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Bücherbummler

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Insgesamt 104 Bewertungen
Bewertung vom 16.08.2022
Wo vielleicht das Leben wartet
Jachina, Gusel

Wo vielleicht das Leben wartet


ausgezeichnet

Anfang der 1920er wurde Russland von einer schweren Hungersnot heimgesucht. Die Nachwehen des Ersten Weltkrieges und der Revolution, politische Entscheidungen, ein schlecht ausgebautes Bahnnetz und eine Trockenperiode kosteten besonders im Wolgagebiet und im Ural Millionen von Menschen ihr Leben.

Kasan 1923. Dejew ist erst in seinen 20ern, aber er hat bereits im Krieg und während der Revolution auf Seiten der Roten Armee gekämpft. Jetzt soll er 500 Kinder mit einem Zug von Kasan in das weniger von der Hungersnot betroffene Samarkand evakuieren. Über 4000 km geht die Reise durch verschneite Landschaften, Steppe und Wüste. In eher schlecht als recht improvisierten Wagons. Zur Seite stehen Dejew dabei neben dem Lokführer und dem Heizer eine Handvoll Frauen aus den unterschiedlichsten Milieus, die sich um die Kinder kümmern sollen, ein Koch, der kein Russisch spricht, ein alter Feldscher und Kommissarin Belaja, die gänzlich andere Vorstellungen von der angemessenen Durchführung des Vorhabens hat, als Dejew. Diese Gruppe ungleicher Erwachsener und ein unzulängliches Gefährt steht zur Verfügung, um 500 traumatisierte, schwer kranke und halb verhungerte Kinder auf eine sechs Wochen lange Reise mitzunehmen. Und die Vorräte reichen gerade mal drei Tage…

Vor einiger Zeit habe ich bereits Gusel Jachinas Roman „Suleika öffnet die Augen“ mit ziemlicher Begeisterung gelesen. „Wo vielleicht das Leben wartet“ hat mir sogar noch besser gefallen. Was Jachina perfekt beherrscht ist, einen in ihre Geschichten mitzunehmen. So wie ich immer noch das Gefühl habe, die Tatarin Suleika auf ihrer Zwangsumsiedlung nach Sibirien begleitet zu haben, so habe ich auch jetzt die Kälte von Kasan und die Hitze der turkmenischen Steppe zu spüren gemeint. Jachinas Sprache spricht alle Sinne an, ist physisch und psychisch.

Besonders an diesem Roman gefesselt hat mich das charakterliche Zusammenspiel der Figuren, die alle dasselbe Ziel haben, aber mit komplett anderen Ansätzen und Überzeugungen agieren. Das schöne ist, dass Jachina es nicht bei den Unterschieden belässt, sondern nach und nach aufdeckt, was hinter den Einstellungen und Handlungen steht, was den einzelnen geformt hat. Dabei ist der Schwerpunkt zwar auf den Erwachsenen, aber auch bei den Kindern kriegen wir Einblicke, die die Tiefe der Traumata erahnen lassen.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich mit „Wo vielleicht das Leben wartet“ einen Kandidaten für mein „Bestes Buch des Jahres“ gefunden habe. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zum letzten Mal bei einer Geschichte so mitfiebern konnte. Und ganz nebenbei wurde mein geschichtliches und geografisches Wissen erweitert. Ganz große Leseempfehlung!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 14.08.2022
Triskele
Kühmel, Miku Sophie

Triskele


sehr gut

Simone ist tot. Selbstmord. Zurück lässt sie einen Abschiedsbrief und drei Töchter von drei Vätern: die bereits 47-jährige Mercedes, die 31-jährige Mira und Matea, die gerade erst 16 Jahre alt ist und noch zur Schule geht. Durch den großen Altersunterschied sind sich die drei Schwestern nie so nahe, wie es normalerweise üblich ist. Sie teilen wenig, außer den Heimatort und das Leben mit einer Mutter, die mit ihren psychischen Problemen zu kämpfen hatte. Aber nicht mal diese Gemeinsamkeiten sind wirklich geteilte Realitäten. Denn Simones Krankheit und ihr Umgang damit hat verschiedene Phasen durchlaufen. Und selbst das Dorf, in dem jede von ihnen aufgewachsen ist, war nicht für jede derselbe Ort. Ja, nicht einmal dasselbe Land. So hat Mercedes ihre Kindheit noch in der DDR erlebt, die Jüngste, Matea, ihre im vereinigten Deutschland. Und Mira in der Mitte ist ein Kind der Wende, weiß nicht so wirklich, wo ihre Wurzeln liegen.

