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Morten
Wohnort: 
Köln

Bewertungen

Insgesamt 82 Bewertungen
Bewertung vom 07.10.2022
Miss Kim weiß Bescheid
Cho, Nam-joo

Miss Kim weiß Bescheid


sehr gut

Mit Kurzgeschichten ist das ja immer so eine Sache. Rein persönlich. Manche Einzelgeschichten sind dermaßen brillant, dass es fast schade ist, dass die Figuren nur über wenige Seiten begleitet werden. Manche Sammlungen sind oft so unterschiedlicher Natur, die Qualität so schwankend, dass am Ende eher eine durchschnittliche Meinung herauskommt. Cho Nam-Joos „Miss Kim weiß Bescheid“ ist da eine sehr erfreuliche Ausnahme: acht Erzählungen, acht Frauenschicksale – fast alle auf hohem Niveau und ihrer Länge genau richtig.

Eine Frau besucht ihre ältere Schwester im Pflegeheim. Eine andere schreibt einen Abschiedsbrief an ihren Nun-bald-Ex-Freund. Eine Schülerin hadert mit ihrer ersten Liebe während der Corona-Pandemie. Eine Lehrerin erfüllt sich einen Lebenstraum. Eine Tochter sucht ihren Vater. Eine Autorin besucht ihre ehemalige Lehrerin. Eine neue Mitarbeiterin wundert sich über mysteriöse Vorkommnisse in ihrer Firma. Zwei Schülerinnen wehren sich gegen sexuelle Übergriffe.

Alle Geschichten haben etwas gemeinsam: gesellschaftliche Probleme und starke Frauen. Und direkt das Wichtigste für alle Leser:innen, die hoffen oder fürchten, dass es sich bei den Problemen um rein koreanische handelt – nein. Hatespeech, sexuelle Übergriffe, Ungleichbehandlung am Arbeitsplatz und Gaslighting sind leider auch bei uns Alltag. Die Protagonistinnen leiden darunter, wehren sich, schaffen ihren eigenen neuen Platz im Leben.
Frauen, die nach dem Tod ihres Mannes und/oder Sohnes neu aufleben. Frauen, die plötzlich F*ck it und F*ck you denken. Frauen, die sich gegen klassische Rollenbilder wehren. Ganz stark. Und auch die Autorin selbst wird zu einer Geschichte, so scheint es, so liest es sich in „Trotz“, in der die Figur beschreibt, wie sie nach ihrem Romandurchbruch gefeiert, aber auch angefeindet wurde, so wie Cho Nam-Joo nach ihrem Erfolg mit „Kim Jiyoung, geboren 1982“.

Die vielleicht schwächste Geschichte ist die letzte, einer ersten zarten Händchen-Halten-Liebe, der die Pandemie dazwischengrätscht, auch wenn auch diese ihren ganz eigenen Charme hat. Richtig stark dagegen: „Die Nacht der Polarlichter“, in der eine Endfünfzigerin ihren Lebenstraum erfüllen möchte und mit ihrer Schwiegermutter nach Kanada reist, um Polarlichter zu sehen, statt sich um ihren Enkel zu kümmern. Und „Lieber Hyunnam“, in der eine Frau einem Mann per Brief erklärt, warum sie ihn nicht heiraten wird und die mit den passendsten Schlussworten für ihre gemeinsame, toxische Beziehung endet.

Und auch wenn die Geschichten alle so global gültig sind, nimmt Cho Nam-Joo die Leser:innen dennoch mit auf eine spannende Reise in den koreanischen Alltag, in die Kultur, die Küchen, die Leben südkoreanischer Familien. Im Guten, wie im Schlechten skizziert sie die Schicksale, die Lebenswelten, die so allgemeingültig sind, dass jede:r seine und ihre Lehren daraus ziehen kann – und trotzdem noch Lust hat, einmal selbst in das asiatische Land zu reisen, wenn noch nicht geschehen. Großes (Kurzfilm-)Kino!

