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gst
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pirna

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Insgesamt 201 Bewertungen
Bewertung vom 23.02.2022
Die dritte Hälfte eines Lebens
Herzig, Anna

Die dritte Hälfte eines Lebens


ausgezeichnet

Verwirrspiel hoch drei

„Der Hängende, der Unerwünschte und der Vertriebene. In gewissen österreichischen Gemeinden ist das oft ein und dieselbe Person.“ (Seite 11)

„Wenn es darum geht, Spielgefährten zu finden, scheint Krimmwing mit einem Schlag nur mehr aus Erwachsenen zu bestehen.“ (Seite 39)

Leicht hatte es der Seppi, die eigentliche Hauptperson dieses kurzen Romans, nicht. Ebenso wie andere, die in dem beschriebenen Dorf ihre Schwierigkeiten hatten, weil sie nicht der Norm entsprachen. Spotartig beleuchtet die Autorin die unterschiedlichen Charaktere. Wie überall gibt es in Krimmwing schlagkräftige und friedfertige Leute, sowie einfühlsame und ausgrenzende.
Anna Herzig (1987 als Tochter eines Ägypters und einer Kanadierin in Wien geboren) erzählt im ersten Teil „Was man gehört hat“ und im zweiten „Was die Leute sagen“. Wie so oft wissen die anderen oft mehr als die Betroffenen selbst. Insofern beschreibt sie die Dorfbewohner recht treffend.
Was mir allerdings gar nicht gefiel, ist das Verwirrspiel zu Beginn der zweiten Hälfte. Da wusste ich oft nicht, um wen es gerade ging. Da fiel es mir schwer Zusammenhänge zum ersten Teil (den ich gar nicht schlecht fand) herzustellen, was mir den Lesegenuss vergällte. Für meinen Geschmack hat die Autorin die Aussagen hier zu sehr reduziert. Erst das Ende kommt wieder versöhnlich daher und mildert das Durcheinander etwas ab.

„Irgendwann findet man sich wieder. Beim Psychiater vielleicht, der einem beipflichtet, dass es kühl geworden sei da draußen. Eine erkrankte Gesellschaft, die in ihrer fieberdurchtränkten Hilflosigkeit dorthin treibt, wo sie es am wenigsten spürt.“ (Seite 126).

Fazit: Ein Buch, das erst beim zweiten Lesen seine Kraft entfaltet. Das wäre zwar dank der Kürze möglich, verringert allerdings sehr den ersten Lesegenuss. Ich habe erst beim Schreiben dieser Besprechung Gefallen am Buch gefunden, doch das ist mir zu wenig. Von mir erhält es zweieinhalb Sterne.

Bewertung vom 13.02.2022
Gala und Dalí - Die Unzertrennlichen / Berühmte Paare - große Geschichten Bd.1
Frank, Sylvia

Gala und Dalí - Die Unzertrennlichen / Berühmte Paare - große Geschichten Bd.1


ausgezeichnet

Die Anfänge eines Künstlers

Salvador Dalí ist wohl jedem ein Begriff. Doch was weiß Otto Normalverbraucher schon über den Künstler, dessen Bilder er vielleicht noch zuordnen kann?

Das Autorenehepaar Sylvia Vandermeer und Frank Meierewert hat sich unter dem Pseudonym Sylvia Frank in einem biografischen Roman den Anfängen Dalís Künstlerlaufbahn angenähert.
Darin bekommt das Kennenlernen von Gala im spanischen Fischerort Cadaque viel Raum. In blumigen Worten wird die Gegend mit ihren Bräuchen beschrieben, so dass man Lust bekommt, selbst dorthin zu reisen.
Die Leser erfahren von Galas Unzufriedenheit in ihrer Ehe mit dem Dichter Paul Èlouard, die die Annäherung der beiden überhaupt erst ermöglichte. Die Widrigkeiten der Beziehung werden deutlich herausgearbeitet, ehe es zu einer Vereinigung von Gala und Dalí kommt. Leicht ist deren gemeinsames Leben nicht. Gala kümmert sich als Dalís Managerin um das finanzielle Überleben und bemüht sich, Dalís exzentrisches Verhalten in Schach zu halten. Bis dann endlich der Durchbruch geschafft ist.

