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Irisblatt

Bewertungen

Insgesamt 93 Bewertungen
Bewertung vom 13.02.2022
Wir sind das Licht
Blees, Gerda

Wir sind das Licht


ausgezeichnet

Wir sind der Applaus.
Ich verneige mich vor Gerda Blees, die mir mit ihrem Debütroman ein unvergessliches Leseerlebnis beschert hat. Auf der Handlungsebene geschieht kaum etwas: Eine Frau stirbt an Unterernährung. Ihre Mitbewohner:innen werden festgenommen. Die Polizei versucht zu ergründen, was sich in dieser WG, die sich „Klang und Liebe“ nennt, abspielte und warum niemand einen Notarzt verständigte.
„Wir sind das Licht“ besticht durch eine äußerst gelungene, kreative Erzählweise, in der nicht nur Personen, sondern auch Gegenstände und abstrakte Begriffe ihre Sicht der Dinge schildern. Jedes Kapitel beginnt mit der immer gleichen „Vorstellungsformel“ der jeweiligen Perspektive: „Wir sind die Nacht.“ (S. 7), „ Wir sind die …“.
Ich möchte die unterschiedlichen Perspektiven hier nicht beim Namen nennen, da für mich ihre Unvorhersehbarkeit maßgeblich zur Spannung beitrug. Obwohl das Thema des Romans beklemmend und von gesellschaftlicher Relevanz ist, hat es mir unglaublich viel Freude bereitet, den ungewöhnlichen Blickwinkeln zu folgen und dadurch Stück für Stück immer tiefer in die Geschichte einzutauchen. Gerda Blees gelingt es sehr überzeugend die jeweiligen Sichtweisen einzunehmen. Ihr Roman regt zum Nachdenken an, thematisiert Manipulation, Hilflosigkeit und konfrontiert mit Fragen, die sich um Verantwortung und individuelle Lebensentscheidungen drehen.
Zuweilen blitzt bei einigen Sichtweisen auch ein gewisser Humor durch, der mir ausgesprochen gut gefallen hat.
„Wir sind das Licht“ ist schon jetzt ein Jahreshighlight für mich!

1 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 05.02.2022
Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße
Leo, Maxim

Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße


sehr gut

Und plötzlich ein Held ...
Michael Hartung ist Inhaber einer in die Jahre gekommenen Videothek. Seit die Streamingdienste den Markt erobert haben, verirren sich kaum noch Kund:innen in den „Moviestar“, um etwas auszuleihen. Das Geld ist knapp, die Miete fällig und Hartung weiß nicht, wie es weitergehen soll.
Doch plötzlich steht Alexander Landmann, ein Journalist, vor seinem Tresen, um ihn zur größten Massenflucht in der Geschichte der DDR zu befragen. Aus Stasi-Akten weiß er, dass Hartung die entscheidende Weiche am Bahnhof Friedrichstraße stellte, die es einem Zug mit 127 Menschen an Bord ermöglichte nach West-Berlin zu fahren.
Landmann wittert die große Story anlässlich des 30-jährigen Mauerfall-Jubiläums. Der irritierte, eigenbrötlerische Hartung winkt zuerst ab und schiebt alles auf einen Zufall. Einige Biere später und mit der Aussicht schlagartig alle Geldprobleme los zu sein, willigt er schließlich in einen einzigen Artikel über ihn ein. Landmann schmückt die Geschichte einfach noch ein bisschen aus und erschafft so einen bisher der Öffentlichkeit noch völlig unbekannten, sympathischen, neuen ostdeutschen Helden. Der Artikel wird ein sensationeller Erfolg. Hartung kann sich vor Interviewanfragen und Werbeangeboten kaum noch retten. Auch der Bundespräsident wird auf ihn aufmerksam und sieht in ihm den geeigneten Sprecher anlässlich des Festaktes im Bundestag. Bestimmte Personen fühlen sich auf den Schlips getreten, recherchieren auf eigene Faust, stellen Ungereimtheiten fest. Hartung überfordert die Situation zunehmend, erst recht ab dem Zeitpunkt als er sich verliebt. Gerade zu Beginn habe ich mich köstlich beim Lesen amüsiert. Die Protagonist:innen sind etwas überzeichnet, aber gut mit ihren Eigenarten dargestellt. Maxim Leo spielt mit zahlreichen Klischees - eine Gratwanderung, die ich größtenteils, aber nicht immer gelungen fand. Gut gefallen hat mir, dass trotz des leichten, humorvollen Erzählstils so einiges an historischem Wissen über die Lebensumstände in der DDR einfließen und auch deutlich wird, wie sehr Bilder/Vorurteile des Ost- und Westdeutschen noch in den Köpfen verankert sind.
Der „Held vom Bahnhof Friedrichstraße“ ist eine unterhaltsame Lektüre für Zwischendurch, die ich mit 3,5 Sternen (auf vier aufgerundet) bewerte.