Bewertung vom 05.10.2022
Unsre verschwundenen Herzen
Ng, Celeste

Unsre verschwundenen Herzen


ausgezeichnet

Die deprimierendsten Dystopien? Sind die realistischen. Die keine Aliens, keine Naturkatastrophen brauchen, um die Welt und die Gesellschaft an den Abgrund zu schieben, sondern menschliches Verhalten. Das so nah am aktuellen Weltgeschehen ist, dass es nur einen Funken und etwas Unaufmerksamkeit benötigt, bis aus Fiktion Wahrheit wird. Celeste Ng schafft dieses Gefühl von Ohnmacht und Verzweiflung mit „Unsere verschwundenen Herzen“ in Perfektion.

Bird lebt mit seinem Vater im obersten Stock eines Studentenwohnheims, seit sie aus ihrem alten Leben flüchten mussten, seitdem seine Mutter sie verlassen hat. Warum? Das wird nach und nach klarer. Die große Rolle dabei spielt PACT – ein patriotisches Gesetz, das die Rechte und das Leben chinesisch-stämmiger Amerikaner und ihrer Unterstützer einschränkt. Bis hin zum Verlust ihrer Kinder, die in Pflegefamilien entrissen werden. Die verschwundenen Herzen.

Der Roman ist in der nicht allzu fernen Zukunft angesiedelt, vermutlich in den 2030er Jahren, nicht viel später. Zehn Jahre vor der Handlung versank das einst freie Amerika in einer Wirtschaftskrise, die China in die Schuhe geschoben wurde. Kein unrealistisches Szenario in Zeiten von Corona, Krieg und Trumpismus. Mit einem harten Gesetz wurden unamerikanische und pro-chinesische Einflüsse unter Strafe gestellt. Bücher verbrannt. Menschen getötet, während Polizei und Politik wegschauten. Doch langsam macht sich zarter Widerstand in der Gesellschaft breit. Und das unter einem Motto, das sehr viel mit Bird zu tun hat.

„Unsere verschwundenen Herzen“ ist brutal zu lesen. Allein schon für alles, was während der Lektüre im Kopf passiert, was zwischen den Zeilen steht. Wer ein bisschen das Geschehen in den USA, den Drift der Republikaner und ihrer Anhänger seit Beginn des Jahrtausends verfolgt hat, der weiß, wie der aufrührerische Politikstil funktioniert, der im Roman zu PACT führte.

Und dieses brutale Kopfkino, das trotz des ruhigen Schreib- und Erzählstils den Puls in die Höhe und Tränen der Verzweiflung in die Augen treibt, macht Ngs dritten Roman zu einem der stärksten und vielleicht auch wichtigsten Bücher des Jahres. Daran ändert auch ein kleiner Bruch im Lesefluss durch einen Perspektivwechsel nach einem Drittel der Geschichte nichts. Spannend werden Handlungsfäden miteinander verknüpft, Birds Familiendrama immer klarer, für die Hauptfigur wie für Leser:innen gleichermaßen. Und am Ende? Bleibt vor allem eine Botschaft: dass es an der Gesellschaft ist, ein derartiges Zukunftsszenario zu verhindern.

Bewertung vom 28.09.2022
Schau durchs Fenster!
Gorelik, Katerina

Schau durchs Fenster!


sehr gut

Ein Feuer! Ein Monster! Ein böser, gefräßiger Wolf! Bei wie vielen von Ihnen ist der Puls jetzt bereits angestiegen? Seien Sie beunruhigt: All das erwartet Sie und Ihre Kinder in „Schau durchs Fenster!“ – oder etwa nicht?

Katerina Goreliks Kinderbuch ist in erster Linie ein großer Spaß mit leichtem Gruselfaktor. Und in zweiter Linie räumt er mit Klischees auf. Der Lefzen ziehende Wolf ist nicht etwa scharf auf gemischtes Hack aus Großmutter und Rotkäppchen, sondern auf die gemeinsame Teezeit. Das gruselige Skelett im Fenster? Ist lediglich die Knochenapparatur von Dr. Maus, der gerade einen Hund untersucht. Und der Brand in der Küche? Ist lediglich ein Drache gewordener Bagel-Toaster – wie praktisch!

Das Buch ist eine Wohltat, denn endlich einmal ist im Gegensatz zu Märchen nicht alles böse, nicht alles schrecklich. Auch wenn die wundervollen Illustrationen den ersten Schauer noch unterstreichen. Aber: Auch bei harmlosen Szenen ist auf den ersten Blick nicht alles Gold was glänzt – oder leckerer Apfelkuchen. Letztere Szenen geben dem Buch noch einmal einen ganz anderen Twist: Auch eine vermeintlich nette Omi kann ihre düstere Seiten haben.

