der, der das Wort hat, auch der ist, der festlegt, was als wahr betrachtet wird. Dass die lauteste Stimme die ist, die überlebt. Man fühlt sich an den Spruch erinnert, der besagt, dass Historie von den Gewinnern geschrieben wird. Und dass das, was im Großen zählt, auch für die kleinen Details des Alltags zutreffend ist. Es ist ein tiefes Fass, das Diaz hier aufmacht, einem jede Grundlage für einen Anspruch auf Wahrhaftigkeit entzieht.

Bei den Besprechungen zu „Treue“ bin ich des Öfteren auf den Vergleich mit Edith Wharton gestoßen. Ich habe mich eher an Wilkie Collins erinnert gefühlt, den Meister der Vielstimmigkeit, der in seinen Romanen nicht nur die Erzählperspektiven, sondern auch die Erzählmedien wechselt. Auch Diaz beherrscht diese Kunst ausgezeichnet und auf hohem Niveau.

Zuerst war ich etwas misstrauisch, ob die Idee, jeden Teil von einem anderen Sprecher einlesen zu lassen, wirklich funktioniert. Sie ist naheliegend, aber gerade deswegen hatte ich die Befürchtung, dass es zu gewollt wirken könnte. Aber mit Stephan Schad, Johann von Bülow, Sabine Arnhold und Valerie Tscheplanowa hat der Argon Verlag eine stimmige und überzeugende Gruppe versammelt, die ihre jeweiligen Charaktere passend modulieren und zum Leben erwecken.

Es fällt mir ungewöhnlich schwer, „Treue“ zu rezensieren, weil der größte Teil des Hörerlebnisses auf einer sehr individuellen Basis stattgefunden hat, die nicht leicht zu greifen und noch weniger mitzuteilen ist. Ich wünsche dem Roman jedenfalls viele Leser und freue mich über die Nominierung für den Booker Prize 2022.

Bewertung vom 22.08.2022
Die Kinder von Barrøy
Jacobsen, Roy

Die Kinder von Barrøy


ausgezeichnet

Norwegen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Ingrid ist nach einer langen Reise, auf der sie den Vater ihrer Tochter Kaja, einen deutschen Soldaten, finden wollte, auf die kleine Insel Barrøy zurückgekehrt. Nach den Traumata des Krieges versuchen die Inselbewohner, ihr altes Leben so gut wie möglich wieder aufzunehmen. Als Ingrid eines Tages Mathis, das Kind des Schiffers, der die Milchroute fährt, einsam und etwas verloren, am Hafen sieht, bietet sie dem Vater an, für den Rest des Tages auf den Jungen aufzupassen. Doch am Abend kehrt der Vater nicht zurück. Und auch an keinem anderen Tag. Ingrid tut, was sie schon immer getan hat, sie übernimmt die Verantwortung und leitet die Adoption des 5-Jährigen ein.
Das Leben auf den Schären geht weiter, aber die Spuren, die der Krieg in den Seelen der Menschen hinterlassen hat, haben seine Bewohner geprägt. Und das Ende eines Krieges bedeutet auch nicht das Ende von Schicksalsschlägen.

„Die Kinder von Barrøy“ ist der vierte Teil von Roy Jacobsens Insel-Saga, deren erste drei Teile („Die Unsichtbaren“, „Weißes Meer“ und „Die Auge der Rigel“) unter dem Titel „Die Unsichtbaren“ ebenfalls bei C.H.Beck in einem Band erschienen sind. Der erste Teil schaffte es darüber hinaus auf die Shortlists des Booker International Awards und des Dublin Awards. Ich wünschte, ich hätte diese Informationen vor der Lektüre gehabt, und am Anfang begonnen. Zwar ist es nicht zwingend notwendig, die Vorgeschichte zu kennen, Jacobsen lässt genug Stichworte fallen, um dem Geschehen gut folgen zu können. Aber es wäre sicherlich ein noch größeres Lesevergnügen gewesen, wenn man die emotionalen Entwicklungen der Charaktere mitbekommen hätte.

