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Batyr
Wohnort: 
Ahrensburg

Bewertungen

Insgesamt 90 Bewertungen
Bewertung vom 24.07.2020
Die Marschallin
Del Buono, Zora;Del Buono, Zora

Die Marschallin


gut

Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert - im Roman
Zora del Buono legt mit ihrem letzten Werk einen eigenartigen literarischen Zwitter vor, der dem Leser vielfältige Bemühungen bei der Lektüre abverlangt. Zunächst erscheint das Buch als Familienroman von der tumultuösen südeuropäischen Provenienz. Die handelnden Personen sind zahlreich, ihre Beziehungen zueinander verschlungen, die Aufstellung der auftretenden Figuren am Anfang des Buches hilfreich.
Sodann präsentiert sich der Roman als Frauenportrait, die Autorin will ihrer Großmutter, deren Namen sie sogar trägt, ein Denkmal setzen. Doch dieses Unternehmen ist nur bedingt erfolgreich. Zwar werden dieser Frau eindrückliche, auch durchaus kontrovers einzuschätzende Charakterzüge zugeschrieben, aber die Eigenwilligkeit Zoras, ihr Durchsetzungsvermögen und ihr gänzlicher Unwille, Kompromisse einzugehen, werden allenfalls nur behauptet. Die stilistische Gestaltung dieses Romans zeichnet sich durch äußerste Nüchternheit aus, eine so unbeteiligt wirkende Sprache ist nicht geeignet, psychische Entwicklungen, seelische Dispositionen zu verdeutlichen. Höchst unvermittelt schwenkt der Roman kurz vor Schluss noch ins Krimigenre ab. Die Heldin wird mittelbar in einen Raubüberfall verwickelt, der als Begründung herhalten muss, dass von dem Augenblick das Schicksal der Heldin und ihrer Familie sich zur Tragödie wandelt. Aber diese Wendung ist ohne jede Balance in das Geschehen eingefügt. Aus heiterem Himmel sieht sich der Leser mit dem Verbrechen konfrontiert, und die Konsequenzen präsentieren sich als eine Schlag auf Schlag ablaufende Abfolge von Unglücksfällen, die die Zahl der auftretenden Personen drastisch reduziert. Bei entsprechender Gemütslage kann dieser Teil auch als unfreiwillig komisch empfunden werden (mir kam beim Lesen spontan Georg Kreislers Opernboogie in den Sinn: ... und stirbt ... und stirbt ...)
Umso frappierender, wenn der letzte Abschnitt, aus der Perspektive der alten, kranken, gänzlich verarmten Frau erzählt, zutiefst anrührend, sprachlich dicht, durch den inneren Monolog außerordentlich authentisch daherkommt.
Der nächste Aspekt, den dieser Roman bedient, ist der Ausschnitt südeuropäischer Geschichte im 20. Jahrhundert, die den meisten Lesern in dieser Ausführlichkeit weitgehend unbekannt sein dürfte. Die Abfolge historischer Ereignisse, in die die Hauptfigur Zora verwickelt ist, lässt sich nur als rasant bezeichnen: die unterprivilegierte Stellung der nationalen Minderheit der Slowenen, der Triumph des Aufstiegs des italienischen Faschismus, der Kampf um die kommunistische Vorherrschaft nach dem Ende des 2. Weltkriegs - dieses politische Panorama zeichnet ein informatives und farbiges Bild. Doch wenn die Kapitelüberschriften mit geographischer Angabe und Jahreszahl eine erste Orientierung ermöglichen, eine Landkarte und eine Zeittafel wären gewiss von den Lesern begrüßt worden.
Und letztlich vermittelt del Buonos Roman einen Einblick in einen Ausschnitt der Sozialgeschichte, da es etwa in Italien kein Problem darstellt, einerseits Mitglied einer großbürgerlichen privilegierten Oberschicht zu sein, andererseits aber sich glühend für den Kommunismus einzusetzen.
So stellt diese Neuerscheinung denn eine durchaus lohnende, weil anregende Lektüre dar, aber keinesfalls einen exorbitanten literarischen Wurf, der lange im Gedächtnis haften könnte.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 23.06.2020
Kostbare Tage
Haruf, Kent

Kostbare Tage


ausgezeichnet

Eine Kleinstadt - eine Welt
Ein Kaff am Ende der Welt. Eine Handvoll Bewohner, deren Leben von außen betrachtet vollkommen unspektakulär verläuft. Im Zentrum der alte Dad Lewis, dessen Tage auf Erden gezählt sind, aber gehalten, umsorgt, nicht allein gelassen von den Menschen seiner Umgebung. Die kurzen Episoden, die dem Leser in einer lakonischen Sprache erzählt werden, vermitteln die Erkenntnis, dass ein jedes Schicksal einzigartig ist, dass ein jedes Individuum seine Hoffnung auf Glück im Herzen trägt. Und doch beansprucht das Unglück in ganz unterschiedlicher Gestalt seinen Platz im Lebenslauf eines jeden Einzelnen. Der amerikanische Kleinstadtroman - eine große literarische Tradition, und Kent Haruf ein zeitgenössischer Autor, der dieser Gattung seinen unvergesslichen Stempel aufdrückt.

