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anushka

Bewertungen

Insgesamt 149 Bewertungen
Bewertung vom 13.03.2019
Niemals ohne sie
Saucier, Jocelyne

Niemals ohne sie


ausgezeichnet

Familiendrama in atmosphärischer kanadischer Einöde

"Die Könige von Norco", so bezeichnen sich die Kinder der Familie Cardinal selbst. 21 Kinder sind sie, von den gleichen Eltern, die wenig Zeit für sie haben, da die Mutter nur mit ihrer Versorgung und dem Haushalt beschäftigt ist und der Vater mit der Erzsuche, um die Familie finanziell zu ernähren. So wachsen die Kinder ziemlich wild, vernachlässigt, sich selbst überlassen und mit wenig Erziehung auf. Sie genießen große Freiheiten und wenig Regeln außer denen, die sich durch eine solch große Gruppe selbst ergeben, in der es andauernd zu Machtkämpfen und Schlägereien um Ressourcen (wie beispielsweise die besten Plätze auf dem Sofa) kommt. Schließlich ziehen sie durch das Bergbaustädtchen Norco in der kanadischen Einöde, die ihre Existenz alleinig einer ergiebigen Erzmine und dem Bergbauunternehmen Northern Consolidated verdankt, und tyrannisieren die Nachbarn, deren Haustiere, die anderen Schulkinder und eigentlich die ganze Umgebung. Als sich die Familie um ihre ergiebige Mine betrogen fühlt, fassen sie einen folgenschweren Entschluss, der einen langen Schatten auf die Familienmitglieder wirft.

"Niemals ohne sie" ist eine ungewöhnliche Geschichte. Allein aufgrund der Kinderzahl sind die Cardinals keine gewöhnliche Familie. Nun kommen sie alle nach Jahrzehnten wieder zusammen, weil der Vater eine Ehrung erhalten soll. Und die Familie muss sich schließlich dem stellen, weswegen sie sich alle seit Jahrzehnten aus dem Weg gehen. Die Geschichte wird aus verschiedenen Perspektiven erzählt. Es kommt jeweils eins der Kinder (aber insgesamt nicht alle) zu Wort, das im vorangegangenen Kapitel eine Rolle gespielt hat und erzählt die Familiengeschichte und vor allem das Schlüsselereignis aus seiner eigenen Sicht, bis am Ende, mit einer für mich überraschenden Wendung, auch das letzte Puzzleteil an seinen Platz fällt. Das fand ich grandios konstruiert.

Auch wenn "Niemals ohne sie" eine Familiengeschichte ist, ist es kein Wohlfühlbuch und keine leichte Lektüre. Die Cardinals sind nicht gerade Sympathieträger. Die Kinder schüchtern alle anderen Menschen ein und schauen auf sie herab. Auch untereinander sind sie nicht gerade zimperlich. Doch das passt unglaublich gut zum Setting der Bergbaustadt, die nach einem Preissturz in der Bedeutungslosigkeit verschwindet und seine Bewohner bitterarm zurücklässt. Das Buch ist zudem eine sehr gelungene Studie zwischenmenschlicher Beziehungen und Dynamiken, was den Großteil der Spannung des Buches ausmachte, denn die grundlegenden Ereignisse kennt man nach dem dritten oder vierten Kapitel ganz gut, es kommen jeweils oft nur noch Details hinzu. Doch die Verstrickungen jedes einzelnen Beteiligten werden erst nach und nach aufgedeckt. Die Cardinals entwickeln einen Hass auf alle um sie herum und die Familie ist letztlich das Einzige, was zählt. Doch das Buch verlangt gar nicht, dass man die Figuren mag und so bietet es auch viele Denkansätze. Sicherlich gibt es auch die ein oder andere logische Schwäche, wie beispielsweise die Frage danach, ob und wie eine Frau wirklich 21 Kinder bekommen kann und auch, wie es möglich ist, dass viele der Kinder in nahe und ferne Städte ziehen, studieren, mitunter erfolgreich werden, wenn doch die Familie so bitterarm ist, dass die Übervorteilung durch die Bergbaugesellschaft einen solchen Hass auslöst. Doch darüber konnte ich wohlwollend hinwegsehen, weil mich das Buch einfach gefesselt und in diese oft dysfunktionale Familie hineingezogen hat. Für mich war das Buch ein großes Leseerlebnis.