Mit diesem Buch hat der Aufbau-Verlag eine neue Reihe über berühmte Paar begonnen. Im Gegensatz zu so mancher schwer zugänglichen Biografie ist dieser Roman leicht lesbar und gibt Einblick in den Beginn von Dalís Künstlerlaufbahn. Sicher bleibt manches an der Oberfläche, aber schon der Titel sagt, dass die Beziehung zwischen ihm und seiner Muse im Vordergrund steht.

Ich bin durch dieses Buch neugierig auf eine Biografie von Gala geworden und finde es nach deren Lektüre schade, dass die Autoren dieses Romans in den Anfängen hängen geblieben sind. Galas Charakter ist zwar gut wiedergegeben, doch das lange Zusammenleben der beiden hätte noch viel mehr hergegeben. Zum Neugierigmachen genügt dieses Buch, aber nicht, um ein ganzes Leben abzubilden.

Fazit: Ein netter, aufwendig recherchierter Roman, der sich gut lesen lässt, aber nicht in die Tiefe geht.

Bewertung vom 26.01.2022
Milch Blut Hitze
Moniz, Dantiel W.

Milch Blut Hitze


ausgezeichnet

Elf Kurzgeschichten die es in sich haben

Diese Storys sind ein wahres Feuerwerk, wie schon das Cover vermuten lässt. Was die Autorin für ihr Debüt zusammengetragen hat, geht unter die Haut. Die 1989 in Jacksonville/Florida geborene Dantiel W.Monitz beobachtet genau und lässt ihre Protagonisten von innen heraus agieren. So kann sie sich jeden Kommentar ersparen und den Leser unmittelbar an den Ereignissen teilhaben lassen.

Selten bin ich so in andere Menschen hineingestoßen worden. Das führte beim Lesen teilweise zu kräftigem Herzklopfen. Pausen waren angebracht, um das Gelesene zu verdauen. Leider ist der Blick vor allem auf die Schattenseiten des Lebens gerichtet. Da wird von Kiera berichtet, die ihren Traum vom Fliegen mit dem Leben bezahlt; von einem geschändeten Mädchen und seiner Rache; von Fred, der nach und nach alles verlor: Seine krebskranke Frau, sein Geld, seinen Buick, seine Angebetete und seine Stärke. Monitz erzählt von Kindern, die aus unterschiedlichen Gründen bei den Großeltern aufwachsen und von einer Mutter, die sich fragt, ob sie Ihr Kind tatsächlich zur Welt bringen soll.

Die Storys sind zwischen 4 und 30 Seiten lang und beleuchten in wenigen Worten alles Wichtige. Jedes Bild spricht für sich. Dabei wird vieles nur angedeutet und tritt trotzdem klar hervor, was bei mir ein beklemmendes Gefühl hinterließ.

Fazit: Von dieser talentierten jungen Autorin werden wir hoffentlich noch öfter hören und lesen.

Bewertung vom 24.01.2022
Der Erinnerungsfälscher
Khider, Abbas

Der Erinnerungsfälscher


sehr gut

Probleme zwischen zwei Kulturen

Said Al-Wahid ist über Umwege vom Irak nach Deutschland gekommen. Obwohl er hier schon seit vielen Jahren lebt, traut er dieser Welt immer noch nicht. Er hat inzwischen in Deutschland studiert und wurde als Buchautor von Berlin nach Mainz zu einer Podiumsdiskussion eingeladen. Auf dem Rückweg erfährt er durch den Anruf seines Bruders, dass die Mutter im Sterben liegt. Da er seinen Reisepass immer dabei hat, macht er sich sofort auf den Weg nach Bagdad. Während er auf den Flug wartet, gehen ihm tausend Erinnerungen durch den Kopf.

Als Leser erfahren wir von schrecklichen Zuständen auf den Behörden, die sich sehr schwer getan haben, ihn einzubürgern und ihm einen Reisepass auszustellen. Die Unsicherheit von Said ist trotz positiver äußerer Umstände deutlich zu spüren. Er fühlt sich wie „ein verstecktes Ich und ein sichtbares Ich, die unvereinbar sind, aber dasselbe Schicksal teilen müssen“ (Seite 29).