Bewertung vom 25.03.2020
Offene See
Myers, Benjamin

Offene See


sehr gut

Heimatliebe

Benjamin Myers reiht sich ein in die breite literarische Tradition, die englische Autoren ihrer tiefen Verbundenheit mit der Heimat Ausdruck verleihen lässt. ‚Cider with Rosie‘ von Laurie Lee oder Carrs erst vor kurzem wiederentdecktes ‚A Month in the Country‘ bieten literarische Beispiele, an denen sich diese Neuerscheinung zweifellos orientiert.
Die Liebe zu der Natur Nordenglands, das nagende Trauma des gerade erst beendeten Krieges, die faszinierte Erkundung aller Möglichkeiten, die Sprache eröffnet - das sind die Bestandteile, aus denen der Autor die polyphone Sinfonie seines Romans komponiert. Sprachmächtig, bildmächtig, aber von einem unbestimmten Grauen vorwärtsgetrieben, hören wir seinem Singen und Sagen zu: die Folgen eines inhumanes Krieges immer noch vor Augen, die Furcht vor dem scheinbar vorgezeichnetem Leben im Bergwerk im Herzen, der Triumph, vermittels der Sprache Erlebtes und Erdachtes für sich und andere erlebbar, ergreifbar zu machen: das sind die Komponenten, die dem Leser ein außergewöhnliches Lektüreerlebnis versprechen.
Allerdings darf nicht verschwiegen werden, dass der Autor gelegentlich über das Ziel hinausschießt. Allzu gewollt poetisch gestaltet er seine Diktion, etwas stereotyp verbalisiert er wieder und wieder seinen Abscheu gegenüber dem gerade erst beendeten Weltkrieg. Übermäßig pointiert fällt das Porträt der zum Dozieren neigenden Dulcie aus. Auch Anachronismen unterlaufen dem Autor gelegentlich: das moderne Wort ‚Genpool‘ KANN nicht im Wortschatz eines Bergarbeitersohns im Jahr 1946 enthalten sein.
Trotzdem soll dieser neue Roman dem deutschen Leser empfohlen sein, der eine Vorstellung vom Rauchen Charme der Landschaft von Yorkshire gewinnen möchte.

Bewertung vom 21.03.2020
Miracle Creek
Kim, Angie

Miracle Creek


sehr gut

Schnitzeljagd, Puzzle, Labyrinth

Toll gemacht, auch wenn die Ausgangsidee nicht neu ist: ein Ereignis integriert jedes beteiligte Individuum in ein unsagbar kompliziertes Geflecht von Beziehungen.
Involviertheit, Abhängigkeit, Schuld, nur drei Determinanten, die den Leser atemlos in diesen Mikrokosmos einer amerikanischen Kleinstadt eintauchen lassen.
Von Kapitel zu Kapitel, jedesmal aus einem anderen Blickwinkel dem Geschehen folgend, zwingt die Lektüre beständig, als wahr erachtete Positionen zu revidieren. Jedes Mosaiksteinchen verändert kontinuierlich das Bild der Kleinstadtidylle, die für immer zerstört ist.
Dieses literarische Debüt wird in dem Genre des Gerichtsromans einen ehrenvollen Platz einnehmen: ein ausgefeilter Plot, eine beständig sich steigernde Spannung, eine Charakterzeichnung, die nicht eindeutig die Figuren nach gut und böse sortiert, sondern oszillierende Portraits schwankender, getriebener, dem Schicksal ausgelieferter Menschen bietet, sorgen für ein ausgesprochenes Lesevergnügen, bei dem der Leser begeistert an der literarischen Schnitzeljagd teilnimmt, das Puzzle zu vervollständigen sucht, seinen Weg durch das Labyrinth zu finden hofft!

