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Benutzername: 
Batyr
Wohnort: 
Ahrensburg

Bewertungen

Insgesamt 101 Bewertungen
Bewertung vom 16.03.2021
Sie haben mich nicht gekriegt
Kucher, Felix

Sie haben mich nicht gekriegt


gut

Beharrlichkeit und Verbohrtheit

Fiktionalisierte Biographien stellen momentan einen Trend im gegenwärtigen Literaturgeschehen dar. Im Falle von Felix Kuchers Roman „Sie haben mich nicht gekriegt“ stehen zwei historisch belegte Persönlichkeiten im Zentrum: eine italienischstämmige Fotografin, die ihr ganzes Leben in den Dienst der kommunistischen Partei gestellt hat, und eine aus Fürth gebürtige Buchhändlerin, der als Jüdin durch ihre Flucht in die USA dem Holocaust entkommen ist.
Der Titel des Buches zitiert zwar eine im Text genannte Bemerkung einer der beiden Heldinnen, ist aber in der Banalität der Formulierung kaum zu übertreffen und weckt beim Leser vollkommen unzutreffende Leseerwartungen.
Das kompositorische Prinzip des Romans ist hingegen durchaus ambitioniert zu nennen: in sehr schnellem Wechsel reihen sich alternierend zumeist überaus kurze Szenen aus dem Lebensweg der beiden Hauptfiguren aneinander, wobei jeweils am Ende einer Sequenz ein winziges Detail, ein Gegenstand, eine Bemerkung, eine Wendung in der Handlung den Übergang zur folgenden Episode im Leben der anderen Frau schafft. Ein ausgesprochen kunstvoll gestaltetes Verfahren!
Allerdings ist zu bemängeln, dass der Rhythmus so schnell ist, dass eine Atemlosigkeit der Darstellung das Ergebnis ist. Dazu kommt, dass im Falle der Italienerin Tina Modotti die Abfolge der Einsätze und Engagements im Dienste der Weltrevolution sich immer weiter beschleunigt, so dass beim Leser eine gewisse Ermüdung nicht zu verleugnen ist, zumal im Gedankenleben dieser Protagonistin wenig ausdifferenzierte Reflexion zum Tragen kommt. Ihre Einstellung gegenüber ihrer politischen Ausrichtung lässt sich am besten mit einem Zitat eines populären Liedtitels umschreiben: Die Partei hat immer recht. Eine prägnantere Infragestellung in der Konfrontation mit den Zeitereignissen und den womöglich abweichenden, weil weniger gläubigen Einstellungen ihrer Freunde und Kampfgenossen wäre ergiebiger und interessanter gewesen. Erst ganz am Ende des Romans regen sich sehr verhaltene Zweifel am eingeschlagenen Weg, die sofort wieder unterdrückt werden.
Die gänzlich andere Entwicklung der Buchhändlerin wider Willen Marie Rosenberg kontrastiert hierzu sehr positiv: während sich Tina durch ihre Verbohrtheit auszeichnet, sticht bei Marie ihre Beharrlichkeit hervor, mit der sie den einmal eingeschlagenen, nicht primär der eigenen Entscheidung, sondern der familiären Notwendigkeit geschuldeten Lebensweg verfolgt. Damit wird sie in der Darstellung dieses Romans zu einem eher gerundeten Charakter. Während in Kindheit und Jugend noch die reichlich klischeehaften Träume vom Dasein einer Ärztin im Urwald im Zentrum stehen, gewinnt die Figur im Prozess der Reifung zunehmend an Profil, wenn der an die Wirkmächtigkeit der Literatur geknüpfte Glaube die Oberhand gewinnt.
Abschließend lässt sich anmerken, dass dem Roman ein energisches Lektorat sehr gut getan hätte, einmal, was den ausufernden Umfang betrifft, aber auch, um einer gelegentlich recht anspruchslosen Diktion abzuhelfen.