Die Moral? Ein zweiter Blick lohnt sich im Leben. So lassen sich Vorurteile aus der Welt räumen, im Guten wie im Schlechten. Aber, auch das sei gesagt: Auf den 60 Seiten wird häufiger der Schrecken genommen als ein neuer gegeben. Und das ist nicht nur schön, sondern auch sehr zeitgemäß.

Bewertung vom 20.09.2022
Wie pflanze ich ein Einhorn? / SAMi Bd.22
Morrisroe, Rachel

Wie pflanze ich ein Einhorn? / SAMi Bd.22


ausgezeichnet

Liebe Eltern, ihr seid in der Einhornfalle gefangen und ächzt bereits beim Gedanken an ein weiteres Buch über stirnbehörnte Pferde? Keine Sorge – „Wie pflanze ich ein Einhorn?“ ist keine Geschichte über quietschbunte Vierhüfler mit Regenbogenmähne. Zumindest nicht direkt. Dafür eine wundervolle Erzählung über die Macht der Pflanzen und warum manche Ratschläge nicht achtlos überhört werden sollten. Was wir Erwachsenen ja spätestens seit Gremlins wissen.

Die Geschichte in wenigen Worten: Die kleine Sally landet auf der Suche nach einem Geburtstagsgeschenk für ihre Oma in einem – im wahrsten Sinne – zauberhaften Blumenladen. Mister Pottifer, eine völlig harmlose fleischfressende Pflanze, hat allerlei magische Gewächse im Angebot – manche beißen, andere schneien und hageln, boxen und schwingen im Takt und wieder andere haben Einhörner als Früchte. Bloß soll man von letzteren nie mehr als einen Samen pflanzen, ansonsten … naja, lest und hört selbst.

Denn „Wie pflanze ich ein Einhorn?“ ist Buch und Hörspiel in Kombination mit dem SAMi Lesebär von Ravensburger. Der kleine Eisbär mit der Teetasse verwandelt die Geschichte in ein hübsch gelesenes Hörvergnügen, gesprochen von Anna Ewelina. Vielerlei Hintergrundgeräusche runden die magische Atmosphäre von Steven Lentons Geschichte perfekt ab. Natürlich funktioniert das Buch auch ganz klassisch. Im Gegensatz zu manch anderen Buch-Hör-Kombis wird hier keine Zeile Text weggelassen, so dass kleine Leser:innen die Geschichte auch ganz ohne Lesebär entdecken können.

Und die Einhörner? Sind am Ende tatsächlich für was gut. Dabei nicht mit der, tja, mittlerweile auch schon klassischen Einhornkotze, dafür mit … auch das möchte ich nicht verraten. Aber es bringt Mister Pottifers Laden noch einmal auf ein ganz neues Level. Ein bezauberndes, toll illustriertes und amüsant geschriebenes Buch für kleine Einhorn-Fans. Und ja, tatsächlich auch für Eltern, die eigentlich schon die Nase voll von Einhörnern haben. Versprochen!

Bewertung vom 20.09.2022
Die rätselhaften Honjin-Morde / Kosuke Kindaichi ermittelt Bd.1
Yokomizo, Seishi

Die rätselhaften Honjin-Morde / Kosuke Kindaichi ermittelt Bd.1


sehr gut

Etwas mehr als 75 Jahre ist dieser Kriminalroman alt. Ein Klassiker in Japan. Und der Auftakt der vierteiligen Reihe um den Privatdetektiv Kosuke Kindaichi, die nun auch in deutscher Übersetzung von Ursula Gräfe vorliegt. Endlich.

Ein Brautpaar wird in der Hochzeitsnacht tot aufgefunden. Die Tatwaffe, ein blutverschmiertes Schwert, liegt außerhalb des Raumes, der völlig verschlossen ist. Spuren des Täters führen hinein – aber nicht hinaus. Was geschehen ist? Das eröffnet Seishi Yokomizo den Leser:innen erst nach und nach.

