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Morten
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Köln

Bewertungen

Insgesamt 97 Bewertungen
Bewertung vom 19.04.2023
Seemann vom Siebener
Frank, Arno

Seemann vom Siebener


sehr gut

Ein Flimmern in der Luft. Der Blick durchs Wasser. Die Vergangenheit, die Gegenwart und ja, auch die Zukunft. Alles ist unscharf an diesem Tag im Schwimmbad von Ottersweiler. Und das ist richtig gut, größtenteils.

Arno Frank lässt in „Seemann vom Siebener“ die Erinnerungen an die Kindheit hochleben. Freibadpommes und Flutschfinger. Arschbomben und Sandkuchen. Bienenstiche und … okay, Daddelautomaten gab es bei uns nicht. Aber trotzdem schafft er es locker, eine Atmosphäre zu schaffen, die vielen Leser:innen vertraut vorkommen wird.

Im Schwimmbad, gelegen in der Pfälzer Provinz, treffen alle aufeinander. Eine frühere Lehrerin, deren Mann das Bad entworfen und gebaut hat. Ihre Schüler, mittlerweile selbst irgendwo um die 40. Teils weit gereist, teils dortgeblieben. Der Bademeister, damals wie heute in Dienst und Schlappen. Die heutige Jugend, ein Geschwisterpaar und ein paar ihrer Mitschüler. Und zwei Vorfälle, die die meisten der Besucher:innen verbinden, und dennoch – das ist kein Spoiler – eher vage bleiben.

Zwei Sachen machen richtig Spaß: Arno Frank hat hier einige spannende Figuren geschaffen, die gar nicht so sehr aus der Welt gefallen sind. Der Weitgereiste, nach langer Zeit zurück in der Heimat. Die Jugendliebe, frisch verwitwet, aber darüber nicht traurig. Die tumbe Tagesmutter, nah an den Parolen der AfD gebaut. Der Bademeister, der ein Trauma nicht überwunden hat. Die Dame im Kassenhaus, die aufgrund eines Alkoholproblems ihren Job in der Sparkasse verloren hat. Die Frau des Schwimmbadarchitekten, oft verloren in Tagträumen und Erinnerungen. Die Schwester, die an diesem Tag Großes vor hat. Und – die zweite schöne Sache – das alles verdichtet in nicht einmal einen Tag, in ein paar Stunden von kurz vor der Freibadöffnung bis in den Nachmittag hinein.

Die Unschärfen von Franks Roman liegen auch in dem, was zwischen den Zeilen geschieht. Einem Geheimnis, den die Leser:innen vielleicht auf die Spur kommen. In den Verbindungen zwischen den Figuren. Allerdings: Für das große Ganze hätte es, muss man leider sagen, auch nicht jede Figur, nicht jede Geschichte gebraucht. Vielleicht. Vielleicht ist auch eine nicht zu Ende erzählte Geschichte Teil des heißen Tags, der flirrenden Hitze und wohltuenden Kühle am Ende eines Sommers in Ottersweiler, die dafür sorgt, dass Leute sich wiedersehen und das Bad mit Leben füllen.

„Seemann vom Siebener“ ist eines dieser Bücher, die mit gutem Gewissen und Vorfreude in die Sommerurlaubstasche gepackt werden können, aber auch schon jetzt, im langsam beginnenden Frühling, schon Lust machen auf einen langen, heißen Sommer und – vor allem – an die Erinnerungen an die eigene Kindheit und Jugend, so unscharf diese mittlerweile auch sind.

Bewertung vom 04.04.2023
22 Bahnen
Wahl, Caroline

22 Bahnen


ausgezeichnet

22 Bahnen ist keine Liebesgeschichte. Keine Familiengeschichte. Keine Coming-of-Age-Geschichte. Also schon, alles mehr oder weniger. Aber vor allem: 22 Bahnen ist eine Verarbeitungsgeschichte. Denn zu verarbeiten gibt es für die Figuren in Caroline Wahls Debütroman einiges: Alkoholismus, Depressionen, Zukunftsängste. Und dabei ist das Buch vor allem eines: sehr, sehr gut. Vor allem dank Ida.