Hier werden emotionslos Tatsachen erzählt, die meinen Blutdruck vor Entsetzen in die Höhe schnellen ließen. Er selbst weiß oft nicht mehr, ob seine Erinnerungen an sein früheres Leben wahr sind oder erträumt. Aus diesem Grund meint er auf Seite 122: „Vermutlich ist das Vergessen das beste Heilmittel gegen Falten und Haarausfall.“

Abbas Khider kam 1973 in Bagdad zur Welt. Mit 19 Jahren wurde er wegen seiner politischen Aktivitäten verhaftet. Nach der Entlassung floh er aus dem Irak und hielt sich in verschiedenen Länder auf. Seit 2000 lebt er in Deutschland, wo er Literatur und Philosophie studierte. Inzwischen hat er zahlreiche Auszeichnungen für sein Schaffen erhalten.

Wer diesen, seinen fünften Roman liest, merkt schnell, dass viele Teile auf eigenes Erleben des Autoren zurückzuführen sind. Leider hat er es nicht geschafft, mich bis zum Ende gefangen zu nehmen. Während mich der Beginn in Deutschland noch stark erregte, blieb mir die Welt seiner Heimat fern. Trotzdem finde ich, dass jeder dieses Buch lesen sollte, um sich eine Vorstellung davon zu machen, wie schwierig das Leben als Immigrant ist.

Bewertung vom 21.01.2022
C.S. Lewis - Ein Leben in Briefen
Müller, Titus

C.S. Lewis - Ein Leben in Briefen


ausgezeichnet

Sehr lesenswerte, aber anstrengende Lektüre

„Was ist das Besondere an C.S.Lewis? Die gründliche Art zu argumentieren? Der Humor? Die Leidenschaft, mit der er sich Themen widmet?“, fragt Titus Müller, der Herausgeber dieses Buches, in seinem Vorwort. Er verheimlicht nicht die Bewunderung für den Autor der Narnia-Chroniken, der sich vom Atheisten zum gläubigen Christen entwickelt hat. Als Müller auf drei dicke Bände mit Briefen von C.S.Lewis stieß, genoss er diese „wie ein Dessert in kleinen Portionen“ und suchte aus über dreitausend Briefen die schönsten heraus.

Genau so habe auch ich mich an das Buch heran gewagt und dabei viel über und von Lewis, der mit Jack unterschreibt, erfahren. Doch bevor ich mich an Zitate wage, möchte ich noch auf den Aufbau des Buches eingehen.
Nach dem Vorwort sind die Lebensstationen von C.S.Lewis (*29.11.1989 im nordirischen Belfast; + 22.11.1963 im englischen Oxford) zusammengefasst. Wir erfahren, dass der christlich erzogene Junge nach dem Tod seiner Mutter (er war damals 10 Jahre alt) nichts mehr mit Gott zu tun haben wollte, weil der seine Gebete nicht erhört hatte. Heute gilt er jedoch als einer der bedeutendsten christlichen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.
In seinen Briefen ist der Wandel zwar herauslesbar, jedoch nicht der Zeitpunkt, zu dem er sich wieder dem Glauben zuwendete. Schon in jungen Jahren entpuppte er sich als außerordentlich intelligent und warmherzig. Er dachte über so vieles nach, liebte Bücher über alles und führte einen regen Briefverkehr mit Vater, Bruder, Freunden und Schriftstellern (unter anderem Tolkien). Dabei ging es nicht immer hochintelligent zu, sondern es wurde auch das tägliche Befinden angesprochen:

„Die Wahrheit ist, ich bin viele Dinge leid: das Wetter, die Arbeit, Lesen, Schreiben, vor allem die Nachrichten. Mit anderen Worten – ich bin verschnupft“ (Seite 107)

„Die große Schönheit dicker Bücher ist die: Egal, wie oft man sie liest, es gibt immer große Teile, die man vergessen hatte“

schrieb er, nachdem er Krieg und Frieden zum zweiten Mal gelesen hatte. (Seite 163)
Die letzten 30 Seiten des Buches sind dem Anhang gewidmet. Der enthält neben vielen Anmerkungen auch Kurzbiografien zu seinen Briefpartnern.

