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wilde hummel 1
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Hamburg

Bewertungen

Insgesamt 69 Bewertungen
Bewertung vom 21.11.2022
Für euch
Sayram, Iris

Für euch


ausgezeichnet

Iris Sayram schildert im Rückblick die Geschichte einer Kindheit und Jugend in den 80iger und 90iger Jahren in Köln. Und diese Biografie ist dicht, authentisch, emotional und schonungslos offen und es ist auch eine Hommage der Tochter an ihre Mutter, ein spätes Dankeschön für deren bedingungslose und extrem aufopfernde Mutterliebe. Die Eltern von Iris sind ein türkischer Gastarbeiter und eine lebensfrohe, willensstarke Kölnerin, genannt Mimi. Sie leben am unteren Rand der Gesellschaft, stolpern in Konflikte, überleben mit Putzjobs, Prostitution und gelegentlich nicht ganz legaler Transaktionen - aber immer wollen sie das Beste für ihr Kind Iris. Das macht diese Biografie auch so stark, diese selbstlose Liebe und unverbrüchliche Zuversicht der Mutter und der Rückblick der Tochter, die all dies so selbstverständlich genommen hat und erst im Nachgang darüber reflektiert, welchen Preis die Mutter dafür gezahlt hat. Die Tochter Iris, die den Aufstieg schaffen soll, steht oft im Spagat zwischen den Schichtzugehörigkeiten, schämt sich für die Mutter und erst im Nachgesang kann sie stolz auf ihre Mutter sein, ihre Liebe und ihren Dank ausdrücken. Für euch ist auch ein für uns, weil wir sowohl tief eintauchen in eine Wirklichkeit der Marginalisierung und zugleich aber auch die Kraft der elterlichen Liebe, das Fallen, Aufstehen, Weitergehen als mutigen Weg aus den prekären Verhältnissen erfahren. Eine starke Biografie, hart und zärtlich zugleich.

Bewertung vom 10.11.2022
Die Sehnsucht nach Licht
Naumann, Kati

Die Sehnsucht nach Licht


ausgezeichnet

Eine Familiensaga der besonderen Art. Kati Naumann erzählt die Geschichte der Bergarbeiterfamilie Steiner über einen Zeitraum von 100 Jahren. Geschickt verwebt sie die aufsteigende Chronik mit der Gegenwart in abwechselnden Kapiteln, so dass die Vergangenheit dem Heute immer näher rückt. Ausgesprochen gründlich recherchiert hat die Autorin die Geschichte des Bergbaus in Bad Schlema im Erzgebirge und so habe ich viel über die Arbeit der Bergleute und die Veränderungen in der Untertagewelt erfahren. Wie unglaublich tief, weitläufig die Stollen sind, dass Radon freigesetzt wird, die Verbindung zu Russland und vieles mehr in einem fesselnden Familienroman. Kati Naumann schildert die Personen und ihr Leben als Bergleute so lebendig und authentisch, dass mir die Menschen sehr vertraut wurden und während des Lesens eingetaucht bin in den Alltag und die Geschichte des Ortes Bad Schlema. Ein sehr spannender, zugleich informativer Roman, den man nicht so schnell auf Halde legen sollte.