Tilda lebt mit ihrer jüngeren Schwester Ida bei ihrer alkoholkranken Mutter. Aufgrund deren Sucht hat sie den Absprung nach dem Abitur nicht gewagt, kein Work & Travel, kein Studium in einer fernen Stadt. Sie wollte und musste da sein für ihre jüngere Schwester, wenn ihre Mutter mal wieder austitschte, zu viel trank, um sich schlug. Und jetzt: ein Promotionsangebot. Im fernen Berlin. Tilda ist völlig überfordert. Auch, weil Viktor wieder da ist. Ivans Bruder, mit dem sie eine kurze, gemeinsame Vergangenheit hatte, bevor es zum Unfall kam.

Es ist ein Buch der leisen Töne. Ein Buch voller schöner kleiner Beobachtungen, vom Boden des Schwimmbeckens, an der Supermarktkasse, auf dem Dach eines Hochhauses. Ein Buch, das durchaus das Leben und die Probleme der Millennials auffängt, aber ihre Lebensweise nicht glorifiziert, persifliert oder verkitscht. Und ein Buch voller Liebe zweier Schwestern, die sich Kraft geben und sich den Rücken stärken – erst die eine, dann die andere.

Und da wären wir wieder bei Ida. Die kleine Schwester, die zu einer großartigen Person heran- und über sich hinauswächst. Die für staunende, amüsierte Blicke Tildas sorgt, die sich über Idas Verhalten beömmelt und freut. Und auch hier wieder: ganz unaufgeregt, ganz nebenbei, unglaublich sympathisch und realistisch. Die Liebe und der Stolz einer großen Schwester, wundervoll aufgefangen in und zwischen den Zeilen. Jedes weitere Wort wäre ein Spoiler des dritten Teils von 22 Bahnen.

Eigentlich könnte man noch viel mehr schreiben, über diesen eigentlich recht kurzen Roman. Drei Teile in 208 Seiten, die sich am Stück wegatmen lassen. Der tragische Unfall von Viktors Familie, nie ganz klar umrissen und dennoch von enormer Fülle. Tildas Hadern für die richtige Zukunftsentscheidung. Die Entfremdung ihrer Jugendfreunde Marlene und Leon. Die kurzen Schnacks mit Ursula im Schwimmbad. Und aus zweiundzwanzig täglich geschwommenen Bahnen, die langsam, aber stetig von Verdrängung zu Verarbeitung werden, für Tilda wie für Viktor. Das ist ihre Geschichte - und sie ist tieftraurig und wunderschön zugleich.

Bewertung vom 03.04.2023
Kleine und große Wunder der Natur
Dawnay, Gabby

Kleine und große Wunder der Natur


sehr gut

Meditativ oder esoterisch? Das ist ja eh ein schmaler Grat, wobei geneigte Leser:innen hier eher an Apps oder YouTube Tutorials denken und weniger an Kinderbücher. Aber: Bei „Kleine und große Wunder der Natur“ ist man hier gar nicht so weit weg. Ein entspanntes Vorlesevergnügen, das gelegentlich droht, ins Kitschige abzurutschen.

Gabby Dawnay nimmt uns mit in die Wälder, zu Rehen und Hirschkäfern, Bienen und Pilzen. Sie beschreibt in einfachen Worten, mit welchen Phänomen die Natur begeistert, wie Bäume miteinander interagieren oder was die Photosynthese ist. Ziemlich anschaulich, schon für kleine Kinder ab 4 Jahren, und wunderschön von Mona K illustriert.

