Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
sleepwalker

Bewertungen

Insgesamt 467 Bewertungen
Bewertung vom 29.06.2023
Der Teufelshof / Akte Nordsee Bd.2
Almstädt, Eva

Der Teufelshof / Akte Nordsee Bd.2


sehr gut

Bodenständiger Krimi mit (für mich) überraschendem Ende – so kann ich „Akte Nordsee - Der Teufelshof“, den neuen Fentje-Jacobsen-Krimi aus der Feder von Eva Almstädt knapp und auf den Punkt beschreiben. Aber natürlich gibt es zu dem Buch noch mehr zu sagen. Fakt ist aber: der zweite Teil der Reihe um die junge Anwältin ist ein ruhiger, überwiegend unblutiger Krimi mit sympathischen Charakteren und einer gut ausgearbeiteten Geschichte und einem Schluss, der mich etwas zwiegespalten zurücklässt.
Aber von vorn.
Henning Fehnsen, ein Nachbar und alter Freund von Anwältin Fentje Jacobsen feiert seine Hochzeit mit Anna mit einem großen Fest. Am nächsten Morgen findet eine Nachbarin Hennings Eltern erschossen in ihrem Haus, Henning selbst ist schwer verletzt. Anna wird nach langer Suche völlig verstört in der Scheune gefunden, sie ist von Anfang an die Hauptverdächtige für die Polizei und für viele, die die Familie kennen. Viele glauben, die junge Frau, die aus Lettland für ein landwirtschaftliches Praktikum nach Deutschland gekommen ist, nur auf der Suche nach einem deutschen Mann war. Und jetzt ist sie auch noch schwanger!
Fentje beschließt, Anna anwaltlich zu vertreten und beginnt, eigene Nachforschungen anzustellen. Dabei trifft sie auf einen alten Bekannten: der Journalist Niklas John ist ebenfalls an dem Fall dran, wenn auch aus anderen Gründen. Er und Anna waren früher einmal ein Paar. Und da ist dann auch noch Annas Ex-Mann Thomas Mayer, der einen eher zweifelhaften Ruf genießt. Aber wäre er zu einem Doppelmord fähig? Als dann ein Brandanschlag auf die Wohnung von Niklas verübt und Fentje überfallen wird, beginnen die Dinge, sich zu überschlagen.
Wenn man ruhige und gut konstruierte Krimis in angenehmer Sprache sucht, ist man bei Eva Almstädt immer an der richtigen Adresse. Schon mit ihrer Pia Korittki-Serie konnte die Autorin punkten und die detektivisch veranlagte, engagierte Anwältin Fentje Jacobsen als zentrale Figur in ihrer neuen Reihe ist ebenso ein Garant für spannende Unterhaltung mit der Aufforderung zum Miträtseln. Zusammen mit ihrem Gegenpart/Mitstreiter, dem Journalisten Niklas John, bildet sie ein interessantes Duo.
Das Buch ist der zweite Teil einer Serie, kann natürlich auch allein gelesen und verstanden werden, aber die Lektüre des ersten Bandes („Akte Nordsee – Am dunklen Wasser“) kann ich nur empfehlen. Einige Elemente aus dem ersten Teil werden „weitergesponnen“, so beispielsweise Fentjes Leben auf dem Hof ihrer Familie samt ihrer Nichte Sofia und ihrer Großmutter Gretje, einem echten norddeutschen Original. Eines der größten Probleme von Oma Gretje ist auf jeden Fall nicht ihre eigene zunehmende Tüddeligkeit, sondern die Tatsache, dass Fentje nach wie vor nicht verheiratet ist.
Die gut und facettenreich ausgearbeiteten Charaktere sind neben den verschiedenen Erzählperspektiven und der stellenweise beklemmenden Atmosphäre ein tragendes Element des Krimis. Allerdings kommt der stellenweise so ruhig daher, dass er ein paar Längen hat. Alles in allem ist er allerdings spannend und sehr gut konzipiert, wenn auch der Schluss für mich zwar stimmig ist, aber etwas überstürzt und überraschend kam. So überraschend, dass er für mich nicht hundertprozentig zum Rest des Buchs passt. Schade fand ich auch, dass die Geschichte hinter dem Titel „Teufelshof“ zwar sehr kurz erzählt wird, aber nicht wirklich etwas mit der Krimi-Handlung zu tun hat. Allerdings fand ich das Buch alles in allem besser als den ersten Teil der Reihe, die Entwicklung der Charaktere ist deutlich zu erkennen und ich freue mich jetzt schon auf den nächsten Band. Einziger Kritikpunkt für mich bleibt also der überstürzte Schluss und daher vergebe ich vier Punkte.