Bewertung vom 01.03.2020
1 Brot - 50 Aufstriche
Seifried, Marco

1 Brot - 50 Aufstriche


gut

Für Fans

Wie wahr: das belegte Brot, das Sandwich, die Stulle, das ist ein Grundbestandteil kulinarischer Existenz in Deutschland. Zugegeben: obwohl das Angebot an fertigem Belag, in vielerlei Supermärkten feilgeboten, in den letzten Jahren erheblich erweitert wurde, beschränkt sich die Auswahl doch weitgehend auf die bewährten Grundpfeiler: Wurst und Schinken, verschiedenste Käsesorten, Feinkostsalate, rustikale Aufstriche wie Butter oder Schmalz, allerlei Süßes. Da kommt der GU-Titel „1 Brot- 50 Aufstriche“ wie gerufen, wenn die Lust auf Abwechslung sich paart mit Küchenkreativität. Die knappe Kategorisierung in Aufstriche mit Bestandteilen tierischen Ursprungs, vegetarischen Charakters und der nicht zu unterschätzenden Beliebtheit von süßen Variationen gestattet dem Nutzer dieses Büchleins eine gezielte Auswahl. Doch sollte man sich nicht täuschen - sooo einfach, wie der Band suggeriert, ist die Herstellung der Köstlichkeiten doch nicht, eine gewisse Fingerfertigkeit wird doch verlangt. Weiterer Aspekt: notwendigerweise ist das Ergebnis immer eine recht ordentlich dimensionierte Portion. Erstrebenswert, wenn die Beköstigung einer größeren Zahl von Gästen oder Vereinsmitgliedern, Kollegen ansteht. Aber ein Single, vermutlich sogar ein Zwei-Personen-Haushalt dürfte sich der Notwendigkeit, sich über Tage hinweg über den stattlichen Vorrat des Aufstrichs im Kühlschrank hermachen zu müssen, nur mit reduzierter Begeisterung beugen.

Bewertung vom 16.01.2020
Eine fast perfekte Welt
Agus, Milena

Eine fast perfekte Welt


gut

Nur ein Entwurf
Milena Agus‘ gerade einmal 200 Seiten starker Roman lässt den Leser ziemlich ratlos zurück. Einerseits bietet er kurze, prägnante Szenen, die die rauhe, archetypische Lebenswelt Sardiniens wuchtig und eindringlich vor Augen stellen. Die lapidare Schilderung des Selbstmordes von Esters Sohn ist hierfür ein treffendes Beispiel. Andererseits bietet der geringe Umfang nicht den nötigen Raum, Figuren wirklich psychologisch schlüssig zu entwickeln. Die zahlreichen Charaktere bleiben skizzenhaft, sind häufig nur Sprachrohr für die unterschiedlichsten Standpunkte der Autorin. Gerade zum Schluss hin verkommt der Text zu einer probaten Stichwortsammlung von allerlei dem Zeitgeist geschuldeten Einstellungen und Meinungen. Sprachlich wirkt der Roman unfertig, kaum über einen ersten Entwurf hinausgelangend. Alles in allem ein eher enttäuschendes Leseerlebnis, zumal die italienische Literatur ansonsten viele Beispiele packender Gestaltungskraft bereithält.

Bewertung vom 24.12.2019
Brot backen
Weber, Anne-Katrin

Brot backen


ausgezeichnet

Unser täglich Brot ...
Deutschland, Brotland! Das ist gängige Überzeugung. Eines besseren wird belehrt, wer Brot tatsächlich als Grundnahrungsmittel betrachtet. Entweder ein Vermögen für zugegeben schmackhaftes Bäckerbrot ausgeben, oder beim Discounter mit Pappmaché abgespeist werden. Selber backen ist das Geheimrezept gegen den Frust, und dieses Büchlein der perfekte Weg, vom Einsteiger zum Eigenbrötler zu werden. Erstes großes Plus: der Neuling wird nicht gleich erschlagen mit der ganzen Vielfalt der Möglichkeiten. Die drei angebotenen Kategorien sind genug, den täglichen Speiseplan abwechslungsreich zu gestalten: Hefebrote sind vergleichsweise einfach zubereitet, das Backen mit Sauerteig stellt im Vergleich dazu bereits eine kleine Herausforderung dar, und Brötchen und süße Brote vermögen dem Leben Glanzlichter aufzusetzen. Prima Idee: die informativen Buchklappen! Grundregeln für die Teigherstellung, sinnvolles, keinesfalls überkandideltes Handwerkszeug, ein Überblick über unterschiedliche Mehlsorten, verschiedene Geschmackskombinationen - ein Handgriff, und ohne wildes Blättern stehen die Basisinformationen zur Verfügung. Sehr pfiffig die Verlinkung von Gutenberg-Galaxie und Netztechnologie: auch die junge Generation wird verführt, dieser alten Kulturtechnik des Brotbackens ein Platz im Alltagsleben einzuräumen.