Dawnay selbst bezeichnet sich auf ihrer Instagram Seite als Poetin (nicht direkt, sie beschreibt sich zunächst als Kinderbuchautorin und Kritzelerin und, recht sympathisch, als Bummlerin und Prokrastinateurin). Und ja, poetisch sind ihre Texte, aber, so ist das eben mit der Poesie – sie ist oft nah am Kitsch gebaut. Daher ist „Kleine und große Wunder der Natur“ kein Kinderbuch für jede:n. Man muss sich darauf einlassen, dass es plötzlich zu solchen Gedanken und Liedern wie hier bei Motte und Mond kommt:

„O Mond, lieber Mond, mit so lieblichem Schein, ich möchte verliebt sein und nicht länger allein. Aber wie soll das nur gehen? Stumm und klein, wie ich bin. Ohne Stimme zum Rufen … Wo flieg ich nur hin?“

Puh? Ja schon, ein bisschen. Ein bisschen schön aber auch. Und, jetzt sind wir wieder am Anfang: auch schön entspannend. Dawnay schreibt keine aufregenden, mitreißenden Geschichten über die Faszination Natur, sondern entspannte kleine Episoden, die die Fantasie anregen und gleichzeitig alles ein bisschen runterfahren. Ein Kinderbuch als Meditation vor dem Schlafgehen, eine kleine Traumreise durch das Leben eines Hirschkäfers oder den Pollensammeltag der Biene und dann eine gute Nacht und süße Träume von der Natur.

Ist so schlecht nicht und sieht dabei fantastisch aus. Auch dank der Haptik des Hardcovers mit Goldprint, der schönen Farben und der schon genannten Illustrationen. Und ein bisschen lehrreich ist es auch, denn jedes Kapitel schließt mit einer kleinen Zusammenfassung, einer Art Übersichtsblatt, deutlich sachlicher. Sollte man vor dem Schlafen nicht mehr vorlesen, das wirkt dann wie ein Werbespot nach der YouTube Traumreise - ein Rausreißer aus der Ruhe danach. Und die Eingangsfrage? Immer noch ein schmaler Grat – aber vermutlich ist das Buch eher meditativ. Entscheiden müsst ihr das selbst.

Bewertung vom 29.03.2023
Dein Taxi ist da
Guns, Priya

Dein Taxi ist da


sehr gut

„Aber das ist keine perfekte Geschichte. Das war sie von Anfang an nicht.“ (Seite 150)

Aber eine gute, das schon. Vielleicht nicht für die Figuren von Priya Guns‘ „Dein Taxi ist da“. Aber durchaus für die Leser:innen ihres Debütromans. Vielschichtig ist er, vielleicht zu vielschichtig, zu voll, zu übertrieben manchmal, und daher nicht perfekt. Aber er ist launig, rasant, emotional, verwirrend und am Puls der Zeit.

Damani ist Fahrerin für RideShare, eine Taxi-Unternehmen, das ihren Fahrer:innen immer weniger zahlt – im Buch ist an einer Stelle von 25 % einer 120 Dollar-Fahrt für Damani die Rede – und so die Wut, den Protest von Damanis Freund:innen entfacht. Das ist ein Teil der Geschichte. Der vielleicht interessanteste, politisch brisanteste und stärkste, wenn sich die Fahrer:innen mit Demonstranten anderer Bewegungen auf die Straße begeben, aber auch eigene Aktionen planen. Was schade ist: Dieser Aspekt verliert sich irgendwann, zumindest in seiner Wichtigkeit.

Es geht um Armut und Existenzängste, Damani und ihre Mutter fürchten ständig, ihre Wohnung aufgrund von Mietrückständen verlassen zu müssen, seit ihr Vater gestorben ist. Und trotz abgeschlossenen Studiums ist kein „richtiger“ Job für sie in Aussicht. Es ist auch eine queere Liebesgeschichte, die rasant beginnt und in einer Katastrophe endet, um am Ende – tja nun, da setzt eine weitere Geschichte ein.

