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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 831 Bewertungen
Bewertung vom 18.04.2022
Alphabet
Page, Kathy

Alphabet


weniger gut

Peinlich

Der 2004 erschienene, sechste Roman der britischen Schriftstellerin Kathy Page ist nach siebzehn Jahren unter dem Titel «Alphabet» nun auch auf Deutsch erschienen. Wie die Autorin im Nachwort erklärt, war sie ein Jahr lang als «Writer in Residence» in einem britischen Männergefängnis tätig, machte sich eifrig Notizen über ihre Erfahrungen dort und begann mit einer ersten Niederschrift. Sie legte den Entwurf schließlich aber anderer Projekte wegen zur Seite, fand ihn erst zehn Jahre später bei ihrem Umzug nach Kanada wieder und stellte dann dort den Roman fertig. Herausgekommen ist dabei eine tiefgründige, psychologische Studie über einen jugendlichen Mörder und sein schwer nachvollziehbares Tatmotiv.

Simon Austen sitzt wegen Mordes lebenslänglich im Hochsicherheits-Trakt eines Gefängnisses. Als Vierjähriger wurde er von seiner Mutter einfach in einem Park allein zurückgelassen, sie nahm sich wenig später das Leben. Der kleine Junge kam in verschiedene Heime und wuchs bei Pflegeeltern auf. Im Knast lernt der ehemalige Teppichleger Lesen und Schreiben, holt seinen Schulabschluss nach und beginnt, verbotener Weise und auf verschlungenen Wegen an der Zensur vorbei, eine heimliche Korrespondenz mit einer kunst-interessierten, verwitweten älteren Frau, die einen Brieffreund sucht. Er verschweigt ihr seine wahre Identität, und als sie ihm schließlich eine gemeinsame Kunstreise vorschlägt, beendet er den Briefkontakt. Der inzwischen 29Jährige findet nun auf offiziellem Weg mit Tasmin eine angeblich 17jährige Brieffreundin, die sich sehr für seine Tat interessiert, nach Einzelheiten fragt und ihm sogar eine Schreibmaschine schickt, die er sich sehnlichst wünscht.

Auf ihr tippt er nun die Geschichte, die ihn zum Mörder machte: ‹Im Jahre 1979 lernte er bei der Arbeit die 20jährige Amanda kennen, lud sie spontan zum Essen ein und ging mit ihr anschließend in seine Wohnung. Dort forderte er sie auf, ihr Oberteil abzulegen, und danach, nun ihre Brüste anzufassen. Auf ihre erstaunte Frage, ob er denn nicht mehr von ihr wolle, antwortete er: «Das ist meine Art, es zu machen». Sie ging daraufhin ins Bad und kam splitternackt zurück, hatte sogar ihre Brille abgesetzt und trug stattdessen Kontaktlinsen. Ihr eigenmächtiges Handeln aber machte ihn rasend, er wollte allein bestimmen, was geschah, und so warf er sie wütend zu Boden und erwürgte sie!› Weil dieser ausführliche Brief aber viel zu umfangreich war, wurde er vom Zensor zurückgeschickt, und außerdem beendet Tasmins Vater endgültig ihren Briefkontakt, weil seine Tochter erst 14 Jahre alt ist und unter Depressionen leidet. Als Simons neue Betreuerin ihn nach seiner Tat befragen will, übergibt er ihr dann einfach den Brief, in dem ja alles drinsteht. Es folgen Verlegungen in andere Gefängnisse, er absolviert verschiedene Therapien und beginnt sogar ein geistes-wissenschaftliches Fernstudium.

Trotz aller eigenen Bemühungen und seiner manipulativen Fähigkeiten wird es Simon letztendlich wohl nicht gelingen, sich nach dreizehnjähriger Haft psychisch wirklich soweit zu verändern, dass er irgendwann tatsächlich Aussicht auf eine vorzeitige Entlassung hätte. Zu rätselhaft erscheinen seine Motive, zu unabänderlich seine fest verankerten Verhaltensmuster. Dieses psychologische Drama glänzt vordergründig durch die entlarvenden Einblicke in das britische Haftsystem und all die verstörenden Gewaltexzesse, denen seine Insassen ausgesetzt sind, vor allem aber auch durch die seelischen Abgründe, in die der Leser hier zu blicken hat. Äußerst fragwürdig erscheint bei alledem aber der Transgender-Teil am Ende des Romans, bei dem sich Simons grobschlächtiger Zellengenosse Victor mit Hilfe von Medikamenten und durch Operationen nach seiner Entlassung zu einer lieblichen Charlotte umwandeln lässt. Das hat als spezielle Form der Selbstfindung rein gar nichts mit Simons Problemen zu tun, und dass die Zwei auch noch Gefallen aneinander zu finden scheinen, ist dann nur noch peinlich. Schade!

Bewertung vom 13.04.2022
Inland
Murnane, Gerald

Inland


sehr gut

Unterschätzt

Das jüngst unter dem Titel «Inland» erstmals in deutscher Übersetzung veröffentlichte, vierte Werk des australischen Schriftstellers Gerald Murnane ist im Original 1988 erschienen. Es entzieht sich, wie von ihm selbst für alle seine Werke apostrophiert, den gängigen Gattungs-Bezeichnungen und ist am ehesten als ‹metaphysische Parabel› anzusehen, welche lehrhaft Fragen von Moral und Ethik aufwirft. Diese werden jedoch erst durch Anwendung auf Vorstellungen in ganz anderen Gedanken-Ebenen wirklich begreifbar. Ein populäres Beispiel dafür ist die Eselsbrücke, die man sich baut, um einen Sachverhalt bildhaft besser aus dem Gedächtnis abrufen zu können. Der nicht nur in Deutschland weitgehend unbekannte Schriftsteller hat stilistisch für sich einen ganz eigenen, unverwechselbaren Erzählstil entwickelt, der im Klappentext schlagwortartig als ‹murnanesk› bezeichnet wird und ihn zum Solitär unter den Autoren seines Landes macht.

