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sleepwalker

Bewertungen

Insgesamt 495 Bewertungen
Bewertung vom 19.01.2024
Everything Fat Loss
Carpenter, Ben

Everything Fat Loss


ausgezeichnet

„Es wird dich nicht schockieren, dass ich viele Diätbücher für Müll halte.“ – deshalb hat Ben Carpenter sein eigenes „Diätbuch“ geschrieben und es „Everything Fat Loss“ genannt. Ich kenne ihn seit einiger Zeit aus den sozialen Medien. Ich bin absolut kein Freund von Influencern im Allgemeinen und von Fitness-Influencern noch viel weniger. Aber Ben Carpenter hat mich von der ersten Minute an begeistert. Sein Buch war daher für mich ein Muss. Das enorm umfangreiche und sehr minutiös erarbeitete Werk an sich war für mich sehr interessant und ich werde sicher des Öfteren darauf zurückgreifen, selbst ich als „alter Hase“ in Bezug auf Körpergewicht konnte noch Neues dazulernen. Die Übersetzung konnte mich jedoch leider nicht begeistern und ich musste mir zusätzlich zur deutschen auch noch die Originalfassung besorgen.
Aber von vorn.
Eines ist ganz klar: Ben Carpenter weiß, wovon er schreibt. Alles, was er schreibt und auch das, was er in seinen Videos in den sozialen Medien sagt, hat Hand und Fuß, zu allem gibt es fundierte Quellen und sein Studium der Studien ist bemerkenswert. Er schreibt, wie er spricht, manchmal derbe („Seien wir ehrlich: Ein Großteil der Diätindustrie ist im Allgemeinen Müll.“), manchmal sehr bildhaft, aber immer schonungslos ehrlich, wohlüberlegt und fundiert und nah am Leser, den er auch immer wieder direkt anspricht. Er macht in seinem Buch von Anfang an klar, wie individuell Gewichtsabnahme ist und dass es keine ultimative Diät gibt, die bei jedem gleich gut funktioniert. Dabei ist er nie oberlehrerhaft, sondern immer auf Augenhöhe mit der Leserschaft, wie ein guter Kumpel.
Er bespricht die verschiedenen bekanntesten Diäten und Ernährungsformen, beleuchtet objektiv deren Vor- und Nachteile. Er zitiert und evaluiert Studien, bringt lebensnahe Beispiele und geht mit den verbreitetsten Ernährungsmythen und beliebtesten Fehlinformationen ins Gericht. So erläutert er die Wichtigkeit von ausreichend Schlaf, genügend Flüssigkeit und Sport ebenso wie die Frage, wie oft und wie schnell man essen sollte, wie schlecht hochverarbeitete Lebensmittel, Alkohol und Zucker sind. Vieles von dem, was er schreibt, wird der Leserschaft ein Nicken entlocken, denn vieles ist altbekannt oder schlicht gesunder Menschenverstand. Vieles von dem, was Ben Carpenter schreibt, ist aber selbst für mich neu gewesen und auch seine wissenschaftliche Einordnung mit der Nennung enorm vielen Studien, war interessant und informativ.
Allerdings macht er auch sehr deutlich, dass sich der Alltag nicht um Gewicht oder Körpermaße drehen sollte. „Dein Glücksgefühl wird nicht garantiert steigen, wenn dein Körperfettanteil sinkt. Und dich obsessiv mit deinem Aussehen zu befassen, kann mit eigenen psychologischen Risiken einhergehen.“ Der psychologische Aspekt ist ihm merklich wichtig, was in vielen anderen Abnehmratgebern (ob nun in Buchform, Video oder Hochglanzmagazin) nicht so ist. Da sieht er den Menschen als Ganzes und nicht nur seinen BMI oder seinen Körperfettanteil. „WIE KANNST DU DAS IN DIE TAT UMSETZEN?“ – diese Frage stellt er am Ende jedes Kapitels. Denn eines ist klar: Gewichtsverlust ist individuell und jede Ernährungsumstellung ist nur so gut wie sie in den jeweiligen Alltag passt, sodass man dauerhaft damit leben kann.
Das Buch ist voller Information, manchmal muss man beim Lesen innehalten und sie verdauen, sonst könnten sie einen erschlagen. Aber es ist interessant, menschlich und man kann die Begeisterung des Autors für das Thema in jeder Zeile lesen. Einzig die Übersetzung fand ich teilweise holprig, da ich die Sprache von Ben Carpenter im Original kenne, finde ich, dass das Buch stellenweise Besseres verdient hätte. Von mir aber trotzdem fünf Sterne.

Bewertung vom 03.01.2024
Glutspur / Liv Jensen Bd.1 (MP3-Download)
Engberg, Katrine

Glutspur / Liv Jensen Bd.1 (MP3-Download)