Miku Sophie Kühmel erzählt in ihrem Roman „Triskele“, wie die drei Geschwister auf diesen Grundlagen versuchen, ein Leben ohne ihre Mutter aufzubauen, und das Geschehene zu verarbeiten. Kühmel setzt im Juni an, vier Monate nach dem Suizid der Mutter, und begleitet die Frauen bis zum ersten Todestag, wobei sie die Schwestern abwechselnd zu Wort kommen lässt.

Am Anfang habe ich mich mit dem Roman etwas schwergetan, konnte nicht richtig hineinkommen. Der große Verlust der Mutter, der Schock, der gerade nach einem Selbstmord entstehen muss, kam bei mir nicht an. Ich fand vieles des Geschilderten banal und völlig unwesentlich, bis mir der Gedanke kam, dass jeder anders trauert. Dass das Leben, so platt es klingt, weitergeht. Dass es gerade das ist, was einen von der Tragödie zurückholen kann.
Trotzdem hatte ich immer wieder kurze Strecken im Verlauf des Buches, die mich gelangweilt haben. Zum einen waren das vor allem die Stellen, an denen es um die partnerschaftlichen Beziehungen der Schwestern ging, aber auch die Szenen mit den Dreien zusammen fand ich öfters gewollt witzig, ohne witzig zu sein.

Letztendlich hat mich der Roman aber überzeugen können. Es war äußerst spannend, wie sich aus den zwei selben Grundkonstanten, Mutter und Elternhaus, drei so unterschiedliche Wahrnehmungen bilden, auch jenseits der durch die verschiedenen Charaktere zu erwartenden Unterschiede. Und die Szenen, in denen sich die Töchter mit ihren Beziehungen zur Mutter auseinandersetzen, sind sehr stark, sowohl inhaltlich als auch sprachlich. Da hat mich Kühmel wirklich beeindruckt.

Für mich ein Roman, der auf die Liste des Deutschen Buchpreises gehört.

Bewertung vom 11.08.2022
Der zerstreute Zeitreisende
Pratchett, Terry

Der zerstreute Zeitreisende


gut

Viele Jahre habe ich auf die Frage, wer meine Lieblingsautoren sind, gleich nach Charles Dickens Terry Pratchett genannt. Ich liebe seinen Humor, die Unberechenbarkeit, die Situationskomik und die dahinter versteckte Gesellschaftskritik sehr, ganz besonders, wenn es um seine Discworld-Reihe geht, die ich, bis auf den letzten Band, verschlungen habe. Dabei hatte ich bisher immer eine Regel: Pratchett niemals, wirklich niemals in der deutschen Übersetzung zu lesen. Man kann die Bedeutung eines Satzes vielleicht übertragen, man kann den Charakter einfangen, die Stimmung vermitteln, aber wenn der Autor seine Sprache meisterlich beherrscht und auf besondere Weise einsetzt, ist „Lost in Translation“ vorprogrammiert. Davon kann sich jeder überzeugen, der sich schon einmal Loriot mit englischen Untertiteln angeguckt hat.

Trotz dieser Beobachtung habe ich meine eigene Regel für „Der zerstreute Zeitreisende“ gebrochen. Und ich muss zugeben, dass Andreas Brandhorst meine schlimmsten Befürchtungen nicht hat wahr werden lassen. Meine Zehen haben sich nicht in purem Horror aufgerollt, mein innerer Pseudo-Brite hat nicht die Nase in höchster Verachtung gerümpft. Ja, der englische Charme, der nun mal nur dieser Sprache innewohnt, hat ein wenig gefehlt, aber ich hatte trotzdem einiges Vergnügen an der Übersetzung.

Was die 18 kurzen Geschichten selbst betrifft, die in diesem Band vereint sind, so muss man im Hinterkopf behalten, dass sie von einem sehr jungen Terry stammen. Gerade mal 17 war er, als er sie verfasst hat. Man kann den späteren Großmeister schon ein wenig erahnen. Die muntere und gelassene Stimmung, die seinen Figuren oft zu eigen ist, ist spürbar. Aber inhaltlich und hintergründig wirklich viel hergeben, tun sie noch nicht. Der Ansatz zu der späteren Originalität zeigt sich, vor allem in den Figuren, aber die Geschichten an sich bleiben eher fad und „pointless“.