Glaubt man einem Bericht im ‹New York Times Magazine›, bezeichnet sich dieser in äußerst bescheiden, geradezu prekären Verhältnissen lebende Schriftsteller als reich, weil er weiß, «dass die endlos scheinenden Landschaften meiner eigenen Gedanken und Empfindungen ein Paradies gewesen sein mussten, verglichen mit den eintönigen Gegenden, in denen andere ihr Selbst oder ihre Persönlichkeit oder was immer sie als ihre geistigen Territorien bezeichneten, angesiedelt hatten». Und auch die seinem aktuellen Buch als Motto vorangestellten Worte von Hemingway geben einen Hinweis auf die literarische Selbst-Verortung des Australiers: «Ich glaube, dass man im Grunde für zwei Leute schreibt: für sich selbst, um nach absoluter Vollkommenheit zu trachten … Dann schreibt man für Diejenige, die man liebt, ganz gleich ob sie lesen oder schreiben kann oder nicht und ob sie lebendig ist oder tot». Kein Wunder, das zu den wenigen ihm verliehenen Preisen der ‹Patrick White Award› gehört, mit dem bezeichnender Weise Autoren geehrt werden, «die einen bedeutenden, aber unterschätzten Beitrag» zur australischen Literatur geleistet haben.

Ein in der Bibliothek seines Herrenhauses in Ungarn sitzender, schriftstellerisch tätiger Ich-Erzähler beschreibt die unendlich scheinende Weite der Graslandschaft, die er von seinen Fenstern aus sieht. Eines der typischen Motive von Murnane, seine Ideal-Landschaft, wie sie sich auch in der amerikanischen Prärie wiederholt, auf die seine Lektorin am Calvin O. Dahlberg Institute of Prairie Studies von ihrem Fenster aus schaut. Sie hat bisher aber nicht eine Seite aus seiner Feder erhalten, erscheint dann selbst aber unversehens als Figur in einem anderen Buch. Realität und Fiktion verschwimmen hier in einem schwer durchschaubaren Ausmaß miteinander, buchstäblich alles bleibt in der Schwebe in diesem literarischen Kosmos, in dem Konkretes suspekt ist und die ungehemmte Imagination fröhliche Urständ feiert. Alles eine Frage der richtigen Sicht, heißt es dazu im Buch, ein Leser, «der meine Seiten aus seinen Augenwinkeln beobachten und der nicht die Reihen meiner Worte untersuchen würde, sondern die Formen des Papiers, die sich zwischen den Worten zeigten - solch ein Mann könnte schon das Bild einer Mädchen-Frau oder das Bild eines Graslandes oder die Geister solcher Bilder sehen». Die Grenzen zwischen trügerischer Außenwelt und grenzenlos imaginierter Innenwelt sind nicht klar erkennbar, man kann sie allenfalls vage ertasten.

Wo alles erfunden ist und man nicht mehr weiß, wer sich wen ausgedacht hat, da scheint auch das am Tisch sitzende, schreibende Ich schließlich nur noch davon zu träumen, das es schreibt. Schließlich rücken dann erzählerisch Kindheits-Erinnerungen in den Vordergrund, wobei man auch da nicht weiß, zu wem sie gehören, zum Schreiber oder zu seiner Figur. Als äußerst komplexes Werk der Postmoderne, das nur einen ziemlich kleinen Leserkreis ansprechen dürfte, demonstriert diese sinnliche Prosa eines unterschätzten Autors, was Literatur zu leisten vermag.

Bewertung vom 11.04.2022
Der Erinnerungsfälscher
Khider, Abbas

Der Erinnerungsfälscher


gut

Mehr Realität als Fälschung

Der neue Roman «Der Erinnerungsfälscher» von Abbas Khider ist ein gelungenes Werk der Migranten-Literatur, weil es dem Autor auch hier wieder gelingt, die durch das Erzählte ausgelöste Betroffenheit des Lesers durch Humor abzumildern. Der 1973 in Bagdad geborene Schriftsteller fand nach langer Flucht im Alter von 27 Jahren in Deutschland Asyl, machte in Potsdam Abitur und studierte Literatur und Philosophie. Obwohl er Flucht und Exil als sein literarisches Programm bezeichnet hat, seien seine Werke nicht autobiografisch. Sie sollen vielmehr als Teil der Gegenwarts-Literatur die Befindlichkeiten seiner Generation wiedergeben, wobei die deutsche Sprache ihm dabei eine gewisse Distanz zum Inhalt gewähre.

Der Anruf seines Bruders aus Bagdad erreicht Said Al-Wahid im ICE auf dem Heimweg von einem Podiumsgespräch in Mainz: «Komm so schnell wie möglich her!» Die Mutter des Schriftstellers (sic) liegt im Sterben, kurz entschlossen disponiert er um, findet mit dem Smartphone einen Flug ab Frankfurt und informiert seine Frau in Berlin. «Zum Glück hat Said seinen Reisepass dabei». Eine anlasslose Personen-Kontrolle in München nämlich, bei dem er ihn einmal nicht dabei hatte, mit einer anschließenden Nacht in Polizeigewahrsam, wird ihm lebenslang eine Lehre bleiben. Er trägt ihn nun immer bei sich, sogar im Supermarkt. In Rückblenden erzählt Abbas Khider nicht nur von den haarsträubenden Erlebnissen seines Protagonisten als Asylant in Deutschland, sondern auch von der vierjährigen Odyssee des jungen Irakers auf der Flucht über Jordanien, Libyen und Griechenland nach München. Bei der Machtergreifung Saddam Hussein wurde Saids Vater hingerichtet. Nach Sturz des Diktators 2003 verlor er in den nachfolgenden Bürgerkriegs-Wirren durch ein Bombenattentat auch noch seine Schwester mitsamt ihrer Familie. Für ihn war der Irak damals wieder «bärtig und verschleiert» geworden, wie es im Buch heißt, eine gelungene Metapher für die sarkastische Wertung der restriktiven politischen Umwälzungen, zurück ins Mittelalter!