gut

Ich hatte von Katrine Engberg schon einen Krimi gelesen, der mir sehr gut gefallen hat, daher dachte ich, ich könnte mit „Glutspur“ nichts falsch machen. Tja, was soll ich sagen? Ich lag falsch. Das Hörbuch, wurden schnell zu einem der anstrengendsten und langatmigsten Hörerlebnisse des Jahres. Als gegen Ende etwas Spannung aufkam und alle losen Fäden langsam begannen, sich zu einem Ganzen zusammenzufinden, hatte ich schon gründlich die Lust verloren und habe nur bis zum Schluss durchgehalten, weil ich einfach jemand bin, der Dinge gern zu Ende bringt. Das Buch ist der erste Teil der neuen Reihe um die ehemalige Polizistin und jetzige Privatdetektivin Liv Jensen und für mich muss Frau Engberg nicht nur eine Schippe drauflegen, damit mich die Serie begeistern kann, sondern jede Menge. Schade, dabei war der Klappentext so vielversprechend.
Aber von vorn.
Liv Jensen hat ihr bisheriges Leben hinter sich gelassen. Sie ist aus dem Polizeidienst in Aalborg ausgeschieden und lässt sich als Privatdetektivin in Kopenhagen nieder. Dort bespitzelt sie für Versicherungsgesellschaften Versicherungsnehmer, die deren Meinung nach Leistungen erschleichen. Dazu tritt ein ehemaliger Kollege an sie heran, dem der über drei Jahre alte Fall eines ermordeten Kulturjournalisten zu schaffen macht. Während sie in diesem Fall ermittelt, passieren weitere Dinge in ihrer direkten Umgebung. Hannah Leon, die Tochter ihres Vermieters, recherchiert selbst im Fall ihres toten Zwillingsbruders Daniel. Der hatte wegen des Mordes an seiner ex-Frau im Maßregelvollzug gesessen und während eines Freigangs Suizid begangen. Und als dritter Fall kommt noch der Mord an einer Museumsangestellten dazu, die eine Affäre mit Nima Ansari, dem Chef der benachbarten Autowerkstatt, hatte.
Drei Fälle, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Dazu kommt das Privatleben der Ermittlerin, die sich nach dem Ausstieg aus dem Polizeiberuf und ihrem Umzug von Jütland nach Kopenhagen ein neues Leben aufbauen muss. Und ein Bauunternehmer, der aus einem jütländischen Naturschutzgebiet ein Luxus-Resort machen will. Und die Rückblicke ins Jahr 1943 auf die jüdische Familie Leon, die Dänemark wegen der Nazis verlassen muss. Und und und. Die Autorin hat für mich viel zu viel in den Auftakt ihrer neuen Serie gepackt, sich heillos verzettelt und das Potential der Geschichte nicht annähernd ausgeschöpft. Sprachlich war das Buch leserfreundlich, manche handwerkliche Übersetzungsfehler ließen mich allerdings fassungslos zurück. Einzig die Beschreibungen von Kopenhagen und der jütländischen Landschaft fand ich lesenswert und charmant.
Der Rest der Geschichte besticht durch langatmige Langeweile und langwierige, teils ziel- und planlose Ermittlungsarbeiten. Das Hörbuch zog sich für mich wie Kaugummi, weitgehend ohne Spannung und eher dröge dahinplätschernd, dazu fand ich auch den Sprecher nur mäßig ansprechend. Weniger wäre mehr gewesen, für mich war es überladen und aufgeblasen, sodass es kaum einen Spannungsbogen gibt. Die Charaktere fand ich ebenfalls überwiegend blass und etwas hölzern, selbst die Protagonisten konnten bei mir nicht punkten. Die immer wieder eingestreuten „Prophezeiungen“ (Sätze, die Hannas verstorbener Bruder an die Wand seiner Zelle in der JVA geschrieben hat), fand ich eher verwirrend und nervig als hilfreich. Der Schluss hat mich dann allerdings für die rund 350 Seiten Vorgeplänkel entschädigt, der hat mich nämlich wirklich überrascht und mit dem Werk etwas versöhnt. Dann ergibt nämlich auch der Nachsatz des Titels „Die Wurzeln des Schmerzes“ einen Sinn. Alle Fäden laufen zusammen, es gibt keine losen Enden, wobei die Fälle meiner Meinung nach eher durch Zufall, denn durch wirkliche Ermittlungen gelöst werden. Trotzdem bin ich gespannt, was sich Katrine Engberg im zweiten Teil (auf Dänisch ist er schon erschienen und heißt „De hvide nætter“) der Serie ausdenkt. Von mir solide drei Sterne.

Bewertung vom 18.12.2023
Flüsterwald - Eine neue Bedrohung. In den Fängen der Zauberin. Mit Farbschnitt nur in der 1. Auflage! (Flüsterwald, Staffel II, Bd. 3)
Suchanek, Andreas

Flüsterwald - Eine neue Bedrohung. In den Fängen der Zauberin. Mit Farbschnitt nur in der 1. Auflage! (Flüsterwald, Staffel II, Bd. 3)


ausgezeichnet

Ich bin ja wirklich seit dem ersten Band ein sehr großer Freund von Andreas Suchaneks „Flüsterwald“-Reihe. Der dritte Teil der zweiten Staffel mit dem Titel „Flüsterwald - Eine neue Bedrohung: In den Fängen der Zauberin“ führt Lukas und seine Freunde nach Australien auf ein neues, spannendes Abenteuer. Ein lesenswertes Buch mit ansprechenden Charakteren und ausgeklügelter Handlung.
Nachdem Lukas Ella länger nicht erreichen kann, muss er feststellen: seine Freundin wurde entführt und die böse Zauberin (man kennt sie schon aus dem vorhergehenden Teil der Serie) steckt dahinter! Zusammen mit seinen Flüsterwald-Freunden muss er sich auf die Suche nach Ella machen, denn sie scheint nicht in „ihrem“ Flüsterwald zu sein, sondern wo anders. Tatsächlich wurde sie in den australischen Flüsterwald verschleppt, wo Lukas, der Menok Rani, die Elfe Felicitas und ihre Beschützerkatze Punchy ihre ganzen magischen Fähigkeiten brauchen, um sie zu befreien. Und natürlich nicht nur das, denn der Plan der Zauberin ist nach wie vor, alle zu versteinern. Unterstützt werden die Freunde bei ihrer Mission von den australischen Flüsterwald-Beschützern Noah, Zoe und einem Regenbogengürteltier namens Dundi. Schaffen sie es auch dieses Mal, die böse Zauberin aufzuhalten, bevor alle zu Stein werden?
Wie immer ist es ein mitreißendes Buch voller Spannung, Abenteuer und Freundschaft. Aber Andreas Suchanek flicht auch Themen wie Umweltverschmutzung ein („»Ihr Menschen habt mit eurem Müll unser Wasser verschmutzt, das ganze Meer ist eine Jauchegrube. Und obwohl alle es gesehen haben, hat keiner etwas dagegen unternommen oder uns geholfen. Ihr habt uns Geschöpfe der Meere einfach vergessen.«“) Die Leserschaft erfährt außerdem einiges über den heiligen Berg Uluru (in ihm versteckt sich die Waldseele des australischen Flüsterwaldes), Traumzeitpfade und darüber, dass in Australien sehr viele Tiere giftig sind. Nicht nur Schlangen und Spinnen können tödlich sein, „»Es gibt Frösche, die musst du nur anfassen und das war’s. Kontaktgift.«“ erklärt Noah Ella beispielsweise.
Sprachlich fand ich das Buch wie immer sehr flüssig zu lesen, sicher eignet es sich auch gut als Vorlesebuch. Die wechselnden Perspektiven bringen unterschiedliche Blickwinkel und Abwechslung in die Geschichte. Die Charaktere haben sich im Verlauf der Reihe sehr stark weiterentwickelt, sie sind liebevoll und mit vielen Facetten ausgearbeitet. Leider hat der Menok Rani, der bisher mein erklärter Liebling war, durch seine Schubphase (die ist der menschlichen Pubertät sehr ähnlich) inzwischen Potential eine wirkliche Nervensäge zu werden. Zwar ist er auch mit Pickeln immer noch ein niedlicher Lügenbold, aber manchmal fand ich ihn an der Grenze zum Unerträglichen. Ja, und ob man Vokabeln wie „ghostet“ in einem Buch für Kinder ab neun Jahren wirklich braucht, ist für mich fraglich.
Alles in allem war das Buch wieder ein großes Lesevergnügen mit kurzweiliger Spannung und unerwarteten Wendungen. Von mir die volle Punktzahl und ich warte nach dem Cliffhanger am Ende wie immer ungeduldig auf den nächsten Teil.