Mit vielerlei Referenzen auf weitere Klassiker der Kriminalliteratur, japanischer Zurückhaltung und trockenem Witz erzählt er die Geschichte des Falls aus der Vorkriegszeit. Dabei wirkt sie gar nicht so sehr aus der Zeit gefallen. Natürlich gibt es keine Handys, aber die Polizeiarbeit unterscheidet sich gar nicht so sehr von der heutigen, die des Detektivs erinnert gar an einen leicht verschrobenen, aber sympathischen Sherlock Holmes. Der natürlich selbst im Wörterbuch neben dem Wort „verschroben“ abgebildet sein könnte.

„Die rätselhaften Honjin-Morde“ ist aber gleichzeitig auch ein schöner Blick auf das unbekannte Japan, auf Vorkriegstraditionen, auf das manchmal sehr strenge Familienleben. Behutsam geschrieben und wundervoll von der Haruki Murakami-Übersetzerin Ursula Gräfe ins Deutsche gebracht, zeichnet Seishi Yokomizo das gar nicht mal so heile Bild einer angesehenen Familie im ländlichen Japan, in der jeder und jede unter Verdacht steht, den Locked Room Murder Case begangen zu haben.

Nach der schnellen und charmanten Lektüre bleibt nur ein Wunsch an den Blumenbar-Verlag: dass auch die weiteren Fälle des Kosuke Kindaichi möglichst bald einen Weg ins Deutsche finden. So viele Jahrzehnte nach der Erstveröffentlichung wird das nämlich allerhöchste Zeit – auch, um noch mehr Japan kennenzulernen.

Bewertung vom 30.08.2022
Intimitäten (eBook, ePUB)
Kitamura, Katie

Intimitäten (eBook, ePUB)


sehr gut

Ein Mann verschwindet. Ein anderer wird zusammengeschlagen. Ein dritter steht vor Gericht. Und mittendrin eine namenslose Erzählerin. Was klingt, wie ein aufregender, düsterer Noir-Plot, ist tatsächlich eine behutsame, intime Erzählung über Entfremdung und Annäherung, beruflich wie privat. Und das funktioniert in Katie Kitamuras „Intimitäten“ größtenteils sehr gut.

Die Ich-Erzählerin lebt seit einigen Monaten in Den Haag, arbeitet als Übersetzerin am Internationalen Gerichtshof, ist in einer Beziehung mit Adriaan. Auf einer Party erfährt sie, dass dieser eigentlich noch verheiratet ist, aber von seiner Frau verlassen wurde. Als er nach Portugal reist, um die Scheidung einzureichen, überlässt er der Erzählerin für die geplante Woche seine Wohnung, doch aus der Abwesenheit werden immer mehr Tage, aus den Nachrichten immer weniger. In der Zwischenzeit lernt sie den Buchhändler Anton kennen, der nahe der Wohnung ihrer Freundin Jana zusammengeschlagen wurde, und einen angeklagten Ex-Präsidenten, der sie als Übersetzerin der Strafverteidigung am IGH anfragt. Und für sie stellt sich mehr und mehr die Frage: Liegt ihre Zukunft noch in Den Haag?

„Intimitäten“ baut durch die Beobachtungen, Gefühle und Erwartungen der Protagonistin eine dichte Spannung auf, die gleichzeitig durch die verflochtenen Beziehungen der weiteren Charaktere bekräftigt wird. Dabei können sich Leser:innen nur auf die Gedanken der Erzählerin verlassen, auf ihre Mutmaßungen und Emotionen. Manches bleibt vage, nur ein Gefühl, nur eine Angst, manches wird im Laufe der Geschichte aufgelöst. Darauf muss man sich einstellen, sowas muss man mögen, wenn man Katie Kitamuras Roman zur Hand nimmt.

Die intime, unsichere Gefühlswelt, gefüttert durch eine unsichere Beziehung, eine unsichere berufliche Zukunft in einem auch nach Monaten noch fremden Land, wird durch Kitamuras einfühlsame Schreibweise perfekt aufgefangen, erinnert phasenweise an Sofia Coppolas Filmmeisterwerk „Lost in Translation“. Das passt natürlich perfekt zum Alltag der Dolmetscherin, die perfekt mehrere Sprachen spricht und sich dennoch nach einem Leben in New York und familiären Wurzeln in Singapur nirgendwo so richtig zuhause fühlt. Und in der ein vergessenes Kindheitserlebnis ein wahrer Gamechanger sein kann. Genau wie dieses Buch von Katie Kitamura – denn sie hat das Potenzial zu einer Lieblingsautorin.