Bewertung vom 22.02.2019
Allee unserer Träume
Gerold, Ulrike;Hänel, Wolfram

Allee unserer Träume


gut

Nett zu lesen, aber für mich nicht immer ganz überzeugend

Mich hat vor allem angesprochen, dass dieser Roman von einer Prachtstraße handelt, die es heute - allerdings bei weitem nicht mehr so prachtvoll - gibt. Besonders pikant: gerade diese erschwinglichen Wohnungen für Arbeiter sind derzeit prominent in der Presse vertreten, weil sie von Spekulanten aufgekauft werden sollen, die für ihre massiven Mieterhöhungen und schlechte Behandlung ihrer Mieter bekannt sind. Aber das nur am Rande; zurück zur Geschichte um Ilse und der Zeit, als diese in Berlin durchaus noch sehr bekannte Straße zur Entstehung kam. Während Ilse schon von den Bauten träumt, liegen links und rechts der Wege noch die Trümmer des Krieges, die vor allem von Frauen beseitigt werden. Hier haben wir also das erste große Thema: Trümmerfrauen. Doch die Autoren haben sich noch viel mehr große Themen vorgenommen: die Vergangenheit jedes einzelnen unter den Nazis, die Einschränkung der freien Meinungsäußerung in der DDR, die Rolle der Frau in den 1950ern, geheime Clubs und Vergnügungen, Demenz, Homosexualität als Verbrechen, soziale Unruhen, etc. Es hätte dem Buch meiner Meinung nach gut getan, sich auf weniger Themen zu beschränken und sie dafür noch weiter auszubauen und spannend zu gestalten. Denn für mich schleppte sich die Geschichte über etliche Teile einfach nur dahin, ohne dass es wirklich spannend war. Und gerade die Bedrohung, die der Klappentext andeutet, verpufft auf einmal irgendwie sang- und klanglos.
Insgesamt war die Geschichte nett, aber eben nicht mehr. Und auch wenn sie (teilweise) auf wahren Begebenheiten beruht, waren mir einige Entwicklungen zu konstruiert, besonders das einschneidende Erlebnis, dass die Beziehungen der zentralen Figuren untereinander zerstört. Ilse ist mir nie wirklich nahe gekommen und ich konnte keine emotionale Bindung zu ihr aufbauen. Im Nachhinein habe ich auch noch ein Interview mit den Autoren gelesen, die von den Schwierigkeiten erzählten, diese Geschichte rund zu machen und welche harte Arbeit das mitunter war. Und leider ist das genau das, was ich beim Lesen manchmal empfunden habe. Als wäre die Geschichte mitunter harte Arbeit gewesen.

Bewertung vom 22.02.2019
Die Mauer
Lanchester, John

Die Mauer


sehr gut

Interessante Geschichte, leider zu kurz

Großbritannien, in der nicht so fernen Zukunft. Das Land hat entlang seiner Küste eine Mauer gebaut um „die Anderen“, die über das Meer kommen, aus dem Land fernzuhalten. Denn in Großbritannien selbst geht es den Menschen soweit gut. Die Anderen dagegen kämpfen ums nackte Überleben, sie fliehen vor den Folgen der bereits stattgefundenen Klimakatastrophe, auch der große Wandel genannt, und gehen dabei bis zum Äußersten.
Joseph Kavanagh tritt seinen zweijährigen Pflichtdienst auf der Mauer an, die er von nun an unter Einsatz seines Lebens gegen Eindringlinge verteidigen soll. Denn wer Eindringliche durchlässt, wird selbst auf das Meer verbannt. Doch Josephs Alltag besteht nicht nur aus Gefahren. Zwölf Stunden Wache an einem einsamen Ort schweißen zusammen und so geht es auch um zwischenmenschliche Beziehungen.