Bewertung vom 29.06.2023
Der dreizehnte Mann / Eberhardt & Jarmer ermitteln Bd.2
Schwiecker, Florian;Tsokos, Michael

Der dreizehnte Mann / Eberhardt & Jarmer ermitteln Bd.2


weniger gut

Zugegeben, das Granther-Experiment (oder das Kentler-Experiment, wie es tatsächlich hieß), sagte mich vor der Lektüre von „Der dreizehnte Mann“ von Florian Schwiecker und Michael Tskokos nichts. Daher hat mich das Buch und die Geschichte dahinter sehr interessiert. Und, wie leider schon öfter bei Büchern von Michael Tsokos, blieb ich zwiegespalten zurück. Und wieder einmal stellt sich für mich die Frage: Wie kann man ein Thema, das so viel Potential bietet, so unbefriedigend und unspannend abhandeln? Was für eine Enttäuschung.
Aber von vorn.
Bis in die 2000er Jahre wurden von Jugendämtern Kinder und Jugendliche als Pflegekinder an pädophile Pflegeväter vermittelt. Timo Krampe und Jörg Grünwald waren zwei von ihnen und möchten durch ein Zeitungsinterview an die Öffentlichkeit gehen und einen riesigen Skandal aufdecken. Doch kurz vor dem Interview verschwindet Jörg. Wenig später landet auf dem Obduktionstisch von Gerichtsmediziner Dr. Justus Jarmer eine unbekannte Wasserleiche. Wem ist daran gelegen, den Skandal weiterhin unter Verschluss zu halten? Zusammen mit dem Strafrechtsanwalt Rocco Eberhardt versucht Dr. Jarmer, den Dingen auf den Grund zu gehen.
„Der dreizehnte Mann“ ist nach „Die 7. Zeugin“ der zweite Teil um das Duo Jarmer/Eberhardt. Ich habe den ersten Teil nicht gelesen, hatte aber beim vorliegenden Buch keine Verständnisprobleme. Meine Probleme mit dem Buch liegen ganz wo anders. Die Geschichte, die dem Buch zugrunde liegt, ist ebenso spannend wie unfassbar. Ein Jugendamt vermittelt Pflegekinder an Männer, deren pädophile Neigungen bekannt sind – und hält es für eine gute Idee! Was für einen Krimi hätte man daraus machen können! Aber das Autorenduo setzte es für mich völlig unbefriedigend um, denn mir fehlte fast gänzlich die Spannung. Die Geschichte wird so gemächlich und oberflächlich erzählt, dass die Lektüre für mich kein Vergnügen war und ich oft mit dem Gedanken gespielt habe, sie einfach abzubrechen.
Der Schreibstil ist gut und an sich lässt sich das Buch leicht und flüssig lesen, die Sprache ist nüchtern und prägnant, dazu sind die Kapitel aus unterschiedlichen Perspektiven, ebenfalls eher kurzgehalten. So wirkte das Buch auf mich stellenweise fast ein wenig gehetzt und ein richtiger Lesefluss wollte sich nicht einstellen. Die Charaktere sind etwas zweidimensional und für mich zu stereotyp ausgearbeitet. Eigentlich bin ich ein großer Freund von True Crime und finde es immer gut, wenn Menschen „vom Fach“ (Michael Tsokos ist Rechtsmediziner, Florian Schwiecker hat als Strafverteidiger gearbeitet) Bücher schreiben. Ich bin auf den Gebiet Recht und Rechtsmedizin kein völliger Laie, aber selbst mich hat die fachliche Nüchternheit und die Faktenlastigkeit ein wenig erschlagen und mir die Spannung und das Lesevergnügen genommen.
Ein bisschen versöhnt hat mich der für mich überraschende Schluss. Gegen Ende hatte ich das Gefühl, das Autorenduo hat sich „warmgelaufen“, aber in dem Moment, als die Geschichte für mich eine rundere Sache wurde, war sie auch schon zu Ende. Mein Fazit ist also: zu wenig Spannung, zu oberflächlich, Potential zu wenig ausgeschöpft. Daher von mir keine Lese-Empfehlung und zwei Sterne.

Bewertung vom 09.06.2023
»Ich kämpfe für eine bessere Polizei« - #Better Police
Dobrowolski, Oliver von

»Ich kämpfe für eine bessere Polizei« - #Better Police


ausgezeichnet

Oliver von Dobrowolskis Buch „Ich kämpfe für eine bessere Polizei“ ist ein Buch, das mich gleichermaßen nachhaltig beeindruckt wie verstört hat. Der langjährige Polizeibeamte schreibt über Dinge, die bei der Polizei schieflaufen. Das, was in den Medien und von den Verantwortlichen so gern als „bedauerliche Einzelfälle“ bezeichnet wird, ist in Wahrheit oft eher die Regel als die Ausnahme und ein erschreckender Trend in eine gefährliche Richtung.
Ebenso wie der Autor (wir sind etwa gleichaltrig) bin noch in einer Zeit aufgewachsen, als Polizisten und Richter als integre Respektspersonen angesehen wurden. Sicher stand dies nicht allen zu, dennoch waren vermutlich noch die meisten „rechtschaffen“. Heute sind viel zu viele mehr rechts als schaffend und S*xismus, s*xuelle Belästigung und Machtmissbrauch sind viel zu häufig. Das Bild, das Oliver von Dobrowolski von seinen Kollegen zeichnet, ist sehr durchwachsen. Natürlich arbeiten dort immer noch überwiegend kompetente Menschen, die für die innere Sicherheit des Landes einstehen und auch sie machen einen Teil des Buchs aus.
Aber es gibt eben zum Glück nicht nur sie.
Offen, kompetent und menschlich beschreibt der Autor den Polizeidienst und man merkt beim Lesen, wie sehr er seinen Beruf liebt. Sein Plädoyer für eine bessere Polizei (#betterpolice) ist deshalb sehr leidenschaftlich und fesselnd, wenn er über seine Sorge über die Entwicklungen innerhalb der Polizei, rechtsextreme Chatgruppen, Rassismus, Gewalt und Diskriminierungen schreibt. Ein mutiges Buch, das zwar sprachlich gut und leicht zu lesen ist, inhaltlich aber schwer zu verdauen. Seine Lösungsansätze sind für den Laien nachvollziehbar, aber vermutlich innerhalb der Strukturen nicht leicht zu implementieren. Er wurde aus den eigenen Reihen als Nestbeschmutzer und „Kollegenschwein“ beschimpft und hat sich mit seinen Aussagen (auch in den sozialen Medien) bei vielen sehr unbeliebt gemacht.
Für mich war das Buch ein Lichtblick und gibt mir Hoffnung, dass sich irgendwann einmal wieder etwas zum Guten ändern wird und die vielbesungenen „Einzelfällle“ wieder eben das sein werden. Von mir fünf Sterne.