Bewertung vom 23.08.2022
Starter-Set Sami Lesebär Größter Schatz der Welt / SAMi

Starter-Set Sami Lesebär Größter Schatz der Welt / SAMi


sehr gut

Es ist Eisbärzeit im Kinderzimmer: SAMi, der Lesebär zieht ein! Der gelbbemützte Arktisbewohner mit der blauen Kaffee-, pardon, Kakaotasse verwandelt Bücher in Hörspiele. Wie das klappt? Eigentlich ganz gut.

Die Einrichtung ist tatsächlich kinderleicht, aber trotzdem etwas für die Eltern: SAMi wird eingeschaltet, ein Smartphone, Tablet oder Computer mit seinem WLAN verbunden, die Einrichtungswebseite aufgerufen, die heimischen WLAN-Daten eingetragen und schon kann das Kind loslegen.

SAMi hat seinen Platz im Buch ganz hinten. Auf der letzten Seite wird seine Eisscholle festgeklemmt. Wichtig: Er muss mittig vor den kleinen Punkten sitzen – sonst sagt er zwar, dass alles geklappt hat, aber die Geschichtenseiten werden eventuell nicht erkannt. Und das wäre ja mehr als schade.
Nun aber los: Während SAMi noch kurz das Buch vorstellt, wird die Geschichte – in diesem Fall „Der größte Schatz der Welt“ – von einer anderen Stimme vorgelesen. Und das klappt richtig gut. Die kleinen Punkte, mit denen der Vorleseeisbär die Seiten erkennt, sind angenehm unauffällig, die Wirkung der schönen Zeichnungen wird nicht beeinträchtigt.

Eine kleine Schwierigkeit: Neue Bücher haben die Eigenschaft, sich selbst umzublättern oder wieder zuzuklappen. Frechfüchse! Dadurch flippert SAMi anfangs schon einmal durch die Geschichte, wenn das Buch nicht festgehalten oder beschwert wird. Und: Blättert man zu langsam, denkt SAMi, er sei nicht mehr mit dem Buch verbunden und fordert dazu auf, ihn wieder festzustecken. Dadurch, aber auch beim Umblättern, werden auch schon einmal andere Seiten angelesen, bis SAMi erkennt, welche Seite nun geöffnet ist. Das ist aber nur ein kleiner Makel, der sich verschmerzen lässt.

Die beigelegte Geschichte, „Der größte Schatz der Welt“, geschrieben von Andrea Schütze und illustriert von Joelle Tourlonias, wird recht charmant von Katrin Daliot vorgelesen. Wie in einem Hörspiel sind viele Hintergrundgeräusche zu hören, eine echte Urwaldatmosphäre entsteht, was hübsch ist, schließlich handelt sie von einem kleinen Affen, der im Dschungel auf der Suche nach eben jenem größten Schatz der Welt ist, um ihn seiner Mutter zu schenken. Immer wieder begegnet er dabei anderen Tieren, die ihm zeigen, was für sie der größte Schatz ist. Das Ende ist natürlich offensichtlich, herzerwärmend für Eltern und Kind, aber etwas zu lang geraten.

Und ganz zum Schluss? Da verabschiedet sich SAMi mit einem leicht verkitschtem Lied von den jungen Leser:innen, die davon vermutlich begeisterter sind als die Eltern, aber zumindest wandelt es musikalisch eher auf Pfaden von Mark Forster als von Rolf Zuckowski.

Kleines Fazit? Der große Vorteil ist sicherlich, dass SAMi Kindern die Bücher erzählen kann, wenn die Eltern einmal keine Zeit haben, aber die Bücher auch problemlos in voller Länge selbst vorgelesen werden können. Mit einer wachsenden Palette an Büchern für alle Altersgruppen ist SAMi so durchaus eine Alternative zu Tonies und anderen Hörspielen, die Kinder nicht nur für Geschichten, sondern auch für das wichtigste Medium begeistert: Bücher.