Bei diesem Buch war ich tief beeindruckt, wie eingängig der Autor die verschiedenen Szenen beschrieben hat, sie wirkten sehr plastisch. Das Szenario ist düster und deprimierend, aber gleichzeitig denkbar und an aktuelle globale und nationale Entwicklungen angelehnt. Und auch wenn man nach den ersten ca. 50 Seiten, die sich fast nur Josephs erster Schicht auf der Mauer widmen, denkt, das Buch könne nicht spannend werden, so hat es zumindest mich schnell gefesselt. Vieles erfährt man nur aus Josephs Sicht. Es gibt keine Aufklärungen, Erklärungen oder Belehrungen. Man erfährt eher nur beiläufig, was mit der Welt geschehen ist. Besonders interessant fand ich auch, dass Josephs Generation, die jungen Erwachsenen, eine große Wut auf ihre Elterngeneration hat, die den Wandel letztlich nicht verhindert haben. Auch das ist überzeugend an aktuelle Geschehnisse angelehnt. Am Ende hätte ich das Buch gern noch viel länger weitergelesen, denn ich habe die ganze Zeit noch auf eine globalere Sichtweise gewartet. Stattdessen hat man mit Joseph und den anderen Figuren nur Einzelschicksale, wobei man nur Josephs Geschichte genauer kennenlernt, weil die anderen Figuren wenig von ihrer Vergangenheit erzählen. Mit Joseph hat man eher einen engeren und auf das aktuelle Geschehen bezogenen Blick, ich hätte mir hier etwas mehr „Weitwinkel“ gewünscht und hätte gern noch erfahren, wie es in anderen Ländern ausgesehen hat. Letztlich hat sich der Autor aber für diese Variante entschieden und, obwohl sicher noch mehr Potential vorhanden war, hat mir das Buch auch in dieser Form gut gefallen, hat mir einiges zum Nachdenken gegeben und auch Spannung geboten.

Bewertung vom 21.01.2019
Stella
Würger, Takis

Stella


ausgezeichnet

Menschliche Abgründe literarisch aufgearbeitet

Berlin, 1942: Den jungen Schweizer Friedrich zieht es nach Berlin. In seiner Heimat hat er Gerüchte über Möbelwagen gehört, die Juden abholen und abtransportieren sollen. Da Friedrich die Deutschen bewundert, reist er mitten im Krieg nach Berlin, um die Wahrheit herauszufinden. Er schreibt sich an einer Kunstschule ein und begegnet dort einer attraktiven, blonden jungen Frau, die sich ihm als Kristin vorstellt. Mit ihr und durch sein Schweizer Vermögen verbringt er mondäne Zeiten in Jazzclubs und mit geschmuggelten Delikatessen, während die Lebensmittel für die Bevölkerung zunehmend rationiert werden und untergetauchte Juden in Angst leben. Plötzlich verschwindet Kristin für mehrere Tage und als sie wieder auftaucht, zieren Striemen ihren Körper und sind ihre Haare abgeschnitten. Sie beichtet, dass sie in Wirklichkeit Stella heiße, Jüdin sei und nun für die Gestapo untergetauchte Juden jagen soll, um das Leben ihrer Eltern zu retten ...

Takis Würger ist mit seinem Roman "Der Club" um eine Elite-Universität ein hochgelobtes Debüt gelungen. Dementsprechend sind die Erwartungen an seinen neuen Roman hoch. Mit "Stella" schlägt er genre-technisch eine ganz andere Richtung ein, denn es handelt sich um einen Roman, der während des Zweiten Weltkriegs spielt. Ihn als historischen Roman einzuordnen, würde dem Roman jedoch nicht ganz gerecht werden. In sehr literarischem Stil arbeitet der Autor die reale Geschichte um eine der bekanntesten Kollaborateurinnen der Nazis auf, wobei er sich jedoch nicht in Sentimentalität ergeht und eine Täterin zur Sympathieträgerin macht, sondern klischeefrei die Tragik transportiert und gleichzeitig die berechtigte Frage nach der moralischen Zwickmühle stellt. Der eigentliche Protagonist Friedrich ist eher Beiwerk, der nicht wissen und wahrhaben möchte, was nicht sein darf. Stella entzieht sich ihrem Liebhaber wie auch dem Leser immer wieder und bleibt in ihren Motiven schwer greifbar. Gerade dass es keine wirklichen Sympathieträger in diesem Buch gibt, macht die Zustände der damaligen Zeit umso eingängiger und zeigt umso deutlicher, wie schwer es war, "das Richtige" zu tun. Bei mir hat dieses Buch tiefen Eindruck hinterlassen, auch dadurch, dass die ganze Geschichte auf weniger als 300 Seiten und zudem noch so literarisch so eindringlich geschildert wurde. Nicht nur Friedrichs Sicht und seine Begegnungen mit Stella sind Gegenstand, sondern Stellas Abgründe werden besonders herausgestellt durch (reale) Protokollauszüge der späteren Gerichtsverhandlung. Zudem beginnt jedes Kapitel, das einen Monat des Jahres 1942 darstellt, mit einer kurzen Zusammenfassung wichtiger geschichtlicher Ereignisse. Das macht das Buch unheimlich faszinierend. Und ohne plakativ zu sein, kann der Autor Stellas Mentalität und ihrem aufkommenden Antisemitismus (wie natürlich auch den des Umfelds) nachspüren und so greifbar machen, wie sehr Stella ihre "Glaubensgenossen" und diesen Teil ihrer selbst hasst. Die hier dargestellte Stella lässt sich meiner Meinung nach gut vereinbaren mit dem, was man bei weiteren Recherchen nachlesen kann.