Breiten Raum nehmen vor allem die an Spiegel-Fechtereien erinnernden Kämpfe des jungen Mannes mit der «schattigen Hautfarbe» bei seinen Bemühungen um eine unbefristete Aufenthalts-Erlaubnis mit den deutschen Behörden ein. Erst nach dem Einschalten einer entsprechend spezialisierten Anwaltskanzlei bekommt er mit allerlei Verfahrens-Tricks und viel Geld das ersehnte Dokument. Als er mit seiner deutschen Frau einen Sohn bekommt, löst dies eine nicht minder absurde Farce um die Geburtsurkunde für das Baby aus. Bezeichnend für die Verhältnisse im Irak des Jahres 2014 ist die dringende Aufforderung seines Bruders, nach der Beerdigung aus Sicherheitsgründen sofort wieder zurück zu fliegen. Und alles was Said dort selbst sieht und miterlebt bekräftigt nur diesen brüderlichen Ratschlag. Ihm wird erschreckend klar, dass dies nicht mehr sein Land ist, - und Deutschland es wohl nie wird werden können!

Nebenbei wird auch von Saids Problemen erzählt, Schriftsteller zu werden, denn seine Erinnerungen sind derart löcherig, dass er irgendwann nichts mehr zu Papier bringt. Ein Arzt rät ihm zu einer psycho-therapeutischen Behandlung, er sei hochgradig stigmatisiert durch Folter und Flucht. Said entschließt sich, nicht in seinem Unterbewusstsein herumstochern zu lassen aus Angst, was dabei zum Vorschein kommen könnte. Er bevorzugt es vielmehr, die Verfälschung der Erinnerung durch das kreativ Ergänzte oder Veränderte wie real Erinnertes zu behandeln, - und siehe da, er kann wieder schreiben! Verdeutlicht wird diese literarische Vorgehensweise durch Patrick Süskinds Novelle «Die Taube», die Said im Roman mehrfach anfängt zu lesen. Das Buch kommt ihm aber immer wieder abhanden, ehe er es ganz zuletzt doch komplett liest, - ohne Zweifel eine gelungene Metapher für sein eigenes Trauma. Diese schnörkellos erzählte Geschichte enthält jedenfalls mehr Realität als Fälschung, wie sie der Buchtitel dem Leser suggeriert.

Bewertung vom 09.04.2022
Kleine Paläste
Moster, Andreas

Kleine Paläste


gut

Wenn Tote miterzählen

Es ist der Blick hinter die Fassaden jener im Buchtitel «Kleine Paläste» genannten Villen einer städtischen Bourgeoisie, mit dem Andreas Moster in seinem neuen Roman dem äußeren Schein eine eher erschreckende Realität im Innern gegenüberstellt. Dabei nutzt er das beliebte Motiv des Heimkehrers, der nach einem gravierenden Erlebnis das Elternhaus verlassen hat und nach Jahrzehnten dorthin zurückkehrt. «Es ist nicht das erste Mal, dass der Hund versucht, mich zu ermorden» heißt der erste Satz, und dieses Mal bleibt es nicht beim Versuch, der sechzig Kilo schwerer Bullmastiff namens Lupus bringt Sylvia Holtz auf der obersten Treppenstufe zum Straucheln, sie stürzt hinab. Das Notfall-EKG des Sanitäters zeigt nur noch einen Strich, wie sie selbst erzählt. «Lupus hat mich erwischt, endgültig» endet ihr Bericht aus dem erzählerischen Off über ihren eigenen Tod.

Sohn Hanno, der das Elternhaus 1986 im Streit mit dem Vater verlassen hat, ist nun 32 Jahre später gezwungen, zurückzukehren und sich um den dementen Vater zu kümmern. Carl Holtz hatte als Rechtsanwalt hohes Ansehen genossen, die Familie lebte in Wohlstand und konnte es sich leisten, das Haus von Carls Eltern nach deren Tod von Grund auf zu sanieren und aufwändig umzubauen. Sylvia hatte freie Hand dabei, die entkernte Villa wurde unter ihrer Regie völlig umgestaltet und nach ihrem Geschmack komplett neu eingerichtet, alles ist jetzt hell und luftig. Im September 1986 lädt das stolze Ehepaar Holtz Familie, Freunde und Nachbarn zu einer pompösen Einweihungsfeier ein, in deren Verlauf sich der pubertäre Sohn Hanno und die etwas ältere Nachbarstochter Susanne näherkommen, auch küssen will gelernt sein!

In jeweils mit den Jahreszahlen 1986 und 2018 überschriebenen Abschnitten wird abwechselnd von den damaligen Ereignissen erzählt und von der Gegenwart. Hanno hat sich all die Jahre wie ein fahrender Geselle in den verschiedensten Berufen betätigt, hat immer ‹von der Hand in den Mund› gelebt, ist alleinstehend geblieben und nie sesshaft geworden. Nun nimmt er es auf sich, den Vater selbst zu pflegen, obwohl er ja, wie er überlegt hat, das große Haus verkaufen und vom Erlös bequem ein erstklassiges Pflegeheim für ihn bezahlen könnte. Susanne hat ihr Elternhaus nie verlassen, ihre Eltern sind tot, sie ist ebenfalls alleinstehend, arbeitet in einem Supermarkt und wohnt noch immer nebenan. Von ihrem Fenster im Dachgeschoss hat sie all die Jahre immer wieder mit dem Fernglas das Nachbarhaus und Herrn Holtz beobachtet. Seit der Einweihungsfeier vor 32 Jahren betritt sie nun zum ersten Mal wieder dieses Haus, um Hanno bei der Pflege des Vaters zu helfen. Hanno lehnt das zunächst zwar halbherzig ab, ist dann schließlich aber doch heilfroh, dass sie diese ungewohnte Tätigkeit weitgehend übernimmt und sich auch noch um den inzwischen total verlotterten Haushalt kümmert. Und nun? Friede, Freude, Eierkuchen?