Bewertung vom 18.12.2023
Die letzten Stunden
Rice, Luanne

Die letzten Stunden


ausgezeichnet

„Die letzten Stunden“ waren mein erstes Buch von Luanne Rice und ich muss sagen, dass ich es wirklich lesenswert finde. Abgesehen von ein paar Längen, die weder zur Handlung noch zur Spannung nennenswert beitragen, war es ein spannender und überraschender Krimi mit einem völlig unerwarteten Schluss und einer interessanten psychologischen Komponente.
Als die im sechsten Monat schwangere Galeristin Beth Lathorp ermordet in ihrem Schlafzimmer aufgefunden wird, nimmt Detective Conor Reed diesen Fall sehr persönlich, denn er kennt das Opfer. Beth war vor vielen Jahren zusammen mit ihrer Mutter und ihrer Schwester Kate entführt worden. Die Mutter der beiden starb damals und Conor hatte sich geschworen, die beiden Mädchen zu beschützen. Diese sind inzwischen erwachsen, er hat sie aber nie aus den Augen verloren. Und jetzt sind Beth und ihr ungeborenes Kind tot und ihr untreuer Ehemann Pete ist für den Ermittler der Hauptverdächtige. Als Teenager haben sich Beth, Kate, Scotty und Lulu ewige Freundschaft geschworen und außerdem, dass sie sich immer die Wahrheit sagen würden. Nach Beths Tod kommen aber immer mehr Geheimnisse ans Tageslicht und was hat alles mit dem Bild „Moonlight“ zu tun, wegen dem vor Jahren schon die Mutter von Beth und Kate sterben musste?
Obwohl das Buch sehr umfangreich ist, habe ich mich an keiner Stelle wirklich gelangweilt, allerdings könnte man einige Passagen ersatzlos streichen und das Buch würde qualitativ nichts einbüßen. Die Geschichte wird in zwei Strängen erzählt, sie umfasst 60 Kapitel, aufgeteilt auf drei Teile. Sprachlich fand ich es sehr ansprechend und alle Charaktere sind gründlich und mit Liebe zum Detail ausgearbeitet, ebenso die (vielleicht etwas ausschweifenden) Beschreibungen von Landschaften und Kunstwerken. Ebenso viel Detailliebe steckt im Plot, das bis zum (für mich) überraschenden Schluss sehr viele Wendungen und Kleinigkeiten bietet. Als Leser:in ist man immer auf dem gleichen Wissensstand wie die Polizei, was mich manchmal ein bisschen zur Verzweiflung brachte, weil ich ebenso im Dunklen tappte, wie der Ermittler.
Die Perspektivwechsel geben der Handlung den gewissen Pfiff, steigern die Spannung und leider auch die Verwirrung. Der Schluss hat mich dann doch überrascht, vor allem auch das Motiv hinter der Tat, wobei ich zugeben muss, dass mich das nicht wirklich überzeugen konnte. Der Spannungsbogen ist nicht übermäßig hoch und nach einem eher langsamen Anfang steigt er stetig. Außer dem Mord kommt das Buch weitgehend unblutig daher, statt Gewalt gab es für mich eher eine ständig wahrnehmbare latente Bedrohung, mehr ein ungutes Gefühl im Magen, als dass tatsächlich etwas passieren würde. Die nach und nach ans Licht kommenden Lügen und Geheimnisse sind hervorragend konstruiert und aufgearbeitet. Der psychologische Aspekt kommt hierbei auch sehr deutlich zum Tragen. Die Freundinnen, die sich vor Jahrzehnten geschworen haben, sich immer die Wahrheit zu sagen, sind allesamt in ein Netz aus Lügen und Intrigen verstrickt. Keine ist so, wie sie auf den ersten Blick scheint und vor allem auch nicht so, wie sie auf die anderen wirkt. Da herrscht sehr viel Schein und sehr wenig Sein.
Alles in allem fand ich das Buch ansprechend, es hat mich bestens unterhalten und die Detailliebe (oder besser gesagt Detailversessenheit) der Autorin ist bemerkenswert. Von mir gibt es daher fünf Sterne.