Dies ist eines der Bücher, die man sich erarbeiten muss, in dem es sich lohnt, viel hin- und herzublättern. Mir hat es Freude bereitet, mich näher mit dem Innenleben von C.S.Lewis zu beschäftigen. Zudem bin ich neugierig geworden auf seine Bücher, von denen ich zwar schon einige, aber noch lange nicht alle kenne.


Fazit: Dies ist kein Buch zum schnellen Durchlesen. Man benötigt Zeit, um die Briefe auf sich wirken zu lassen. Auch wenn mir nicht jeder Gedanke nachvollziehbar war, so habe ich persönlich von dieser Lektüre durchaus profitiert. Danke, Titus Müller, für die Zusammenstellung dieser erbaulichen Lektüre, die ich voller Überzeugung weiterempfehle.

Bewertung vom 10.12.2021
Und dann kam Gott
George, Carolin

Und dann kam Gott


ausgezeichnet

Die späte Liebe

„Sich mit 42 konfirmieren lassen? Ja, warum das denn?“, fragt sich die geneigte Leserin beim Blick auf diesen Titel. Die Frau, die sich auf dem Cover zeigt, wirkt natürlich und ehrlich. Genauso kommt auch das herüber, was sie geschrieben hat.

Als Jugendliche wehrte sie sich gegen die Konfirmation, weil ein Pastor ihr Verhaltensregeln aufzwingen wollte. Glaube bedeutete ihr nichts, bis sie als Journalistin die Aufgabe übernahm, über Kirchen zu schreiben. Die musste sie natürlich zuerst besuchen. Dabei entdeckte sie eine Ruhe, die sie in ihrem Leben so bisher nicht kannte. Sie begann Gottesdienste zu besuchen und genoss die Auszeiten, die sich ihr damit boten.

In einer Gesellschaft, in der Glaube Privatsache und fast ein bisschen peinlich ist, ist so ein Buch etwas besonderes. Es lässt sich nicht nur gut lesen, sondern spiegelt auch persönliche Erfahrungen wider, wie sich in der Leserunde zeigte, in der ich dieses Buch kennenlernen durfte.

Sehr gut hat mir gefallen, wie die Autorin ihre Gefühle im und zum Gottesdienst beschreibt und die Kirche meist innerlich gestärkt und erneuert wieder verlässt. Dieses Buch spricht Gefühle an, die im Alltag allzu oft keine Beachtung finden.


Carolin George, 1976 in Hamburg geboren, studierte Angewandte Kulturwissenschaften und arbeitet als freie Journalistin und Autorin, u.a. für WELTN24. Mit ihrem Artikel „Gott, meine späte Liebe. Warum ich Glaube nie brauchte und mich mit 42 konfirmieren ließ“ erregte sie in der Zeitung DIE WELT Aufsehen.

Bewertung vom 09.12.2021
Zweimal im Leben
Empson, Clare

Zweimal im Leben


ausgezeichnet

Liebesdrama mit Spannungselementen

Catherine, Mutter von zwei Kindern, befindet sich in der Psychiatrie, weil sie ihre Stimme verloren hat. Täglich wird sie von ihrem Mann und häufig von ihrer Freundin und den Kindern besucht. Sie wird geliebt, ganz klar. Doch was hat ihr die Stimme geraubt?

Vor 15 Jahren hatte sie sich in Lucian verliebt, ihn aber nach kurzer Zeit wieder verlassen, um ihren heutigen Mann Sam zu heiraten. Doch vergessen hat sie ihre große Liebe nicht. Das wird in ihren Erinnerungen deutlich. Auch er denkt immer noch an sie – ohne zu ahnen, warum sie sich von ihm abgewendet hat. Vor vier Monaten begegneten sie sich erneut und es geschah etwas Ungeheuerliches, was sie völlig aus der Bahn warf.