Bewertung vom 09.06.2023
Ostseenebel / Pia Korittki Bd.18 (eBook, ePUB)
Almstädt, Eva

Ostseenebel / Pia Korittki Bd.18 (eBook, ePUB)


gut

Urlaub mit Leiche – das ist es, was eine junge Frau in Eva Almstädts mittlerweile 18. Pia-Korittki-Krimi erleben muss. „Ostseenebel“ ist ein solider Krimi mit vielen falschen Fährten, ausgiebiger Ermittlungsarbeit und einer gewissen Prise Lokalkolorit und Privatleben. Also alles in allem bodenständig und unterhaltsam. Leider aber auch nicht mehr, weshalb mich das Buch eher zwiegespalten und etwas unbefriedigt zurücklässt.
Aber von vorn.
Alva Dohrmann möchte doch einfach nur Urlaub in Stüvensee, einem eher beschaulichen Ort an der Ostsee machen. Dazu hat sie im Internet ein Haus gemietet, dessen Eigentümerin, die Anwältin Linn Aubach sich selbst für einige Zeit selbst in Urlaub befindet. Doch schon nach ihrer ersten Nacht findet Alva im Garten neben dem Teich einen Toten. Und es ist nicht irgendein Toter, sondern der eher unbeliebte Ortsbürgermeister Burkhard Schönfeld, der da mit eingeschlagenem Schädel unter einer Schicht aus Seerosenblättern liegt. Die Ermittlungsarbeiten führen Kriminalhauptkommissarin Pia Korittki von der Kriminalpolizei Lübeck und ihre Kollegen in alle möglichen Richtungen. Der Tote hatte jede Menge Feinde, dazu haben einige der Ortsbewohner eher dürftige Alibis, allen voran die Nichte und Alleinerbin des Toten. Aber auch die Ärztin, ihr Ehemann und einige andere im Dorf machen sich nach und nach verdächtig. Und dann verschwindet plötzlich Alva Dohrmann spurlos und in den Dünen wird eine weibliche Leiche gefunden und die Polizei tappt nach wie vor im Dunkeln.
Ein toter Unsympath, reichlich Verdächtige, Liebeleien und Landschaft – eigentlich hat Eva Almstädts Buch alles, was ein Krimi braucht. Spannungsbogen ist ebenfalls vorhanden, wenn auch nicht fingernagel-abknabber hoch. Was mich genau an dem Krimi stört, kann ich auch gar nicht hundertprozentig sagen. Er las sich für mich nicht so flüssig, wie ich es von der Autorin gewohnt bin, sondern ein bisschen hölzern und sperrig. Die Hauptcharaktere sind ziemlich gut ausgearbeitet, man merkt, dass die Autorin sie über 18 Teile der Reihe entwickelt hat. Dagegen können die Nebencharaktere auf ihrer Stippvisite im Alltag von Pia und Co. nicht punkten. Sie sind eher zweidimensional und fallen nur durch schlechte Lügen und eigenartiges Verhalten auf und ihre Hauptaufgabe scheint das Legen falscher Fährten für die Leserschaft. Das Privatleben von Pia Korittki und ihrem Sohn Felix ist eine nette Konstante, die sich durch alle Teile der Serie zieht und es ist nett, sie weiterzuverfolgen, im vorliegenden Band ist es aber mehr Beiwerk, da Felix auf Klassenfahrt ist.
Die Krimi-Handlung ist, wie gesagt, solide erzählt und stellenweise, vor allem gegen Ende, spannend. Allerdings finde ich die Konstruktion für die Autorin ungewohnt dürftig, die Auflösung ist zwar stimmig, kommt aber etwas plötzlich und für mich so überraschend, dass ich insgesamt mit der Auflösung nicht ganz warm werden kann. Für mich hatte das Buch sehr viel Potential und die Autorin hat bei weitem nicht alles ausgeschöpft.
Zwar ist das Buch keine komplette Enttäuschung, kommt aber über ein „nett“ und „unterhaltsam“ nicht hinaus. Für mich eher etwas für nebenher, vielleicht als Urlaubslektüre im Strandkorb an der Ostsee.
Daher von mir drei Sterne.