Bewertung vom 19.10.2022
Das Leuchten der Rentiere
Laestadius, Ann-Helén

Das Leuchten der Rentiere


sehr gut

Ein Roman über das Leben der Samen. Ann-Helén Laestadius beschreibt in ruhiger Sprache die Geschichte von Elsa, die als 9-jähriges Mädchen Zeugin der Ermordung ihres Rentieres Nástegallu wird und der Mörder verpflichtet sie unter Todesandrohung zum Schweigen. Diese Last bedrückt und verfolgt sie, vor allem, weil die Polizei keine Anstrengung zur Aufklärung unternimmt. Einfühlsam und eindringlich beschreibt die Autorin die enge Verbindung der Samen zu ihren Rentieren, die Verantwortung für die Herde und die Liebe zu den Tieren und der Landschaft. Zugleich wird deutlich, dass die inzwischen sesshaft gewordenen Samen als indigene Gruppe viel Anfeindungen seitens der 'alteingesessenen Schweden' erfährt. Die Wilderei wird als Diebstahl bewertet und der Vorgang rasch eingestellt. Der Roman ist in drei Teile gegliedert. Das Kind Elsa wird zur jungen Frau, die sich immer stärker für ihre Kultur und ihre Rechte einsetzt. Aber auch der Tierquäler und Wilderer kommt zu Wort und beschreibt seine Sicht. Dass uns Frau Laestadius in die Weiten des hohen Nordens, die klirrende Kälte des Winters, die wunderbar beschriebene Landschaft und die Kultur der Samen mitnimmt, macht das Buch zum Leseerlebnis und erweitert meinen Horizont.

Bewertung vom 11.10.2022
Miss Kim weiß Bescheid
Cho, Nam-joo

Miss Kim weiß Bescheid


sehr gut

Cho Nam-Joo lässt 8 Frauen in einer Sammlung Kurzgeschichten von ihrem Leben berichten. Alle Erzählungen sind voneinander unabhängig, die Frauen haben unterschiedliche Lebensalter und sie beschreiben präzise und nachvollziehbar die jeweiligen Lebensausschnitte der Frauen. Bereits die erste Erzählung schildert die Beziehung zweier Schwestern, in welcher die ältere Alzheimer erkrankt im Pflegeheim ist und die jüngere sie regelmäßig besucht. Dabei wird so viel Zärtlichkeit deutlich, auch wenn der Schreibstil oft nüchtern wirkt. Oder die Erzählung, in welcher eine ältere Frau sich endlich den langersehnten Traum erfüllt und eine Reise zu den Polarlichtern in Kanada unternimmt, zusammen mit ihrer Schwiegertochter, sich also nach Jahren der Pflichterfüllung das Recht auf ihre Wunschrealisierung nimmt. Auch die Geschichte eines Abschiedsbriefes 'Lieber Hyunnam' hat mich sehr beeindruckt. Da verabschiedet sich eine Frau nach 10-jähriger Beziehung in Briefform endgültig von ihrem Partner. Rückblickend beschreibt sie die Situationen der männlichen Dominanz, der Einflussnahme und Steuerung seitens des Partners und sie kündigt die Beherrschung. Cho Nam-Joo beschreibt Frauenleben in Südkorea, die aber länderübergreifend überall in der Welt in ähnlicher Form stattfinden und es gelingt ihr, ohne dogmatische Anklage, eine sehr weibliche Sicht auf Lebensumstände zu werfen. Die 8 Geschichten sind alle intensiv und unbedingt lesenswert.

Bewertung vom 29.09.2022
Gespräche auf dem Meeresgrund
Leeb, Root

Gespräche auf dem Meeresgrund


gut

Ein sehr schön gestaltetes, schmales Büchlein. Root Leeb lässt drei ertrunkene Personen unter Wasser in einer Art Zwischenreich in Kontakt treten. Der Eine, der Andere und die Dritte umwogen sich, werden im Laufe der Erzählung wirklicher und erhalten eine persönliche Geschichte. Allerdings bleiben die jeweiligen Schicksale auch irgendwie vage, verwässert und angerissen. Die Idee, die dem Buch zu Grunde liegt, ist großartig. Im Unterwasserreich treffen drei Ertrunkene (ihre Seelen) aufeinander und blicken zurück auf ihr Überwasserleben, das sehr konträr zueinander stattgefunden hat. Geflüchteter trifft auf politisch Verfolgte und sie sind alle drei Opfer, untergegangen, versunken im Element Wasser. Fische, Meerjungfrauen, Nereiden und sogar Poseidon selbst treiben vorbei. Die Verbindung zur griechischen Mythologie erschließt sich mehr leider nicht. Insgesamt hätte ich mir gewünscht, dass die Triloge die Tiefe des Meeres haben, so blieben sie teilweise eher flach wie ein Sandstrand oder eben dünn wie das Büchlein.