Bewertung vom 13.02.2021
Miss Bensons Reise
Joyce, Rachel

Miss Bensons Reise


weniger gut

Disparate Einzelteile - kein stimmiger Roman
Welch eine Lektüre-Enttäuschung, nachdem die Leseprobe solche Erwartungen geweckt hat! Zunächst glaubt der Leser, sich auf eine Gesellschaftsstudie der Nachkriegszeit in England einstellen zu dürfen. Margerys gutbürgerliche Herkunft, die in einem einzigen Augenblick zerstört wird, Mr. Mundics Trauma der Kriegsgefangenschaft, die verhindert, dass er sich wieder in die Gesellschaft einfügen kann, als Kontrast die Figur der Enid als vulgär gezeichnete Vertreterin der working class. So weit, so gut. Ganz unvermittelt aber schwenkt die Autorin auf einen ganz anderen Kurs um. Nachdem Margery plötzlich ihren Kindheitstraum in die Tat umsetzen will, häufen sich alberne Slapstick-Szenen, die den feinfühligen Charakterporträts diametral entgegenstehen. Übermäßig idyllisch gezeichnete Landschaftsschilderungen kollidieren mit Thrillerelementen, so dass der Handlungsfortgang unnötig in die Länge gezogen wird. Auch Enids Lebensziel, Schwangerschaft und Mutterschaft, erfahren dauernd retardierende Momente, so dass der Höhepunkt des Romans unweigerlich mit einer ziemlichen Ermüdung des Lesers zusammenfällt. Der Schluss ist nur noch als abgrundtief kitschig zu bezeichnen: Tod zweier tragender Charaktere des Romans, schwülstige Darstellung des zu guter letzt doch noch gelingenden Aufspürens des gesuchten Käfers, süßliches Idyll der neuen weiblichen Zweier-Konstellation. Eine Entscheidung für ein Genre oder eine Beschränkung auf einander ergänzende Motive hätten dem Roman gut getan, in dieser Form ist er als literarisches Gebilde weitgehend ungenießbar.

Bewertung vom 10.02.2021
Vati
Helfer, Monika

Vati


ausgezeichnet

Nähe? Ferne?
Sich dem eigenen Vater annähern zu wollen, stellt immer eine schriftstellerische Herausforderung dar, zumal, wenn der Erfahrungshintergrund dieser Figur uns Heutigen so fern gerückt ist. Kriegsteilnehmer und Kriegsversehrter, das hat, zusammen mit der sozial depravierten Herkunft, den Vater der Autorin zutiefst geprägt, und aufgrund der ähnlich determinierten Interessenlage, ihre von allen Kindern intensivste Bindung zu ihm bestimmt. Mit tiefer Einsicht und vollkommen unsentimental stellt sie dar, wie die verwehrten Bildungschancen der Herkunft und die schwere Behinderung den Vater daran hindern, seinen fundamentalen Interessen zu leben. Erschütternd, wie sie dem Leser vermittelt, wie unter diesen Umständen die Liebe des Vaters zu Büchern sich verdinglicht, diese geradezu zum Fetisch werden, so dass manche Verhaltensweisen nur als vollkommen irrational angesehen werden können. Einerseits verschafft seine genuine Verwurzelung in der Welt des Wissens dem Vater Halt, andererseits aber droht er an den Prüfungen, die das Schicksal ihm zumutet, zu zerbrechen. Beeindruckend, welcher betont schlichten, unaufgeregten Sprache sich Monika Helfer bedient, um einem Menschen, einem sozialen Milieu, einem historischen Panorama ein Denkmal zu setzen.

Bewertung vom 15.01.2021
The Great Escape

The Great Escape


ausgezeichnet

Verdammt lang her!

70 Jahre führt uns dieser Bildband in die Vergangenheit, als Seeleute noch keine Seetransportbegleiter (O-Ton meines Bootsmannsvaters) waren.

