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nessabo

Bewertungen

Insgesamt 103 Bewertungen
Bewertung vom 05.09.2024
Eigentlich bin ich nicht so
Aubert, Marie

Eigentlich bin ich nicht so


ausgezeichnet

Marie Aubert überzeugt mal wieder auf ganzer Linie

Die norwegische Autorin hat nach „Erwachsene Menschen“ ein weiteres Highlight geschrieben. Wieder einmal zeigt sie ihr Händchen für komplexe Familiengeschichten und facettenreiche, unperfekte Hauptfiguren.

In wechselnden Perspektiven begleiten wir Hanne, Bård, Linnea und Nils über das Wochenende von Linneas Konfirmation. Hanne kehrt dafür erstmalig mit Partnerin und ohne ihr früheres Gewicht in ihre Heimat zurück. Dort gerät sie nicht nur an die Grenzen von (internalisierter) Fettfeindlichkeit, sondern muss auch feststellen, dass die OP viele grundlegende Probleme natürlich überhaupt nicht gelöst hat. Ihr Bruder Bård, der ein aus Hannes Perspektive erfolgreiches Leben führt, hat eine Affäre und plant seine Familie zu verlassen. Linnea macht die schmerzlichen Freundschaftserfahrungen eines Teenagers und Nils reflektiert über die Beziehungen zu seinen Kindern Hanne und Bård. In Rückblenden lernen wir zudem die komplexe Vergangenheit der erwachsenen Figuren kennen, sodass sich kein übereiltes Gut-Böse-Denken verfangen kann.

Auberts Romane leben von authentischen Figuren, die sie mit allen problematischen Gedanken zeichnet. Und ich liebe das Nahbare, das Komplizierte, das Zum-Haare-Raufende - eben das ganze „Eigentlich bin ich nicht so“! Dieses neue Buch wird besonders von allem Unausgesprochenen geprägt, das wahrscheinlich alle aus der eigenen Familie kennen. Im Zuge der Geschichte spitzt sich das natürlich zu, doch trotz aller Differenzen gibt es immer wieder von Verbundenheit geprägte Momente.

Dieses Buch ist kein Wohlfühlbuch, aber es ist auch nicht das Gegenteil davon. Es ist ehrlich, verzwickt und dabei so nahbar, dass ich es nicht aus der Hand legen konnte. Das Ende hätte ich mir ein bisschen weniger offen gewünscht, andererseits passt das auch völlig zur Komplexität der Geschichte (und des Lebens).

4,5 ⭐️

Bewertung vom 30.08.2024
Blue Sisters
Mellors, Coco

Blue Sisters


ausgezeichnet

Ein emotional extrem starker Familienroman mit authentischen und vielschichtigen Figuren

[TW: Alkohol- und Drogenmissbrauch, häusliche Gewalt, Überdosis, Tod, problematisches Essverhalten]

Ich verneige mich vor Coco Mellors, die mir nach langer Zeit endlich mal wieder ein Jahreshighlight beschert hat. Eine klare Empfehlung für alle, die komplexe Familienromane, Perspektivwechsel und ambivalente Figuren mögen.

Die Schwestern Avery, Bonnie und Lucky versuchen nach dem Tod der vierten Schwester Nicky eine neue Dynamik zu finden. Doch nicht nur die gestaltet sich reibungsintensiv, die drei kämpfen auch jeweils mit ihren ganz eigenen Problemen. Dadurch passiert unglaublich viel, ohne dass die Handlung überladen wirkt.

Coco Mellors fängt unfassbar stark jede einzelne Beziehung und Figur ein. Avery, die als älteste Schwester die Rolle der Mutter übernehmen musste, weil diese mit dem Alkoholismus ihres Mannes beschäftigt ist, und die nicht so recht weiß, wie sie mit dem Kinderwunsch ihrer Frau umgehen soll. Bonnie, die ihre erfolgreiche Boxerinnenkarriere nach Nickys Tod auf brutale Art beendete und sich seitdem komplett abschottet. Und schließlich Lucky, ein Model mit zu hohem Alkohol- und Drogenkonsum, die sich als Jüngste alleingelassen fühlt.

Was die Schwestern bei aller Verschiedenheit eint: Schuldgefühle und die Einstellung, lieber nicht über die eigenen Probleme zu sprechen. Damit baut Mellors einen Spannungsbogen aus tickenden Zeitbomben auf, der mich regelrecht süchtig gemacht hat. So konnte ich das Buch kaum aus der Hand legen und habe am Ende auf jeden Fall ein paar Tränchen verdrückt. 🥺

Positiv herausheben möchte ich noch, dass der Verlag sich hier für eine entgenderte Schreibweise entschieden hat und dass Coco Mellors ungeschönt auf das Thema Endometriose blickt.