Bewertung vom 30.05.2023
Rot. Blut.Tot.
Nordby, Anne

Rot. Blut.Tot.


ausgezeichnet

Der intensive Blick des Wolfs an der Hallenwand auf dem Copenhell-Gelände in Kopenhagen ist an sich schon eindrucksvoll. Mit einer darunter liegenden Leiche beginnt der neue Thriller von Anne Nørdby. "Rot. Blut. Tot" ist nach „Eis. Kalt. Tot“ der zweite Band um das dänische Ermittlerduo Jesper Bæk und Kirsten Vinther und zu meiner Freude ist auch die Super Recognizerin Marit Rauch Iversen wieder mit an Bord. Herausgekommen ist ein enorm spannendes, bedrückendes, vielschichtiges Buch, das die Leserschaft nicht nur mit nach Kopenhagen und die Insel Møn nimmt, sondern auch auf eine Reise in die mystische Welt der Asengläubigen.
Aber von vorn.
Ein Toter wird unter dem Copenhell-Wolf auf der Halbinsel Refshaleøen gefunden. Die Leiche ist grausam zugerichtet und der Mord wirft Fragen auf, denn der Tote war unheilbar an Krebs erkrankt und hätte ohnehin nur noch kurze Zeit zu leben gehabt. Noch bevor Jesper Bæk und seine Kollegen auch nur annähernd eine Idee haben, wer hinter der Tat stecken könnte, wird auf der Insel Møn eine weitere Leiche gefunden. Der Modus Operandi ist zu ähnlich, als dass es keinen Zusammenhang geben könnte. Für die Bewohner der Insel ist schnell klar, dass es sich beim Täter um Hans Erik Rask, einen intelligenzgeminderten Mann handeln muss. Schließlich saß er wegen des Mordes an einem kleinen Mädchen 31 Jahre im Gefängnis gesessen. Da er inzwischen entlassen wurde, ist für alle klar: der Wolf von Møn ist zurück. Die Ermittler stoßen bei ihrer Arbeit in dem durch unterschiedliche religiöse Ansichten tief gespaltenen Dorf abwechseln auf Ablehnung und Unterstützung. Die Polizei versucht, bei ihrer Fahndung nach Hans Erik Rask dem wütenden Mob zuvorzukommen, der den Mann am liebsten lynchen würde. Aber nach und nach tauchen immer mehr Ungereimtheiten auf, und was hat alles mit der ehemaligen Tierversuchsanstalt auf der Nachbarinsel zu tun?
Ich kenne Anne Nørdby von der Tom-Skagen-Reihe und habe auch „Eis. Kalt. Tot“, den Vorgängerband zu diesem Buch gelesen. Aber mit „Rot. Blut. Tot“ toppt die Autorin alles, was ich bislang von ihr kenne. Die Verflechtung der mystischen Aspekte (sie zitiert die Edda, Wölfe spielen eine zentrale Rolle und das Publikum erfährt einiges über den Asatro, eine Glaubensgemeinschaft, die an die Asen, also die nordischen Götter glaubt), Krimigeschehen und aktueller dänischer Politik ist hervorragend gelungen und gibt dem Buch einen sehr speziellen Touch. Die Insel Lindolm samt der inzwischen aufgegebenen Tierversuchsanstalt ist ebenso real wie die Idee der FD (Dansk Folkeparti), dort straffällig gewordene Asylbewerber:innen unterbringen zu wollen und auch das Ghettogesetz gibt es seit 2021. Dazu ist der Spannungsbogen fast konstant sehr hoch und auch sprachlich ist das Buch sehr ansprechend geschrieben. Die Geschichte wird in verschiedenen Erzählsträngen erzählt, aus der Sicht der Ermittler, aus der Sicht des Wolfs von Møn, dessen Gedankengänge ab und zu auch Licht in die Geschehnisse der Vergangenheit bringen. Die Charaktere sind gut ausgearbeitet, wer den ersten Band der Reihe kennt, kann eine deutliche Entwicklung feststellen. Die Balance zwischen Ermittlungsarbeit und Privatleben der Ermittler ist ausgewogen, wenn auch die Probleme von Jespers Tochter Josefine mit se*ualisierter Gewalt in der Polizeischule etwas zu oberflächlich angerissen werden. Der Schluss war für mich eine Überraschung – alles in allem macht das Buch einfach Lust auf mehr.
Als Dänemark-Fan mit dem Copenhell-Wolf als Aufnäher auf der Hose bin ich natürlich nicht ganz unparteiisch, was das Buch angeht. Dennoch gebe ich eine klare Lese-Empfehlung für alle Freunde des Scandi-Noir, von Kopenhagen, der Insel Møn, für alle, die sich für die alten nordischen Religionen interessieren und überhaupt alle, die spannende und gut geschriebene Thriller mögen. Von mir natürlich fünf Sterne.