Mitnichten, denn allmählich wird deutlich, dass das Fest vor 32 Jahren ein dunkles Geheimnis birgt, in das Susanne schicksalhaft verstrickt ist. Mit steigender Spannung nähert sich die Erzählung dem alles entscheidenden Vorfall, bei dem Hannos Vater damals schwere Schuld auf sich geladen hat. Hannos Frage an den dementen Vater «Was wollte Susanne damals nicht» bleibt unbeantwortet. Susanne nimmt sich fest vor, nun endlich auf der Geburtstagsfeier für Carl Holtz erstmals zu berichten, was damals geschah. Im Kontrast zwischen seinem derzeitigen hilflosen Zustand und der unverzeihlichen Schuld, die er vor so langer Zeit auf sich geladen hat, entsteht ein psychologisches Spannungsfeld, das den Leser in Bann schlägt. Die durchgehend im Präsens erzählte Geschichte enthält zusätzlich eine mystische Komponente, wenn die verstorbene Sylvia gelegentlich auftritt und aus ihrer Jenseits-Perspektive berichtet. Am Ende hofft Susanne bei ihrer Flucht, auf ihrem vor Jahren entdeckten ‹steinernen Sessel› an der französischen Atlantikküste ihre Würde wiederzufinden.

Bewertung vom 07.04.2022
Erst grau dann weiß dann blau
Moor, Margriet de

Erst grau dann weiß dann blau


ausgezeichnet

Was nicht erzählt wird, gibt es nicht

Es ist nichts weniger als der Ausbruch in ein anderes Leben, den die holländische Schriftstellerin Margriet de Moor 1996 in ihrem Romandebüt «Erst grau dann weiß dann blau» als Motiv gewählt hat. Und zwar nicht in der sattsam bekannten Form vom Mann, der Zigaretten holen geht und nie wiederkommt, sondern von einer Frau, die plötzlich verschwunden ist und zwei Jahre später wieder da ist. Sie steht in der Küche und fragt ihren von der Arbeit heimkehrenden Mann, ob er draußen essen will bei dem schönen Wetter, - so als ob nichts gewesen ist, als ob sie sich erst morgens noch gesehen haben. Der eigentliche Skandal aber ist, dass Magda kein Wort dazu sagt, wo sie gewesen ist.

Ihren Mann Robert hat sie in Kanada kennen gelernt, er ist nach abgebrochenem Jurastudium Maler geworden. Als sie 1963 heiraten, bricht auch sie ihr Studium ab, folgt ihm in seine holländische Heimat. Bald schon besuchen die Beiden Roberts alten Freund Erik. Dessen hochschwangere Frau Nelli steht unmittelbar vor der Geburt und bringt noch in der Nacht Gabriel zur Welt. Das Kind leidet, wie sich schließlich herausstellt, an Autismus. Robert und Magda verlassen Holland nach kurzer Zeit wieder und kaufen in den französischen Alpen einen alten Bauernhof. Magda erleidet dort mehrere Fehlgeburten hintereinander und bleibt schließlich kinderlos. Elf Jahre später kehren sie nach Holland zurück, Robert übernimmt die vor dem Bankrott stehende Firma seines verstorbenen Vaters und wird ein erfolgreicher Unternehmer. Magda gelingt es, zu dem herangewachsenen Gabriel, der inzwischen in einer Behinderten-Einrichtung arbeitet, über dessen Begeisterung zur Astrologie eine enge Vertrautheit herzustellen. Er hat darin beachtliche Kenntnisse erworben, sie interessiert sich ebenfalls dafür und hilft ihm als Übersetzerin bei der Korrespondenz mit namhaften Sternwarten rund um den Erdball.

Der in vier Teile gegliederte Roman wird aus wechselnden Perspektiven erzählt, zunächst in der Ich-Form aus der von Erik. Darin wird das bittere Ende der Geschichte vorweg genommen. Im zweiten Teil wird geschildert, wie der plötzlich einsame Robert mit dem Verlassenwerden umgeht, wie er mit seinem ungewohnten Single-Leben zurechtkommt. Der dritte Teil beleuchtet in vielen Rückblenden das wechselvolle Leben von Magda, die 1938 in Tschechien geboren wurde, den Vater im Krieg verloren hat und mit ihrer Mutter über Berlin und Neapel nach Halifax in Kanada emigriert ist. In filmschnittartig aneinander gereihten Szenen erzählt die Autorin von ihrer radikalen Aussteigerin Magda und deren vergeblichem Versuch einer Selbstfindung. Sie vermischt die Geschehnisse mit vielerlei Metaphern und raffinierter Symbolik zu einem poetischen Bild der Suche nach Liebe, nach Glück und Freiheit. Wobei sie vieles in der Schwebe hält, was dann auch zu vielerlei Interpretationen verleitet, zumal nicht alles wirklich plausibel ist, was da geschildert wird. Die Autorin hat dazu erklärt: «Ich möchte meinen Leser genau in diesen zweideutigen Zustand versetzen, in dem die Grenzen der Wirklichkeit aufgehoben sind».

Dazu gehört insbesondere die provozierende Selbstverständlichkeit, mit der die Romanheldin nicht nur ihre Identitätssuche betreibt, sondern sich auch noch beharrlich darüber ausschweigt. Damit wird von ihr offensichtlich ein Tabu gebrochen, eine zweite Magda, von der man partout nichts weiß, neben der allen wohlbekannten ersten, ist keinesfalls akzeptabel. Und das gilt nicht nur für die Mitmenschen, sondern insbesondere auch für Robert. In einer ergreifenden Szene bei der Überfahrt nach Kanada berichtet Magda von der bevorstehenden Seebestattung eines gerade verstorbenen Babys in einer Pappschachtel. «Erzähl es mir, bat ich das Baby leise. Stimmt es, dass alles erst grau wird, dann weiß, dann blau, und dass man dann zu den Sternen fliegt?» Und als Credo findet sich an anderer Stelle im Roman der Satz: «Was nicht erzählt wird, gibt es nicht». Wie wahr!