Für mich ist dieses Buch definitiv eine Leseempfehlung, gerade in der heutigen Zeit.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 21.01.2019
Stieg Larssons Erbe
Stocklassa, Jan

Stieg Larssons Erbe


sehr gut

Kalte Spuren interessant und durchaus spannend aufbereitet

Am 28. Februar 1986 wird der schwedische Ministerpräsident Olof Palme auf offener Straße erschossen. Der Mord ist bis heute nicht aufgeklärt. Auch der damalige Journalist und Illustrator Stieg Larsson recherchiert zu dem Fall und sieht schnell Verbindungen zur rechtsextremistischen Szene. Die schwedische Polizei konzentriert sich jedoch auf andere Theorien. Jahrzehntelang kommt Larsson immer wieder zu dem Fall zurück, beleuchtet neue Spuren, sammelt neues Material. Zwischenzeitlich wird er zum Bestsellerautoren. Doch den Mord an Olof Palme kann er nicht aufklären und auch die Polizei nicht von seiner Theorie überzeugen. Bei seinem plötzlichen Tod im Jahr 2004 hinterlässt er ein ganzes Archiv. Zehn Jahre später stößt der Journalist Jan Stocklassa auf dieses Archiv, bekommt Zugang dazu, folgt Larsson Spuren und entwickelt dessen Theorien weiter, weicht aber auch davon ab. Neben dem Mord an Palme versucht Stocklassa auch, Larssons Leben und Recherchen zu rekonstruieren ...

Zweiteres ist Stocklassa, meiner Meinung nach, nicht ganz so gut gelungen. Im ersten Teil befasst sich das Buch mit Stieg Larsson als Person, seinem Privatleben und seinen Recherchen in der rechtsextremistischen Szene. Leider kommt Stocklassa nie nah genug heran, um Larsson lebendig wirken zu lassen. Über dessen Vorgehensweise kann er nur Vermutungen anstellen und über ihn als Person kann er nur von Anekdoten Dritter berichten. Da Larsson durchaus ein Aufhänger des Buchs ist, hätte ich sehr gern mehr über ihn erfahren, über seine Erkenntnisse über die Rechtsextremisten und wie seine Recherchen sein Leben beeinflusst haben. Es gab ja immer wieder Berichte, dass er bedroht wurde. Auch seine Methoden hätte ich gern näher kennengelernt, aber Stocklassa geht hier nicht ins Spekulative oder Fiktive und dadurch bleibt Larsson eher blass und wirkt mehr wie ein Verkaufsargument. Dementsprechend enttäuscht war ich beim Lesen.

Dann jedoch beginnt Stocklassa, von seinen eigenen Recherchen zu berichten. Davon, wie er an Larssons Archiv kam und wie er sich das umfangreiche Material selbst erschließen musste. Er verfolgte Larssons Spuren weiter, interviewte Personen, an die selbst Larsson noch nicht herangekommen war und bediente sich sogar fragwürdiger Methoden, die ihn ganz nahe heranbrachten an die Personen von Interesse. Hier kam endlich richtig Spannung auf und Stocklassas Vermutungen wurden nachvollziehbar. Insgesamt ist jedoch schwer nachzuvollziehen, ob Stocklassas oder auch Larssons Theorien wahrscheinlich sind, sie wurden jedoch sehr plausibel dargelegt. Nicht immer allerdings waren die Namen und Akteure übersichtlich dargestellt. Gut nachzuvollziehen ist dagegen die Frustration, die mit den Recherchen einhergegangen sein muss, denn nach über 30 Jahren dürfte es kaum noch Beweise geben und alle Spuren dürften kalt sein. Wenn nicht noch jemand freiwillig gesteht, wird der Mord an Palme höchstwahrscheinlich unaufgeklärt bleiben. Vielleicht gelingt es Stieg Larsson posthum und Stocklassa noch zu Lebenszeiten, mit ihrem Material zur Aufklärung beizutragen. Ein interessantes und streckenweise spannendes Buch über Verschwörungen, erschütternde politische Machenschaften und vielen weitestgehend unbekannte erschreckende "Parallelgesellschaften" mit extremistischen Ideologien ist allemal dabei herausgekommen.