Bewertung vom 30.01.2022
Chor der Pilze
Goto, Hiromi

Chor der Pilze


ausgezeichnet

Von der heilsamen Kraft des Erzählens und passender Speisen
„Chor der Pilze“ hat mich auf ganz besondere Weise berührt. Es fällt mir schwer, in Worte zu fassen, warum mir dieser Roman so gut gefallen hat. Er hat irgendetwas tief in mir zum Klingen gebracht und trotz schwergewichtiger Themen, die sich um Heimat, Identität, Migrationserfahrung, Ankommen und Aufbrechen sowie Rassismus drehen, hat der Text etwas Hoffnungsvolles und Warmes, besticht durch einen positiven Blick auf die Zukunft und zeichnet sich durch eine große Freude am Erzählen aus.
Im Mittelpunkt des Romans stehen drei Frauen einer Familie: Tochter, Mutter und Großmutter, die gemeinsam mit dem Ehemann der Mutter vor mehr als zwanzig Jahren Japan verließen, nach Kanada auswanderten und dort eine Pilzfarm eröffneten.
Die 85-jährige Großmutter Naoe verbringt die Tage auf einem Stuhl im Flur sitzend. Sie führt Selbstgespräche auf Japanisch und beobachtet, wer im Haus ein und aus geht. Ihre Tochter Keiko hat alles Japanische aus ihrem Leben verbannt (auch die Sprache) und versucht sich in allem der kanadischen Kultur anzupassen. Ihre Tochter Muriel wächst mit und in der kanadischen Kultur auf und wird trotzdem von ihrem Umfeld als Fremde wahrgenommen. Auch wenn sie kaum Japanisch spricht, hat sie ein inniges Verhältnis zu ihrer Großmutter, die ihr den japanischen Namen Murasaki gegeben hat. Eines Tages beschließt Naoe, ihren Stuhl im Flur zu verlassen und verschwindet spurlos in einer windigen, kalten Nacht. Während Naoe sich auf einen abenteuerlichen Roadtrip begibt und Keiko einen Zusammenbruch erlebt, wird Muriel klar, dass es eine große Leerstelle in ihrem Leben gibt, die unmittelbar mit ihrer japanischen Herkunft und ihrem fehlenden Bezug zu diesem Teil ihrer Identität zusammenhängt.
Die Erzählweise ist sprunghaft und vielstimmig - im Wechsel werden die unterschiedlichen Perspektiven der Frauen eingenommen. Hinzu kommt die Erzählstimme der erwachsenen Murasaki (Muriel), die ihrem Freund zwischen Liebesspielen immer wieder eine Geschichte erzählt. Dabei wird sie auf magische Weise von ihrer verschwundenen Großmutter unterstützt, die ihrer Enkelin über die Distanz von Raum und Zeit hilft, die richtigen japanischen Wörter zu finden und die Geschichten ihrer Familie zu erzählen. „Dann öffnete sich mein Mund von selbst und Wörter fielen heraus wie Schätze. Ich konnte nicht aufhören. Versuchte nicht, aufzuhören. Sie wirbelten, schwollen an und strudelten. Die Wörter fegten hinaus, wo der prärieformende Wind an ihnen zog und zerrte. Wie eine Samenkette erhoben sie sich. Streuten sich aus. Obāchan und ich, unsere Stimmen klangen nach, wurden von hohlen Wänden zurückgeworfen und erstreckten sich mit Bändern aus Seidenfäden über das Land.“ (S. 69).
Auch der Schreibstil variiert: ist mal einfach, dann sehr poetisch, manchmal auch derb und immer mal wieder mit japanischen Wörtern und Sätzen angereichert. Obwohl ich kein Japanisch spreche, es keine Übersetzung gibt, stört es weder den Lesefluss noch das Verständnis. Ganz im Gegenteil erhält der Roman dadurch einen ganz eigenen Rhythmus und Klang. „Chor der Pilze“ spricht alle Sinne an, artikuliert Klänge, Gerüche, die Beschaffenheit von Lebensmitteln und ihren Geschmack, zeigt wie untrennbar ein Heimatgefühl damit verbunden ist. Essen und Erzählen erweisen sich in diesem Roman als heilsame Mittel der Erkenntnis und Selbstfindung; dabei spielt es gar keine so große Rolle, ob die erzählten Geschichten wahr oder erfunden sind, erst während des Erzählens Form annehmen oder erlebte Erinnerung sind. Warm, verrückt, magisch und mit Tiefgang hat mich dieser Roman auf eine leise, sehr besondere Art berührt. Trotz der Vielstimmigkeit und der sprunghaften Erzählweise fügt sich alles ganz wunderbar zusammen; dieser mehrstimmige Chor hat einen Platz in meinem Herzen erobert - ich bin begeistert!
Hiromi Gotos „Chor der Pilze“ erschien bereits 1994. Der auf Englisch verfasste Roman wurde aber erst im Jahr 2000 ins Deutsche übersetzt.