Obwohl ich gar nicht weiß, ob das Lesevergnügen noch so viel größer hätte sein können. „Die Kinder von Barrøy“ war genau das, was ich mir wünsche, wenn ich nach einem Buch, das in Norwegen spielt, greife. Die raue Schönheit der Natur, das harte Leben der Landbevölkerung, das, trotz seiner Strenge, doch einen heilen, fast idyllischen Eindruck macht, Figuren, die verschlossen und gleichzeitig liebenswert sind, bodenständig und lebensklug.

Und Jacobsens Sprache spiegelt all das wider. Wie die Einwohner Barrøys will man sie manchmal schubsen und zwingen, mehr preiszugeben, mehr nachzufragen, könnte ihre karge Sturheit verfluchen. Sie ist eine perfekte Reflexion des Lebensgefühls der Inselbewohner. Dieser Roman eine wunderbare Symbiose zwischen Stil und Inhalt.

Für mich war „Die Kinder von Barrøy“ wie eine physisch greifbare Reise, von der ich unendlich viele Eindrücke und Erlebnisse mitgebracht habe. Ein Leseerlebnis ähnlich denen, die ich als Kind bei Astrid Lindgrens Büchern hatte. Und ich kann mir gut vorstellen, dass dieser Roman es in meine Top 10 des Jahres schaffen könnte. Eindeutige Leseempfehlung!

Bewertung vom 21.08.2022
Die Frauen von Belarus
Bota, Alice

Die Frauen von Belarus


ausgezeichnet

Belarus – bei vielen von uns ist dieses Land, gleich hinter unserem Nachbarn Polen, ein weißer Fleck auf der inneren Landkarte. „Lukaschenko“, „letzte Diktatur Europas“, „Todesstrafe“, „irgendwie russlandtreu, glaube ich“ … Aber dann hört es auch schon auf. Im Sommer 2020 änderte sich diese Unsichtbarkeit, als die Belarussen auf die Straße drängten, um gegen Lukaschenkos Fälschung der letzten Wahlen zu protestieren. Für kurze Zeit waren wir gebannt von dem Mut der Bürger, die, trotz der Repressalien, der Verhaftungen, der Gefahr, gefoltert zu werden, weiter demonstrieren gingen und gerechte Wahlen forderten. Doch irgendwann wurden die Proteste kleiner, die internationale Presse zog ab, das Land blieb sich selbst überlassen, während der Rest der Welt sich wieder auf Corona und die drohende Herbstwelle konzentrierte.

Aber für viele Belarussen ist der Kampf und Alptraum noch lange nicht zu Ende. Ende Januar 2022 sitzen noch über 1000 politische Gefangene in belarussischen Gefängnissen (Quelle: www.100xsolidaritaet.de), die meisten wegen ihrer Beteiligung an den Protesten. Etliche befinden sich nach wie vor im Exil, versuchen, von dort aus weiterzumachen. Kämpfen für ein freieres Land und gerechte Wahlen und haben Sehnsucht nach der Heimat und ihren Angehörigen.

„Die Frauen von Belarus“ von Alice Bota ist ein großartiger Beitrag, diese Menschen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Der Titel mag am Anfang etwas verwirren, lässt er doch glauben, die Proteste in Belarus wären rein weiblich und vielleicht sogar feministischer Natur gewesen. Doch der Grund Botas, sich auf die Frauen der Ereignisse zu konzentrieren, wächst vor allem daraus, dass im Herzen der Aktionen tatsächlich Frauen stehen – wenn auch in manchen Fällen unfreiwillig. Und diese Tatsache in einer politischen Umgebung, die weitestgehend von Männern gemacht ist, ein komplementär wichtiger und prägender Umstand ist.

Bota stellt drei Frauen in den Mittelpunkt ihres Buches: Swetlana Tichanowskaja, Maria Kolesnikowa und Veronika Zepkalo, drei komplett unterschiedliche Frauen, die an Stelle ihrer Männer gerückt sind, nachdem diese von Lukschenko ausgeschaltet wurden. Und sich schließlich zusammengeschlossen haben, mit Tichanowskaja als offiziell zugelassener Präsidentschaftskandidatin, was zeigt, dass Lukschenko die Lehrerin und Hausfrau wohl grob unterschätzt haben muss.