Bewertung vom 13.12.2023
'Ich will fortleben, auch nach meinem Tod'
Sparr, Thomas

'Ich will fortleben, auch nach meinem Tod'


ausgezeichnet

Die Biografie eines Buchs – so kann man sich „Ich will fortleben, auch nach meinem Tod“ von Thomas Sparr im Großen und Ganzen vorstellen. Er begibt sich auf die Spuren des Tagebuchs der Anne Frank, ordnet die Entstehung ein und verfolgt minutiös die Verbreitung des Buchs weltweit und auch die Umsetzung in anderen Medien wie Film, Musical oder Theaterstück. Für mich war es kein leserfreundliches Buch, was es umso besser macht, da ich gezwungen war, es langsam und sehr gründlich zu lesen.
Aber von vorn.
Anne Frank hatte einen großen Traum: sie wollte Schriftstellerin werden. Seite um Seite füllte sie daher erst das karierte Poesiealbum, das sie zu ihrem 13. Geburtstag am 12. Juni 1942 bekommen hat. Als dieses vollgeschrieben ist, führt sie ihr Tagebuch ab dem 5. Dezember 1942 in zwei Heften, später auf über 300 losen Blättern fort. Sie redigierte ihre Aufzeichnungen selbst, daher gibt es nicht DAS Tagebuch, sondern von vornherein mehrere Fassungen. „Von Beginn an ändert Anne es, in der Namensnennung, der Tilgung von Episoden, im Ergänzen und Umschreiben.“ Eine dritte Version entstand durch die Veränderungen, die ihr Vater Otto Frank und das Lektorat für die erste Verlagsfassung 1947 vorgenommen wurden. Ihrem Vater war es wichtig, „das Andenken der Untergetauchten zu schonen“, heißt: er „kürzte und ließ aus, wenn es um das Verhältnis des Mädchens zur Mutter, die Liebesgeschichte mit Peter oder die erwachende Sexualität der Heranwachsenden ging“. Das zog allerdings nach sich, dass ihm später der Vorwurf gemacht wurde, er sei selbst der Autor der Tagebücher oder habe sie zu sehr verfälscht oder schlicht gefälscht. Otto Frank musste sich juristisch dagegen wehren, graphologische Gutachten bestätigen die Authentizität. In den Niederlanden ist es inzwischen strafbar, die Echtheit des Tagebuchs der Anne Frank zu leugnen. Heute zählt das Tagebuch zu den meistgelesenen Büchern der Welt. Es wurde übersetzt, verfilmt, als Theaterstück und für den Broadway adaptiert und zahllose andere Autoren nahmen darauf Bezug.
Thomas Sparr hat in mühevoller Recherchearbeit zusammengetragen, wo sich Spuren des Tagebuchs von Anne Frank finden. „Ich will fortleben, auch nach meinem Tod“ ist daher ein äußerst komplexes Werk, das die Leserschaft manchmal durch die geballte Information etwas überfordern könnte, den sachlichen Schreibstil fand ich manchmal auch ein wenig spröde. Seit meiner Jugend habe ich das „Tagebuch der Anne Frank“ mehrfach gelesen, mein Großvater hat es mir ans Herz gelegt. Mit Thomas Sparrs Buch habe ich sehr viel Neues über das Buch erfahren, über das ich vorher noch nie nachgedacht hatte. Auch die vielen verschiedenen Adaptionen waren mir gar nicht bewusst gewesen. Die Schwierigkeiten, die den Weg zur Veröffentlichung pflasterten, waren für mich ebenfalls völlig neu. Die beiden Erzählebenen verbinden die persönliche Familiengeschichte der Familie Frank, die Weltgeschichte und die Geschichte des Buchs seit seiner Entstehung und der niederländischen Erstveröffentlichung 1947 (auf Deutsch erschien das Buch 1950). Die aktuelle Weltpolitik zeigt, dass Anne Franks Tagebuch heute wichtiger ist, denn je. Thomas Sparrs Herangehensweise an das ikonische Werk war für mich überraschend, sein Recherchefleiß beeindruckend und die Präsentation seiner Ergebnisse überwältigend, von mir daher fünf Sterne.