Bewertung vom 24.01.2022
David Bowie - Alle Songs
Clerc, Benoit

David Bowie - Alle Songs


ausgezeichnet

Würdigung eines Ausnahmekünstlers
Bowie hat über 50 Jahre Musikgeschichte geprägt. In „David Bowie - Alle Songs: Die Geschichte hinter den Tracks“ von Benoît Clerc kann man stöbern, entdecken, in Erinnerungen schwelgen und auf jeder Seite spüren wie kreativ, wie wandlungsfähig Bowie Zeit seines Lebens war. Kein Künstler war in so vielen musikalischen Stilen zuhause, prägte sie, erfand sich und die Musik immer wieder neu und war trotz dieser Wandlungsfähigkeit unverwechselbar sofort als Bowie erkennbar. Von der ersten Single „Liza Jane“ 1964 noch unter dem Namen David Robert Jones bis zur letzten Aufnahme kurz vor seinem Tod im Jahr 2016 versammelt dieses Buch sämtliche Veröffentlichungen. Es macht großen Spaß chronologisch entlang der einzelnen Songs dem Leben David Bowies zu folgen. Neben den grundlegenden Informationen gibt es immer mal wieder unter den Rubriken „Genau hingehört“ und „Für Hardcore-Bowie-Fans“ ungewöhnliche, kurze Zusatzinformationen, die durchweg interessant, manchmal auch zum Schmunzeln sind. Die Fülle an Bildmaterial lädt zum Blättern und Verweilen ein und es macht auch hier große Freude die Selbstinszenierungen des exzentrischen Künstlers Revue passieren zu lassen sowie alltägliche Fotos aus College-Zeiten, Bilder von seinem Sohn, seinen beiden Ehefrauen und Bandkollegen erstmalig zu entdecken. Besonders gut hat mir gefallen, dass im Text Musiker, Schriftsteller und Philosophen genannt werden, die Bowie maßgeblich beeinflussten.
Dieses Buch ist eine wahre Schatzgrube, das sich sowohl als Nachschlagewerk als auch zum immer mal wieder einfach so in die Hand nehmen anbietet, Lust darauf macht, Bowie zu hören und sich von unbekannten Aufnahmen überraschen zu lassen: z.B. wusste ich nicht, dass es eine Vertonung von Prokofievs „Peter und der Wolf“ mit David Bowie als Sprecher gibt. Wer die Musik von David Bowie mag oder gar ein eingefleischter Bowie-Fan ist, der wird mit Sicherheit seine Freude an dieser Hommage haben.