Insgesamt, und es schmerzt mich ein wenig, das zu sagen, ist es vielleicht ein Buch für jüngere Leser und jene, die alles verschlingen, was sie von Pratchett in die Finger kriegen können, um das Loch zu füllen, das der viel zu frühe Tod dieses wunderbaren Schriftstellers hinterlassen hat. Aber eben doch ein Buch, was man nicht wirklich gelesen haben muss. Love you anyway, Mr Pratchett!

Bewertung vom 04.08.2022
Mädchen auf den Felsen
Gardam, Jane

Mädchen auf den Felsen


sehr gut

Margaret ist acht, als ihr kleiner Bruder geboren wird. Und ihre Mutter gezielt dagegen vorgeht, dass Margaret sich durch dieses Ereignis zurückgesetzt fühlen könnte. Teil dieser Strategie ist ein wöchentlicher Ausflug ans Meer. Allerdings nicht in Begleitung der Frau Mama, sondern mit der Haushälterin Lydia, die mit ihrer unkonventionellen, direkten Art einen krassen Gegenpol zu Margarets religiösen und auf Anstand und Sitte pochende Eltern bildet.
Auf einem dieser Ausflüge entdeckt Margaret eine Villa, deren Bewohner sich faszinierend anders verhalten, als die Menschen, die Margaret aus ihrem Alltag kennt. Sie kann weder ahnen, dass es sich um eine private Anstalt für mental Erkrankte handelt, noch, wie diese mit Charles und Binkie zusammenhängt, alten Bekannten ihrer Mutter, die plötzlich auf der Bildfläche erscheinen.

Ich habe mich voller Begeisterung in „Mädchen auf den Felsen“ von Jane Gardam gestürzt. Ihre Sprache, gekonnt dem Lebensgefühl der 1930er angepasst, ohne gekünstelt oder verstaubt zu klingen, der leichte Humor, der unter allem liegt, die originellen Figuren, die man gerne persönlich kennenlernen würde … All das hat den Roman zu einem Erlebnis erster Güte gemacht.

Nur konnte sich dieses Gefühl purer Euphorie leider nach Beendigung der Lektüre nicht ganz halten. Was mir gefehlt hat, war nicht das Runde, sondern die natürliche Form des Runden. Für mich hinterließ der Nachklang die Frage, ob Gardam plötzlich nicht mehr wusste, wie sie weitererzählen sollte. Oder einfach keine Lust mehr hatte, alle Fäden schnell zusammengeführt und grob verknotet hat. Ich war mir auch nicht so sicher, ob sie überhaupt wusste, was für eine Geschichte sie erzählen möchte. Was sehr bedauerlich war, denn das Buch hatte das Potenzial, ein Fünfsterner zu werden.

Diese Einschränkungen wurde aber durch die großartige Leistung von Leslie Malton ausgeglichen, die mit ihrer treffenden und ausgesprochen amüsanten Charakterisierung (allen voran der Lydias) den Roman in einen (Hörbuch-)Genuss verwandelt hat.

Die Jury des Booker Preises hat übrigens meine Bedenken nicht geteilt, und „Mädchen auf den Felsen“ auf die Shortlist von 1978 gesetzt. Auch ich betrachte meinen eigenen Kritikpunkt eher als nicht allzu sehr ins Gewicht fallenden Schönheitsmakel, und habe bereits zum nächsten Gardam-Buch gegriffen.

Bewertung vom 01.08.2022
Kreiseziehen
Shipstead, Maggie

Kreiseziehen


sehr gut

Nach dem frühen Tod ihrer Mutter werden die Zwillinge Marian und Jamie Graves eigenhändig von ihrem Vater von einem sinkenden Schiff gerettet. Ein Skandal, da der Vater der Kapitän besagten Schiffes war, folglich also bis zuletzt hätte an Bord bleiben müssen. Um den Folgen seiner Handlung zu entgehen und selbst tief erschüttert, gibt er die Babys zu seinem Bruder Wallace, einem Maler, in Pflege. Während Jamie in Wallaces Fußstapfen tritt, nimmt Marians Leben eine für eine Frau jener Zeit äußerst ungewöhnliche Wendung. Nachdem sie ein Kunstfliegerpaar beobachtet hat, will sie nur noch eins: fliegen. Sie beginnt, mit kleinen Nebenjobs Geld zu verdienen, bis schließlich ein Mentor auf den Plan tritt, der ihrem Leben eine tiefgreifende Wendung geben wird.