Denn das Auseinanderbrechen von Damani und Jolene, gefolgt von Stalking(ängsten), Verfolgungsjagden und Spendensammlung ist insofern verwirrend, dass nicht ganz aufgelöst wird, ob wir hier eine unzuverlässige Erzählerin haben oder eine Ex, die an paranoider Schizophrenie leidet, ohne hier eine tiefere Ebene zu erreichen.

Etwas anstrengender sind die Einschübe einer Vloggerin und – immerhin nur in einem späteren Kapitel auftauchenden – Tweets, die auf die Handlung anspielen. Das lässt sich aber verzeihen, denn Priya Guns hat in ihrem Debüt tolle Figuren entwickelt, nicht nur mit der Hauptperson, sondern auch mit den weiteren Charakteren wie Miss Patrice, Shereef und eben jener Jolene.

„Dein Taxi ist da“ bündelt Zukunfts- und Existenzängste, Rassismus, Familie und Liebe zu einer spannenden, leicht konfusen, aber grundsympathischen Geschichte. Nicht perfekt. Aber lesenswert. Und wichtig.

Bewertung vom 21.03.2023
Rote Sirenen
Belim, Victoria

Rote Sirenen


sehr gut

Verrückt. Unfassbar. Unbegreiflich. Keine Ahnung, welche Wörter Victoria Belim durch den Kopf schossen, als sie an den letzten Wörtern von „Rote Sirenen“ saß und Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine begann. Denn ihr Buch ist ihre Geschichte, ihre Familiengeschichte in der Ukraine vor den Weltkriegen und nach dem Überfall auf die Krim. Das hier und jetzt und heute ist noch gar nicht Teil dieses Buchs – es spielt in einem Land vor unserer Zeit.

Victoria, Vika, ist in den 90ern mit ihrer Familie in die USA ausgewandert, lebte dort lange, blieb mit ihrer Familie so gut es ging in Kontakt, wenige Besuche, mehr Skype-Telefonate. Als ihr Vater starb, zog sie mit ihrem Mann nach Brüssel. Und als 2014 die Krim annektiert wurde, sie sich mit ihrem Onkel zerstritt, da machte sie sich auf Spurensuche. Wer war ihre Familie? Und was ist eigentlich mit ihrem Urgroßonkel passiert – eine große, stillschweigende Leerstelle in ihrem Stammbaum.

„Rote Sirenen“ ist kein Buch, dass die Hintergründe des Überfalls auf die Krim oder gar den Angriffskrieg erklärt, wohl aber die schwierige Beziehung zwischen Russland und der Ukraine, zwischen Russen und Ukrainern beleuchtet, von der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg bis heute. Und die auch zeigt, dass manche Menschen in der Ukraine Russland, andere Europa näherstehen – und viele einfach ihre Ruhe wollen.

Irgendwo zwischen Biografie, Roman und Sachbuch angelegt, wirken manche Dialoge leider etwas zu konstruiert, zwischendurch hakte mein Lesefluss gewaltig, aber nicht so, dass ich das Buch aus der Hand legen wollte. Es ist eine spannende Reise in ein trotz der Nachrichtenpräsenz unbekanntes Land, eine Heimat voller Herzlichkeit und Hilfsbereitschaft. Das Tragische: Es ist völlig unklar, wie es den Menschen heute geht, abgesehen von Vikas 2021 an COVID-19 verstorbener Großmutter, die den neuerlichen Krieg nicht mehr erlebte, der die Ukraine wieder einmal veränderte und das Land aus „Rote Sirenen“ zu einem Land vor unserer Zeit machte, wieder einmal.

Bewertung vom 03.03.2023
Teds und Nancys total verrücktes Abenteuer / Grimmwald Bd.1
Shireen, Nadia

Teds und Nancys total verrücktes Abenteuer / Grimmwald Bd.1


sehr gut

Kopflos geht es zu in Grimmwald. Erst erwischt es den guten Binky, dann … ach nein, das wäre ein Spoiler zu viel. Aber: Wer Kinderbücher nicht schätzt, in der Tiere anderen Tieren den Kopf abbeißen, für den ist Grimmwald nichts. Alle anderen könnten viel Spaß haben auf dem Land. So wie Ted. Nicht so wie Nancy.