Bewertung vom 23.01.2022
Zusammenkunft
Brown, Natasha

Zusammenkunft


ausgezeichnet

Starkes, sehr eindringliches Debüt
Es macht einen Unterschied mit welchem Geschlecht, mit welcher Hautfarbe, ob man arm oder reich geboren wird - die Chancengleichheit besteht nur auf dem Papier.
Natasha Browns Debüt „Zusammenkunft“ spiegelt die seelischen Notlage der namenlosen britischen Protagonistin, die sich in einem Zustand großer Erschöpfung befindet. Als Schwarze Frau verdankt sie ihre Karriere im Finanzsektor vor allem harter Arbeit. Schon immer musste sie besser als ihre Weißen Kolleg:innen sein; ihre erst kürzlich verkündete Beförderung sehen viele dennoch nicht als individuelle Leistung. Sie sehen eine „Quoten-Schwarze“, schließlich hat sich die Firma „Diversität“ auf die Fahnen geschrieben und kann damit auch in der Öffentlichkeit punkten. Die Protagonistin dient als Aushängeschild einer erfolgreichen „Integrationspolitik“, einer offenen, liberalen Gesellschaft. „Hier geboren, Eltern hier geboren, immer hier gelebt - trotzdem, nie von hier.“ (S. 61). Der Pass weist sie als Britin aus; im Alltag wird sie jedoch immer als Bindestrich-Britin gedacht. Was solche Zuschreibungen mit einem Menschen machen, zeigt Brown sehr eindringlich. Die Diagnose, schwer erkrankt zu sein, stellt die Protagonistin vor schwerwiegende Entscheidungen und verursacht einen regelrechten Gedankenstrom. Wie bereits ihre Eltern und ihre Großeltern hat sie für ein besseres Leben gekämpft - sie spürt das Gewicht dieser seit Generationen bestehenden Erwartungshaltung in jeder Faser ihres Körpers. Aufgeben war nie eine Option. „Zusammenkunft“ erzählt keine Geschichte, verfügt nicht über einen linearen Handlungsstrang; stattdessen reihen sich einzelne Episoden, Sequenzen, Bilder und Gedanken aneinander. Sie alle zeugen von den Anstrengungen des bisherigen Lebens, den permanent präsenten Sexismen, Rassismen und Mikroagressionen, den Erwartungshaltungen an sich selbst, der Angst nicht gut genug zu sein, den Schuldgefühlen und dem Erstaunen darüber mit welcher Leichtigkeit und Ignoranz ihre Weißen Freund:innen durchs Leben gehen. Hautfarbe spielt in der Klassengesellschaft des postkolonialen Großbritanniens noch immer eine Rolle und beeinflusst das Zusammenleben, die gegenseitige Wahrnehmung, aber auch die Selbstwahrnehmung aller Beteiligten mal offen, mal subtil. Wie schön wäre es, wenn Bücher dieser Art nicht mehr notwendig wären, weil „White Privilege“ weltweit der Vergangenheit angehörte.
Brown jongliert in ihrem experimentellen, kaum mehr als 100 Seiten langen Roman gekonnt mit Worten. Jeder Satz trifft, schmerzt und lädt zum Nachdenken ein. Das Ende ist offen, die letzten fünf Doppelseiten leer; sie laden dazu ein, Geschichte neu zu schreiben.