Bewertung vom 16.08.2022
Snowflake
Nealon, Louise

Snowflake


sehr gut

Trigger-Warnung: In „Snowflake“ geht es um Tod, Suizid und Depressionen. Und trotzdem ist Louise Nealons Debütroman größtenteils unglaublich leicht, charmant und lebensbejahend. Der Grund: wunderbar gezeichnete Charaktere, die auch kleinere Schwächen in der Geschichte komplett wettmachen.

Debbie White ist 18 Jahre alt und startet ihr Anglistik-Studium am Trinity College. So wie viele andere in ihrem Alter. Aber statt in Irlands Hauptstadt zu ziehen, bleibt sie in ihrem Heimatort, pendelt zur Uni und kümmert sich nebenbei mit ihrem Onkel um die gemeinsamen Milchkühe und ihre Mutter, die vom Unfalltod ihres Freundes traumatisiert ist. Hin und wieder übernachtet sie bei ihrer neuen, ersten richtigen Freundin Xanthe, die mit Debbies heimlicher Jugendliebe zusammen ist und ihr gesteht, dass sie an Depressionen leidet. Für Debbie kaum vorstellbar, hat Xanthe doch alles – Geld, Aussehen und den Jungen, für den Debbie schwärmt. Bricht die junge Freundschaft direkt wieder auseinander?

Louise Nealon schreibt Debbies Geschichte in kleinen Episoden, sie liest sich fast wie ein Blog, wenn Debbie von ihrem Alltag, von ihren Erlebnissen und Erfahrungen berichtet. Entspannt, manchmal etwas naiv, tappt Debbie durch ihr Leben, das eigentlich ganz typisch, ganz banal verläuft. Wären da nicht ihre Träume, die Träume ihrer Mutter und die Nichtträume ihres Onkels.

Manchmal fehlt Debbies Geschichte der Tiefgang, einzelne Handlungsstränge bleiben relativ unbetrachtet liegen, natürlich bewusst, denn Debbie hat für diese keine Zeit, keine Lust, keinen Nerv, diese Plotstränge aufzulösen. Auch das Ende kommt fast etwas zu schnell, vielleicht aber auch, weil man als Leser:in gerne noch viel mehr Zeit mit Debbie und ihrer Familie, Xanthe und Audrey – früher Klavierlehrerin, heute Psychologin – verbringen würde. Denn fast alle Charaktere sind extrem charmant und liebenswert. Und das ist ein deutlicher Unterschied zur oft als Vergleich bemühten Sally Rooney, deren Figuren dieses Sympathielevel nie erreichen.

Eine schöne, manchmal traurige und verstörende, aber immer herzliche Geschichte über Freundschaft über Familie, über Träume und Aberglaube und über das Erwachsenleben – das sowohl für die junge Generation, aber auch für die Familie durchaus anstrengend sein kann. Und ein toller, zeitgemäßer Debütroman einer vielversprechenden Autorin, der dank des mare-Verlags in einer tollen deutschsprachigen Übersetzung vorliegt.

Bewertung vom 16.08.2022
Dachs und Rakete. Ein Haus voller Freunde
Isermeyer, Jörg;Schüttler, Kai

Dachs und Rakete. Ein Haus voller Freunde


sehr gut

Als das Auge von Senor Tortuga nicht mehr am Guckloch erscheint, werden sie nervös: Herr Dachs, Schnecke Rakete und die drei Pferde Peter, Paul und Mary, die kurz zuvor einen lauten RUMMS gehört haben. Zum Glück hat Herr Dachs als Hausmeister einen Schlüssel für alle Wohnungen. Und tatsächlich: Senor Tortuga, die alte Nachbarschildkröte, liegt auf dem Rücken und kommt nicht mehr alleine hoch – und hat nun schreckliche Angst ins Heim zu müssen. Aber keine Sorge: Schließlich ist das ein Kinderbuch und alle Bewohner des Hauses unfassbar gutherzig – und haben schon eine tolle Idee. Hurra!