Bewertung vom 01.12.2023
Die Wahrheiten meiner Mutter
Hjorth, Vigdis

Die Wahrheiten meiner Mutter


ausgezeichnet

Eine junge Frau bricht mit ihrer Familie, da sie sich unwohl und unverstanden fühlt. Sie bricht ihr Studium ab, zieht mit einem Mann in die USA, dem die Eltern „nicht über den Weg trauten“, wird Künstlerin und hat mit den Eltern und der jüngeren Schwester in der alten Heimat nur sporadisch Kontakt. Moment mal, schreibt Vigdis Hjorth in „Die Wahrheiten meiner Mutter“ etwa über mich? So kam es mit bei der Lektüre fast vor, selten habe ich mich in einem Buch so wiedergefunden. Ein enorm schwieriges Buch über eine völlig dysfunktionale Mutter-Kind-Beziehung, das mich nachdenklich zurücklässt.
Aber von vorn.
Vor über 30 Jahren hat Johanna ihre Familie verlassen. Sie brach ihr Jurastudium ab, verließ ihren erst kürzlich angetrauten Ehemann und folgte Marc, dem Lehrer ihres Malkurses nach Amerika. Sie heiratete ihn, bekam einen Sohn und wurde eine anerkannte Künstlerin. In der Familie wurde sie durch ihren Ausbruch zum schwarzen Schaf und zur Persona non grata, sie können weder ihre Liebes- noch ihre Lebensentscheidung verstehen. Ihren Mann halten sie für zweifelhaft und den gewählten Beruf für fragwürdig. Dass sie nicht zur Beerdigung des Vaters nach Hause kam, machte alles noch schwieriger. Mit fast 60 Jahren reist sie, inzwischen verwitwet, zurück nach Norwegen und versucht, sich der Mutter wieder anzunähern. Da diese aber jeglichen Kontakt ablehnt, muss sie sich ihr virtuell annähern. Sie rekapituliert ihr Leben, ruft sich große und kleine Ereignisse ihrer Kindheit und Jugend ins Gedächtnis, immer auf der Suche nach Antworten. Wieso wurde sie so, wie sie heute ist? Wer und vor allem, wie ist ihre Mutter wirklich? Im Endeffekt führt die Reise Johanna nicht nach Hause, sondern führt zu einer zweiten, endgültigen Abnabelung.
„Du sollst Vater und Mutter ehren“ – so steht es schon in der Bibel. Johanna sieht es anders. „Haben Eltern nicht ein Leben lang eine Verpflichtung, die das Kind nicht hat?“ Es war ja schließlich die Entscheidung der Eltern für das Kind, nicht andersherum. Der Versuch Johannas, sich der Mutter wieder nähern zu können, ist nachvollziehbar, aber schwierig. Sie stalkt sie praktisch, verfolgt sie auf Schritt und Tritt und versucht, ihren Tagesablauf zu ergründen, um sich ihr nahe zu fühlen und um sie besser verstehen zu können. Außerdem versucht sie immer wieder, sie anzurufen. Alles andere, was sie über ihre Mutter „erfährt“, ist reine Spekulation und geschieht nur vor ihrem geistigen Auge. Ihre eigene innere Zerrissenheit projiziert sie auf ihre Mutter und ihre Schwester – möglicherweise lässt sich ihre Trauer nur so verarbeiten. Sie ist ihren eigenen Weg gegangen, etwas, was ihre Mutter ihrer Meinung nach nie geschafft hat. („Es gibt so viele Möglichkeiten, eine Mutter zu verlassen, über fünfzig.“ Da singt in meinem Hinterkopf Paul Simon „50 ways to leave your lover“.) Sie spinnt sich zusammen, dass ihre Mutter als Ehefrau und Mutter unglücklich war, dass sie selbst ausbrechen wollte, es aber nie gewagt hat. Wahrheit oder Wunschdenken? Die Leserschaft erfährt es nicht wirklich, das Buch besteht in der Hauptsache aus Erinnerungen, innerem Monolog und Vermutungen, vage und subjektiv.
Aber genau das macht das Buch aus, dazu die poetische Sprache, der rein deskriptive Stil, die hervorragende Übersetzung und die greifbare Sehnsucht, die die Protagonistin an den Tag legt. Sie trauert etwas hinterher, das es möglicherweise so gar nie gegeben hat, sie wünscht sich eine Zweisamkeit mit der Mutter, die es nie gab und nie geben wird. Zwei Frauen, so unterschiedlich und doch so ähnlich. So schwierig Johannas Charakter ist, so sehr habe ich mich darin wiedergefunden. Eine starke Frau und dennoch voller Selbstzweifel, jemand, der den eigenen Weg ging und sich nur eines von der Mutter wünscht: Zuneigung, Anerkennung und eine nachträgliche Absolution. Das Buch ist sicherlich nicht jedermanns Sache, für mich war es aber genau das Richtige und wird mich noch lange beschäftigen. Daher gibt es von mir fünf Sterne.

Bewertung vom 01.12.2023
Happy New Year - Zwei Familien, ein Albtraum
Stehn, Malin

Happy New Year - Zwei Familien, ein Albtraum


ausgezeichnet

Spannend, unerwarteter Schluss aber für mich etwas zu lang
Familien, die eigentlich nichts mehr verbindet als alte Gewohnheiten, feiern gemeinsam Silvester. Ein Silvester, das für zwei Familien nicht nur ein neues Jahr einläutet, sondern eine komplett neue Zeit. Das ist grob das Thema von Malin Stehns Roman „Happy New Year. Zwei Familien. Ein Albtraum“. Das Buch ist als Roman klassifiziert, es ist aber wesentlich mehr. Es ist für mich ein gelungenes Psychodrama, fast ein Psychothriller, der Panik, Schuldgefühle und post-pubertäre Teenager gekonnt vereint, mit der Frage, die über allem schwebt: Wie gut kenne ich meine Lieben eigentlich? Für mich ein spannendes und lesenswertes Buch, auch wenn es ein bisschen lang geraten ist.
Nina und Fredrik feiern aus alter Gewohnheit zusammen mit gemeinsamen Freunden im Haus von Lollo und Max Silvester. Ihre Töchter Smilla und Jennifer sind 17 Jahre alt und feiern eine eigenen Party im Haus von Nina und Fredrik. Bei den Erwachsenen zeigt sich schnell, dass sie außer der Tradition zur gemeinsamen Feier nichts mehr verbindet und selbst die verkommt zum Pflichttermin, auf den kaum jemand Lust hat. Es ist mehr eine Zuschaustellung des Erreichten (im Sinne von „mein Haus, mein Boot), mit zunehmendem Alkoholgenuss kommen auch rassistische Einstellungen ans Tageslicht. Aber auch die beiden Teenager haben Differenzen und als die Erwachsenen am nächsten Morgen verkatert aufwachen ist klar: Jennifer ist in der Nacht weder nach Hause gekommen, noch schläft sie, wie abgesprochen, bei Smilla. Nach und nach müssen alle Beteiligten feststellen, dass sie weder ihre Freunde noch ihre Familienmitglieder besonders gut kennen und als schlussendlich klar ist, was in der Silvesternacht passiert ist, ist nichts mehr wie vorher.
Stilistisch und sprachlich hat mich das Buch überzeugt, die Übersetzung aus dem Schwedischen ist hervorragend gelungen. Erzählt wird die Geschichte in zum Teil sehr kurzen Kapiteln aus drei Perspektiven, die jeweils in der „ich-Perspektive“ geschrieben sind. Jedes Kapitel ist mit Datum und dem Namen des Ich-Erzählers überschrieben, trotzdem kam ich manchmal durcheinander, was aber nicht tragisch war. Die Charaktere sind sehr gut ausgearbeitet, jeder hat seine eigenen psychologischen Besonderheiten. Lollo ist Innenausstatterin mit eigenem Blog, Max ist Immobilienmakler und ein arroganter, rassistischer Schnösel. Bei beiden ist Geld der Maßstab für Erfolg. Nina und Fredrik sind beide Lehrer und können finanziell keine großen Sprünge machen. Und da sind dann auch noch Malena und ihr Sohn Theo. Sie bringt jedes Jahr einen anderen Mann mit zur Party und scheint ein wenig unstet. Allerdings ist sie die einzige der Frauen in der Runde, die zu sich selbst zu stehen scheint. Lollo und Nina scheinen sich von ihrer Herkunft distanzieren und neu erfinden zu wollen, sie bestehen darauf, nicht bei ihren eigentlichen Namen Louise und Carolina genannt zu werden.
Zu den sehr gut geschilderten Charakteren kommt eine durchweg bedrückende Atmosphäre. Selbst die Silvesterparty, die eigentlich locker und fröhlich sein sollte, zeigt die Oberflächlichkeit der Beteiligten und verkommt zum metaphorischen Maskenball. Dass die Masken dann im Verlauf der Geschichte fallen, hat mich nicht überrascht. Die Art und Weise wie sie fallen, umso mehr. Das Verschwinden Jennifers ist dabei nur der Auslöser, der alles ins Rollen bringt, das Verhältnis zwischen den Protagonisten war ohnehin schon länger nur eine Farce. Die einen wollen den schönen Schein wahren, die anderen sind neidisch und wollen mithalten können. Alle haben mit sich, ihren Beziehungen und dem Leben zu kämpfen und über allem schwelen Selbstzweifel und Schuldgefühle, beziehungsweise Schuldzuweisungen.
Wow. Da hat Malin Stehn uns einen pikanten schwedischen psycho-Eintopf serviert. Ein bisschen lang und zwischendrin ein bisschen fade, aber es kommt immer wieder etwas Neues an die Oberfläche und vor allem im Abgang ist die Krimi-Suppe völlig überraschend. Von mir die volle Punktzahl.