Die Auswahl der versammelten Fotos, schwarz-weiß wie auch in Farbe, demonstriert eine klug vermittelte Absicht: es sind keine professionellen Fotografien von Berufsfotografen, sondern die Ergebnisse der ambitionierten Bemühungen der Besatzungsmitglieder, die dem Betrachter einen höchst intimen und authentischen Einblick in die Lebenswirklichkeit an Bord gewähren. Dass der Zahn der Zeit wie auch die begrenzten technischen Möglichkeiten der analogen Fotografie an diesen Bildzeugnissen deutlich werden, macht den besonderen Charme aus - umso augenfälliger das gestalterische Bemühen, die ästhetischen Ansprüche der Fotografen.

Überaus abwechslungsreich die Auswahl der Sujets: da sind Seestudien, die höchst unterschiedliche „Wasserschaften“ vorstellen, Genreszenen, die das Leben an Bord dokumentieren, Impressionen von Landausflügen, damals tatsächlich noch Bestandteil des Seemannslebens, und immer wieder Schiffe, Schiffe, Schiffe. Sehr geschickt, auf Bildunterschriften zu verzichten und die erläuternden Legenden ans Ende des Bandes zu verbannen. Auf diese Weise konzentriert sich der Betrachter wirklich ganz und gar auf das Bild vor seinen Augen, und keine erklärenden oder einordnenden Infodaten ermöglichen ihm eine allzu schnelle und umfassende Einordnung. Allein die sich weitgehend an den Kontinenten orientierende Kapiteleinteilung verschafft dem Betrachter einen geschlossenen, von einer ganz bestimmten Atmosphäre geprägten, stimmigen Eindruck.

Eine wunderbare Ergänzung zu diesem vielfältigen Seh-Erlebnis der Essay „Faszination Seefahrt“ als Zwischenzäsur in der Bildauswahl, klug in den vermittelten Einsichten und durch die aufgezeigten historischen Zusammenhänge. Den Band hervorragend abrundend das sehr persönlich gehaltene Nachwort. Insgesamt: ein Bildband, der sich von der Beliebigkeit repräsentativer Coffee Table Books wohltuend absetzt!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 20.12.2020
Die neue Nebenbei-Diät
Lange, Elisabeth

Die neue Nebenbei-Diät


ausgezeichnet

Ran an den Speck!
Dass die Mehrheit von uns Wohlstandsbürgern sich getrost von ein paar Kilos verabschieden sollte, ist eine Binsenweisheit. Lebensmittelindustrie, Fitnessbranche, Gesundheitsapostel, Hausärzte lamentieren, predigen - und ... verdienen letztlich an den perpetuierten und meist vergeblichen Versuchen der frustrierten Moppelchen. Da kommt dieses Buch mit einem ungewohnten Ansatz daher: es wird nicht etwa suggeriert, dass es den einen Stein der Weisen gibt; desgleichen verzichtet es auch darauf, falsche Vorstellungen zu wecken und das Unternehmen als gänzlich mühelos darzustellen. Überzeugend ist vielmehr die Perspektive, unsere moderne Lebensführung von psychologischer Warte zu betrachten, dem Leser unmissverständlich klarzumachen, dass es um eine Neuprogrammierung alltäglicher Gewohnheiten geht. Die Fülle an medizinischem und physiologischem Hintergrundwissen, das Spektrum der Kniffe und Tricks, um eine langfristige Umorientierung zu erzielen, auch die Bandbreite an höchst unterschiedlichen, aber positiv wirkenden Lebensmitteln öffnet. Missverständlich und irreführend, dies sehr nützliche Büchlein mit dem Etikett „Diät“ zu versehen: es ist gerade keine Diät im landläufigen Sinne, die dem Leser nahegebracht und nahegelegt wird. Es gilt, seinen Lebensstil, seine Denkweise zu modifizieren, und das erreicht dieses Buch durch die Vermittlung unterschiedlichster Kenntnisse aus den Bereichen der Medizin, der Ernährungswissenschaften, der Psychologie. Dies Buch ist geeignet, in Griffweite deponiert und immer wieder zu Rate gezogen zu werden!