Bewertung vom 21.01.2022
An das Wilde glauben
Martin, Nastassja

An das Wilde glauben


sehr gut

Faszinierender Blick auf ein alles veränderndes Ereignis
Die französische Anthropologin Nastassja Martin verarbeitet in ihrem autobiografischen Buch die Begegnung mit einem Bären, der sie durch einen Biss in Gesicht und Schädel lebensbedrohlich verwundete. Auch Nastassja Martin verletzte den Bären durch einen Hieb mit der Spitzhacke - beide überlebten, gezeichnet durch den jeweils anderen.
Was das Buch und die Aufarbeitung so interessant machen, ist der Blick auf diesen „Unfall“ und seine Deutung durch die Autorin.
Nastassja Martin hat jahrelang über die Gwich’in, ein indigenes Volk in Alaska, gearbeitet bevor sie ihren Fokus auf die Ewenen, die in den Wäldern Sibiriens in Kamtschatka leben, verlagerte. Ihr Forschungsinteresse gilt dem Animismus sowie den Bräuchen und den Kosmologien dieser Kultur. Begegnungen zwischen Mensch und Tier, Verbindungen zu anderen Lebewesen, schamanistische Fähigkeiten, der Zugang zu anderen Welten durch Träume und Intuition gehören für die Ewenen ganz selbstverständlich zum Weltbild und beeinflussen das Alltagsleben. Bereits vor ihrer Begegnung mit dem Bären träumte die Autorin von ihm und die Ewenen nannten Nastassja "matucha" (Bärin), nach dem „Unfall“ dann "miedka" (eine Person, die die Begegnung überlebt hat, vom Bären gezeichnet wurde und die von diesem Zeitpunkt an zur Hälfte Bär, zur Hälfte Mensch ist. Da Nastassja Martins Wahrnehmung durch die Beschäftigung mit dem Animismus beeinflusst ist, bezeichnet sie ihre existentielle Erfahrung nie als Unfall oder Angriff.
„Das Ereignis an diesem 25. August 2015 ist nicht: Irgendwo in den Bergen von Kamtschatka greift ein Bär eine französische Anthropologin an. Das Ereignis ist: Ein Bär und eine Frau begegnen sich und die Grenzen zwischen den Welten implodieren.“ (S. 125)
„An das Wilde glauben“ dokumentiert einen Heilungsprozess auf körperlicher und psychischer Ebene und konfrontiert mit einer anderen - nicht westlichen - Sichtweise auf das Leben der Menschen in und mit der Natur. Letztendlich können die medizinischen Eingriffe in Krankenhäusern den Körper wieder herstellen, die psychische Versehrtheit, das Verstehen dieses extremen Erlebnisses und die Veränderungen, die Nastassja Martin seitdem erlebt, lassen sich jedoch nicht mit westlicher Medizin und Psychologie verstehen und behandeln. „Ich habe das Bedürfnis, zu denen zurückzukehren, die sich mit Bärenproblemen auskennen; die in ihren Träumen noch mit ihnen reden; die wissen, dass nichts zufällig geschieht und dass Lebensbahnen sich immer aus ganz bestimmten Gründen kreuzen“ (S. 81). Das Buch öffnet ein Fenster in eine andere Welt, in der die Grenzen zwischen Lebewesen verschwimmen und erweitert dadurch den eigenen Blick. Der Text, der zwischen den persönlichen Empfindungen, den wissenschaftlichen Reflexionen und Erklärungsversuchen wechselt, berührt auch Fragen der Identität und der Koexistenz von Mensch und Tier. Ich habe dieses nicht immer leicht verständliche Buch mit großer Faszination und Interesse gelesen und bin froh über diese Bereicherung.