Bewertung vom 27.11.2018
Der Apfelbaum
Berkel, Christian

Der Apfelbaum


sehr gut

Die Geschichte der Eltern im Spiegel der Zeit

Christian Berkel besucht seine Mutter. Ihm wird bewusst, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt, um die Geschichte seiner Eltern zu erfahren, denn den Erinnerungen seiner Mutter ist immer weniger zu trauen. Also stückelt er die Geschichte zusammen und lässt von seiner Mutter die Lücken auffüllen, so gut es geht. Es ist eine Geschichte mit vielen Höhen und Tiefen, die durch den historischen Kontext nicht einfacher wird. Sala ist 13, Otto 17 als sie sich kennenlernen und ineinander verlieben. Sala, Halbjüdin mütterlicherseits, stammt aus einer intellektuellen Familie, während sich Otto, das Arbeiterkind, mühsam sein Medizinstudium erarbeitet. Ab 1938 führt Sala ein unstetes Leben, reist von Deutschland nach Spanien zur entfremdeten Mutter, von dort nach Paris zu einer modeschöpfenden Tante und landet schließlich in Argentinien. Währenddessen wird Otto zur Wehrmacht eingezogen und landet schließlich in Kriegsgefangenschaft.

"Der Apfelbaum" ist eigentlich eine sehr tragische Familiengeschichte, die zeigt, was Verfolgung und Krieg Menschen und ihren Beziehungen antun kann. Sala hat seit Jahren keinen Kontakt zu ihrer Mutter, identifiziert sich nicht mit deren Religion und versteht daher nicht, warum sie verfolgt wird. Durch ihre Flucht verliert sie ihre Wurzeln. Otto ist physisch und psychisch von der Kriegsgefangenschaft gezeichnet. Für beide ist es schwer, wenn nicht gar unmöglich, nach dem Erlebten wieder zusammenzufinden. Das ist schon eine sehr anrührende und, durch die Tatsache, dass es sie auf wahren Begebenheiten beruht, hoch interessante Geschichte. Sie gibt viele Denkanstöße, nicht nur aus historischer Betrachtung, sondern auch unter aktuellen Gesichtspunkten.

Dennoch haben mich einige Dinge beim Lesen auch gestört. Regelmäßig ist beispielsweise Dialekt eingestreut. Das ist bei Otto noch glaubhaft, weil es seine Herkunft deutlich macht und auch das Bemühen, sich unter bestimmten Bedingungen gewählter auszudrücken. Leider konnte ich mit Salas regelmäßigem "zum Piiiepen" wenig anfangen. Für mich wollte das einfach nicht zu einer Frau aus intellektuellen Kreisen passen und auch nicht an den Stellen, an denen es vorkam. Was mich aber eigentlich noch mehr gestört hat war, dass manche Szenen irgendwie zu verschwimmen schienen. In einigen Situationen wurde die Bedeutung plötzlich doppeldeutig und schwer greifbar, während der Rest geradlinig und direkt erzählt wurde. Durch den Stil und die Beschreibungen sind viele Szenen durchaus kunstvoll, aber mit manchen von ihnen wusste ich überhaupt nichts anzufangen und konnte sie überhaupt nicht einordnen. Bei mir kam das Gefühl auf, dass der Autor sich möglicherweise an gewisse Erinnerungen nicht herangetraut hat oder dass ihm bei diesen Szenen Informationen fehlten, die er nicht fiktiv auffüllen wollte.

Insgesamt ist "Der Apfelbaum" ein ehrgeiziges "Projekt", die Geschichte der eigenen Eltern zu verstehen, die im Spiegel ihrer Zeit sehr spannend war, aber tiefe Spuren bei den Betroffenen hinterlassen hat. Statt eines großen unterhaltsamen "Abenteuers", wie bei so vielen fiktiven Geschichten, zeigt "Der Apfelbaum" die ganze Tragik eines Lebens in der damaligen Zeit auf zutiefst menschliche Weise auf. Und somit ist das Buch inhaltlich auf jeden Fall etwas Besonderes. Stilistisch hatte es für mich leider ein paar Schwächen.