Während des Zweiten Weltkrieges, in dem Jamie als Kriegsmaler an der Front tätig ist, fliegt Marian Flugzeuge zu ihren Einsatzorten, um nach dessen Ende einen großen und gefährlichen Plan umzusetzen: Sie will als erste einmal die Welt entlang der Längsachse umrunden. Doch kurz vor dem Ziel verschwindet sie spurlos.

Gut 50 Jahre später soll Marians Geschichte, basierend auf ihrem Logbuch, verfilmt werden. Hadley Baxter, jüngst bei ihren Fans wegen eines Beziehungsskandals in Ungnade gefallener Filmstar, soll die Pilotin verkörpern. Im Rahmen ihrer Recherchen stößt Hadley auf immer neue Spuren. Spuren, die weit über das hinausgehen, was im Drehbuch steht.

„Kreiseziehen“ von Maggie Shipstead beginnt stark. Ich fühlte mich sofort in die Geschichte hineingezogen, getragen von Shipsteads kräftiger und klarer Sprache. Ein Buch, so dachte ich, in dem ich verloren gehen kann, das ich nicht mehr aus der Hand legen möchte. Leider hat sich dieses Gefühl nicht gehalten. Ab dem Zeitpunkt, zu dem sie beginnt zu fliegen, gab es immer wieder längere Strecken, die mich nicht mehr gefesselt haben. Und das zog sich bis zum Ende durch, betraf besonders die Kriegszeit, aber auch ihren Flug um die Erde, der zu langatmig war, während er gleichzeitig zu wenig erzählt hat. Als ich im Nachwort las, dass Shipstead ihren Roman vor der Veröffentlichung bereits um gut 300 Seiten gekürzt hat, war ich perplex. Meinetwegen hätten es noch mal 300 weniger sein können.

Genau diametral verlief mein Leseerlebnis in der Parallelgeschichte um Hadley Baxter. Zu Beginn konnte ich mit diesen Teilen überhaupt nichts anfangen, fand sie langweilig und überflüssig, auch sprachlich nicht annähernd so überzeugend, wie die über Jamie und Marian. Aber gegen Ende hat sich das geändert. Ich fand es sehr spannend, noch mal bewusst gemacht zu bekommen, wie sehr historisches Wissen auf dem basiert, was aus den verfügbaren Quellen interpretiert wird. Und wie falsch diese vermeintlichen Erkenntnisse sein können.

„Kreiseziehen“ wurde unter anderem mit dem Costa Book Award 2021 ausgezeichnet und war auf der Shortlist für den Booker Prize 2021, sowie der Shortlist des Women’s Prize for Fiction 2022. Und auch, wenn es nicht ganz mein Buch war, weil mich einige Themen weniger interessiert haben und für meinen Geschmack zu sehr ausgewalzt wurden, möchte ich trotzdem eine Leseempfehlung aussprechen. Es ist ein Roman, in dem man potenziell verloren gehen, in den man eintauchen, dessen Figuren man ins Herz schließen kann. Großes Kino.

Bewertung vom 25.07.2022
Der Papierpalast
Heller, Miranda Cowley

Der Papierpalast


gut

Elle und Jonas kennen sich seit ihrer Kindheit von den Sommerferien am Meer. Sie waren sich nah, mehr als nah. Alles schien darauf hinzudeuten, dass mehr aus den Beiden werden könnte. Bis zwei große Geheimnisse, die sie teilen, diese Möglichkeit beenden.
Viele Jahre später sind beide verheiratet und Elle ist Mutter von drei Kindern. In den Jahren dazwischen sind sie und Jonas sich gelegentlich zufällig über den Weg gelaufen. Schwere Treffen, die beider Welten durcheinandergebracht haben. In diesem Sommer nun verbringen beide Familien wieder den Sommer im alten Ferienort. Es kommt zu dem, was seit Jahrzehnten in der Luft lag, Elle und Jonas schlafen miteinander. Und Elle wird klar, dass sie sich endlich entscheiden muss: für ihre Familie oder für die große Liebe ihres Lebens.

„Der Papierpalast“ von Miranda Cowley Heller gehört zu den Büchern, die einen auf Social Media geradezu verfolgt haben. Ich habe immer einen Bogen darum gemacht, weil mich die Thematik nicht interessiert hat. Beziehungen und Gefühlsverwirrungen langweilen mich schnell. Als aber dann die Hörbuchversion bei Hörbuch Hamburg erschien, habe ich mich dann doch entschieden herauszufinden, was sich hinter dem Hype versteckt.