Bewertung vom 30.05.2023
Josses Tal
Rehse, Angelika

Josses Tal


ausgezeichnet

„Josses Tal“ ist der Debütroman der Autorin Angelika Rehse, den sie mit 74 Jahren veröffentlicht hat. Es ist eine bedrückende Geschichte über (Familien)Ehre und toxische Freundschaften zwischen 1930 und 1943, über Mitläufertum, falsche Vorbilder, politische Puppenspieler, Schuld und Reue. Es handelt von der Geschichte von Josef Tomulka, genannt Josse, der 1925 als uneheliches Kind geboren wurde, was vor allem aus Sicht seines Großvaters eine Schande für die Familie war. In dem Entwicklungsroman, bei dem die Entwicklung in eine gefährliche Richtung geht, erzählt der in der norwegischen Einöde lebende Protagonist seine Geschichte in Rückblenden und nimmt die Leserschaft mit in seien Kindheit und Jugend im damaligen Schlesien. Ein gut erzähltes, ansprechend geschriebenes und nachdenklich machendes Buch.
Aber von vorn.
„Also die Leinwand, auf der mein Leben gemalt ist, war von vornherein nicht weiß. Sie war vergilbt und rissig und wurde im Laufe der Zeit mit hässlichen Brauntönen bemalt.“ So beginnt Josse seine Lebensgeschichte. Seine Kindheit ist geprägt von den Schlägen des Großvaters, der Unterwürfigkeit der Großmutter und der Verzweiflung der Mutter. Er ist ein uneheliches Kind, die Mutter hat die Identität seines Vaters nie preisgegeben. Dafür, dass die Mutter ein „rumgewischtes Frauenzimmer“ ist, lässt der Großvater den Jungen leiden. Für einen Neuanfang zieht die Familie um und schon am ersten Tag trifft Josse auf Wilhelm, den Sohn der neuen Nachbarn. Der junge Medizinstudent beschützt ihn vor den Schlägen des Großvaters und wird fortan ein Idol für den kleinen Jungen, der sich nichts sehnlicher wünscht, als dem Vorbild zu gefallen und irgendwann auch eine braune SA-Uniform zu tragen. Lange lässt sich Josse von dem Älteren leiten, der ihn ein „Prachtkind“ nennt und fortwährend lobt und nach und nach wächst er in die nationalsozialistischen Strukturen hinein. Dienste bei den Pimpfen und der HJ begeistern ihn, endlich findet er etwas, bei dem er glänzen kann und ein Gefühl der Dazugehörigkeit erlebt. Ohne nachzudenken, bespitzelt er Nachbarn und Bekannte. Seine Mutter stirbt an Diphtherie, Bücher werden verbrannt, jüdische Mitbürger werden deportiert, der Krieg bricht aus – und mittendrin ist Josse, dem die Mutter auf dem Totenbett ein Geheimnis anvertraut hat, das ihn in riesige innere Konflikte bringt und ihm die Augen öffnet, als es schon fast zu spät ist.
Was für ein Buch! Angelika Rehse hat einen Entwicklungsroman geschrieben, der das Heranwachsen eines jungen Menschen zur Zeit der Nationalsozialisten beschreibt. Es war die Zeit, in der meine Großeltern aufgewachsen sind, die Zeit, in der Rattenfänger wie Wilhelm beeinflussbaren Kinder und junge Menschen mit ihrem Gedankengut indoktrinierten und sie alles in allem so manipulierten, bis ihr moralischer Kompass nicht mehr verlässlich funktionierte. Gar nicht so weit weg von dem, was wir momentan wieder erleben, umso wichtiger sind solche Bücher, um die Anfänge zu erkennen und dagegen anzugehen. Damals wie heute „ernähren“ sich die radikalen Strömungen (nicht nur in der Politik, sondern auch in der Religion) von unsicheren, unzufriedenen und „abgehängten“ Menschen, die Bestätigung und Anerkennung suchen.
Trotz der angenehmen und leichten Sprache ist das Buch keine leichte Kost. Die Atmosphäre ist fast durchgehend bedrückend und gewaltbeladen, Josses Unsicherheit und seine inneren Konflikte sind spürbar. Wieso er Wilhelm so verehrte, ist nachvollziehbar – er suchte eine Vaterfigur, einen Freund und ein männliches Vorbild, so etwas hatte vorher in seinem Leben gefehlt. Angelika Rehse hat damit ein fulminantes Debut vorgelegt, das Lust auf mehr macht und einen zum Nachdenken bringt. Ein beeindruckendes Wert, von mir fünf Sterne dafür.