3 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 14.11.2018
Deutsches Haus
Hess, Annette

Deutsches Haus


ausgezeichnet

"Die Deutschen wollen getröstet werden"

Frankfurt, 1963: Eva ist gelernte Dolmetscherin für Polnisch und unterstützt ihre Eltern in deren Wirtshaus "Deutsches Haus". Sehnsüchtig wartet sie auf einen Heiratsantrags ihres wohlhabenden Freundes, ein Unternehmersohn. Doch dann wird sie eines Tages für einen Auftrag abgeholt, für den sie gar nicht ausgebildet ist. Sie soll für den Generalstaatsanwalt die Zeugenaussage eines Mannes übersetzen, der über Kriegsverbrechen berichtet. Trotz ihres Schocks und ihrer Verwirrung nimmt sie entgegen dem Wunsch ihrer Familie und ihres Freundes den Auftrag an, während des ersten Auschwitz-Prozesses die Zeugenaussagen zu übersetzen. Von ursprünglichem Unglauben über tiefe Erschütterung muss sich Eva schließlich auch der Schuldfrage stellen. Was wussten die Menschen, nicht zuletzt ihre Eltern?

Dieses Buch hat mich sehr gefesselt. Es ist nicht so sehr ein Spannungsbogen gewesen, obwohl es den auch in irgendeiner Form gab, während sich die Familiengeschichte von Eva entfaltet und sie ihre Beziehung riskiert, weil sie sich gegen die gesellschaftliche Strömung stellt, die Verbrechen der Nationalsozialisten einfach zur verdrängen. Es sind auch nicht die geschilderten Taten der Nazis, denn die sind zur Genüge bekannt. Die Spannung stammt vielmehr aus dem langsamen Realisieren Evas und ihrer Nähe zu den Ereignissen, da sie noch während der Nazizeit geboren ist und sich für sie die Schuldfrage direkt und unmittelbar stellt. Während sie erschrocken den Erlebnissen der Zeugen zuhört und extrem nah dran ist, weil sie sie übersetzen soll, muss sie feststellen, dass ihr Umfeld nichts davon wissen will, und zwar mit vollem Vorsatz. Weil es ja doch nichts bringen würde, sich mit der Vergangenheit zu befassen. Und gleichzeitig haben ehemalige Nazis immer noch wichtige Positionen inne und die Hauptangeklagten spazieren jeden Verhandlungstag wieder frei aus dem Gerichtsgebäude. Es ist die emotionale Ebene, die mich besonders gepackt hat.
Der Schreibstil ist gradlinig und verstellt so nicht den Blick auf die Geschichte. Er erlaubt ein schnelles Vorankommen, ist aber nicht oberflächlich. Das einzige, was mich ein wenig gestört hat, war das Ende. Das hing leider nicht mehr so stringent zusammen, wie der Großteil des Buches, sondern wirkte ein wenig, als würde die Geschichte auseinander fasern. Stilistisch passte das jedoch irgendwie zum Ende dieser Geschichte, einem letztlich trotz kleiner Kritik großartigem und wichtigem Buch, das so perfekt zur aktuellen Zeit passt.

Bewertung vom 08.10.2018
Ida
Adler, Katharina

Ida


sehr gut

Viel mehr als nur die Freud-Patientin

USA, 1941: Ida Adler, 58 Jahre, geborene Bauer, steigt in New York von einem Schiff. Sie hat die Flucht aus Europa geschafft und verdankt dies vor allem ihrem berühmten toten Bruder, dem Sozialisten Otto Bauer, und ihrem Sohn, einem Dirigenten. Doch Ida selbst hatte bis dahin auch ein bewegtes Leben. Unter anderem war sie Patientin von Sigmund Freud und erlangte als Hysterie-Patientin Dora Berühmtheit durch seine "Bruchstücke einer Hysterie-Analyse", mit denen Freud Teile aus ihrer Psychoanalyse veröffentlichte. Ida wagte es, die Therapie bei Freud entgegen seines Ratschlags abzubrechen. Diese war nur eine in einer langen Reihe an mitunter schmerzhaften Behandlungen. Doch Ida ist sehr viel mehr als nur eine Fallstudie Freuds. Denn Ida ist Jüdin, Sozialistin und gleichzeitig wohlhabend. Ida hält Salons ab und landet schließlich über Umwege und lange Reiserouten in den USA. Ihre Urenkelin zeichnet in diesem biographischen Roman ihren Lebensweg vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1945 nach.