Bewertung vom 17.11.2020
Mr. Crane
Kollender, Andreas

Mr. Crane


ausgezeichnet

Symmetrie des Leidens
Sehr gewagt, was der Autor Andreas Kollender anstellt, um dem Leser seine Ideen zu Krieg und Leid zu verdeutlichen!
In einem zweisträngigen Erzähldurchgang, streng alternierend präsentiert, konfrontiert er seine Protagonistin, die Krankenschwester Elisabeth, in einem Abstand von 14 Jahren mit zwei Ausprägungen von Männlichkeit.
Während der TB-Patient des Jahres 1900 eine reale Gestelt des Zeitgeschehens ist, der US-amerikanische Autor Stephen Crane, kommt die fiktive Gestalt des Offiziers Bernhard Fischer zu Beginn des 1. Weltkriegs mit zwei Lungendurchschüssen in die Klinik in Badenweiler. Dieser fingiert, wie sich erst im Verlauf des Romans erweist, die damals bereits bekannten Symptome des shell shock, da er nicht gewillt ist, in den Wahnsinn des Krieges zurückzukehren, Und kommuniziert über weite Strecken allein durch seine den Schrecken wiedergebenden Zeichnungen. Welch ein Kontrast zu der fiebergeschüttelten Logorrhöe des Schriftstellers, der in wilden Bruchstücken sein Schelmenleben wiedergibt.
Diametral entgegengesetzt das Verhältnis der Schwester zu ihren beiden Patienten: eine leidenschaftliche erotische Beziehung zu dem einen, engagierte Caritas gegenüber dem zweiten.
Man muss selbst ein leidenschaftlicher Leser sein, um Menschen wie die Krankenschwester Elisabeth oder den verwundeten Offizier Fischer verstehen zu können, die beide der Erzählkunst des tatsächlich seiner Krankheit erlegenen Crane verfallen sind. Der Autor Andreas Kollender bemüht sich, uns die Not des ersten Weltkriegs zu verdeutlichen, deren Schrecken für zwei Menschen erträglich werden, indem sie sich den Werken eines Autors hingeben, der seine eigene Verzweiflung in Worte gefasst hat. Welch ein Anlass, sich einmal wieder mit Cranes Erzählungen zu beschäftigen!

Bewertung vom 27.10.2020
Unter uns das Meer
Gaige, Amity

Unter uns das Meer


sehr gut

Verschlungen
Den Titel der deutschen Übersetzung hab ich als abschreckend empfunden: klischeehaft, banal, nichtssagendend. Umso erfreulicher, wenn der Roman sich als absolut lesenswert erweist. Zuvörderst lässt er sich noch als Abenteuerroman betrachten - Junges Ehepaar mit zwei kleinen Kindern bricht Zelte hinter sich ab, um für ein Jahr durch die Karibik zu schippern. Doch unmittelbar nach Beginn der Lektüre erweist sich diese Perspektive als Trugschluss. Die Komposition aus kurzen Abschnitten aus dem vom Ehemann geführten Logbuch, die sich mit den Aufzeichnungen seiner Frau abwechseln, enthüllt ein Seelendrama. Während sich der Ehemann zunehmend von seinem Alltagsleben als eingeengt empfunden hat, was ihm den Segeltörn als Erlangen der ersehnten Freiheit erscheinen lässt, entpuppt sich seine Frau Juliet als schwer depressiv, niedergedrückt durch das Misserfolgserlebnis einer gescheiterten Dissertation und den Anforderungen der Mutterschaft. Dass unter solchen Voraussetzungen ausgerechnet ein solches Unternehmen alle Probleme lösen soll, erweist sich frühzeitig als unwahrscheinlich, zumal immer tiefere Schichten in der Befindlichkeit der beiden Protagonisten aufgedeckt werden. Äußerst geschickt, den Leser über das Ziel des Geschehens lange im Unklaren zu lassen, etwas enttäuschend, dass das Ende der Entwicklung allzu unvermittelt eintritt. Trotzdem: eine Empfehlung für die Liebhaber von Geschichten über das Segeln - und die Fans verschlungener psychologischer Romane.