Bewertung vom 25.11.2023
Was wir nie verzeihen / River Delta Bd.3
Tuominen, Arttu

Was wir nie verzeihen / River Delta Bd.3


ausgezeichnet

„Wer bitte attackiert einen Hundertjährigen?“ Das ist eine berechtigte Frage und das Kernthema von Arttu Tuominens neuem Kriminalroman „Was wir nie verzeihen“ (auf Finnisch: „Vaiettu“, was so viel wie „zum Schweigen gebracht“ heißt). Der lebensgefährliche Angriff auf einen 97-Jährigen im Park vor dem Pflegeheim und der Mord an einem etwa Gleichaltrigen beschäftigen die Polizei in der finnischen Kleinstadt Pori. Hängen die beiden Fälle zusammen? Kannten sich die Opfer? Wer könnte ein Interesse daran haben, die beiden pflegebedürftigen Männer zu töten? Das lange erwartete dritte Buch der „Delta-Reihe“ (ich war so ungeduldig, dass ich vorher die dänische Ausgabe gelesen habe, da diese früher erschien) war für mich ein bisschen wie die Achterbahnfahrt. Rasant spannende Stellen wechseln sich in wilder Reihenfolge mit eher dahinplätschernden Episoden ab. War es trotzdem gut? Natürlich. Aber die Vorgänger waren besser.
Aber von vorn.
Albert Kangasniemi ist 97 Jahre alt, lebt in einem Pflegeheim und hat seine fest eingefahrene Routine. Einer seiner Gewohnheiten ist es, spätabends am Rollator noch eine Runde mit seiner persönlichen Pflegerin Inkeri durch den Park zu drehen. Eines Abends wird er von zwei maskierten Gestalten überwältigt und lebensgefährlich verletzt. Der alte Mann ist Veteran, „er hat in allen Kriegen gekämpft, im Winterkrieg, im Fortsetzungskrieg und im Lapplandkrieg.“ Während er noch im Krankenhaus um sein Leben kämpft, kann Ermittler Jari Paloviita kann gerade noch eingreifen, als ein als Arzt verkleideter Mörder versucht, Kangasniemi im Krankenbett zu töten. Kurze Zeit später wird Klaus Halminen, ein weiterer Kriegsveteran in seiner Villa vor den Augen seiner Frau getötet. Bei ihm finden die Ermittler neben einer Waffe eine SS-Uniform. Kannten die beiden Männer sich und hängen der Mordversuch und der Mord zusammen?
Als großer Fan der „Delta-Reihe“ habe ich so ungeduldig auf den neuen Teil gewartet, dass ich mir die dänische Ausgabe gekauft habe, weil sie vier Wochen früher erschien. Die Ermittler Jari, Henrik und Linda sind mir sehr ans Herz gewachsen, ebenso wie der angenehme Schreibstil Arttu Tuominens. In diesem Band erzählt er die Geschichte in zwei Zeitebenen, die 1941 und 2019 spielen. So weiß die Leserschaft immer wesentlich mehr als die Ermittler, was bei mir den Spannungsaufbau störte. Alles in allem wurde das Buch für mich mehr zum Geschichtsbuch über die finnische Rolle im Zweiten Weltkrieg, denn zum Krimi. Tatsächlich wusste ich nicht, dass finnische Soldaten 1941 auf dem Truppenübungsplatz Heuberg auf der Schwäbischen Alb als Freiwillige für die SS ausgebildet wurden, und wie begeistert sie davon waren. Der Schwerpunkt beim Privatleben der Ermittler ist dieses Mal nicht bei einer Person, sondern „gerechter“ verteilt. Linda muss mit dem Auftauchen ihrer Mutter umgehen, Jari muss weiter damit leben, dass sein Schwiegervater nichts von ihm hält, außerdem kämpft er mit finanziellen Problemen und gegen das Scheitern seiner Ehe. Henrik (mein persönlicher Liebling) zeigt sich wie gewohnt sportlich-intellektuell.
Sprachlich finde ich das Buch sehr gut und angenehm zu lesen, die Übersetzung ist hervorragend. Spannungstechnisch ist das Buch für mich eher schwierig. Ich wusste schon nach etwa einem Viertel des Buchs, wer hinter den Taten steckt, daher war für mich nicht die Frage „wer?“, sondern „warum“. Der Titel lässt ahnen, dass das Motiv in der Vergangenheit zu finden ist. Handwerklich ist das Buch sehr gut, die beiden Zeitebenen sind ausgezeichnet ausgearbeitet, sowohl die Gegenwart als auch die Vergangenheit weisen eine finstere und bedrückende Atmosphäre auf, geprägt von Gewalt und schierem Hass auf Fremde. In der aktuellen politischen Situation mit einem fast weltweiten Rechtsruck wird das Buch zu noch schwererer Kost.
Eine Lese-Empfehlung von mir für Fans der Serie und alle, die mehr über die Rolle Finnlands im Zweiten Weltkrieg erfahren wollen. Von mir für diesen Krimi 4,5 Sterne, aufgerundet auf fünf.