Bewertung vom 05.04.2022
Zama wartet
Di Benedetto, Antonio

Zama wartet


gut

Latein-amerikanischer Existentialismus

Der bekannteste und im Original 1956 erschienene Roman des argentinischen Schriftstellers Antonio di Benedetto wurde in verschiedenen Auflagen unter dem Titel «Zama wartet» ins Deutsche übersetzt. Als Wiederentdeckung wurde er in der Buchreihe «Bibliothek der Weltliteratur» des Manesse-Verlags 2009 mit einem kenntnisreichen Nachwort von Roland Spiller versehen und schließlich 2017 durch die argentinische Regisseurin Lucrecia Martel auch erfolgreich verfilmt. Dieses Buch verweigert sich beharrlich jeder einengenden Zuweisung in eine literarische Gattung. Obwohl Ende des 18ten Jahrhunderts angesiedelt, ist es kein historischer Roman, auch nicht die psychologische Studie eines zum Scheitern verurteilten Karrieristen oder die an Ransmayr erinnernde Geschichte einer desaströsen Expedition in die menschliche Finsternis.

Die mit den Jahreszahlen 1790, 1794 und 1799 überschriebenen drei Abschnitte befassen sich in 50 Kapiteln schwerpunktmäßig jeweils mit einem der im Roman behandelten Themen-Komplexe. Diego de Zama gehört als Justiziar zu den leitenden Beamten von Asunción, er vertritt schon seit mehr als einem Jahr die Krone in dieser spanischen Kolonie, fernab von Frau und Kind. Vergeblich wartet er auf Beförderung oder Versetzung nach Buenos Aires, alle wichtigen Posten in der Verwaltung haben die aus der Heimat entsandten Beamten inne. Als Kreole, als in Argentinien geborener Weißer, hat er da kaum Aufstiegschancen und wird immer wieder mit verlogenen Versprechungen vertröstet. Finanziell lebt er in prekären Verhältnissen, die Gehälter der Angestellten werden oft monatelang nicht ausgezahlt, er kann dann auch seiner Frau kein Geld schicken. Und so wartet Zama Jahr um Jahr, hofft auf ein Schiff mit Briefen von seiner Frau - oder mit seiner Beförderungs-Urkunde! Der eher schüchterne Mann träumt sich zunehmend in Liebesabenteuer mit verschiedenen Frauen hinein, scheitert dabei aber an seinem tölpelhaften Draufgänger-Gehabe. Er verliert jeden Bezug zur Realität und zeugt schließlich einen Sohn mit einer einfachen Frau, die allerdings so gar nicht seinen Träumen entspricht. Als ihm die Leitung einer Strafexpedition übergetragen wird, die den gefürchteten, landesweit gesuchten Verbrecher Vicuña Porto und seine Bande gefangen nehmen soll, erhofft er sich davon den nötigen Karriereschub. Aber die Mission scheitert kläglich, in verlustreichen Scharmützeln mit Indianern werden sie immer mehr dezimiert und scheitern zudem an der wilden Natur. Schließlich erkennt Diego de Zama voller Schreck, dass der Gesuchte, und wohl auch einige Mitglieder seiner Bande, sich unerkannt als Söldner seiner Truppe angeschlossen haben.

In dieser Geschichte vom langsamen Verfall eines Mannes verlagert sich der narrative Status von einem, der als Subjekt das Geschehen beobachtet, zunehmend zu einem, der als Objekt selbst beobachtet wird, sei es von Frauen, von Kollegen oder vom Vermieter seiner bescheidenen Behausung. Die Ich-Form bleibt dabei allerdings bis zuletzt erhalten, nur das Erzählte verschiebt sich immer mehr in den Bereich des Traumes, wird mystisch, existiert nur im Delirium. Verbunden mit diesem Realitätsverlust ist insbesondere die wachsende Erkenntnis des Protagonisten von der eigenen Unfähigkeit, die den Macho mit voller Härte trifft.

Geradlinig und lakonisch erzählend wird hier der Fokus auf das innerlich und äußerlich Wahrnehmbare konzentriert, ohne es ergänzend auch kontemplativ zu würdigen oder gar psychologisch zu deuten. Die Sprache ist karg und wirkt unbeholfen, inhaltlich bleiben zudem alle moralischen oder religiösen Aspekte konsequent ausgeblendet. Ein Untergebener Zamas, der im Dienst beim Schreiben eines Buches erwischt wird, antwortet auf die Frage, warum er überhaupt schreibt: «Ich schreibe, weil ich muss, weil ich das, was ich im Kopf habe, herausbringen muss». Der ästhetisch unbedarfte Protagonist aber verkörpert hier einen latein-amerikanisch gefärbten Existentialismus.

Bewertung vom 03.04.2022
Rückkehr
Achten, Willi

Rückkehr


gut

Wahrheit schichtweise

In seinem neuen Roman «Rückkehr» folgt Willi Achten dem bekannten Handlungsmuster des nach langer Zeit heimkehrenden Protagonisten, der sich schwertut, wieder an sein einstiges Leben anzuknüpfen. Handlungsort ist ein ungenanntes Alpendorf, fortgetrieben hat ihn ein schlimmes Erlebnis, das im beschaulichen Ambiente eines Heimatromans geschildert wird und dessen Geheimnis sich dem Ich-Erzähler nach mehr als zwanzig Jahren nur zögerlich erschließt. Die in der Gegenwart angesiedelte Geschichte behandelt sattsam bekannte Themen wie Heimatliebe, Umweltzerstörung, Ehebruch, Männerfreundschaft und Jugendliebe. Gelingt es dem Autor, diesem Themenkomplex neue Facetten abzugewinnen?