Bewertung vom 25.05.2023
Ein Hof und elf Geschwister
Frie, Ewald

Ein Hof und elf Geschwister


ausgezeichnet

Niemals hätte ich gedacht, dass mich ein Buch über die Entwicklung der Landwirtschaft im Münsterland so begeistern könnte, vor allem, da es in meiner Familie seit mehreren Generationen keine Landwirte mehr gab. Aber Ewald Fries Herangehensweise an das Thema hat mich wirklich beeindruckt und ich habe sein Buch „Ein Hof und elf Geschwister“ sehr gern gelesen. Der Historiker hat seine eigene Familiengeschichte, die des Hofs Horst Nr. 17 bei Nottuln im katholischen Münsterland, in die allgemeine Geschichte des Wandels eingeflochten und eingeordnet, wodurch Zeitgeschichte ein Gesicht bekommt (die Namen seiner Familienangehörigen hat er anonymisiert, ihre Geburtsjahrgänge sind allerdings authentisch). Als Rahmen dient ihm eine Sammlung transkribierter Interviews, die er mit seinen Geschwistern geführt hat, seine Eltern sind inzwischen verstorben und kommen nur aus zweiter Hand zu Wort. Sein ältester Bruder ist im Jahr 1944 geboren, die jüngste Schwester 25 Jahre später, von zwölf Kindern haben elf überlebt – auch im 20. Jahrhundert keine Selbstverständlichkeit.
Ging das bäuerliche Leben in der Nachkriegszeit zu Ende? Man könnte es so oder so sehen. Es wandelte sich auf jeden Fall grundlegend. Ehemals hochangesehen, haben die Bauern lange auf die Bewohner der Siedlungen hinabgesehen – die Hierarchien innerhalb der Gemeinschaft waren klar. Und dann wurde plötzlich alles anders, denn auf einmal wurden Bauern als ungebildet, ärmlich und rückständig angesehen, da halfen auch alle Modernisierungen nicht. Die Betriebe veränderten sich natürlich, aber auch das Leben der Menschen, die die Höfe führten und auf ihnen lebten. Die Zeiten der kleinen Höfe ging zu Ende, die meisten Höfe spezialisierten sich auf ein bestimmtes Gebiet (die Familie des Autors auf die Zucht rotbunter Rinder und Kühe, sein ältester Bruder Hermann später auf Schweine und Ferkel), aus den Höfen wurden „Einmannbetriebe“. Arbeitspferde wurden durch Traktoren ersetzt, oft verfolgten die Kinder der Bauern andere Lebensentwürfe und manchem mögen die Eltern sogar mit der Zeit peinlich geworden sein. Tatsächlich haben auch in Fries Familie die meisten Kinder die Landwirtschaft verlassen. Nach einhelliger Aussage aller Geschwister standen ihnen die Eltern bei der Berufswahl nie im Weg, nein, vor allem die Mutter bestärkte sie darin, ihren eigenen Weg zu gehen. Vor allem für die Töchter sah sie eine Heirat nie als Lebensziel an.
Den Wandel im bäuerlichen Leben gab es überall, dennoch empfand ich das, was Frie beschreibt als etwas völlig anderes als das, was ich beispielsweise aus dem Schwarzwald oder der Eifel kenne. Vor allem, so scheint es, war Ewald Fries Vater gegenüber dem Fortschritt eher offen. Der Hof wurde in den 1960er-Jahren vom Pferd auf den Traktor umgestellt, elektrische Haushaltsgeräte wurden angeschafft und der Hof bekam eine Heizung. Das Leben wurde ein wenig einfacher und schlicht anders. Heute sind die Erinnerungen der Geschwister an die Eltern und ihre Kindheit geprägt von einer Mischung aus Respekt und Dankbarkeit. Die Söhne erinnern sich zwar daran, dass es eine Plackerei war, dass es nicht einfach war, mit dem Vater zusammen zu arbeiten und die Töchter, dass sie sich schon früh um die kleineren Geschwister kümmern mussten. Sie erinnern sich aber auch daran, dass die aufrechte Haltung ihrer Mutter ein Zeichen dafür war, dass sie sich trotz der harten Arbeit nicht „krumm“ schuften musste.
In Ewald Fries Brust scheinen zwei Herzen zu schlagen. Das des Historikers Frie und das des Bauernsohns. Und so schafft er ein mehrdimensionales Werk, in dem er Hofgeschichte, Lebensgeschichte und Zeitgeschichte miteinander verflicht, zusammen einordnet und alles in allem ein interessantes und informatives Werk schafft, das mich in seiner Intensität und Dichte begeistert hat. Von mir fünf Sterne.

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.05.2023
Das Leben hat kein Geländer (eBook, ePUB)
Redl, Christian

Das Leben hat kein Geländer (eBook, ePUB)


sehr gut

Christian Redl kenne ich hauptsächlich als Kommissar Krüger aus den „Spreewald-Krimis“ im ZDF, aber auch als Darsteller kauziger und undurchsichtiger Charaktere in anderen Filmen. Jetzt hat der preisgekrönte Schauspieler, Musiker und Hörbuchsprecher mit „Das Leben hat kein Geländer“ eine Art Autobiografie veröffentlicht, ein Buch, das mich sehr zwiegespalten zurücklässt.

Aber von vorn.

Der inzwischen 75jährige Christian Redl blickt auf ein bewegtes (Berufs-)Leben zurück. Aufgewachsen in der Nachkriegszeit mit einem kriegstraumatisierten alkoholkranken Vater, dessen Depressionen und Sucht das Familienleben und alle Familienmitglieder prägten. Da er auf dem Gymnasium nicht zurechtkam, besuchte er eine Waldorfschule, wo er zum ersten Mal mit dem Schauspiel in Berührung kam. Gegen den Willen der Eltern machte er nach dem Abschluss eine Ausbildung zum Schauspieler. In den folgenden Jahren arbeitete er mit großen Regisseuren wie Luc Bondy, Claus Peymann und Peter Zadek zusammen, unter anderem an Schauspielhäusern in Hamburg, Bremen und Frankfurt. Er sammelte Erfahrungen in den unterschiedlichsten Rollen und mit den verschiedensten Menschen, auf manche hätte er wohl verzichten können.

Trotz einiger Erfolge suchte er lange nach dem Glück und der richtigen Frau. Alkohol spielte in seinem Leben eine viel zu große Rolle, dazu kamen mentale Probleme, Bühnenangst machte ihm das Arbeiten immer mehr zur Qual, denn zur Freude. Musik half ihm durch die schweren Zeiten, er spielte Gitarre und schrieb eigene Stücke. Zwischenmenschlich stürzte er sich in eher komplizierte Frauengeschichten. Zahlreiche Affären, eine unglückliche Ehe (mit Marlen Diekhoff) und eine sehr schwierige Beziehung (mit Maja Maranow) später fand er mit über 60 Jahren die Frau fürs Leben. Mit den Spreewaldkrimis spielte er sich in die Herzen der Fernsehzuschauer und seine Interpretation des Müllermeisters in der „Krabat“-Verfilmung von 2008 sorgte dafür, dass ich den Film nicht bis zum Ende anschauen konnte.