Bewertung vom 20.11.2023
Aenne und ihre Brüder (MP3-Download)
Beckmann, Reinhold

Aenne und ihre Brüder (MP3-Download)


ausgezeichnet

Reinhold Beckmann war mir als Moderator und Sportreporter bekannt. Mit seinem Buch „Aenne und ihre Brüder“ (ich habe das Hörbuch gehört), schrieb er sich allerdings in mein Herz. Er liest das Hörbuch selbst zusammen mit Julia Nachtmann, und er bringt seiner Leserschaft seine Familiengeschichte, minutiös eingeordnet in die Zeitgeschichte ab 1920, näher. Die Geschichte ist eine, die viele andere Familien dieser Zeit ebenfalls erlebt haben, allerdings bekommen die unzähligen Opfer durch sein Buch Gesicht und Namen. Reinhold Beckmann konnte seine Onkel Franz, Hans, Alfons und Willi nie kennenlernen, alle vier sind gefallen. Sie fielen im Alter zwischen 31 und 17 Jahren. So viel ungelebtes Leben. So viele unerfüllte Wünsche und Träume. So viele Hinterbliebene, die ihre Lieben verloren haben.

Aber von vorn.

Verluste prägten früh das Leben von Reinhold Beckmanns Mutter Aenne. Ihre Mutter starb, als sie etwa ein Jahr alt war, der Vater vier Jahre später an der Tuberkulose, die er aus dem ersten Weltkrieg „mitgebracht“ hatte. Die Stiefmutter wurde damit ebenfalls zur Witwe und heiratete später wieder, mit diesem Mann bekam sie zwei Kinder, die sie den Stiefkindern stets vorzog. Allerdings ließ sich Aenne nicht unterkriegen, sie ging trotz aller Widrigkeiten ihren Weg. Mit ihren leiblichen Brüdern verband sie eine enge Beziehung, bis zu ihrem Tod schrieben ihr Franz, Hans und Alfons so oft es die Feldpost zuließ. Sie fielen ebenso im Zweiten Weltkrieg wie ihr Stiefbruder Willi. Mit 98 Jahren ließ Aenne Beckmann, geborene Haber, sich von ihrem Sohn für das Buch interviewen, Grundlage ihrer Gespräche ist ein Schuhkarton voll Feldpostbriefe ihrer drei leiblichen Brüder. Rund um diese Briefe hat Beckmann die Geschichte seiner Mutter und ihrer Familie erzählt. Das Buch ist aber sehr viel mehr als eine Familienchronik, denn der Kontext zur Weltgeschichte ist stets präsent. Der aufkeimende Nationalsozialismus, der an dem tief katholischen Dorf Wellingholzhausen erst vorbeizuziehen schien, dann aber mit Gleichschaltung auch dort Einzug hielt. Eine große und wenig ruhmreiche Rolle spielte dabei auch die Kirche, von deren Seite es sehr wenig Widerstand gegen die Nationalsozialisten gab, obwohl schon früh gegen so gut wie alle christlichen Gebote verstoßen wurde. Widerstand gab es im Dorf ohnehin eher weniger, mehr eine gewisse Gleichgültigkeit, die erst in Wut umschlug, als viele Söhne/Brüder/Ehemänner fielen und der Tod „reich Ernte hielt“.

Stilistisch ist das Buch sehr angenehm zu lesen und mit Reinhold Beckmanns Stimme ein Ohrenschmaus. Seine Sprache ist nüchtern und sachlich, die Sätze sind einfach und eher journalistisch als literarisch, ich fand sie dem Buch und der Thematik angemessen. Dabei schreibt er aber immer liebevoll und voller Wärme über seine Mutter und ihre Brüder. Die Grausamkeiten von Kriegen beschreibt er mehr zwischen den Zeilen als direkt, was dem Buch für mich noch mehr Tiefe gab. Der Alltag in einer dörflichen Gemeinde kommt ebenso zum Tragen wie das Leben seiner Mutter als Frau in einer Zeit, als eine Ausbildung „nicht vorgesehen war“, sondern man „in Stellung“ ging. Daneben bekommt man einen kleinen Einblick in das Leben an der Front, zensurgerecht geschrieben von Soldaten, die eigentlich Handwerker waren und den Krieg als „Unsinn“ ansahen und über ihre Träume und Wünsche für „danach“ schreiben – die Leserschaft weiß ja, dass sie nie in Erfüllung gehen werden. Und über allem thronen Zitate aus Reden der Politiker, über totalen Krieg und Endsieg – heute wissen wir, was das alles zu bedeuten hatte.