Cowley Heller erzählt ihren Roman aus der Sicht von Elle und in zwei Handlungssträngen. Die Geschichte von ihrem ersten Treffen mit Jonas bis zur Gegenwart, in die sie parallel immer wieder zurückkehrt. Um dem Buch gerecht zu werden, muss ich beide Stränge getrennt bewerten.

Den Rückblick fand ich nicht uninteressant. Kein literarischer Leckerbissen, keine herausragenden Figuren oder besonders originelle Ereignisse, aber Elles Geschichte war weitestgehend inhaltlich und psychologisch überzeugend, die schwere Thematik einfühlsam behandelt.

Die Teile, die in der Gegenwart spielten, waren hingegen eher schwach und langweilig. Das ewige Hin und Her von Elle, das leider auch in den Rückblicken immer wieder thematisiert wurde – irgendwann war es einfach genug. Ihre Zerrissenheit ist durchaus nachvollziehbar, aber man kann ein Problem auch aus- und überreizen. Es hat nicht allzu lange gedauert, bis mein Interesse ausgewandert ist, und meine Geduld mitgenommen hat.

Was mir aber gefallen hat, war, wie Vera Teltz den Roman sprachlich umgesetzt hat. Ihre Stimme hat dem Ganzen einiges an Qualität hinzugefügt.

Meiner Meinung nach kein Buch, das man nicht gelesen haben muss, aber trotzdem auch eins, wo mich der Hype nicht wirklich überrascht. Für jene, deren romantische Ader ausgeprägter ist, als meine, kann es durchaus ein Gefühlserlebnis werden.

Bewertung vom 24.07.2022
Zeitzuflucht
Gospodinov, Georgi

Zeitzuflucht


sehr gut

„Ist diese Zugkraft der Vergangenheit letztlich ein Versuch, zu jenem heilen Ort zu gelangen, wie weit er auch zurückliegen mag, wo die Dinge noch ganz sind, es nach Gras riecht, du aus nächster Nähe die Rose und ihr Labyrinth betrachtest. Ich sage Ort, doch es ist eine Zeit, ein Ort in der Zeit. Ein Rat von mir, besucht nie, wirklich nie nach langer Abwesenheit den Ort, den ihr als Kinder zurückgelassen habt. Er ist ausgetauscht worden, von Zeit entleert, verlassen, gespenstisch.
Dort. Ist. Nichts.“
(Kapitel III/4)

Gaustín, ein Bekannter des Ich-Erzählers, eröffnet in Zürich eine Klinik für Alzheimer-Patienten. Jedes Stockwerk ist thematisch einem bestimmten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts gewidmet, so dass der Kranke in die Zeit zurückkehren kann, in der er sich mit seinen Erinnerungen noch zuhause fühlt. Das Projekt weitet sich schnell aus, es entstehen neue Kliniken in anderen Ländern, dann ganze Straßenzüge, Areale. Nicht lange, und auch Menschen ohne Erkrankung bitten um Aufnahme, um dem Stress der Gegenwart entfliehen, sich wieder in jener Zeit aufhalten zu können, in der sie am glücklichsten waren. Schließlich greifen die Staaten der Europäischen Union die Idee auf. Jedes Land hält ein Referendum ab, um zu entscheiden, in welches Jahrzehnt der Staat zurückkehren wird. Die Zeit wird plötzlich zu einem Ort, die Strukturen immer wirrer. Im Äußeren, aber auch in dem Kopf des Erzählers.

„Zeitzuflucht“ von Georgi Gospodinov gehört in eine ganz rare Kategorie von Büchern: jene, die mich verwirren, ratlos zurücklassen, aber die mir trotzdem gefallen haben. Ich gehöre zu der Sorte Leser, die es gerne klar haben. Klare Sprache, klare Strukturen, runde Geschichte. Gospodinovs Roman schert sich nicht darum. Von Anfang an stellt er den Leser vor Fragen, und je weiter man voranschreitet, um so mehr fällt alles in sich zusammen, verwirrt sich, wird ungreifbarer. Und das ist genial, weil das Buch damit auf seine Weise das nachzeichnet, was im Kopf eines an Alzheimer Erkrankten im Anfangsstadium passiert. Als Leser gehen wir den Weg mit dem Ich-Erzähler, für den die Grenzen zwischen Realität und eigener Fiktion immer mehr verschwimmen. Auch wir verlieren den Halt und die Orientierung.