Bewertung vom 15.12.2019
Kartoffeln kreativ
Pfannebecker, Inga

Kartoffeln kreativ


ausgezeichnet

Tolle Knolle
Kartoffeln, ein großartiges Grundnahrungsmittel - deutscher geht‘s wirklich nicht! Dass diese tolle Knolle sehr häufig ein Schattendasein auf unserem Speiseplan spielt, ist vollkommen ungerechtfertigt, wie dieses alltagstaugliche kleine Kochbuch beweist. Traditionelle Nahrungsmittel können neu und überraschend interpretiert werden, dieser GU-Titel macht es deutlich. Prima Idee: die informativen Buchklappen! Grundregeln für’s Garen der Kartoffeln, sinnvolles, keinesfalls überkandideltes Handwerkszeug, Sortenkunde, verschiedene Kombinationsmöglichkeiten - ein Handgriff, und ohne wildes Blättern stehen die Basisinformationen zur Verfügung. Sehr pfiffig die Kapiteleinteilung: Topf, Pfanne, Schüssel, Ofen - diese Kategorien liefern eine erste Orientierung und erleichtern die Entscheidung für ein Rezept erheblich. Es kommt also auf einen Versuch an, diesem Eckpfeiler unserer deutschen Küche einmal wieder eine Chance zu geben: Verschafft uns eine schmackhafte Kartoffelmahlzeit nicht ein wohliges Gefühl der Sättigung? Andere Rezepte bieten Pep und Raffinesse und bieten gegenüber den ebenfalls ins Bewusstsein gerückten Klassikern eine willkommene Abwechslung. Es ist also wirklich für jeden Geschmack etwas dabei, ohne dass Zutaten und Zubereitung unüberwindliche Hürden darstellen.

Bewertung vom 17.11.2019
Alles, was wir sind
Prescott, Lara

Alles, was wir sind


sehr gut

Polit-Thriller

Doktor Schiwago, wie der Titel von Pasternaks Hauptwerk in der deutschen Übersetzung lautet, ist als Buch ein Welterfolg, moderne Weltliteratur, ergreifend, spannend, ein historisches Panorama aus der Zeit der Revolution, als Film ein Klassiker der Cineasten. Der jungen Autorin Lara Prescott ist es zu danken, dass der Blick jetzt auch auf die Hintergründe der Veröffentlichung gelenkt wird. Mehrere Aspekte kommen in ihrem Debütroman zum Tragen: mehrere Liebesgeschichten sind mit dem Geschehen verwoben, am ergreifendsten die Beziehung zwischen dem Dichter Psternak und seiner langjährigen Geliebten. Daneben erhält der Leser Einblick in Willkür und Terror des Sowjet-Regimes. Millieuschilderungen aus verschiedenen Lebensbereichen diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs bereichern das Bild. Doch atemlos macht die Lektüre des Polit-Thrillers, der letztlich auch zur Verbreitung von Pasternaks Werk im Land seiner Entstehung führte. Schon der Auftakt ein Meisterstück: ein geschickt komponierter Romananfang, aufgebaut in strengem Antagonismus, in Nuancen der Verschiebung. Die beiden Schauplätze jeweils in den Hauptstädten der beiden Großmächte lokalisiert, Washington und Moskau. Die Atmosphäre in beiden Kapiteln aufgeladen durch die Ansiedelung im Geheimdienstmilieu. Zwei weibliche Personen, die nurmehr Atome der Bedeutungslosigkeit repräsentieren, austauschbare Schreibkraft die eine, Opfer des Systems die andere, die im gefürchteten Labyrinth der Lublianka verschwindet, der Willkür des Verhörs ausgeliefert. Ärgerlich nur der eher dümmlich-nichtssagende deutsche Titel - der lässt eher eine anspruchslose Schmonzette vermuten!

Bewertung vom 27.10.2019
Die Ewigkeit in einem Glas
Kidd, Jess

Die Ewigkeit in einem Glas


ausgezeichnet

Viktorianischer Schauerroman - parodiert
Was für eine vergnügliche Melange: das schauerliche London des 19. Jahrhunderts mit Laster und Schmutz, eine gute Portion Spannung, die aus Bridies - Verzeihung, Mrs. Devines - beruflicher Tätigkeit erwächst, da sind die Figuren, die allesamt einem Tollhaus entsprungen scheinen, da ist dieser kräftige Hauch des Mysteriösen, Übersinnlichen, verkörpert durch das unirdische kleine Mädchen. Großartig, wie Jess Kidd den Erzählfaden immer wieder neu verwirbelt. Die Zeitsprünge erzeugen einen stringenten Spannungsbogen, der das Handlungsgefüge kontinuierlich vervollständigt. Behaglich-abstrus-pittoresk-verquere Lektürestunden erwarten den Leser. Lustvoll spielt die Autorin mit allen Versatzstücken, die uns aus dem originalen Schauerroman des Viktorianischen Zeitalters vertraut sind, und parodiert das Genre meisterlich!