Ein Roman mit viel Schwere, die die Autorin aber durch ganz viel Wärme im Schreiben ausgleicht. Für mich durch die Vielfalt der Themen, die Tiefe der unperfekten Figuren und die messerscharfe Beobachtung von Familiendynamiken definitiv eines der besten Bücher des Jahres. 💙

Bewertung vom 29.08.2024
Samtene Scheidung
Karsaiová, Jana

Samtene Scheidung


gut

Ein anspruchsvoll-ambivalenter Beziehungsroman mit historisch interessantem Setting

[TW: Alkoholismus, Fehlgeburt, Unfalltod]

In „Samtene Scheidung“ bin ich erstmalig mit der Slowakei und ihrer Geschichte besonders nach dem Ende der Tschechoslowakei in Berührung gekommen. Das vermittelte Wissen über die Erfahrungen und gefühlten Ambivalenzen der Slowak*innen besonders mit Blick auf Tschechien fand ich hervorragend und organisch in die Handlung eingearbeitet.

Der Titel bezieht sich jedoch nicht nur auf die Trennung der beiden Länder, sondern auch auf die Beziehungen der Protagonistin Katarína, deren Ehemann sie (vorübergehend?) verlassen hat und die deshalb für das Weihnachtsfest alleine von Prag zu den Eltern nach Bratislava fährt. Sie reflektiert dort unter anderem über ihre frühe Heirat, Erlebnisse mit ihren Eltern und die veränderte Beziehung zu ihrer Schwester Dora.
In kurzen Sequenzen begleiten wir zudem Katarínas Kindheitsfreundin Viera, die eine Beziehung mit ihrer Dozentin Barbara eingeht und innerhalb dieser mit eigenen Problemen konfrontiert ist.

Ich mag die Bücher des Nonsolo-Verlags vor allem für ihre ganz besonderen und anspruchsvollen Beziehungsgeschichten. Solche finden wir auch in diesem Roman - Jana Karšaiová hat ein Händchen für Ambivalenz sowie das Zerbrechen und Neuzusammenfügen von Beziehungen jeglicher Art. Aufgrund der sehr fragmentarischen Erzählweise sowie der nicht klar abgegrenzten Zeitsprünge und Perspektivwechsel war ich für ein echtes Einfühlen aber leider etwas zu oft im Lesefluss irritiert. Das machte die Geschichte an einigen Stellen langatmig, an denen es nicht hätte sein müssen.

Die vermittelten Gefühle der Slowak*innen sowie die Abwertung derer durch Tschech*innen fand ich wiederum hervorragend dargestellt und hatte direkt den Impuls, mich mit der Geschichte der Tschechoslowakei zu beschäftigen.

Insgesamt habe ich die Geschichte in ihrer Vielschichtigkeit gerne gelesen und besonders das Ende fand ich auf Protagonistinnenebene stark, ich hätte mir aber ein wenig mehr Stringenz gewünscht. „Für uns gibt es keinen Namen“ hat mir aus dem Verlagsprogramm ein wenig besser gefallen, daher vergebe ich hier 3,5 Sterne.

Bewertung vom 22.08.2024
Die lichten Sommer
Kucher, Simone

Die lichten Sommer


sehr gut

Ein zarter und poetischer Roman über ein Stück fast vergessener deutscher Geschichte

Simone Kucher hat auf der Suche nach der eigenen Geschichte einen Roman über Vertreibung, intergenerationales Trauma sowie die Ambivalenz von Anpassung und Widerstand geschrieben.

In diesem Buch begleiten wir abwechselnd Liz, die in den 60/70ern in Süddeutschland groß wird, und ihre Mutter Nevenka auf verschiedenen Zeitebenen. Nevenka wuchs in der ehemaligen Tschechoslowakei auf und wurde nach dem zweiten Weltkrieg zusammen mit 3 Millionen weiteren Sudetendeutschen aus ihrer Heimat vertrieben.

Kucher schreibt poetisch und sanft über schlimmste Menschenrechtsverletzungen und über die Vielschichtigkeit des Themas. Besonders Nevenkas Perspektive als eine Jugendliche im letzten Kriegsjahr vermittelt ein Gefühl für die Bevölkerungsgruppe, die erst unter der gewaltvollen Besetzung durch das NS-Regime und wenige Jahre später unter der nicht weniger gewaltvollen Vertreibung (und teilweise Ermordung) zu leiden hatte. In dieser dunklen Zeit entwickelt sich eine zarte Freundinnenschaft zwischen Nevenka und Zena, die ein schreckliches Ende nimmt und Nevenka noch lange begleitet.

Liz wiederum kämpft gegen patriarchale Normen und die Diskriminierung als „Flüchtling“ an, obwohl sie ja in Deutschland geboren wurde. Sie trägt zusätzlich Scham und Trauma in sich, bei denen nicht immer klar ist, ob es die eigene Geschichte oder die der Mutter ist, die hier zugrundeliegt.