Ted und Nancy sind zwei Fuchsgeschwister. Sie leben in der großen Stadt, ihre Eltern sind weg und sie haben Beef mit den Katzen. Besonders mit einer: Prinzessin Pinöckel. Dieses gar nicht mal so reizende Exemplar einer Mieze will die Herrschaft über die Mülltonnen der örtlichen Imbissbude an sich reißen und verliert dabei ihren Schwanz, als Ted ihn mit einem Hot Dog verwechselt. Kann ja mal passieren. Die Fuchs-Geschwister müssen jedenfalls vor Prinzessin Pinöckels Zorn untertauchen – in Grimmwald.

Ein wenig erinnert das an den umgedrehten Plot von Jörg Isermeyers Reihe „Dachs und Rakete“, nur ist es brachialer, lauter und mitunter ein bisschen weniger herzlich. Very british eben, könnte man sagen, allerdings weiß die Zielgruppe vermutlich noch zu wenig damit anzufangen. Die Füchse werden in Grimmwald herzlich aufgenommen, mit verlassenem Fuchsbau und frischen Smoothies versorgt und sogar auf einen Kaffee eingeladen, was Nancy zumindest ein kleines Lächeln abringt, während ihr Bruder den Spaß seines Lebens hat und zum ersten Mal überhaupt Freunde findet.

Wer zunächst vermutet, dass hier ein Unheil mitschwingt, sich die Bewohner Grimmwalds als fuchsfressende Sekte oder der Wald als verwunschener Gruselforst entpuppen wird, der … naja, ist entweder furchtbar enttäuscht oder ziemlich erleichtert, denn in Grimmwald passiert nichts Böses. Es gibt eine Menge Theater, aber nur auf der Bühne, einen etwas durchgeknallten Vogel, siehe Kopflosigkeit, ansonsten ist die Geschichte harmlos, bis Prinzessin Pinöckel mit ihrer Katzenbande auftaucht.

Nadia Shireens „Grimmwald“ ist durchaus gefällig, aber leider fehlt doch ein bisschen der Charme, die Herzlichkeit und vielleicht auch ein gewisser Plottwist, der über Prinzessin Pinöckels Auftauchen in Ted und Nancys neuer Heimat hinausgeht. Immerhin: Dies ist erst der erste Band von einigen – da kann also noch einiges in Grimmwald passieren. Denn so viel kann verraten werden: Ted und Nancy zieht es nicht zurück in die Stadt. Warum auch?

Bewertung vom 27.02.2023
Morgen, morgen und wieder morgen
Zevin, Gabrielle

Morgen, morgen und wieder morgen


sehr gut

Nach 400 Seiten bricht Gabrielle Zevin den Leser:innen das Herz. Oder zumindest mir, dabei bin ich eigentlich immer relativ emotionslos, wenn Roman- oder Filmfiguren etwas passiert, das nichts Gutes verheißt. Aber: In „Morgen, morgen und wieder morgen“ geschehen ständig unschöne Dinge – Unfälle, Übergriffe, Überfälle – und dennoch, vielleicht auch gerade deswegen, ist es ein gutes Buch. Aber auch: kein sehr gutes.

Goodreads Leser:innen kürten „Tomorrow, tomorrow and tomorrow“ mit deutlichem Abstand zum „Best Fiction“-Buch 2022, eine Verfilmung ist in Arbeit und das ist auch nachvollziehbar. Zevin schafft hier eine spannende Coming-of-Age Geschichte zwischen Freundschaft und Liebe und mit ganz viel 90er- und 00er-Jahre-Zeitgeist. Die Storyline kurz zusammengefasst: Sam und Sadie lernen sich in einem Krankenhaus in Los Angeles kennen, sie als Begleitung ihrer krebskranken Schwester, er nach einem Autounfall, gemeinsam zocken sie Super Mario, Tag für Tag, bevor ein Streit sie für Jahre trennt. In Boston treffen sie sich wieder, zufällig in der U-Bahn, sie steckt ihm ein von ihr programmiertes Videospiel in die Hand – und ein paar Seiten später entwickeln sie gemeinsam ein neues Spiel.