Bewertung vom 14.01.2022
Zum Paradies
Yanagihara, Hanya

Zum Paradies


gut

Es ist kompliziert ...
In ihrem fast 900 Seiten langen Werk „Zum Paradies“ zeigt Hanya Yanagihara, dass das Leben des Einzelnen immer kompliziert ist, wenn es aus dem gesellschaftlich anerkannten Rahmen fällt. Das eigene Leben im Einklang mit den inneren Bedürfnissen zu leben, erfordert Mut, lässt sich aber aufgrund äußerer Umstände oftmals nur eingeschränkt verwirklichen. „Zum Paradies“ erzählt drei unterschiedliche Geschichten, die lose durch einen gemeinsamen Ort - den Washington Square in New York, sowie einige weitere Merkmale verbunden sind. Der erste Teil spielt im 19. Jahrhundert und entwirft eine alternative gesellschaftliche Realität, in der Homosexualität gleichwertig zu heterosexuellen Verbindungen anerkannt und in ihrer Normalität nicht weiter der Rede Wert ist. Trotzdem erlebt David die Grenzen seiner Freiheit als er sich unstandesgemäß verliebt. Die Höllenqualen und Selbstzweifel, die Sehnsüchte und Unsicherheiten, die der Protagonist durchlebt, weil ihm sein Großvater klar spiegelt, dass er eine solche Verbindung nicht billigen kann sowie die Gräben, die sich aufgrund unterschiedlicher Sozialisation zwischen den Liebenden im Alltagsleben auftun, hat die Autorin sehr eindrücklich beschrieben. Dieser erste Teil hat mir persönlich am besten gefallen.
100 Jahre später im zweiten Teil rückt die Aids Problematik des 20. Jahrhunderts in den Mittelpunkt. Hanya Yanagihara fokussiert darüber hinaus in diesem Abschnitt Identität, Herkunft und Zugehörigkeitsgefühl. Eine schwierige Vater-Sohn Beziehung wird mit der Kolonialgeschichte Hawais verknüpft. Hier hat mich der Roman das erste Mal verloren. Die Rückblicke, die das Leben des Vaters (und auch des Sohnes) auf Hawai beschreiben, empfand ich als zäh, viel zu lang und ausufernd. Es fiel mir in diesem Abschnitt schwer gedanklich dabeizubleiben, eine emotionale Bindung zu den Protagonist:innen und ihren Erlebnissen aufzubauen. Da meine Gedanken beim Lesen immer wieder abschweiften, wäre mir fast entgangen wie differenziert Yanagiharas Blick auf die Themen Kolonialismus, Kulturalismus, kulturelle Aneignung, Identität und Zugehörigkeit ist.
Mit dem dritten und längsten Teil, der in einer dystopischen Zukunftswelt spielt, bin ich wieder besser zurecht gekommen. Aber auch hier empfand ich die Geschichte, die sich zu großen Teilen in Form von Briefen entfaltet, als schleppend. Es fehlte mir - wie im zweiten Teil - an erzählerischer Tiefe und auch die Protagonist:innen blieben blass. Emotional konnte mich diese Geschichte vor allem deshalb erreichen, weil sie in einer Welt spielt, die durch Klimawandel und Pandemien gezeichnet ist. Die aufgezeigten Entwicklungen und gesellschaftlichen Einschränkungen gingen mir nah, weil Ansätze davon bereits heute diskutiert werden und aufgezeigt wird, welches Zerstörungspotential Pandemien haben können. Die Szenarien entwerfen eine beängstigende Zukunftsvision, die durchaus vorstellbar ist. Alle drei Geschichten erzählen von Vätern, die sich nicht um ihre Kinder kümmern konnten und Großväter, die diese Rolle einnehmen. Die Namensgleichheit der Protagonist:innen in allen drei Geschichten verweist auf wiederkehrende Probleme in verändertem Gewand; sie irritierte mich aber mehr als dass sie mir beim Eintauchen in die jeweilige Geschichte geholfen hätte. Auch für mich war dieser Roman kompliziert: Er hat das Potential zu großer Literatur. Immer wieder gab es sehr bewegende, überzeugende Abschnitte. Letztendlich waren diese jedoch in der Minderzahl; die einzelnen Geschichten wurden für mich nicht überzeugend miteinander verbunden und ich musste mich durch große Teile regelrecht durchkämpfen. Aber der Weg zum Paradies ist ja bekanntlich nicht einfach ..…