Clare Empson ist Journalistin und arbeitete für überregionale Zeitungen, für die sie so ziemlich über alles berichtete. Die Mutter von drei Kindern zog vor acht Jahren mit ihrem Mann aufs englische Land und ließ sich von der Idylle zu ihrem ersten Roman inspirieren, der die dunkle Seite des Paradieses beschreibt.

Sehr gefallen hat mir der Aufbau mit dem Wechsel zwischen früher und heute. Dadurch entsteht bis zum Schluss eine Spannung, die mich immer weiterlesen ließ. Zu gern wollte ich wissen, warum Catherine ihre große Liebe verließ und immer noch Sehnsucht nach Lucian hat. Irritiert hat mich allerdings, dass beide in Ich-Form erzählen. Wer zu Wort kommt ist zwar zu Beginn des Kapitels vermerkt, aber so im Lesefluss habe ich das erst viel später entdeckt. Was mir weniger gefiel – obwohl es, wie sich zum Schluss herausstellt, gut passt – war das Milieu der Schönen und Reichen, in dem sich Lucian so selbstverständlich bewegte.

Auch wenn das Buch keine hohe Literatur ist, so lässt es sich doch sehr gut lesen und hat mich blendend unterhalten. Ein Buch, mit dem man abschalten und die Welt um sich herum vergessen kann.

Bewertung vom 17.10.2021
Der Gesang der Fledermäuse
Tokarczuk, Olga

Der Gesang der Fledermäuse


sehr gut

Jenseits von Transsylvanien

Janina mag ihren Namen nicht. Sie ist etwas eigenartig, interessiert sich für Astrologie, erstellt Horoskope und hat den ganzen Tag den Fernseher an. Allerdings nur den Wetterkanal. Auf ihrer Hochebene an der polnisch-tschechischen Grenze spielt das Wetter eine große Rolle. Ist es doch unter anderem an ihrem Leiden schuld.

Doch von vorn. Das Buch beginnt mit einem Toten. Die Ich-Erzählerin ist überzeugt, dass sich die Tiere des Waldes an dem Wilderer gerächt haben. Schließlich ist er an einem Rehknöchelchen erstickt.
Zusammen mit einem jungen Freund übersetzt die ehemalige Brückenbauingenieurin, die heute Englisch unterrichtet, Gedichte ihres englischen Lieblingsdichters William Blake. Wie sie liebte er die Natur, die sie liebevoll beschreibt.
Immer wieder leuchtet versteckter Humor auf. Zum Beispiel in der Kirche (Seite 262): „Ich setzte mich in eine Bank und verfiel in eine Art Halbschlaf. Mein Denken war träge, als kämen die Gedanken von weit her, von den Holzköpfen der Engel, die hier überall verteilt waren. Mir fielen hier immer andere Dinge ein, als wenn ich zu Hause nachdachte. In diesem Sinne ist die Kirche ein guter Ort“.

Die 1962 geborene Olga Tokarczuk ist eine polnische Schriftstellerin und Psychologin. Sie erhielt 2019 rückwirkend den Nobelpreis für Literatur des Jahres 2018, der zuvor nicht vergeben worden war. Über ein halbes Dutzend ihrer in Polnisch geschriebenen Bücher liegen hierzulande in Übersetzung vor. Gleich mehrere Verlage können sich freuen, sind Tokarczuks Bücher in den vergangenen Jahren doch bei verschiedenen Verlagshäusern erschienen. Auch Filmliebhabern ist der Name geläufig, spätestens seit im Februar 2017 bei den Berliner Filmfestspielen "Die Spur" im Wettbewerb um den Goldenen Bären lief: Der mystisch-geheimnisvolle Film ihrer Landsfrau Agnieszka Holland über Umwelt-, Tierschutz und Feminismus ist eine Literaturverfilmung von Tokarczuks Roman "Der Gesang der Fledermäuse" (2009).

Janina ist schrullig, hat eigene Ansichten und Maßstäbe. Ich habe mich bei der Lektüre teilweise köstlich amüsiert und war am Ende des Buches erstaunt über die unerwartete Auflösung dieses Kriminalfalles, der gar nicht als solcher wirkt. Leseempfehlung!