„Christian Redl hat sein Leben aufgeschrieben - ehrlich, aufrichtig, ungeschönt“ – steht im Klappentext. Was nicht drinsteht ist, dass seine Lebenserinnerungen, so interessant, bewegend und berührend sie auch sein mögen, schlecht lektoriert sind, außerdem sind in dem Buch viel zu viele ärgerliche Rechtschreib- und Grammatikfehler. Auch sprachlich hätte ich von jemandem, der auf der Bühne mit den Texten der größten Schriftsteller umzugehen weiß, mehr erwartet. Was für ein Jammer, da hätten der Autor und seine Geschichte, aber auch die Leserschaft etwas Besseres verdient! Manche Episoden aus dem Leben von Christian Redl brachten mich zum Schmunzeln, manche eher zum Kopfschütteln oder machten mich traurig. So viele Weggefährten musste er schon beerdigen – unter anderem Ulrich Wildgruber, seinen Bruder Wolf Redl und nicht zuletzt seine ehemalige Lebensgefährtin Maja Maranow.

Außer den persönlichen Aspekten gibt Christan Redl auch einen großartigen Einblick in die Welt des Theaters, ermöglicht einen Blick hinter die Kulissen mit zum Teil äußerst selbstherrlichen Regisseuren und begnadeten Schauspielern. Er nimmt seine Leserschaft mit in seine eigene Sturm und Drang Zeit, eine Zeit der Selbstfindung, einen wilden Ritt und erlaubt einen tiefen Blick in die Seele eines empfindsamen Schauspielers mit allen Höhen und Tiefen. Er erzählt offen von seinen Abstürzen und dem Hang zum Alkohol und wie er sich nach vielen Irrwegen dann doch mehr oder weniger selbst gefunden hat, denn das Leben hat tatsächlich kein Geländer, wie der Titel so treffend den österreichischen Schriftsteller Hermann Bahr zitiert.

Für mich als Biografie-Fan, der Christian Redl gern im Fernsehen sieht, war das Buch abgesehen von den vielen ärgerlichen Fehlern eine interessante Lektüre und ich vergebe vier Sterne.

Bewertung vom 11.05.2023
Dreivierteltot
Stein, Christina

Dreivierteltot


ausgezeichnet

Ich hätte nie im Leben gedacht, dass mich ein Jugendthriller jemals so richtig begeistern könnte. Ich dachte auch, „Dreivierteltot“ von Christina Stein wäre eine nette Lektüre für nebenher, mehr aber auch nicht. Aber da lag ich vollkommen falsch. Das Buch hat mich nach kurzer Zeit mitgerissen und das Ende so überrascht, dass ich erst einmal nach Luft schnappen musste.
Aber von vorn.
Kim und Jon haben gerade ihr Abitur gemacht und wollen vor Beginn des Studiums noch einen gemeinsamen Urlaub machen. Kim ist eigentlich kein Wander-Typ ist, macht sie sich aber ihrem Freund zuliebe auf den 160km langen West Highland Way in Schottland. Schließlich läuft Jon Halbmarathon und liebt Sport. Schon zu Anfang ihrer Tour hängt bei den beiden aber der Himmel eher voller Wolken als voller Geigen, sprich: sie streiten sich sehr viel. Denn Jon, der Kim wegen ihrer roten Haare so gerne Lotti Karotti nennt und ihre Sommersprossen liebt, will nicht in Mainz studieren, sondern nach München ziehen. Dahin, wo auch seine ex-Freundin Anna lebt. Und er kann Kims beste Freundin Emma nicht leiden. Und dann taucht auch noch Sky, ein äußerst gutaussehender geheimnisvoller Fremder, samt Hund auf und läuft denselben Weg wie sie. Obwohl Kim und Jon unterwegs sehr vielen Menschen begegnen, treffen sie immer wieder auf Sky. Sie wandern – Sky ist ebenfalls irgendwo auf der Strecke. Sie übernachten im Hostel – Sky ist da. Und selbst als die beiden am Abend im nächsten Hostel mit anderen Wanderern etwas trinken und Kim auch mal an deren Joint zieht – Sky und sein Hund Oskar sind ebenfalls da. Aber als Kim am nächsten Morgen auf der Wanderung eine schreckliche Entdeckung macht, ist sie plötzlich allein. Und auf einmal weiß sie nicht mehr, wem sie noch trauen kann.
Das Buch ist zwar ein Jugendthriller, aber ich (als „fortgeschrittener“ Jugendlicher) fand es sehr spannend, wenn auch auf eine eher unterschwellige Art. Die Spannung ist wie ein ständiges ungutes Gefühl im Magen ständig vorhanden. Wie bei einer Wanderung habe ich mich beim Lesen immer gefragt, was mich wohl hinter der nächsten Kurve (also im nächsten Kapitel) erwarten würde. DIESEN Schluss hätte ich allerdings nie im Leben erwartet, Hut ab vor der Autorin. Da hat sie selbst mich als alten Hasen völlig überrascht.
Die Haupt-Charaktere im Buch sind sehr detailreich ausgearbeitet, wenn auch sehr Teenager-typisch, denn Äußerlichkeiten spielen immer eine sehr große Rolle. Bei den Nebencharakteren beschränkt sich die Autorin dann doch eher auf Stereotype (der Texaner trägt einen Cowboyhut und fällt hauptsächlich durch seinen Akzent auf, die Einheimischen durch rote Haare, etc.). Auch die Landschaft kommt ein bisschen kurz, allerdings ist das für einen Thriller angemessen, es ist ja kein Reiseführer. Sprachlich ist das Buch für die Zielgruppe passend, den wenigsten werden die vermeidbaren Fehler auffallen, die ich gefunden habe.
Alles in allem lässt sich das Buch zügig lesen, die kurzen Kapitel steigern die Spannung und diese sorgt auch dafür, dass man es nicht aus der Hand legen möchte, bevor man nicht weiß, wie es ausgeht. Der Schluss war für mich ein Paukenschlag und führte dazu, dass ich es, mit dem Wissen aus dem Ende, komplett noch einmal gelesen habe – das führt zu einer völlig anderen Sichtweise auf alles. Ein gelungener Jugendthriller, der durch seine unterschiedlichen psychologischen Komponenten durchaus auch für Erwachsene geeignet ist. Von mir fünf Sterne.