Mit „Aenne und ihre Brüder“ schafft Reinhold Beckmann ein liebevolles und mahnendes Denkmal für seine Mutter und ihre Brüder, exemplarisch für alle, die den Krieg überlebt haben und die, die gefallen sind. Sie haben Namen und Gesichter und das macht das Buch zur schweren Kost, auch angesichts der vielen aktuellen Krisenherde. Das „nie wieder“ ist heute wichtiger denn je – von mir volle Punktzahl und eine absolute Lese-Empfehlung.

Bewertung vom 07.11.2023
Eine wie sie fehlt in dieser Zeit
Hörnlein, Katrin

Eine wie sie fehlt in dieser Zeit


ausgezeichnet

„Noch ein Buch über Astrid Lindgren? Gibt es nicht längst genug?“ – diese Frage stellt sich die ZEIT-Redakteurin Katrin Hörnlein zu Beginn ihres Buchs „Eine wie sie fehlt in dieser Zeit“. Da ich „Denne dag, et liv” von Jens Andersen und „Jeg lægger dine breve under madrassen” von Astrid Lindgren und Sara Schwardt gelesen habe, war ich überrascht, dass mich ein weiteres Buch über die Schriftstellerin so begeistern konnte. Katrin Hörnlein hat eine Reise in die Vergangenheit von Astrid Lindgren unternommen, auf die sie ihre Leserschaft mitnimmt. Sie trifft Nachkommen und Weggefährt:innen Lindgrens und wandelt auf ihren Spuren von der Vergangenheit bis in die heutige Zeit.
Katrin Hörnlein schreibt voller Hochachtung und Bewunderung über die Schriftstellerin, die sie nie persönlich kennenlernen konnte. Inzwischen ist Astrid Lindgren mehr als 20 Jahre tot und lebt in ihren Büchern und den Herzen ihrer Fans weltweit weiter, schließlich wurden ihre Bücher in mehr als 100 Sprachen übersetzt. Die „Astrid Lindgren Company“ ist heute noch in Familienbesitz, die Firma gehört ihren sieben Enkeln und ihrer Tochter Karin, außerdem arbeitet auch ihr Urenkel Johan Palmberg inzwischen dort. Die Company kümmert sich um bestehende Verträge, unterstützt aber auch Musicals und Theaterproduktionen. Im Onlineshop kann man beispielsweise die Bücher und geringelte Pippi-Langstrumpf-Leggins oder Michel-aus-Lönneberga (der auf Schwedisch Emil heißt)-Shorts kaufen.
Ein paar Weggefährt:innen Astrid Lindgrens konnte Katrin Hörnlein treffen. Durch ihre Erzählungen kommt auch ihre Leserschaft der Autorin näher und man erkennt, dass ihr Leben nicht nur aus Pfannkuchen und Fleischklößchen bestand. Die blitzgescheite und für ihre Zeit äußerst emanzipierte Frau, wusste, was sie wollte, und musste darum kämpfen. So brachte sie mit 18 Jahren ihren unehelichen Sohn Lars in Kopenhagen zur Welt, weil dort anonyme Geburten möglich waren. Dort lässt sie ihn bei Pflegeeltern, später holt sie ihn erst zu sich nach Stockholm, dann bringt sie den Dreijährigen bei ihren Eltern in Småland unter. Die Beziehung zum Vater des Jungen, der ihr Chef war, zerbricht. Aus ihrer 1931 geschlossenen Ehe mit Sture stammt Tochter Karin, sie ist heute 89 Jahre alt. Astrid Lindgren war mit Leib und Seele Mutter, aber nicht Ehefrau. „Im üblichen Sinn bin ich nie verliebt gewesen. Nein, es ist so: Ich habe Kinder immer mehr geliebt als Männer.“, sagte sie ihrer Biografin Margareta Strömstedt auch mit Hinblick auf den Alkoholismus ihres Mannes. „Was Kinder brauchen, ist jemand, der sie richtig gernhat“, sagt Lindgren 1989 in einem Interview mit der schwedischen Zeitung Expressen.
„Eine wie sie fehlt in dieser Zeit“ ist ein lesenswertes und kurzweiliges Buch, das neue Facetten Astrid Lindgrens zeigt. Es bringt aber auch Menschen ins Rampenlicht, die es bislang (zumindest für mich) nicht dahin geschafft hatten. So trifft sie unter anderem die Nachfahren von Ilon Wikland und Björn Berg, zweier der Illustratoren von Lindgrens Büchern und mit Inger Nilsson, der Darstellerin von Pippi Langstrumpf. Neu für mich war auch das politische Engagement Astrid Lindgrens. Sie setzte sich gegen Atomkraft und für den Umwelt- und Tierschutz ein. Anfang der 1990er kämpfte sie gegen Massentierhaltung und für mehr Tierwohl. Das „Lex Lindgren“ genannte Gesetz wurde zu ihrem 80. Geburtstag verabschiedet, sein Umfang enttäuschte sie allerdings. „Soll ich mich etwa geschmeichelt fühlen, weil dieses sinnlose Gesetz nach mir benannt wird?“ – so hatte sie es kommentiert.
Ja, Astrid Lindgren ist eine Persönlichkeit, die aktuell mehr fehlt, denn je. Das Buch über sie war für mich sprachlich und inhaltlich ein Highlight, das mir die Schriftstellerin noch näher gebracht hat. Als jemand, der das Kind in sich bewahrt hat, ohne kindisch oder naiv zu sein. Und als jemand, der versucht hat, seinen Einfluss immer für das Gute zu nutzen. Daher von mir eine uneingeschränkte Lese-Empfehlung und fünf Sterne.