Ich bin kein großer Sachbuchleser, aber „Die Frauen von Belarus“ hat mir sehr gut gefallen. Bota hat mich da abgeholt, wo mein Wissensstand war, nämlich so gut wie bei null. Und sie schafft es, alle nötigen Informationen so aufzuarbeiten, dass man ein gutes Bild bekommt, ohne sich von Fakten, Daten und Namen erschlagen zu fühlen. Gekonnt wechselt sie vom großen Bild ins Detail, was einem die persönlichen Schicksale näher bringt, verstehen lässt, wie viel Trauer und Ängste und Qualen viele Belarussen immer noch jeden Tag ertragen müssen.

Seit Putin die Ukraine überfallen hat, fällt der Name Belarus ab und an wieder in den Nachrichten. „Handlanger Russlands“, der Faktor X, von dem zusätzliche Gefahr für das Kriegsgeschehen aus nördlicher Richtung ausgehen kann. Die Menschen, die weiterhin für Demokratie und Gerechtigkeit kämpfen, ohne Unterstützung anderer Länder aber kaum eine Chance haben, sind weitestgehend in Vergessenheit geraten und auf sich selbst gestellt. Gerade deswegen sind Bücher wie „Die Frauen von Belarus“ so extrem wichtig. Und darum wünsche ich diesem spannenden und interessanten Buch viele, viele Leser.

Nominiert für den Deutschen Sachbuchpreis 2022.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 18.08.2022
Intimitäten

Intimitäten


sehr gut

Aus New York verschlägt es die namenlos bleibende Ich-Erzählerin nach Den Haag. Hier hat sie eine Stelle als Dolmetscherin am Internationalen Gerichtshof ergattert und am Anfang sieht alles so aus, als könnte sie in den Niederlanden eine Heimat finden. Im Beruf läuft es gut, sie erhält Anerkennung für ihre Arbeit und kriegt schon bald verantwortungsvollere Aufträge übertragen. Außerdem lernt sie Adriaan kennen, der, verheiratet, aber bereits getrennt lebend, schnell zu jemandem wird, mit dem sie sich eine Zukunft vorstellen könnte.
Doch dann bekommt sie am Gerichtshof den Fall eines angeklagten „ehemaligen Präsidenten“ und westafrikanischen Kriegsverbrechers zugeteilt, der sie tief erschüttert. Und Adriaan reist zu seiner Frau, um Scheidungsangelegenheiten zu klären, angeblich für eine Woche. Eine Woche, aus der ein Monat ohne Lebenszeichen wird. Umstände, die die Protagonistin überdenken lassen, ob sie für ihre Arbeit geeignet ist, ob Adriaan oder Den Haag ohne Adriaan ihr eine Zukunft bieten können.

„Intimitäten“ von Katie Kitamura gehört für mich zu den Romanen, die mich während des Lesens bzw. Hörens durchaus angesprochen haben, mich aber am Ende etwas unbefriedigt zurücklassen. Zum einen liegt das an der Gewichtung der Themen. Laut Text auf dem Cover soll das Buch existentiellen Fragen über Wahrheit, Lügen, Gerechtigkeit, das Recht zu richten und die Weltordnung am Beispiel des „ehemaligen Präsidenten“ behandeln. Davon habe ich leider nicht viel gefunden. Das Privatleben der Dolmetscherin hat meinem Gefühl nach einiges mehr an Platz eingenommen. Was vielen gefallen mag, mich hat es weniger interessiert.

Denn gerade dieses Privatleben war nicht wirklich erzählenswert. Spannender versprach da eine Nebengeschichte zu werden, in der unsere Hauptfigur von einem Überfall vor dem Haus ihrer Freundin hört, aus unerfindlichen Gründen so fasziniert davon ist, dass sie die Buchhandlung des Opfers aufsucht, es dort aber nicht antrifft, dafür aber zufällig auf einer Vernissage dessen Zwillingsschwester kennenlernt, was naheliegend ist in einer Stadt von über einer halben Million Einwohnern… Diese Ungereimtheiten hätte ich der Geschichte ohne mit der Wimper zu zucken verzeihen können, denn sie schien verheißungsvoll auf etwas Aufregendes hinauszulaufen… Bis sie komplett von der Bildfläche verschwand. Und sich mir der Verdacht aufdrängte, dass die Autorin einfach noch ein paar Seiten füllen musste.