Bewertung vom 14.01.2022
Ohne Halt ins Blaue
Pavignano, Anna

Ohne Halt ins Blaue


ausgezeichnet

Ein anderer Blick auf Italien
Der junge Salvatore ist auf Ventotene, einer der Pontinischen Inseln Italiens, aufgewachsen. Er ist einer der vielen Einheimischen, die im Sommer Bootsfahrten für Tourist:innen anbieten. Wenn im Winter der Tourismus zum Erliegen kommt, verlässt Salvatore seine Insel, um auf dem Festland als Schwarzarbeiter auf dem Bau sein Geld zu verdienen. Er sagt, sein Leben sei „Wie eine Matratze“ (…) „Sommer und Winterseite“ (S. 100). Ich-Erzähler Salvatore lässt uns eintauchen in die Welt eines jungen Schulabbrechers, der das Meer liebt, mit 16 Jahren seinen Bootsführerschein macht, um Fahrten für Tourist:innen anzubieten. Es passiert nicht viel auf dieser Insel, aber es ergeben sich für Salvatore einige Möglichkeiten für amouröse Abenteuer auf seinem Boot. Ganz anders gestaltet sich das Leben in den Wintermonaten auf der Baustelle. Aber dort hat Salvatore glücklicherweise einen Freund, so dass er nicht in einer der vielen Sammelunterkünfte leben muss. Ein Ereignis verändert plötzlich alles in Salvatores Leben. Anna Pavignano hat einen Roman geschrieben, der einen Blick auf eine unbekannte Seite Italiens ermöglicht. Sie lässt Salvatore in seiner eigenen Sprache zu Wort kommen. Die Ausdrucksweise ist einfach, durch zahlreiche umgangssprachliche, zuweilen derbe Wörter geprägt. Besonders rührend waren für mich die Momente, in denen Salvatore auf sehr poetische Weise, Erkenntnisse über das Leben, die Natur und seine Situation hat. „Ohne Halt ins Blaue“ ist ein trauriges Buch, das unterpriviligierten jungen Menschen eine Stimme gibt. Es erzählt von prekären Arbeitsverhältnissen, Arbeitsmigration, ein Leben in der Illegalität und der Begrenztheit von Möglichkeiten, aber auch von Freundschaft, der ersten großen Liebe, Schmerz und Hoffnung.

Bewertung vom 11.01.2022
Auto
Walker, Christina

Auto


sehr gut

Busch braucht Zeit
„Und genau das brauchte er. Mehr Zeit. (S. 186/187). Aber für was eigentlich? Das weiß Busch auch noch nicht so genau. Seine Vertretertätigkeit hat er gekündigt, seine Wohnung nutzt er nur noch für die allernötigsten Dinge. Er zieht in seinen alten, nicht mehr fahrtauglichen Mercedes, der auf dem Hof steht und beschließt, nur noch absolut erforderliche Bewegungen auszuführen. Er verordnet sich ein Höchstmaß an Stillstand. Die Situation ist skurril, Busch ein verschrobener Typ, der keiner Ameise etwas zuleide tun möchte, nicht mehr weiter weiß und völlig blockiert ist. Stück für Stück erfahren wir einzelne Schnipsel aus seinem vergangenen Privat- und Berufsleben. Aus dem Auto heraus beobachtet Busch sehr genau seine Umgebung im Hof, seine Nachbarn und zufällig vorbeikommende Passanten. Er denkt über die Ameisen am Nachbargrundstück ebenso nach wie über die Löcher im Dach seines Mercedes und über den Sinn des Lebens. Verhaltensregeln, die er sich selbst stellt, geben ihm Orientierung in dieser schwierigen Zeit. Letztendlich hofft Busch, dass der Stillstand ihm zeigen wird, wie es weitergehen kann. Regelrecht irritierend gestalten sich die Beziehungen zu seiner Ehefrau und seinem Sohn, deren mündliche Kommunikation fast vollständig zum Erliegen gekommen ist.
Auto ist ein klug komponierter, fragmentarischer Roman, der dazu einlädt über das Leben in unserer Gesellschaft nachzudenken. Beim Lesen war ich oft traurig, musste aber auch des öfteren schmunzeln und manchmal einfach nur innerlich den Kopf schütteln. Vieles bleibt in dieser Geschichte offen und wird nicht auserzählt. Das ist meiner Meinung nach zugleich Schwäche und Stärke des Romans. Das Ende besticht durch seine traurige Poesie. Ich hätte mir jedoch sehr gewünscht zu wissen, wie es mit Busch weitergeht. Aber gerade diese Offenheit schafft zugleich den Raum für eigene Gedanken und führt letztendlich dazu, sich mit Buschs Ansichten und seiner Situation tiefer auseinanderzusetzen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.01.2022
Die Flüchtigen
Damasio, Alain

Die Flüchtigen


ausgezeichnet

Schwindelerregendes Feuerwerk der Ideen
Damasio hat ein unglaublich vielseitiges, von Ideen nur so berstendes, monumentales Werk verfasst, das mich immer wieder aufs neue überrascht, über weite Passagen angestrengt, dann wieder tief in seinen Bann gezogen, mich emotional berührt und mich nachhaltig beschäftigt hat.