Dabei wird deutlich, dass Ida sehr viel mehr ist und auch vor und nach Freud ein sehr bewegtes Leben hatte. Dementsprechend steht die Therapie bei Freud über große Strecken nicht im Fokus der Geschichte, auch wenn Freud immer wieder seinen Schatten auf Ida wirft. Katharina Adler hat das sehr interessante Leben von Ida (einer wahren Geschichte) aufgeschrieben und ihr viel Leben eingehaucht. Dabei ist Ida eine Figur, an der man sich durchaus stoßen kann. Die unterkühlte Beziehung ihrer Mutter zu ihr führt sie später mit ihrem eigenen Kind weiter. Gerade dann in den USA wird ihr Verhalten immer unsympathischer und meiner Meinung nach ist dies als Einstieg entsprechend ungünstig. Gerade am Anfang wirkt die Geschichte sehr bruchstückhaft und die Zeitsprünge haben mich gerade zu Beginn oft verwirrt und mir Ida ziemlich unnahbar gemacht. Das wurde im Verlauf des Buches besser, aber ich konnte nie wirklich eine Beziehung zu Ida aufbauen. Aber auch für verschiedene Anspielungen war dies ungünstig. So wird beispielsweise in einer Szene vorgegriffen, die zu diesem Zeitpunkt unverständlich ist, deren Erwähnung man jedoch schon wieder vergessen hat, wenn der Hintergrund schließlich erklärt wird. Mir ist das nur aufgefallen, weil ich nach Beenden des Buches die ersten Kapitel noch einmal quergelesen habe. Für mich macht das deutlich, dass das unchronologische Erzählen zwar künstlerisch ist, dadurch aber, zumindest in diesem Buch, auch einiges verlorengeht. Auch der Schreibstil war mitunter gewöhnungsbedürftig. Auch wenn er den Wiener Dialekt und Duktus durchaus anschaulich machte, haben mich die wiederholt unvollständigen Sätze als Stilmittel irritiert. Die eingestreuten Zitate aus Freuds Analysen dagegen fand ich sehr passend und interessant. Die Autorin hat sehr anschaulich gemacht, wie frustrierend Freuds Deutungsstil und Deutungshoheit für Ida gewesen sein müssen.

Insgesamt hat mich Idas Leben gefesselt und bewegt, auch wenn ich zu Ida als Figur immer eine Distanz empfunden habe und auch mehr in Bezug auf Freud erwartet hatte. Der Roman "Ida" bildet jedoch auf sehr interessante und spannende Weise die Umbruchsphase in Europa ab und das Leben derer, die sich mittendrin wiederfinden.

Bewertung vom 01.10.2018
Der Blumensammler
Whitehouse, David

Der Blumensammler


gut

Schwer greifbare Geschichte

Dove wollte mal Journalist werden, doch er hat das Studium nie beendet. Stattdessen arbeitet er nun in der Notrufzentrale. Sein Privatleben ist kaum erwähnenswert. Als er eine Blume sieht und plötzlich alles über sie weiß, obwohl er sich bisher nie für Blumen interessiert hat, wundert er sich. Kurz darauf beginnen die Flashbacks in das Leben eines anderen Menschen, Peter Manyweathers. Peter entdeckt Jahrzehnte zuvor in einem Buch in einer Bibliothek einen Liebesbrief. Dieser listet sechs seltene Blumenarten auf und Peter beginnt, sich mit ihnen zu beschäftigten. Schließlich will er alle sechs Blumen mit eigenen Augen sehen und das führt ihn um die ganze Welt. Was hat es mit Doves Erinnerungen an Peters Leben auf sich?

"Der Blumensammler" ist für mich ein sehr schwer zu fassendes Buch. Zunächst kann man den Eindruck haben, dass es sich hier vielleicht um eine oberflächliche Liebes- oder Entwicklungsgeschichte handeln wird. Doch zunächst dreht sich die Geschichte vor allem um die Suche nach den verschiedenen Blumen und eine Männerfreundschaft, die zunehmend dysfunktional wird. Gleichzeitig gibt es da das Rätsel der Erinnerungen, die sich Dove aufdrängen ohne dass er etwas dagegen tun kann. Das gibt der Geschichte einen etwas übersinnlichen Aspekt. Und dann ist da noch die Frage danach, was der wieder aufgetauchte Flugschreiber und das verschollene Flugzeug aus dem ersten Kapitel mit allem zu tun haben. All diese Verbindungen werden am Ende, meiner Meinung nach, grandios geknüpft. Das steht jedoch am Ende eines Berg-und-Talfahrt ähnlichen Leseerlebnisses durch verschiedene Genre, das mittendrin auch mal ins krimihafte abschweift und sogar eine Prise Noir enthält. Es gibt darüber hinaus etliche surreale Momente, die sich logischer Erklärung entziehen, zu diesem Buch aber überwiegend gut passen. Insgesamt war mir dieses Buch aber zu viel, die Mischung zu „wild“ und es wurden etliche Themen zu viel aufgemacht, wie beispielsweise politische Morde in irgendwelchen Kellern in Indonesien, deren Spuren Peter als Reinigungskraft entfernt ohne sich weiter damit zu beschäftigen. Überhaupt stellt sich die Frage, wie sich Peter die ganzen Reisen leisten kann. Auch die Wechsel zwischen Peter und vor allem Dove waren zunehmend verwirrend, weil nicht deutlich genug voneinander abgegrenzt. Das war vielleicht Absicht, erforderte aber beim Lesen viel Konzentration.