Es gibt viele Rückblenden, es gibt Blicke in die Zukunft, Interviews mit Sam und Sadie als Erwachsene, zurückblickend auf ihre Videospiele, die zu großen Erfolgen wurden. Manche Episoden werden aus Sadies, manche aus Sams Sicht erzählt, Teile auch aus der von Sams Mitbewohner Marx, eine Figur, die vermutlich am besten das Prädikat „Most wholesome character“ des Jahres verdient, wenn wir schon bei Preisen sind. Spannend ist dabei weniger die Not-Love-Story der Hauptfiguren, eher, wie sie selbst die jeweiligen Lebenssituationen beurteilen, bewerten, sich einander oft misstrauen und dabei selbst um ein schöneres, gemeinsameres Leben bringen. Egal ob als Paar oder Freunde.

Dass all dem der literarische Aufbau einer Tragödie innewohnt, macht schon der an Shakespeare angelehnte Titel deutlich, ein Teil eines Macbeth-Zitats. „Morgen, morgen und wieder morgen“ ist gut durchdacht, famos aufgebaut, spannend und toll zu lesen – als einziger Wermutstropfen bleibt der oft fehlende Sympathiewert der Hauptfiguren. Sam und Sadie bleiben nicht nur sich, sondern auch mir als Leser oft fremder als manche der charmanten Nebenfiguren, quälen sich zu sehr mit Sachen, die ihnen bewusst nicht gut tun (Sam: sein seit dem Unfall zerstörter Fuß, Sadie: ihr Dozent und zeitweiliger Lebenspartner Dov) und als Leser steht man eher hilflos daneben, während sie in einen Gumba nach dem anderen rennen statt einfach darauf oder drüber zu springen. Kleine Super-Mario-Referenz für Sam und Sadie.

Und dennoch: Gabrielle Zevins Buch ist ein gutes, spannendes und auf 560 Seiten niemals langweiliges Buch, zumindest, wenn ein gewisses Interesse für Videospiele und deren Produktion vorhanden ist. Eine gute Geschichte, die bloß ein bisschen von dem vermissen lässt, das auch Sam und Sadie fehlt: Liebe.

Bewertung vom 15.02.2023
Die Müllfahrzeuge / Wieso? Weshalb? Warum? Junior Bd.74
Erne, Andrea

Die Müllfahrzeuge / Wieso? Weshalb? Warum? Junior Bd.74


sehr gut

Große Kinderaugen, wenn sich die oft orangefarbenen Fahrzeuge durch die Straßen der Stadt schieben. Riesige Freude, wenn die Fahrer:innen winken. Es war eigentlich nur eine Frage der Zeit, wann sich ein Wieso? Weshalb? Warum? Junior-Buch von Ravensburger der vielleicht faszinierendsten Automobilfreude von Kleinkindern widmen: Müllfahrzeuge!

Auf acht Doppelseiten wird die vielfältige Welt der Müllentsorgung und Stadt- und Straßenreinigung erklärt. Wie ein Müllfahrzeug funktioniert, welche Varianten es gibt und wie sie, besonders im Sommer, gesäubert werden. Welche Arten von Müll wie entsorgt und abgeholt werden. Und wie das funktioniert, wenn Autos die Entsorgungsstellen nicht erreichen können.

Die vielen Klappen geben den jungen Leser:innen tolle Einblicke in die Fahrzeuge und ihre Funktionsweisen, lassen Straßen sauber und Müllautos gereinigt werden. Sehr schön gestaltet ist auch die abschließende Wimmelbildseite, auf der verschiedene Müllwerker:innen in der Stadt bei ihrer Arbeit gesucht und gefunden werden.