«Wir sehnen uns nach Hause und wissen nicht, wohin» lautet das dem Roman vorangestellte Motto von Joseph von Eichendorff. Auch für Jakob Kilv stellt sich die Frage, ob er an den seinerzeit fluchtartig verlassenen Ort seiner Kindheit zurückkehren soll. Seine Freunde von einst sind alle noch da, auch seine erste Freundin Liv lebt noch in dem Dorf am See, und sogar die Nachbarn sind die alten. Sie alle freuen sich, dass er wieder da ist. In zwei Zeitebenen wird Jakobs Suche nach den geheimnisvollen Hintergründen geschildert, die geradezu zwangsläufig zu seiner überstürzten Flucht führen mussten. Mit vielen Rückblenden werden schichtweise all die Geschehnisse aufgedeckt, die ihn damals so brutal fortgetrieben haben. Seine Clique hatte in hilflos wirkenden Attacken versucht, die Pläne des örtlichen Liftbetreibers für einen gigantischen neuen Skizirkus zu vereiteln. Dadurch würde nicht nur die Landschaft zerstört und die Natur nachhaltig geschädigt, wie die erbosten Umweltschützer meinen, auch die geologische Stabilität der betroffenen Bergregion am Weißkogel wäre massiv gefährdet. Die ist ohnehin schon durch die Klimaerwärmung und den deshalb abschmelzenden Permafrost äußerst fragil geworden. Ein dadurch irgendwann ausgelöster Bergrutsch in den See hinein würde jedenfalls katastrophale Folgen haben. Der Vater von Jakob unterstützt als engagierter Ornithologe die jugendlichen Naturschützer, deren Anführer Bruno mit Jakobs Mutter heimlich ein Verhältnis hat. Ein auswärtiger, gewaltbereiter Umwelt-Aktivist löst dann auf einer Geburtstagsfeier des rücksichtslosen, von Politikern unterstützten Ski-Moguls eine Brandkatastrophe aus, die zwei Menschenleben fordert und Jakob verheerende Brandwunden zufügt.

Durch die von ihm wie Zwiebelschichten nach und nach freigelegten Hintergründe und Zusammenhänge wird erst ganz zum Schluss klar, durch welch unheilvolle Verstrickungen das Geschehen damals den für Jakob so tragischen Verlauf nahm. Gleiches gilt für sein Verhältnis zu Liv, das er selbst nicht richtig einzuschätzen weiß. Ist sie nun wieder seine Freundin oder ist er nur ein Liebhaber, wie es sein bester Freund Bruno scheinbar auch ist? Willi Achten treibt sein Spiel mit der Ungewissheit auf die Spitze, sehr zum Missvergnügen vieler Kommentatoren, denen diese Spannung fördernde, bis zuletzt alles offen lassende Erzählweise als gar zu aufdringlich erscheint. Erschwerend kommt hinzu, dass die Figuren allesamt als wenig emphatisch beschrieben sind und damit kaum Einblick in ihr Innerstes zulassen, was es schwierig macht, ihr Handeln wirklich zu verstehen.

Eine Besonderheit sind neben den mitreißenden Schilderungen einer grandiosen Natur insbesondere die ornithologischen Ausflüge des Ich-Erzählers auf den Spuren des Vaters. Er liebt die Vogelwelt ebenso und beschreibt sie kenntnisreich, am Ende sogar mit der diffizilen Auswilderung zweier Bartgeier. Er selbst ist ja wie ein Zugvogel an den ursprünglichen Ort seines Lebens zurückgekehrt, aber ob er denn hier auch bleiben wird? Der eher passiv wirkende Held sagt dazu nichts. Liv neben ihm schläft noch, «Ich bleibe, schreibe ich mit dem Finger in die Luft und breche auf», lautet der letzte Satz. Neue Facetten zum Thema, wie eingangs gefragt, tun sich hier allerdings nicht auf!

Bewertung vom 01.04.2022
Es gilt das gesprochene Wort
Wortmann, Sönke

Es gilt das gesprochene Wort


gut

Wahrhaftig und ungeniert schnodderig

Den Anstoß zu seinem Debütroman «Es gilt das gesprochene Wort» bekam der Film-Regisseur Sönke Wortmann bei einem Friseurbesuch in Prag. Der schwatzhafte Figaro zog ihn mit der Frage, woher er denn komme, in ein Gespräch hinein und antwortete auf die Gegenfrage zu seiner eigenen Herkunft mit ‹Tunesien›. Im Roman führt dieses Gespräch Franz-Josef Klenke, der Redenschreiber des deutschen Außenministers, der zu einem Arbeitsbesuch nach Prag gekommen ist und zu dessen Delegation Klenke gehört. Ein Tunesier, der in Prag lebt und arbeitet, sei außergewöhnlich wegen der restriktiven Immigrations-Politik östlicher EU-Staaten, - und schon hatte Wortmann sein Thema gefunden, wie er berichtete.

Der Autor erzählt in seinem gut recherchierten, informativen Roman von einer Reise des deutschen Außenministers nach Tunesien, deren Höhepunkt die Unterzeichnung eines neuen Migrations-Abkommens bildet. Zur Entourage des Ministers gehört neben dem Rhetoriker Klenke auch der in der Botschaft arbeitende Diplomat Schröder, der sich in einer fatalen Lebenskrise befindet. Nicht nur, dass er sich bei der Beförderung übergangen fühlt, auch seine Ehe ist gescheitert, seine Frau reist mit den Kindern in ihre chilenische Heimat zurück. Und was Migration anbelangt, so hat sich Cornelius von Schröder mit der Zeit im Internet einigen Schwachsinn angelesen und auch zueigen gemacht. Der Autor nutzt die privaten Diskussionen des radikalisierten Querdenkers mit seinen Kollegen zu köstlichen Seitenhieben auf die Verschwörungs-Theoretiker aller Couleur. Besonders in dem Disput über 9/11 wird deutlich, wie anfällig die ewig Unzufriedenen für hanebüchene Umdeutungen der Fakten sind, deren offensichtlichen Blödsinn sie dann mit religiösem Eifer verteidigen. Und dazu gehört eben auch die durch den Islam eifrig betriebene ‹Umvolkung› Europas, die dann ja immer wieder gewaltbereite Radikale auf den Plan ruft. Die im Buchtitel angesprochene Kunst der Rede konterkariert der Autor elegant durch die Figur der Freundin von Klenke. Maria nämlich leidet an selektivem Mutimus, einem oft mit Depressionen verbundenen, psychogenen Schweigen, selbst ihrem Freund gegenüber kann sie sich anfangs nur schriftlich äußern.