Insgesamt war dieses Buch anfänglich sehr vielversprechend. Leider hat es mich mit fortschreitender Geschichte immer mehr verloren, auch wenn mich das Ende doch nochmal packen und für die Geschichte und die Figuren gewinnen konnte. „Der Blumensammler“ war ein Buch, das für mich nur schwer greifbar war.

Bewertung vom 01.10.2018
Loyalitäten
Vigan, Delphine

Loyalitäten


ausgezeichnet

Ein tragisches Schülerschicksal einfühlsam erzählt

Hélène ist Lehrerin. Zunehmend bemerkt sie Veränderungen an dem 12-jährigen Theo. Der sonst ruhige, aber gute Schüler wirkt zunehmend unbeteiligt und übermüdet. Doch als Lehrerin sind ihr die Hände gebunden und die Schulleitung reagiert nur zögerlich auf ihre Bitten, ein genaueres Auge auf ihn zu haben. Währenddessen trifft Theo sich mit seinem besten Freund in geheimen Ecken der Schule und trinkt zunehmend mehr Alkohol, Kommt Hélène hinter sein Geheimnis, bevor etwas Schlimmes passiert?

Delphine de Vigans neues Buch hat mich zutiefst berührt. Auf nur rund 180 Seiten erzählt sie eine intensive Geschichte vom Versagen von Eltern, ihre Kinder bedingungslos zu lieben; von einem System, das mehr Angst vor Regressansprüchen von Eltern hat, als dass seine Untätigkeit das Wohl eines Kindes gefährdet; von einem Kind, das von den Problemen der Erwachsenen heillos überfordert ist; und von einer Freundschaft unter Kindern, die uneingeschränkt loyal ist. In intelligenter Schreibe und aus drei verschiedenen Perspektiven beleuchtet die Autorin verschiedene Positionen in dieser Geschichte: die von Theo, die von Hélène und die der Mutter von Theos bestem Freund. Dadurch kennt man zwar schon vorab Theos Geheimnis, doch muss erstaunt feststellen, wie schwer es für das Umfeld ist, die Zeichen in diese Richtung richtig zu deuten. Und auch so bietet die Geschichte dennoch ausreichende Überraschungen. Die Geschichte geht sehr behutsam mit den Figuren um und behandelt das Thema sehr sensibel. Gerade dadurch wird es so eindringlich und die ganze Tragik des Geschehens bewusst. Die Autorin macht damit auf eine Thematik aufmerksam, die bislang meiner Meinung nach noch keinen prominenten Weg in die Erwachsenenliteratur gefunden hat, die aber unbedingt bewusst gemacht werden sollte. Ohne zu moralisieren zeigt die Autorin dabei auf, wo Versäumnisse geschehen und wo Handlungsmöglichkeiten bestünden, sowohl für ihre Figuren als auch im realen Leben.

Die Geschichte endet letztlich eher als eine Episode aus dem Alltag einer Lehrerin, aber auch aus dem tragischen Leben eines jungen Schülers. Das Ende können Pessimisten dabei in die eine, Optimisten in die andere Richtung deuten. Ich hätte mir hier gern noch ein paar Seiten mehr gewünscht. Andererseits gibt gerade das Ende dem Buch noch einmal Wucht und einen ziemlichen Effekt, sodass ich hierfür keine Abstriche vergeben möchte. Auf jeden Fall hat mich dieses Buch mit jeder Seite gepackt und berührt und ich empfehle es unbedingt weiter. Zum einen aufgrund seiner literarischen Qualität, aber auch aufgrund der absolut zeitgemäßen Thematik und der unglaublichen Einfühlsamkeit der Autorin.

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