Warum meine Einschätzung letzten Endes doch ziemlich wohlwollend ausfällt ist, weil die Stunden, die ich mit diesem Hörbuch verbracht habe, trotz aller Kritik, unterhaltsam waren. Besonders die Einblicke in die Arbeit von Dolmetschern fand ich ausgesprochen interessant und auch die Interpretation von Katja Danowski als Sprecherin hat mich überzeugt.

„Intimitäten“ hat viel Zustimmung bekommen, auch von Rezensenten, auf deren Meinung ich viel Wert lege. Deswegen möchte ich, obwohl es sich eigentlich von selbst versteht, jedem potenziellen Hörer und/oder Leser explizit ans Herz legen, sich selbst ein Bild zu machen. Auch wenn meine Leseempfehlung eingeschränkt bleiben muss.

Bewertung vom 16.08.2022
Wo vielleicht das Leben wartet
Jachina, Gusel

Wo vielleicht das Leben wartet


ausgezeichnet

Anfang der 1920er wurde Russland von einer schweren Hungersnot heimgesucht. Die Nachwehen des Ersten Weltkrieges und der Revolution, politische Entscheidungen, ein schlecht ausgebautes Bahnnetz und eine Trockenperiode kosteten besonders im Wolgagebiet und im Ural Millionen von Menschen ihr Leben.

Kasan 1923. Dejew ist erst in seinen 20ern, aber er hat bereits im Krieg und während der Revolution auf Seiten der Roten Armee gekämpft. Jetzt soll er 500 Kinder mit einem Zug von Kasan in das weniger von der Hungersnot betroffene Samarkand evakuieren. Über 4000 km geht die Reise durch verschneite Landschaften, Steppe und Wüste. In eher schlecht als recht improvisierten Wagons. Zur Seite stehen Dejew dabei neben dem Lokführer und dem Heizer eine Handvoll Frauen aus den unterschiedlichsten Milieus, die sich um die Kinder kümmern sollen, ein Koch, der kein Russisch spricht, ein alter Feldscher und Kommissarin Belaja, die gänzlich andere Vorstellungen von der angemessenen Durchführung des Vorhabens hat, als Dejew. Diese Gruppe ungleicher Erwachsener und ein unzulängliches Gefährt steht zur Verfügung, um 500 traumatisierte, schwer kranke und halb verhungerte Kinder auf eine sechs Wochen lange Reise mitzunehmen. Und die Vorräte reichen gerade mal drei Tage…

Vor einiger Zeit habe ich bereits Gusel Jachinas Roman „Suleika öffnet die Augen“ mit ziemlicher Begeisterung gelesen. „Wo vielleicht das Leben wartet“ hat mir sogar noch besser gefallen. Was Jachina perfekt beherrscht ist, einen in ihre Geschichten mitzunehmen. So wie ich immer noch das Gefühl habe, die Tatarin Suleika auf ihrer Zwangsumsiedlung nach Sibirien begleitet zu haben, so habe ich auch jetzt die Kälte von Kasan und die Hitze der turkmenischen Steppe zu spüren gemeint. Jachinas Sprache spricht alle Sinne an, ist physisch und psychisch.

Besonders an diesem Roman gefesselt hat mich das charakterliche Zusammenspiel der Figuren, die alle dasselbe Ziel haben, aber mit komplett anderen Ansätzen und Überzeugungen agieren. Das schöne ist, dass Jachina es nicht bei den Unterschieden belässt, sondern nach und nach aufdeckt, was hinter den Einstellungen und Handlungen steht, was den einzelnen geformt hat. Dabei ist der Schwerpunkt zwar auf den Erwachsenen, aber auch bei den Kindern kriegen wir Einblicke, die die Tiefe der Traumata erahnen lassen.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich mit „Wo vielleicht das Leben wartet“ einen Kandidaten für mein „Bestes Buch des Jahres“ gefunden habe. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zum letzten Mal bei einer Geschichte so mitfiebern konnte. Und ganz nebenbei wurde mein geschichtliches und geografisches Wissen erweitert. Ganz große Leseempfehlung!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 14.08.2022
Triskele
Kühmel, Miku Sophie