Bewertung vom 20.09.2022
Die Mauersegler
Aramburu, Fernando

Die Mauersegler


gut

Eine Lebensbilanz in 365 Kapitel gepackt - ein Jahr und für jeden Tag ein Kapitel, denn genau so lange beschließt Toni, der Protagonist, noch zu leben, bevor er nach 54 Lebensjahren sein Leben durch Freitod zu beendet. Der Aufbau des umfangreichen Romans ist interessant und der Ich-Erzähler Toni blickt zurück auf ein Leben, mit welchem er irgendwie keinen Frieden finden kann. In vielen Kapiteln geht er mit seiner Ex-Ehefrau, seinem Sohn, seinen Schülern und seinen Sexaffären ins Gericht und klagt die anderen an, beschreibt gnadenlos deren Schwächen, seziert diverse Vergangenheiten und dabei kommt leider Selbstkritik und Reflexion des eigenen Verhaltens zu kurz. Das ist einerseits schade, da Toni als Egomane, als männlicher Chauvinist dem Leser*in viel Geduld abverlangt und über 800 Seiten ein überhebliches Ich seine Version beschreibt und den anderen nur wenig Raum lässt. Toni ist kein Menschenfreund, er lässt sich nicht wirklich ein, bleibt distanziert und liebt vor allem seine Hündin Pepa (die treu ist und nicht widerspricht). Toni liebt keine echten Menschen, bevorzugt eine Puppe, beobachtet die anderen kritisch und bleibt unpersönlich im Abstand. Ein intellektueller Misanthrop, der vom Leben und den Menschen enttäuscht ist und sein Ende festlegt und dabei doch irgendwie immer mit dem Leben und den Gefühlen liebäugelt. Der Roman von Fernando Aramburu ist jedoch durchaus zu empfehlen, soweit man sich auf die Ich-bezogene Lebensbilanz und den Seitenumfang einlassen kann.

Bewertung vom 14.09.2022
Kerl aus Koks
Brandner, Michael

Kerl aus Koks


sehr gut

Das Buchcover ist genial getroffen. Ein kleiner Junge mit Fußball, Rotz unter der Nase und fast immer draußen, weil drinnen ist es eng. Michael Brandner erzählt mit vielen autobiografischen Anteilen vom Aufwachsen, groß werden und dabei viel Leben ausprobieren. Paul wird als 4-jähriger Junge aus seiner lebensfrohen, unbeschwerten bayrischen Pflegefamilie von der Mutter nach Dortmund verpflanzt. Aber auch hier ist Paul schon früh ein Überlebenskünstler, ein Draufgänger, ein neugieriger Junge der Straße. Die Mutter ist ehrgeizig und wünscht sich vom Sohn Karriere, doch der Stiefvater gleicht aus mit dem Erziehungsmotto 'der Junge muss nur glücklich werden'. Turbulent sind die Jahre der Jugend und des Erwachsenwerdens, ruhelos suchend, Orte, Berufe, Lebensentwürfe und vor allem Frauen in schnellem Tempo wechselnd. Michael Brandner beschreibt nicht nur Paul, sondern begleitend auch eine große Zeitspanne deutscher Wirklichkeit, beispielsweise die Musterung und den Wehrdienst, Drogen und Wohngemeinschaften. Fast hat es den Eindruck, alles ist möglich und doch ist nichts von Dauer. Ein Reisender, ein Suchender mit viel Lebensmut ist dieser Paul. Herr Brandner hat einen unterhaltsamen Roman geschrieben, nicht unbedingt ein literarisches Juwel, aber dafür prall gefüllt mit Anekdoten, Lebenslust und viel cut und action.