Bewertung vom 22.09.2020
Der falsche Preuße / Offizier Gryszinski Bd.1
Seeburg, Uta

Der falsche Preuße / Offizier Gryszinski Bd.1


ausgezeichnet

Mit allzu breitem Pinselstrich
Was zunächst sich als eine vielversprechende Melange präsentiert, erweist sich nur allzu bald als ärgerlich. Die Grundingredienzien, ein hochrangiger Polizist in fremden Gewässern sowie eine bizarre Persönlichkeit, die den Prototyp eines Self-Made-Man der Gründerjahre abgibt, bieten eigentlich interessante und ungewöhnliche Voraussetzungen für einen anregenden historischen Kriminalroman. Doch es geht einfach mit der Autorin durch: Der im Zentrum stehende bizarre Mordfall wird erstickt in einem Wust landeskundlicher Informationen über eine deutsche Großstadt, die von jeher als schillernde Metropole gilt. Der eigentliche Schauplatz des Verbrechens dient als Bühne für eine überbordende Fabulierlust. Der Ehrgeiz, witzig und stilistisch apart zu formulieren, lässt etliche handfeste Stilblüten durchgehen. Schade, dass ein ambitionierter Entwurf in letzter Konsequenz misslingt, weil keinerlei Erzählökonomie den Stoff bändigt.

Bewertung vom 03.09.2020
Der letzte Satz
Seethaler, Robert

Der letzte Satz


sehr gut

Ein letzter Blick
Ein neuer Seethaler, diesmal nicht mit der Hauptfigur eines scheinbar bedeutungslosen Menschen wie etwa der Trafikant oder Andreas Eggers, sondern mit einer realen Persönlichkeit der vorletzten Jahrhundertwende.

Der Autor begleitet den sterbenskranken Gustav Mahler auf seiner letzten Seereise auf dem Rückweg von New York. Der uralte Topos des 'vita navigatio' kommt zur Anwendung, denn die Tage auf See lassen die Biographie des Musik-Titanen Revue passieren. Es wird deutlich, dass Siege und Niederlagen sich durchaus die Waage halten: anerkannt, respektiert, bewundert als genialer Komponist und Dirigent, aber lange Zeit angefeindet wegen seiner jüdischen Herkunft, gefangen in seiner Verfallenheit an seine Ehefrau Alma, die sich bereits zu seinen Lebzeiten von ihm abwendet, von schwächlichster physischer Konstitution, die er durch seine übermenschliche Willenskraft zu kompensieren weiß.

Die einzelnen Aspekte dieses Lebens kommen in Seethalers Roman jedoch höchst unterschiedlich zum Tragen. Während Almas dämonische Natur, in der Realität jedem Kenner der Biographie vertraut, hier nur sehr abgeschwächt, blass repräsentiert wird, sind die Darstellungen von Mahlers Schaffensrausch, die eigentümliche Umsetzung von Naturerleben in Musik, von betörender sprachlicher Intensität.

Seethaler verdeutlicht die Befindlichkeit des Komponisten durch eine Vielzahl von Symbolen. Ein altes Dirigierpult, ein Wanderstock, die fliegenden Fische, der fiktive weiße Vogel, der auf Mahlers Sterben hinweist - die Darstellung, die Beschreibung ist zumeist von bestechender Genauigkeit.