Triskele


sehr gut

Simone ist tot. Selbstmord. Zurück lässt sie einen Abschiedsbrief und drei Töchter von drei Vätern: die bereits 47-jährige Mercedes, die 31-jährige Mira und Matea, die gerade erst 16 Jahre alt ist und noch zur Schule geht. Durch den großen Altersunterschied sind sich die drei Schwestern nie so nahe, wie es normalerweise üblich ist. Sie teilen wenig, außer den Heimatort und das Leben mit einer Mutter, die mit ihren psychischen Problemen zu kämpfen hatte. Aber nicht mal diese Gemeinsamkeiten sind wirklich geteilte Realitäten. Denn Simones Krankheit und ihr Umgang damit hat verschiedene Phasen durchlaufen. Und selbst das Dorf, in dem jede von ihnen aufgewachsen ist, war nicht für jede derselbe Ort. Ja, nicht einmal dasselbe Land. So hat Mercedes ihre Kindheit noch in der DDR erlebt, die Jüngste, Matea, ihre im vereinigten Deutschland. Und Mira in der Mitte ist ein Kind der Wende, weiß nicht so wirklich, wo ihre Wurzeln liegen.

Miku Sophie Kühmel erzählt in ihrem Roman „Triskele“, wie die drei Geschwister auf diesen Grundlagen versuchen, ein Leben ohne ihre Mutter aufzubauen, und das Geschehene zu verarbeiten. Kühmel setzt im Juni an, vier Monate nach dem Suizid der Mutter, und begleitet die Frauen bis zum ersten Todestag, wobei sie die Schwestern abwechselnd zu Wort kommen lässt.

Am Anfang habe ich mich mit dem Roman etwas schwergetan, konnte nicht richtig hineinkommen. Der große Verlust der Mutter, der Schock, der gerade nach einem Selbstmord entstehen muss, kam bei mir nicht an. Ich fand vieles des Geschilderten banal und völlig unwesentlich, bis mir der Gedanke kam, dass jeder anders trauert. Dass das Leben, so platt es klingt, weitergeht. Dass es gerade das ist, was einen von der Tragödie zurückholen kann.
Trotzdem hatte ich immer wieder kurze Strecken im Verlauf des Buches, die mich gelangweilt haben. Zum einen waren das vor allem die Stellen, an denen es um die partnerschaftlichen Beziehungen der Schwestern ging, aber auch die Szenen mit den Dreien zusammen fand ich öfters gewollt witzig, ohne witzig zu sein.

Letztendlich hat mich der Roman aber überzeugen können. Es war äußerst spannend, wie sich aus den zwei selben Grundkonstanten, Mutter und Elternhaus, drei so unterschiedliche Wahrnehmungen bilden, auch jenseits der durch die verschiedenen Charaktere zu erwartenden Unterschiede. Und die Szenen, in denen sich die Töchter mit ihren Beziehungen zur Mutter auseinandersetzen, sind sehr stark, sowohl inhaltlich als auch sprachlich. Da hat mich Kühmel wirklich beeindruckt.

Für mich ein Roman, der auf die Liste des Deutschen Buchpreises gehört.

Bewertung vom 11.08.2022
Der zerstreute Zeitreisende
Pratchett, Terry

Der zerstreute Zeitreisende


gut

Viele Jahre habe ich auf die Frage, wer meine Lieblingsautoren sind, gleich nach Charles Dickens Terry Pratchett genannt. Ich liebe seinen Humor, die Unberechenbarkeit, die Situationskomik und die dahinter versteckte Gesellschaftskritik sehr, ganz besonders, wenn es um seine Discworld-Reihe geht, die ich, bis auf den letzten Band, verschlungen habe. Dabei hatte ich bisher immer eine Regel: Pratchett niemals, wirklich niemals in der deutschen Übersetzung zu lesen. Man kann die Bedeutung eines Satzes vielleicht übertragen, man kann den Charakter einfangen, die Stimmung vermitteln, aber wenn der Autor seine Sprache meisterlich beherrscht und auf besondere Weise einsetzt, ist „Lost in Translation“ vorprogrammiert. Davon kann sich jeder überzeugen, der sich schon einmal Loriot mit englischen Untertiteln angeguckt hat.

Trotz dieser Beobachtung habe ich meine eigene Regel für „Der zerstreute Zeitreisende“ gebrochen. Und ich muss zugeben, dass Andreas Brandhorst meine schlimmsten Befürchtungen nicht hat wahr werden lassen. Meine Zehen haben sich nicht in purem Horror aufgerollt, mein innerer Pseudo-Brite hat nicht die Nase in höchster Verachtung gerümpft. Ja, der englische Charme, der nun mal nur dieser Sprache innewohnt, hat ein wenig gefehlt, aber ich hatte trotzdem einiges Vergnügen an der Übersetzung.