Bewertung vom 29.08.2022
Svendborg 1937
Jeschke, Tanja

Svendborg 1937


ausgezeichnet

Bereits das Buchcover springt in die Zeit 1937 und zeigt ein junges Mädchen in einem Zug. Und das ist auch die Geschichte der jüdischen Familie Dinkelspiel, die aus Stuttgart auf die Insel Fünen in Dänemark reist, um der Verfolgung der Nazis zu entgehen. Die Geschichte wird aus Sicht der 17-jährigen Tochter Meret erzählt. Die 5-köpfige Familie findet Aufnahme bei einer entfernten Tante in Svendborg, einem kleinen Ort in einem kleinen Haus, das mehr Freundlichkeit ausstrahlt, als die Tante tatsächlich hat. Tanja Jeschke beschreibt die Verluste der Familienmitglieder, lässt aber zugleich parallel den Lebens- und Überlebenswillen, die Fähigkeit, sich anzupassen und die Freude und Zuversicht, vor allem bei Meret immer wieder neu aufleben. Die beiden Schwestern entdecken ein Motorrad und erfahren sich damit ein Stück Freiheit, sie lernen andere Emigranten kennen und sie sind jung und glauben an ihre Zukunft. So ist die Geschichte eben nicht nur tragisch, sondern auch eine Homage an die Lebensfreude. Feinsinnig und empathisch wird die Geschichte vom Entkommen und Ankommen, von Flucht und Neuanfang beschrieben. Ein wunderbares Buch.

Bewertung vom 29.08.2022
Ich verliebe mich so leicht
Le Tellier, Hervé

Ich verliebe mich so leicht


weniger gut

Hervé Le Tellier hat ein sehr schlankes Buch geschrieben. Nicht nur das Buch ist dünn, dünn ist auch die Geschichte. Da reist, oder besser ausgedrückt, da jagd ein alternder Mann einer deutlich jüngeren Frau hinterher, mit der er eine kurze Affäre in Paris erlebte. Ein wenig mehr Lebenserfahrung würde man diesem Helden schon wünschen, damit er nicht mit einer solchen Selbstüberschätzung in eine absehbare Zurückweisung stolpert. Aus einer eher sexuellen Begegnung möchte unser Held eine tiefergehende Liebesbeziehung mit Zukunftsversprechen erzwingen. Da macht er sich was vor und die Zurückweisung kränkt seine Eitelkeit, mehr aber auch nicht. Da hat er sich halt mal selbst getäuscht und nun muss er die Enttäuschung verkraften. Der Held ist nicht mehr jung und will es doch bleiben. So interpretiert er die Absage der Angebeteten stark auf seine äußere Erscheinung, wo er doch eher darüber nachdenken sollte, dass sein Überfall zwangsläufig Fluchttendenzen und Abgrenzung seitens der jungen Frau auslösen muss. Das Buch hat wenig Tiefgang, die Geschichte bleibt dünn wie das Buch und die Obsession des Helden ist den Preis nicht wert. Leider keine Empfehlung.

Bewertung vom 18.08.2022
Die Köchinnen von Fenley
Ryan, Jennifer

Die Köchinnen von Fenley


sehr gut

Das Buchcover zeigt 4 Frauen mit Kochhauben, die zusammen in einer Reihe laufen. Jennifer Ryan lässt die Zeit der Lebensmittelrationierung in England in der Zeit ab 1940 wieder lebendig werden. Das Ministerium für Ernährung und der Radiosender BBC schreiben einen Kochwettbewerb aus und die Gewinnerin wird Co-Moderatorin in der beliebten Radiosendung 'The Kitchen Front'. Vier Frauen kommen in die enge Auswahl und treten gegeneinander an. Alle haben persönlich zwingende Gründe, diese Kochschlacht für sich zu gewinnen. Hauptaufgabe ist es, aus den knappen Ressourcen möglichst schmackhafte und nahrhafte Gerichte zu kreieren. Die vier Frauen werden mit ihren sehr unterschiedlichen Lebensumständen und individuellen Hoffnungen im Roman abwechselnd beschrieben. Aus den anfänglichen Konkurrentinnen werden zunehmend Freundinnen. Eine gelungene Idee ist die Einfügung der jeweiligen Rezepte wie beispielsweise Schafskopfpastete. Ein Manko des Romans ist die Vorhersehbarkeit der Entwicklung und die Überzeichnung der einzelnen Frauen. Insgesamt ein unterhaltsamer Roman ohne großen Tiefgang und als Urlaubslektüre durchaus zu empfehlen. Das Buch ist wie ein leichtes Sommergericht.