Spannend fand ich auch, dass der Roman einen zu Gedankenspielen reizt. Welches Jahrzehnt würde ich auswählen, wenn ich die Wahl hätte (wobei man bedenken muss, dass man nicht wieder als derjenige dorthin zurückkehrt, der man war, sondern als der, der man jetzt ist)? Was würde passieren, wenn tatsächlich ganze Staaten die Zeit zurückdrehen und jedes in einer anderen Ära leben würde? Und natürlich drängt sich auch die Vorstellung auf, dass man selbst eines Tages zu denen gehören kann, die an dieser schrecklichen Krankheit leiden.

Zu guter Letzt habe ich mich auch gefreut, mal etwas von einem bulgarischen Schriftsteller zu lesen. Die Passagen, die in Gospodinovs Heimatland spielen, haben mich dazu animiert, mehr über diesen Staat zu erfahren, an den wir normalerweise allenfalls wegen seiner Badestrände und der hohen Armutsrate denken.

Für mich war „Zeitzufluchten“ ein sehr spannender, wenn auch nicht greifbarer Roman. Er ist sicher nicht nach dem Geschmack der großen Masse, aber wenn man sich drauf einlässt und loslässt, kann man viel Individuelles daraus mitnehmen, weil es einen Teil dessen, wer wir sind und was wir fürchten auf uns zurückwirft. Beeindruckend!

Bewertung vom 23.07.2022
In Putins Kopf
Eltchaninoff, Michel

In Putins Kopf


sehr gut

Als Putin am 24. Februar 2022 mit seiner „Spezialoperation“ zum ersten Mal offiziell mit eigenen Truppen die Ukraine angriff, gehörte ich zu den Menschen, die völlig überrascht waren. Schon seit Wochen hatte Russland Truppen in der Nähe der Grenze zusammengezogen, aber ich hatte die Geschichte vom Manöver geglaubt, höchstens noch ein wenig kindisches Säbelrasseln dahinter vermutet. Als dann der Angriff geschah, stellten sich mir vor allem drei Fragen. Wozu? Warum gerade jetzt? Was geht in diesem Mann vor?

Besonders mit der letzten Frage setzt sich Michel Eltchaninoff, ein französischer Philosoph und Journalist, in seinem Buch „In Putins Kopf – Logik und Willkür eines Autokraten“ auseinander. Er hat zahlreiche Reden, Interviews und Handlungen Putins daraufhin untersucht, welche Philosophen, Schriftsteller und andere Denker der russische Präsident zur Untermauerung seiner Einstellungen und Handlungen heranzieht.

Vor allem die erste Hälfte des Buches hat mich mit der Vielzahl seiner Namen und Verweise erschlagen. Mein philosophisches Wissen ist höchstens – ich will es mal poetisch ausdrücken – eine von der Zeit erodierte Grundmauer mit viel Mut zu Lücken. Wenn es zu russischen Philosophen kommt, bin ich völlig raus. Die von Putin gerne herangezogenen Schriftsteller (allen voran Dostojewski) kenne ich zwar, habe aber nie ihre Lebenseinstellungen wirklich untersucht. Was ich aus „In Putins Kopf“ mitgenommen habe, ist, dass Putin sich nur dessen zu bedienen scheint, was er gerade gebrauchen kann, und dafür seine „Quellen“ auch gerne in ihre Einzelkomponenten zerlegt. Überraschend ist das vielleicht nicht, aber interessant, diesen Vorgang detaillierter zu betrachten.

Die Fragen „Wozu“ und „Warum gerade jetzt“ konnte mir „In Putins Kopf“ tatsächlich beantworten, auch wenn die vielen Informationen des Buches immer noch ein wenig hilflos in meinem Kopf herumschwirren. Zu Putins Inneren – Eltchaninoff geht auf viele Aspekte dieses Mannes ein, seiner Herkunft, Psyche, Entwicklung, politische Ideen, aber am Ende bleibt das Gefühl: Was in diesem Kopf vorgeht, weiß nur der Mann selbst.

Leseempfehlung für thematisch Interessierte!