Der Autor schickt seiner Geschichte einen informativen Prolog voraus, in dem er in launigen Worten vom ‹Prager Fenstersturz› berichtet. Es ist erstaunlich, wie es dem Autor gelingt, die großen Themen der aktuellen Politik, mit immer neuen, unterhaltsamen Szenen angereichert, in seine auf ein dramatisches Ende hinsteuernde Geschichte einzubauen. Dazu gehört beispielsweise die strapaziöse, mehrtägige Tour von drei deutschen Angehörigen des diplomatischen Dienstes auf Kamelen durch die Sahara, Sandsturm inklusive, oder ganz zum Schluss dann der erste Flug von Maria, der in böse Turbulenzen gerät und unabsehbare Folgen zeitigt.

Der Verrohung der Sprache in einem unkontrollierten Internet, die zu abstrusen Fehlinterpretationen unbedarfter User führt, steht in diesem Roman die Diplomatie mit ihren ausgefeilten Wortgebilden gegenüber. Es ist der ironische Blick nicht nur hinter die Kulissen des Auswärtigen Dienstes, sondern auch der gesamten politischen Kaste, der dieses Buch zu einer bereichernden Lektüre macht. Und es sind die vielen eingestreuten politischen Begebenheiten samt aller wohltuend kritischen, oft sarkastischen Kommentare, durch die der Roman auf eine sehr amüsante Weise unterhält. Ein Diplomat sei jemand, heißt es da beispielsweise an einer Stelle, der ‹ja› sagt, wenn er ‹vielleicht› meint, und ‹vielleicht› sagt, wenn er ‹nein› meint, und wenn er ‹nein› sagt, - dann ist er gar kein Diplomat! Dicht am aktuellen Zeitgeschehen entlang wird hier mit leichter Hand von der Macht der Worte erzählt, ohne dass damit philosophisch oder politisch Tiefsinniges verbreitet werden soll. Ein Pageturner also, den man ungern aus der Hand legt, weil er die Realität so wahrhaftig und ungeniert schnodderig beschreibt.

Bewertung vom 28.03.2022
Vater und ich
Güngör, Dilek

Vater und ich


gut

Wortlos verbunden

Die mit ihren deutsch-türkischen Glossen in der Berliner Zeitung bekannt gewordene Journalistin Dilek Güngör wurde mit ihrem dritten Roman «Vater und ich» für den Deutschen Buchpreis 2021 nominiert. Sie behandelt darin das Verhältnis von Eltern und Kindern zueinander, was ja spätestens dann schwierig wird, wenn die Eltern den heranwachsenden Kindern anfangen peinlich zu werden. Eine Thematik, die eher selten zu finden ist in der Literatur. In dem vorliegenden Band wird dieses Problem noch angereichert mit generationsbedingt unterschiedlichen Migrations-Erfahrungen, die von Sprachbarrieren und ungleichem Bildungs-Niveau herrühren, was sich folglich dann auch in einem unterschiedlichen sozialen Status niederschlägt.

Die in Berlin erfolgreiche Journalistin Ipek nutzt den mehrtägigen Wellness-Urlaub ihrer Mutter, um den Vater zu besuchen. Als erwachsene Tochter hofft sie, die schon lange andauernde, bedrückende Sprachlosigkeit zwischen sich und dem Vater überwinden zu können, wenn sie mit ihm mal allein ist und ungestört, ohne Ablenkung durch die quirlige Mutter, einige Tage nur mit ihm verbringt. Schon am Bahnhof wird das gestörte Verhältnis deutlich, denn der Vater wartet auf dem Parkplatz im Auto auf sie, statt sie auf dem Bahnsteig zu empfangen, wie es üblich ist, wenn ein seltener und willkommener Gast zum Besuch eintrifft. Ist das Gedankenlosigkeit oder ein Indiz für die fehlende Beziehung zur Tochter? Dilek Güngör nähert sich dieser Frage durch Rückblenden auf die Vorgeschichte der Familie. Der Vater ist in den siebziger Jahren als Gastarbeiter nach Schwaben gekommen, die Mutter hat zunächst als Putzfrau gearbeitet. Als später bei Bekannten ein kleines Haus mit Laden zum Verkauf anstand, hat das Ehepaar ihre bescheidene Eigentums-Wohnung verkauft und sich selbständig gemacht. Vater mit einer eigenen Polster-Werkstatt, Mutter mit einer Änderungs-Schneiderei im ehemaligen Laden. Im Obergeschoss befindet sich ihre Wohnung, in der die Ich-Erzählerin Ipek groß geworden ist.

Es ist eine schwierige Annäherung der Tochter an einen Vater, dem sie früher doch so besonders nahe gestanden hat. Die Beiden haben sich heute aber nichts mehr zu sagen, sie schweigen sich gegenseitig an. «Kann nicht das Schweigen unsere Sprache sein» fragt sie sich an einer Stelle des Romans verzweifelt. Obwohl Ipek als Radio-Journalistin Reportagen mit Menschen macht und dabei die unterschiedlichsten Leute zum Sprechen bringen muss, findet sie zum eigenen Vater keinen Zugang. Sie scheitert an seiner Einsilbigkeit und am eigenen Unvermögen, locker und unbeschwert mit ihm zu reden. Trennend hat zum einen gewirkt, dass die Unbefangenheit des Vaters beim Kuscheln und Herumbalgen mit der Tochter religiös bedingt schon recht früh, während der Pubertät, verloren ging und einem förmlichen Umgang gewichen ist, man gibt sich allenfalls noch die Hand beim Begrüßen. Insbesondere aber, das wird ebenso klar, ist daran auch die Sprache schuld. Besonders der Vater ist dem Türkischen treu geblieben, während für die in Deutschland geborene Ipek die Heimatsprache Deutsch ist. Türkisch spielt nur familienintern noch eine Rolle, was beim Vater besonders erschwert wird durch seinen schwer verständlichen Dialekt. Für die in bescheidenen Verhältnissen lebenden Eltern führt Ipek in Berlin ein unbeschwertes Luxusleben, auch das bietet einiges Konfliktpotential, ihr fehle es an Demut, hat der Vater ihr mal vorgeworfen.