Was die 18 kurzen Geschichten selbst betrifft, die in diesem Band vereint sind, so muss man im Hinterkopf behalten, dass sie von einem sehr jungen Terry stammen. Gerade mal 17 war er, als er sie verfasst hat. Man kann den späteren Großmeister schon ein wenig erahnen. Die muntere und gelassene Stimmung, die seinen Figuren oft zu eigen ist, ist spürbar. Aber inhaltlich und hintergründig wirklich viel hergeben, tun sie noch nicht. Der Ansatz zu der späteren Originalität zeigt sich, vor allem in den Figuren, aber die Geschichten an sich bleiben eher fad und „pointless“.

Insgesamt, und es schmerzt mich ein wenig, das zu sagen, ist es vielleicht ein Buch für jüngere Leser und jene, die alles verschlingen, was sie von Pratchett in die Finger kriegen können, um das Loch zu füllen, das der viel zu frühe Tod dieses wunderbaren Schriftstellers hinterlassen hat. Aber eben doch ein Buch, was man nicht wirklich gelesen haben muss. Love you anyway, Mr Pratchett!

Bewertung vom 04.08.2022
Mädchen auf den Felsen
Gardam, Jane

Mädchen auf den Felsen


sehr gut

Margaret ist acht, als ihr kleiner Bruder geboren wird. Und ihre Mutter gezielt dagegen vorgeht, dass Margaret sich durch dieses Ereignis zurückgesetzt fühlen könnte. Teil dieser Strategie ist ein wöchentlicher Ausflug ans Meer. Allerdings nicht in Begleitung der Frau Mama, sondern mit der Haushälterin Lydia, die mit ihrer unkonventionellen, direkten Art einen krassen Gegenpol zu Margarets religiösen und auf Anstand und Sitte pochende Eltern bildet.
Auf einem dieser Ausflüge entdeckt Margaret eine Villa, deren Bewohner sich faszinierend anders verhalten, als die Menschen, die Margaret aus ihrem Alltag kennt. Sie kann weder ahnen, dass es sich um eine private Anstalt für mental Erkrankte handelt, noch, wie diese mit Charles und Binkie zusammenhängt, alten Bekannten ihrer Mutter, die plötzlich auf der Bildfläche erscheinen.

Ich habe mich voller Begeisterung in „Mädchen auf den Felsen“ von Jane Gardam gestürzt. Ihre Sprache, gekonnt dem Lebensgefühl der 1930er angepasst, ohne gekünstelt oder verstaubt zu klingen, der leichte Humor, der unter allem liegt, die originellen Figuren, die man gerne persönlich kennenlernen würde … All das hat den Roman zu einem Erlebnis erster Güte gemacht.

Nur konnte sich dieses Gefühl purer Euphorie leider nach Beendigung der Lektüre nicht ganz halten. Was mir gefehlt hat, war nicht das Runde, sondern die natürliche Form des Runden. Für mich hinterließ der Nachklang die Frage, ob Gardam plötzlich nicht mehr wusste, wie sie weitererzählen sollte. Oder einfach keine Lust mehr hatte, alle Fäden schnell zusammengeführt und grob verknotet hat. Ich war mir auch nicht so sicher, ob sie überhaupt wusste, was für eine Geschichte sie erzählen möchte. Was sehr bedauerlich war, denn das Buch hatte das Potenzial, ein Fünfsterner zu werden.

Diese Einschränkungen wurde aber durch die großartige Leistung von Leslie Malton ausgeglichen, die mit ihrer treffenden und ausgesprochen amüsanten Charakterisierung (allen voran der Lydias) den Roman in einen (Hörbuch-)Genuss verwandelt hat.

Die Jury des Booker Preises hat übrigens meine Bedenken nicht geteilt, und „Mädchen auf den Felsen“ auf die Shortlist von 1978 gesetzt. Auch ich betrachte meinen eigenen Kritikpunkt eher als nicht allzu sehr ins Gewicht fallenden Schönheitsmakel, und habe bereits zum nächsten Gardam-Buch gegriffen.