Bewertung vom 20.07.2022
Selma Lagerlöf - sie lebte die Freiheit und erfand Nils Holgersson
Feyerabend, Charlotte von

Selma Lagerlöf - sie lebte die Freiheit und erfand Nils Holgersson


gut

Ich gehöre zu den Menschen, die sich von Büchercovern beeinflussen lassen. Ich greife durchaus mal zu, ohne mich über den Inhalt zu informieren. Einfach, weil die Gestaltung und/oder der Titel mich ansprechen. Auf der anderen Seite lehne ich Bücher aus denselben Gründen ab. Weil ich mir einbilde, dass die Aufmachung mir genug Informationen gibt, um beurteilen zu können, dass sie mir nicht gefallen werden. Zu letzterer Kategorie gehört auch Charlotte von Feyerabends „Selma Lagerlöf – sie lebte die Freiheit und erfand Nils Holgersson“. Nicht, dass das Titelbild nicht hübsch wäre, aber für mich schreit es „Frauenliteratur“ (was immer das sein soll) und „seichte Unterhaltung“. Beides keine Attribute, für die ich mich sonderlich erwärme. Was mich dann aber doch hat schwach werden lassen, war, dass es um Selma Lagerlöf ging. Selma Lagerlöf, die Grand Dame der schwedischen Literatur, die in Deutschland, mit Ausnahme von „Nils Holgersson“ und vielleicht noch „Gösta Berling“, an Bekanntheit verloren zu haben scheint. Ich selbst habe von ihr bisher, abgesehen von „Nils Holgersson“, nur „Jerusalem“ und „Liljecronas Heimat“ gelesen, beide zufällig, weil sie in unserer Stadtbibliothek vorhanden waren. Beide haben mir gut gefallen und mich neugierig auf die Frau hinter den Geschichten gemacht.

Feyerabend beginnt ihre Erzählung mit dem Verkauf von Lagerlöfs Elternhaus 1890. Zu diesem Zeitpunkt ist Selma bereits über 30, hatte ihre ersten literarischen Erfolge, arbeitet aber noch als Lehrerin, um ihren Unterhalt zu verdienen. Von hier aus folgen wir ihr durch die Jahre ihres wachsenden Ruhmes, der sie später zur ersten Frau machen wird, die den Nobelpreis für Literatur erhält, und zum ersten weiblichen Mitglied der Schwedischen Akademie. Aber natürlich ist auch Selma Lagerlöf mehr, als nur Autorin. Sie reist viel, betätigt sich als Gutsherrin zweier Höfe, adoptiert einen Jungen aus armen Verhältnissen. Sie engagiert sich sozial und politisch und nutzt ihren Bekanntheitsgrad, um anderen zu helfen. Einen großen Raum gibt Feyerabend auch Selmas Beziehungen zu Sophie Elkan und Valborg Olander, den beiden Frauen, die ihr, in einer Zeit, in denen gleichgeschlechtliche Liebe verboten war, trotzdem immer den Rücken freigehalten und sie in all ihrem Tun unterstützt haben.

Was man dem Roman anmerkt, ist die große Nähe der Autorin zum Thema. Sie hat viel Zeit, Recherche, aber vor allem Herzblut in dieses Buch gelegt, und das überträgt sich auf den Leser. Feyerabend kommt aus dem wissenschaftlichen Bereich, das merkt man. Sie bedient sich vieler Originalquellen, belegt akribisch alles mit Quellenangaben und verweist deutlich auf jene Stellen, an denen sie sich literarische Freiheiten genommen hat. Gerade letzteres fand ich ungewöhnlich, aber sinnvoll, da es einem die ewige Frage nach Wahrheit und Dichtung, die biografische Romane nun mal immer umschwebt, erspart hat. Die dramaturgische Notwendigkeit dieser Änderungen hat sich mir allerdings nicht immer erschlossen.

Aber erinnern wir uns an meine anfangs erwähntes Vorurteil diesem Buch gegenüber. Habe ich falsch gelegen? Leider nicht ganz, denn stilistisch war „Selma Lagerlöf“ für mich nicht so einfach zu ertragen. Des Öfteren...eigentlich sehr oft...habe ich mich gefragt, ob Feyerabend den Ehrgeiz entwickelt hat, so viele Metaphern wie möglich in ihrem Skript unterzubringen. Alles war mir auch etwas zu flockig und blumig, manchmal bis hin zum Kindischen. Die Texte wirkten unbeholfen, unnatürlich und, gerade in den Dialogen, hölzern und gestelzt. Ich erwarte nicht zwangsläufig immer hohe Literatur, aber das lief dann doch zu weit an meinem Geschmack vorbei. Schade fand ich auch, dass die ersten 30 Jahre so gut wie gar keine Erwähnung fanden. Gerade die, die Lagerlöfs Liebe zu ihrem Land und Einstellungen zum Leben geprägt haben müssen.