Bewertung vom 04.05.2023
The Afghanistan Papers
Whitlock, Craig; The Washington Post

The Afghanistan Papers


ausgezeichnet

Am 7. Oktober 2001 begannen die USA damit, Afghanistan zu bombardieren und starteten damit den längsten Krieg in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Der Militäreinsatz dort dauerte länger als die Beteiligung an beiden Weltkriegen und der komplette Vietnamkrieg zusammen, nämlich ganze 20 Jahre. Dass dieser Krieg ein einziges Fiasko war und wie es dazu kommen konnte, hat der Investigativjournalist Craig Whitlock in seinem Buch „Die Afghanistan Papers. Der Insider-Report über Geheimnisse, Lügen und 20 Jahre Krieg“ zusammengetragen. Ein bedrückender Zusammenschnitt über Kämpfe, Illusionen, Lügen, Drogen und viel zu viele Tote auf allen Seiten. Eine Chronik des politischen Versagens auf ganzer Linie.
Drei aufeinanderfolgende Präsidenten der Vereinigten Staaten (Bush, Obama und Trump) haben gemeinsam mit ihren militärischen Befehlshabern die gesamte Öffentlichkeit über den Afghanistankrieg belogen. Punkt. Sie haben die Welt glauben lassen, ihr Einsatz sei zielgerichtet, verfolge einen Plan und werde früher oder später zum Erfolg führen. Dabei wussten sie selbst nicht einmal, wie dieser Erfolg aussehen würde! In der völlig konfusen Mission wusste selbst der damalige Verteidigungsminister Donald Rumsfeld nicht einmal sicher, wer eigentlich die Bösen waren. Ein namentlich nicht genannter hochrangiger Mitarbeiter des State Department nannte die Mission sinngemäß „Amerika zieht in den Krieg, ohne zu wissen, was es tut“ – und damit fasst er das ganze Debakel hervorragend zusammen. Was folgte war der längste und teuerste Krieg, an dem die USA jemals beteiligt waren. Ziel war es, das Land erst zu verlassen, wenn Stabilität gewährleistet wäre.
Das bedeutete, das Land müsste eine stabile Regierung nach amerikanischem Vorbild haben, dazu demokratische Wahlen, ein funktionierendes Oberstes Gericht, eine Korruptionsbekämpfungsbehörde, ein Frauenministerium und ein öffentliches Schulsystem mit Tausenden neuen Schulen und einem modernen Lehrplan. Schöne Worte. Denn im Endeffekt ging es darum, „die Überbleibsel der Taliban“ zu „bombardieren und versuchen, sie zu töten. Genau das haben wir getan, und es hat funktioniert. Sie sind weg. Und dem afghanischen Volk geht es jetzt sehr viel besser.“ Dieser ach so „gerechte Krieg“ sollte so lange dauern, bis „al-Qaida die gerechte Strafe erhalten hat. Es kann morgen so weit sein, es kann in einem Monat so weit sein, es kann ein oder zwei Jahre dauern. Aber wir werden uns durchsetzen.“ Die Geschichte hat alle eines Besseren belehrt. Das Buch endet mit dem offiziellen „Kriegsende“ und dem Abzug der Truppen im August 2021, seither ist noch vieles geschehen. Auf einen konfusen Feldzug folgte ein ebenso konfuser Abzug, Kabul fiel innerhalb kürzester Zeit an die besiegt geglaubten Taliban zurück, die sich systematisch auf diesen Augenblick vorbereitet hatten. Afghanistan ist heute instabiler denn je. Der Krieg war ein Fiasko auf ganzer Linie.
Das Buch beinhaltet eine immense Recherchearbeit des investigativen Journalisten Craig Whitlock, der seinen Text mit zahllosen Fußnoten untermauert. Das ist auch nötig, denn die Fakten und vor allem die vielen Personen erschlagen einen beim Lesen fast. Seine Faktensammlung fußt überwiegend auf den „Lesson Learned“-Dokumenten, bestehend aus mehr als 2000 Seiten an bis dahin unveröffentlichten (von der Behörde redigierten) Gesprächsniederschriften. Sprachlich und konzeptionell ist das Buch fast ein Krimi oder gar ein Thriller, bestehend aus einem Wust an strategischen Fehlentscheidungen und politischer Schönfärberei. Ja, stellenweise ist es etwas reißerisch, das tut seiner Qualität keinen Abbruch. Die Sprache des Autors ist die eines Journalisten, mal sachlich, mal flapsig, aber immer nah an der Leserschaft. Konzeptionell geht er chronologisch vor und schafft damit eine ebenso lohnende und aufklärende wie deprimierende Lektüre. Von mir fünf Sterne.