Der neue Band der tollen Wieso? Weshalb? Warum? Junior-Reihe macht richtig viel Spaß und bringt 2 bis 4 Jahre alten Kindern die Welt der Abfallentsorgung näher. Was vielleicht schön gewesen wäre: Eine Seite, die zeigt, wie Kinder die Stadt sauber halten und ihren Müll selbst entsorgen und trennen können. Aber ihnen das beizubringen ist ja eigentlich auch die Aufgabe der Eltern.

Bewertung vom 13.02.2023
Ruhm und Verbrechen des Hoodie Rosen
Blum, Isaac

Ruhm und Verbrechen des Hoodie Rosen


sehr gut

Hoodie Rosen ist eigentlich ein typischer Jugendlicher. Er kabbelt sich mit seinen Freunden, diskutiert vergnügt mit seinen Lehrern und ist von 0 auf 100 in ein Mädchen verknallt, das er vor dem Schulfenster sieht. Auf der anderen Seite ist Hoodies Leben gar nicht ganz so normal. Sein Leben spielt sich größtenteils in der jüdischen Community ab – kein öffentliches College, keine nicht-jüdischen Freude, dafür kritische bis antisemitische Schilder in den Gärten auf dem Schulweg und Hakenkreuze auf dem Friedhof. Das Mädchen, in das sich Hoodie verguckt hat, lädt ihn ein, diese gemeinsam zu entfernen. Was Hoodie in ziemliche Bedrängnis bringt – schließlich ist Anna Marie die Tochter der populistischen Bürgermeisterin, die gegen die jüdische Community hetzt.

Isaac Blum ist mit „Ruhm und Verbrechen des Hoodie Rosen“ ein starkes Jugendbuch gelungen, das den aufkeimenden Antisemitismus in den USA, aber auch in anderen westlichen Ländern in den Mittelpunkt rückt, aber auch mal augenzwinkernd, mal kritisch mit den jüdischen Traditionen ins Gericht geht. Gefühlt unfassbar, wenn auch historisch nachvollziehbar und gut erklärt, wie sehr sich die Gemeinde abschottet, aus Angst und Erfahrung, und die Gräben dadurch eher noch tiefer werden – und wie Hoodie alleingelassen in der Mitte steht und sich entscheiden muss, zwischen Familie, Tradition, Freundschaft oder aber der Liebe seines noch jungen Lebens.

Dass es hier und da an Tiefe fehlt und manche Figuren am Ende etwas blass bleiben, ist eher dem Genre und der jungen Zielgruppe geschuldet und zu verzeihen. Verschont wird auch diese nicht, das Finale ist brutal, aber mit Blick auf die vielen Gewalttaten in Amerika leider auch sehr realistisch. Und doch schwingt auch eine gewisse Versöhnlichkeit und Hoffnung mit.

Ein kleiner Wermutstropfen: Für nicht-jüdische Leser:innen ist „Ruhm und Verbrechen des Hoodie Rosen“ ein spannender Einblick in den teils ultraorthodoxe Lebens- und Glaubensalltag – aber häufig wird vieles vorausgesetzt, das einfach zu unbekannt ist. Ein Glossar mit Begriffserklärungen von jüdischen Feiertagen, Bräuche und, ja, auch Lebensmittel wäre ein schöner Bonus gewesen. Andererseits: Gerade die aktuelle Jugendbuch-Zielgruppe ist ja definitiv bekannt als Generation Second Screen – und Google kennt schließlich alles. Selbst Schnurkäse.