Der in direkter Rede, in Du-Form an den Vater gerichtete Text schildert auf beklemmende Weise eine Entfremdung, für die es scheinbar viele Ursachen gibt. Allerdings lässt es die Autorin offen, warum es denn überhaupt so weit kommen musste. Auf subtile Weise, das kann man immerhin zwischen den Zeilen lesen, verstehen sich die Beiden ja doch, viele kleine Gesten deuten darauf hin. Das gilt vor allem für die intimste Szene ganz am Schluss des Romans, als Ipek dem Vater kurz vor ihrer Abreise noch schnell die Haare schneidet.

Bewertung vom 27.03.2022
Über Menschen
Zeh, Juli

Über Menschen


weniger gut

Mehr Essay als Roman

Niemand bedient den aktuellen literarischen Trend des Dorfromans so erfolgreich wie Juli Zeh, die fünf Jahre nach ihrem Erfolg mit «Unterleuten» nun mit «Über Menschen» wieder das Großstadtleben Berlins dem Landleben in einem öden brandenburgischen Kaff gegenüberstellt. Dieser Gesellschafts-Roman konzentriert sich, anders als sein Vorgänger von 2016, auf nur wenige Figuren aus einem fiktiven Ort namens Brackendorf. Thematisch widmet er sich außer dem Corona-Wirrwar dem latenten Alltags-Rassismus und einem missionarisch betriebenem Umweltschutz. Sie hoffe, hat die Autorin erklärt, dass ihr Buch helfe, Barrieren zu überwinden.

Zeitlich ist der Roman im ersten Lockdown Anfang 2021 angesiedelt, als die 36jährige Werbetexterin Dora sich von ihrem Freund trennt, der als glühender Klima-Aktivist immer abstrusere Thesen vertritt und ihr damit den Alltag vergällt. Zusätzlich genervt von den Einschränkungen des Lockdowns, hat sie kurz entschlossen ein schon lange leerstehendes Haus in dem 285-Seelen-Dorf gekauft und ist mit ihrer Hündin, die transgender-gemäß den Namen «Jochen-der-Rochen» trägt, in das auch für sie so verheißungsvolle Landleben geflüchtet. Wie nicht anders zu erwarten wird sie jedoch als Städterin sogleich mit den profanen Alltagsproblemen des Landlebens konfrontiert, aber auch mit mentalen Hürden, die es im Zusammenleben mit den wenigen Nachbarn zu überwinden gilt. Ihren ersten Kontakt hat sie über die hohe Trennmauer hinweg mit ihrem direkten Nachbarn, der wütend ist, weil ‹Jochen› im Kartoffelbeet gegraben hat, weshalb er die Hündin nun im hohen Bogen über die Mauer zurückwirft auf Doras Grundstück. Er sei übrigens der Dorfnazi, erklärt er ihr lapidar, und werde von allen ‹Gote› genannt. Im Wald trifft Dora auf Franzi, die, wie sich herausstellt, Gotes zehnjährige Tochter ist und beim Vater lebt. Ferner macht sie Bekanntschaft mit dem Floristen Tom und dem Kabarettisten Steffen, einem schwulen Männerpaar, das dekorative Pflanzen-Gestecken herstellt. Der Verkauf floriert, in Zukunft wollen sie damit auch im Internet tätig werden, wobei die inzwischen arbeitslos gewordene Dora ihnen helfen soll. Der Nachbar Heinrich von gegenüber, der den Spitznamen R2-D2 trägt, macht sich ungefragt über Doras verwilderten Garten her, während Gote, der früher Schreiner war, ihr unaufgefordert Möbel baut und in ihr leeres Haus stellt. Und Sadie schließlich steht mit einem Sack Saatkartoffeln vor der Tür, die beim Händler derzeit nirgends zu bekommen sind, und erzählt beim Kaffee, dass sie als alleinerziehende Mutter permanent in Nachschicht arbeiten muss, um finanziell über die Runden zu kommen

Soweit die Dorfidylle mit ihren vielen Klischees, die den Hintergrund bilden für die sozialen Verwerfungen, die Juli Zeh mit ihrem Roman aufzeigen will. Als Hauptübel entlarvt sie die permanente Unzufriedenheit der Menschen, die fast alles haben, sich aber trotzdem ständig an irgendwas stören, über irgendwas aufregen, anderen unbedingt ihre Meinung aufzwingen wollen. Schon kleinste Beeinträchtigungen des Wohlergehens werden da als Katastrophe wahrgenommen und erbittert bekämpft. Mit analytischem Scharfblick zeigt die Autorin durch ihr obskures Figuren-Ensemble nicht nur, wie solch verhärtete Fronten entstehen, sondern auch, wie sie sich fast von allein auflösen, wenn Menschlichkeit ins Spiel kommt, die ja schließlich in jedem stecke. Das gerät ihr allerdings oft gar zu rührselig und märchenhaft, aber Empathie für ihre Figuren kommt trotzdem nicht auf.

Irritierend ist am Ende die erkennbare Absicht der Autorin, die Untaten ihres Protagonisten Gote durch seine tückische Erkrankung zu relativieren. Und dass nun ausgerechnet Doras Vater dafür als medizinische Koryphäe in der Charité gilt, strapaziert den Zufall denn doch zu arg. Das Gedankengut dieses Romans wäre besser in einem brillant formulierten Essay verarbeitet worden, für einen Roman nämlich fehlt neben dem Impetus vor allem ein tragfähiger Plot.