Ein weiterer Kunstgriff, der nur überzeugend genannt werden kann, ist die Gegenüberstellung des zutiefst reflektierten Musikers mit dem allein seiner spontanen Menschlichkeit verpflichteten Schiffsjungen: anders als die übrige Umwelt, die im Umgang mit Mahler von den eigenen Ansprüchen nicht Abstand nehmen wollen, ist der Junge in der Lange, dem Kranken vollkommen offen gegenüberzutreten, sich wirklich auf ihn und seine Bedürfnisse einzulassen. Durch den Schluss des Romans wird deutlich, dass diese Begegnung auf den jungen Seemann einen tiefen Eindruck hinterlassen hat.

Bewertung vom 24.08.2020
Schwarzpulver
Lichtblau, Laura

Schwarzpulver


sehr gut

Wagemutiges Debüt
Die Autorin versteht ihr Handwerk, auch wenn sie gerade nicht den perfekten Roman abliefert, der alle Leser zufrieden stellt. Aber es nimmt für Laura Lichtblau ein, wie hingebungsvoll sie sich der Gestaltung ihres Debütromans widmet.
Das beginnt schon mit der Aufstellung der drei Hauptfiguren.
Da ist einmal Burschi, das Landei, ein bayrisches Urviech, das mit männlich konnotiertem Kosenamen seinen Weg durch die kalte Hauptstadt eines nicht nur temperaturmäßig kalten Deutschland sucht. Ihre abweichende sexuelle Orientierung macht sie in diesem normengläubigen, - ja -hörigen Land von vornherein verdächtig. Diesem Solitär von Protagonistin gegenübergestellt ist das symbiotisch verbandelte Mutter-und-Sohn-Gespann Charlotte und Charlie, deren Namensgleichklang ungutes Zeugnis ablegt von der ungesunden Bindung, die die Mutter um jeden Preis aufrecht zu erhalten sucht, während der Sohn sein Heil in neuen sozialen Bezügen zu finden hofft.
Zweites Indiz für Lichtblaus Könnerschaft ist ihre Gestaltung des Schauplatzes. Ganz allmählich nur entpuppt sich Berlin als Szenario eines autokratisch geführten Staatsgebildes, rechts und faschistisch, bejaht und unterstützt von Bürgern, die offenkundig ihren Glauben an Freiheit und Demokratie verloren haben. Symptomatisch für dieses System ist die von Lichtblau erdachte Institution der militanten Bürgerwehr, aus deren Fängen sich die Scharfschützin Charlotte nur durch die Flucht in die Paranoia zu befreien vermag.
Ein drittes Moment für das von der Autorin inszenierte Vexierspiel ist die Wahl der Zeit, in der die Ereignisse des Romans ablaufen. Es sind die Rauhnächte, die Twelfth Night zwischen Weihnachten und Epiphanias, im Volksglauben eine Zeit der Magie, des Ungeheuren, des Bedrohlichen, die aber die Hauptfiguren gleichsam in einen Kokon einspinnt, in dem jede einzelne Figur Gewissheit über sein Außenseitertum in dieser totalitären Gesellschaft erlangt.
Ihren ganz persönlichen Stempel drückt die Autorin ihrem Werk durch ihre Sprachgestaltung auf. So fallen einmal die ungemein poetischen Formulierungen ins Auge, gelegentlich übermäßig gesucht und überzogen, doch immer eigenständig und originell. Lichtblaus Darstellung erhält so einen unwirklichen, geradezu märchenhaften Ton. Dagegen kontrastiert eine klare knappe Begrifflichkeit, wenn die Mechanismen dieses Staatswesens gekennzeichnet werden. Und zu guter letzt brilliert sie mit einem ungeheuren Witz, einer erfrischenden Schnoddrigkeit, die sie ihren Figuren in den Mund legt.
Laura Lichtblau legt mit „Schwarzpulver“ ein vielversprechendere, facettenreiches Debüt vor, dessen begrenzter Umfang den Leser nie ermüdet, sondern kaleidoskopartig einen ersten Eindruck von den Talenten dieser Autorin vermittelt