Habe ich es bereut, dieses Buch gelesen zu haben? Eigentlich nicht, denn mein Wunsch, mehr über Selma Lagerlöf zu erfahren, hat sich letztendlich erfüllt. W

Bewertung vom 14.07.2022
Das Leben vor uns
Gorcheva-Newberry, Kristina

Das Leben vor uns


ausgezeichnet

Anja und Milka wachsen in der Sowjetunion der 1980er auf. Sie sind, trotz aller charakterlichen und familiären Unterschiede, beste Freundinnen, die in der Schule und im Sommer in der Datscha von Anjas Familie unzertrennlich sind. Als sie älter werden, erweitert sich die Gruppe um zwei Jungs, Lopatin und Trifonow – die vier rufen sich meistens bei ihren Nachnamen –, und langsam tritt auch mehr und mehr in ihr Bewusstsein, dass sie in einem Land leben, das ihre Freiheit einschränkt. Besonders Anja und Milka träumen davon, wegzulaufen und nach Paris zu ziehen. Doch bevor es dazu kommen kann, ereignen sich zwei Vorfälle, die die Gruppe zerbrechen und Milka das Leben kosten. Als kurz darauf die Grenzen fallen, packt Anja ihre Sachen und zieht in die USA.

Fast zwanzig Jahre soll es dauern, bis Anja in ihre Heimat zurückkehrt, um ihren Eltern beizustehen, deren Datscha, mit großem Druck auf die Besitzer, aufgekauft werden soll – ausgerechnet mit Lopatin als Mittelsmann des potenziellen Käufers. Erst als Anja in Russland eintrifft, spürt sie, dass sie ihre alte Heimat nie ganz zurücklassen konnte. Und dass es noch offene Wunden gibt, die nach Klärung verlangen.

Kristina Gorcheva-Newberry widmet ihren ersten Roman „Das Leben vor uns“ der „Generation Perestroika“, die sie als eine verlorene, übersehene und vergessene Generation beschreibt. Ich bin davon überzeugt, dass es diese Generation gibt, die in einem ganz eigenen Lebensgefühl aufgewachsen ist, aber so wirklich bewusste geworden, was es bedeutet, zu dieser Generation zu gehören, ist mir durch das Buch nicht. Sicherlich hat man gemerkt, dass die Geschichte in der Sowjetunion spielt, alleine schon durch die politischen Diskussionen von Anjas Eltern. Aber wenn ich jetzt das nehme, was ich als Hauptgeschichte empfunden habe, dann las es sich eher als eine Coming of Age Geschichte, die auch in jedem anderen Land so oder ähnlich hätte stattfinden können.

Was aber das Leseerlebnis nicht getrübt hat. Ich fand den Roman sprachlich überzeugend, auch wenn mir die Dialoge zwischen den Jugendlichen manchmal gekünstelt vorkamen, aber vielleicht war das zu jener Zeit der normale Umgangston. Anja ist eine überzeugende Ich-Erzählerin, deren Wissensstand und Interesse an dem, was um sie herum passiert, glaubwürdig und realistisch bleibt. Und auch die Geschichte hat mich überzeugt, wobei Gorcheva-Newberry absolut in der Lage ist, einen auch in ruhigen Passagen ohne viel Handlung zu fesseln.

Was ich schade finde, ist, dass sich der C. H. Beck Verlag entschieden hat, den Originaltitel „The Orchard“ mit „Das Leben vor uns“ zu übersetzen. Tschechows „Kirschgarten“ (im Englischen „The Cherry Orchard“) und der Apfelgarten von Anjas Familie spielen eine große symbolische Rolle und ohne die Nennung im Titel ist einem dieser Aspekt nicht von Anfang an so klar. Aber vielleicht hätte „Der Obstbaumgarten“ oder „Der Apfelgarten“ zu sperrig geklungen, wer weiß. Tschechows Theaterstück jedenfalls muss man vielleicht nicht zwangsläufig kennen, aber es ist von Vorteil. Zumindest sollte man eine grobe Idee des Inhalts haben.

Insgesamt ein Roman-Debüt, dass ich auf jeden Fall gerne weiterempfehle, auch wenn ich wohl den Grundtenor der verlorenen Perestroika-Generation nicht zu voller Zufriedenheit erfasst habe.