Bewertung vom 24.01.2023
Der Inselmann
Gieselmann, Dirk

Der Inselmann


sehr gut

„Es war so kalt, dass selbst der Wind fror.“

Ein wunderschöner erster Satz, einer von vielen in „Der Inselmann“, der notiert werden sollte in einem Büchlein für wunderschöne Sätze. Und genau diesen vielen schönen Sätzen, der besonderen Stimmung, die Dirk Gieselmann in seinem Debütroman schafft, verzeiht man, dass der Geschichte am Ende die Luft ausgeht. Oder sie zumindest so ganz anders endet als erwartet, als, nach den intensiven acht Jahren im Leben von Hans Rohleder, seine restlichen Jahrzehnte nur noch ein in Frage gestellter Schnelldurchlauf sind.

Die Leser:innen begleiten Hans‘ mit seinen Eltern auf eine einsame Insel im See, auf der der Vater die Schafe hütet. Irgendwann jedoch wird die Schulbehörde aktiv und Hans muss jeden Tag eine Stunde ans Festland und wieder eine Stunde zurückrudern, bis er vom ehemaligen Nachbarsjungen die Nase gebrochen bekommt und fortan auf der Insel bleibt – und der Schulleiter ihn für Jahre in eine Besserungsanstalt einfahren lässt. Zwischen Dorfstechern und Bettnässern herrscht ein brutaler Direktor, der die Kinder misshandelt, aber Hans trotz 27 Peitschenhieben nicht bricht und ihn schließlich mit der Volljährigkeit in die Freiheit entlässt. Doch seine geliebte Insel, sein Rückzugsort, sein sicherer Hafen in Kindheitstagen, ist ihm keine Heimat mehr.

„Und was ist mit Hans: Ist seine Geschichte traurig? Ist sie schön? Ist sie beides? Gibt es Hans noch? Gab es ihn je?“

„Der Inselmann“ ist im besten Fall ein melancholisches, vielleicht ein tieftrauriges Buch, aber auch, wie Gieselmann es im Zitat erfragt, ein schönes. Es scheint aus der Zeit gefallen, nicht nur, weil seine Geschichte etwas unbestimmt in den späten 50er- oder 60er-Jahren spielt, nein, auch aufgrund von Gieselmanns Schreibe, mal plastisch, mal vage, nie ganz bestimmt und doch eindrucksvoll. Aufgrund seiner Kürze meint man, sie in einem Stück wegatmen zu können und vermutlich ist dies auch möglich, wäre aber schade, denn die Leseabschnitte laden gerade dazu ein, durchzuschnaufen, das Gelesene und Geschehene sacken zu lassen, zu verarbeiten.

Ein überraschendes Buch auch deswegen, dass Dirk Gieselmann bislang eher durch launige Texte für das Süddeutsche Magazin, die Zeit und vor allem das Fußball-Überheft 11Freunde aufgefallen und in Erinnerung geblieben ist und sein Debütroman seinen Kolumnen, Reportagen und Live-Tickern so gar nicht nahe kommt. Was aber durchaus Sinn macht, der Fußball an sich ist ja – je nach Vereinsvorliebe – schon deprimierend genug.

Der Wermutstropfen, der Grund, warum das Buch zwar wunderschön, aber nicht perfekt ist: das Ende. Die letzten Seiten, das Leben des alternden Hans Rohleder im Schnelldurchlauf, hier schwer zu beschreiben, ohne, etwas vorwegzunehmen, ist zu komprimiert. Zu traurig vielleicht auch, man hätte Hans ein schönes, lautes, glückliches und vor allem selbstbestimmtes Leben gewünscht, aber Melancholie und aus dem Takt geratene Leben muss und kann man aushalten. Nur hier fehlte ein wenig die Tiefe der vorangegangenen Kapitel. Aber vielleicht, ja vielleicht, ist es ja wie im Zitat – eine Sage, ein Traum, eine Geschichte von einem Inselmann, die vielleicht so gar nicht stimmt, wenn es ihn denn je gegeben hat. Lesenswert ist sie allemal. Und sie hallt lange nach.

„Alles liegt jetzt wieder da in verschattetem Blau, dem müden Licht eines Traums, der einmal wahr gewesen ist.“