Bewertung vom 13.10.2021
Drei Kameradinnen
Bazyar, Shida

Drei Kameradinnen


sehr gut

Wer hat Schuld?

Das Buch beginnt mit einer Zeitungsmeldung, in der Saya M. beschuldigt wird, sich radikalisiert und den Brand eines Wohnhauses verursacht zu haben. Doch wie war es wirklich?
Ihre Freundin Kasih erzählt von ihrer Kindheit, die beide zusammen mit Hani in „der Siedlung“ einer nicht genannten Stadt verbrachten. Die Eltern der drei waren als Migranten nach Deutschland gekommen und hatten ihren Töchtern eine gute Schulbildung ermöglicht. Doch trotz hervorragendem Studienabschluss bekam Kasih keinen Job, sondern immer wieder neue Termine beim Arbeitsamt. Statt Geld zu verdienen schrieb sie ihren Alltag und die damit verbundenen Erlebnisse auf.
Saya lebte schon nicht mehr in Deutschland und war nur wegen der Hochzeit einer gemeinsamen Bekannten zurück gekommen. Interessiert verfolgte sie Nazihetzkampagnen im Netz, wünschte sich innigst Gerechtigkeit und steigerte sich nach und nach in immer größere Wutanfälle.

Shida Bazyar hat ein aufwühlendes Buch geschrieben, in dem die Ausgrenzung anders aussehender Menschen im Mittelpunkt steht. Ich habe es als Hörbuch genossen, hervorragend gelesen von Banafshe Hourmazdi. So konnte ich tief in die Gedankenwelt der jungen Frauen eintauchen und die Ursache der sich steigernden Wut verfolgen.

Fazit: Ein kritischer Beitrag zum NSU-Prozess aus Migrantensicht. Hörenswert!

Bewertung vom 29.09.2021
Wenn ich wiederkomme
Balzano, Marco

Wenn ich wiederkomme


ausgezeichnet

Geschichte einer zerrissenen Familie

Moma verschwindet über Nacht. Nur ihrer halbwüchsigen Tochter Angelica hinterlässt sie einen Brief. Der obliegt es nun, den Vater und den jüngeren Bruder zu informieren.
Heimlich hat sich Daniela zum Bus geschlichen, der sie von einem rumänischen Dorf ins italienische Mailand bringt, um dort mit der Pflege Alter und Kranker Geld zu verdienen. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, ihren Kindern durch eine bessere Bildung den Weg aus der Armut zu ermöglichen.

Erzählt wird aus drei Perspektiven: Der zehnjährige Manuel kommt als erster zu Wort. Seine Verlassenheit und sein Unverständnis für die Mutter sind sehr nachvollziehbar herausgearbeitet. Im zweiten Teil begleiten wir Mutter Daniela durch ihren – alles andere als einfachen - Italienaufenthalt.
Wegen eines Unfalls ist sie in die Heimat zurückgekehrt und legt ihre Version der Geschichte dar.
Zum Schluss erzählt Tochter Angelica von ihren Erinnerungen und Zukunftsträumen.

Der am 6.Juni 1978 in Mailand geborene Marco Bolzano hat mit diesem Roman ein wichtiges Thema aufgegriffen: die Arbeitsmigration in Europa, die osteuropäische Familien zerreißt, um uns in Westeuropa ein angenehmes Leben zu ermöglichen. Er beschreibt ein Schicksal, in dem er zahlreiche Probleme vereinigt und stellt damit ein Bild zur Schau, das uns zu denken geben sollte. Gleichzeitig erschafft er den zahlreichen osteuropäischen Pflegerinnen ein würdiges Denkmal.

Mich hat das Buch erschüttert und teilweise zu Tränen gerührt. Es fiel mir schwer, es aus der Hand zu legen. Denn auch ich habe bisher nur den Vorteil gesehen, den uns der Aufenthalt preiswerter Pflegekräfte ermöglicht. Meiner Meinung nach sollten es nicht nur diejenigen lesen, die selbst auf ausländische Hilfe angewiesen sind. Der Einblick in das Leben der Frauen in ihrer Heimat macht aus Arbeitskräften Menschen.