Die Geschichte spielt in der nahen Zukunft (2040). Zahlreiche Städte wurden von Konzernen gekauft, Überwachung und Konsum bestimmen das Leben der Menschen in Orange. Die Stadt ist in unterschiedliche Tarifbereiche unterteilt - nur wer über die entsprechenden finanziellen Möglichkeiten verfügt, hat Zugang zu bestimmten Straßen, Verkehrsmitteln und Plätzen.

Eines Tages verschwindet die kleine Tishka spurlos aus ihrem Kinderzimmer, zugleich tauchen seltsame Zeichen auf der Wand des Zimmers auf. Zwei Jahre später haben sich die Eltern Sahar und Lorca aufgrund ihrer unterschiedlichen Art mit Schmerz und Trauer umzugehen, auseinandergelebt. Sahar hat die Hoffnung, ihre Tochter zu finden längst aufgegeben, während Lorca besessen von der Idee ist, Tishka könnte zu einer Flüchtigen geworden sein. Bei einer kleinen militärischen Spezialeinheit lässt er sich zum Flüchtigen-Jäger ausbilden und erhofft sich dadurch einen Zugang zu diesen kaum greifbaren Wesen. Damasio nähert sich auf unterschiedliche Weise dem Phänomen der Flüchtigen, die sich der unmittelbaren Beobachtung stets entziehen, sehr wohl aber präsent und mit anderen Sinnen erfahrbar sind. Welchen Vorteil hat Flüchtigkeit in einem Überwachungsstaat? Was bedeutet Leben und Lebendigkeit? Klang, aber auch Haptik erweisen sich als wichtige Zugänge, Flüchtige zu begreifen. Einige Abschnitte lesen sich wie wissenschaftliche Abhandlungen, andere lassen uns eintauchen in die Welt der Philosophie, der Mythologie und der Legenden. Actiongeladene Szenen wechseln sich mit informativen Abrissen über die historische Entwicklung, bildlichen, manchmal skurrilen Alltagsszenen, populistischer Medienberichterstattung und Passagen voll leiser Poesie ab. Stück für Stück lässt Damasio eine dystopische Welt entstehen, die erschreckend, aber gar nicht so weit von unserer Gesellschaft entfernt erscheint. Neben der Suche nach Tishka rücken auch die vielfältigen Widerstandsgruppen und damit gesellschaftskritische Themen, Umgang mit Geflüchteten, Xenophobie, Konsumwahn, Gentrifizierung, Medienkritik, Klimawandel und Naturschutz immer wieder in den Fokus. Das Buch besticht durch seinen Ideenreichtum, seine ungewöhnliche Geschichte und eine Vielfalt der Perspektiven, durch die mehr als eine Deutung möglich ist. Die zahlreichen klugen Wortneuschöpfungen haben mich begeistert; sie eröffnen beim Lesen neue Sichtweisen. Alle Hauptprotagonist:innen haben eine individuelle Ausdrucksform, eine besondere Tonalität, die zeigt, wie versiert Damasio und auch die Übersetzerin mit Sprache umgehen können. Auch die Flüchtigen hinterlassen im Schriftbild und im Text ihre Spuren; sie schleichen sich als Punkte, Bögen, Sonderzeichen ins Schriftbild, fallen durch Wortverdrehungen auf. Die Fülle und Komplexität dieses Romans, die sich nicht nur inhaltlich, sondern auch in der Form und im Stil zeigen, macht dieses mehr als 800 Seiten dicke Buch zu einer anspruchsvollen, äußerst fordernden, teilweise sehr anstrengenden Lektüre, die konzentriertes Lesen erfordert. „Die Flüchtigen“ ist kein Buch für zwischendurch, aber ein Werk, das nachhallt und mich in seiner Kreativität, Neuartigkeit und Vielfalt begeistert hat.