Schon wenige Monate nach Erscheinen des ersten Bandes von Dachs und Rakete lässt Jörg Isermeyer seine beiden tierischen Freunde erneut auf die Stadt los. Wer den ersten Teil – „Ab in die Stadt!“ – nicht gelesen hat, kann auch mit dem zweiten starten, aber sinnvoller ist es, alle Charaktere und den Grund für Dachs und Raketes Umzug mit Buch Eins kennenzulernen – und die lustigen Schwierigkeiten der beiden, sich im Großstadtdschungel zurechtzufinden. Und noch immer fremdeln die beiden Held:innen mit alltäglichen Dingen wie Theater und Rummel, haben sich aber gut eingelebt in ihrem neuen Zuhause mit Oma Käthe, den Meerschweinchen und allen anderen Nachbarn.

„Ein Haus voller Freunde“ ist ein großer Vorlesespaß über Achter- und Murmelbahnen, Shakespeare und Schiller, Babysitting und Seniorenbetreuung, wundervoll illustriert von Kai Schüttler. Das kongeniale Duo aus Dachs und Schnecke erlebt kleine Abenteuer, die Kindern richtig Freude bereiten, während Erwachsene den ein oder anderen Schmunzler zwischen den Zeilen entdecken. Und das mit erstaunlich viel Tiefgang, besonders in der Episode mit Senor Tortuga, dem vom alten Hausmeister, der schon Dachs und Raketes Waldheimat auf dem Gewissen hatte, übelst mitgespielt wurde.

Und auch die schöne Umsetzung der Hardcover-Ausgabe macht das zweite Abenteuer von Dachs und Rakete zu einem der Highlights im Portfolio des Beltz-Verlags, nur ganz leicht fallen die Geschichten im Vergleich zum ersten Band ab. Trotzdem ist die Vorfreude auf einen dritten Teil groß – und wenn Jörg Isermeyer weiter so aufs Raketentempo drückt, ist spätestens nach Weihnachten damit zu rechnen. Wie schön!

Bewertung vom 05.08.2022
Susanna
Capus, Alex

Susanna


gut

Ein bisschen in die Irre führt er schon, der Klappentext zu Susanna. Er verweist auf die Reise von Susanna Faesch zu Sitting Bull, auf ihr Portrait, das heute im State Museum von North Dakota ausgestellt ist, auf ihre Warnung an den berühmten Stammeshäuptling, der 1890 im Reservat ermordet wurde. Dabei spielt sich dieser Teil der Geschichte lediglich auf den letzten Seiten von Alex Capus‘ biografischer Erzählung ab. Der Fokus liegt auf den ersten 45 Lebensjahren von Susanna, besser bekannt unter ihrem Künstlernamen: Caroline Weldon. Und wenn man sich darauf einstellt, erwartet die Leser:innen eine kurzweilige Zeitreise in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Susanna wird in der Schweiz geboren, zieht mit ihrer Mutter nach New York, entdeckt dort schon früh die Malerei, die ihr – zusammen dem Vermögen ihrer Mutter und ihres Stiefvaters – ein unabhängiges Leben beschert. Sie verbringen die Wochenenden in Coney Island, ansonsten bewegt sie sich wenig aus ihrer New Yorker Blase heraus. Sie heiratet, wird geschieden, bekommt einen unehelichen Sohn, der – als großer Fan von Buffalo Bills Wild West Show – Susanna nach dem Tod ihrer Mutter zu einer Reise zu Sitting Bull überredet.

Alex Capus‘ Buch erinnert mehr an einen Fernsehfilm als an eine Biografie – unterhaltsam geschrieben, den Zeitgeist und die technische Entwicklung einbeziehend und mit einem leicht verrückten Fokus. Im Buch ist es ihr Sohn Christie, der den Anstoß zur Reise ins Dakota-Territorium gibt, in klassischen Biografien war es ihr eigener Wunsch. Dass sie Aktivistin für die National Indian Defense Association war, spielt im Buch keine Rolle.

Capus beschränkt sich auf Susanna als Künstlerin, als Tochter und Mutter und als Mensch. Das ist ein bisschen schade, wenn man Weldon/Faesch kennt und sich hier mehr Tiefe gewünscht hätte, aber völlig okay, da so andere, unbekannte und rein fiktionalisierte Etappen ihres Lebens beleuchtet und zu einer anziehenden Geschichte verwoben werden. Was wahr ist, was Fiktion, das weiß allein der Autor, das entscheiden die Leser:innen vielleicht auch ein Stück für sich selbst. Denn lesenswert ist der neue Capus allemal – und das Leben von Susanna Faesch sowieso.