Die Sprache fand ich eher anspruchsvoll, auch wenn sich das Buch trotzdem erstaunlich flüssig lesen ließ. Den Perspektivenwechsel mochte ich zwar prinzipiell, ich hätte beide Figuren aber gern noch etwas tiefer kennengelernt. Einiges wird nur angedeutet, was bei allem Grauen manchmal jedoch schlicht notwendig ist. Auch, wenn die Handlung elegant gewisse Grundinformationen mitliefert, hatte ich das Bedürfnis, mich weiter mit diesem Teil der Nachkriegsgeschichte zu befassen. Das möchte ich zwar nicht ständig, fand es hier aber wirklich gut und ansprechend umgesetzt.

Der unabhängige Kjona-Verlag hat ein herausforderndes, aber lohnenswertes Buch publiziert, das ich allen empfehle, die sich gern mit historisch eher unbekannten Ereignissen befassen und eine anspruchsvoll-poetische Sprache mögen.

Bewertung vom 18.08.2024
Malibu Orange
Haidacher, Ulrike

Malibu Orange


sehr gut

Besonders, bissig und überspitzt komisch in einem

Ich bin richtig froh, dass ich meine Hoffnungen in "Malibu Orange" hochgehalten und deshalb nicht voreilig abgebrochen habe. Denn der Schreibstil ist ungewohnt, rasant und durchaus gewöhnungsbedürftig. Er entfaltet aber auch eine unglaubliche Sogwirkung zu einem so wichtigen wie schwierigen Thema.

Wir sitzen beim Lesen in Anjas Kopf und begleiten ihren inneren Monolog, in dem sie sich kritisch der Gesellschaft und sich selbst, vor allem aber auch anderen gegenüber äußert. Die Protagonistin kehrt nach beruflichem Ausbrennen mit anschließender Kündigung in ihr österreichisches Kaff zurück und trifft dort endlich auch wieder auf ihre beste Freundin Magda. Von deren freiheitsliebender Art ist indes wenig übrig, denn sie hat nun einen Volker. 🙄

Volker ist einfach der Ausbund an patriarchaler, fragiler Männlichkeit und gleichzeitig der Inbegriff eines manipulativen Partners. Ihn nicht zu hassen dürfte beim Lesen unmöglich sein. Doch der Roman will nicht mit Eindeutigkeiten spielen, sondern Fragen nach Verantwortung aufwerfen. Denn Anja merkt schon früh, dass die Beziehung ein toxisches Muster zeigt und versucht auch, zu intervenieren. Doch jede Kritik ist gefolgt von einem weiteren Abwenden Magdas bis die quasi völlig isoliert nur noch in ihrer Beziehung existiert. Exakt an der Stelle muss ich mir als Leser*in die Frage stellen: Was würde ich tun? Mich abwenden und die völlige Abhängigkeit meiner besten Freundin in Kauf nehmen oder mitspielen und meine Bedenken beiseiteschieben? Und ist es denn überhaupt so schlimm? (Spoiler: JA!)

Mit viel Überspitzung, Satire und einem wie gesagt absolut rasanten Werk zieht Ulrike Haidacher ihre Leser*innenschaft in ein unangenehmes Terrain. Es bietet sich meiner Meinung nach an, die gut 200 Seiten in einem Rutsch zu lesen, damit sie ihre Wirkung optimal entfalten können. Das Wienerisch brachte mich manchmal ins Stolpern, sorgt aber auch für eine erfrischende Authentizität. Anders als gedacht, aber wirklich gut!

Bewertung vom 18.08.2024
Mein Herbst voller Küsse, Chaos und Graffiti
Thewes, Michaela

Mein Herbst voller Küsse, Chaos und Graffiti


sehr gut

Leicht lesbar, unterhaltsam und emotional vielschichtig

Ich kenne den ersten Teil der Reihe nicht, das war bei der Lektüre aber gar kein Hindernis. Die Autorin hat es sehr gut geschafft, wichtige Referenzen aus dem Vorgängerroman harmonisch in die Handlung einzuschreiben, sodass die Teile problemlos getrennt voneinander gelesen werden können.

Mit Charly begleiten wir eine sympathische Protagonistin, die emotional vielschichtig und damit greifbar geschrieben ist - auch für eine erwachsene Leser*innenschaft. Sowieso ist das gesamte Buch sprachlich sehr zugänglich und humorvoll gehalten, weshalb ich mich gut unterhalten gefühlt habe und beim Lesen meinen Kopf ausschalten konnte.

Noah ist ein liebevoller, respektvoller Junge und ich wünsche mir mehr solche Vorbilder von (jungen) Männern in Büchern. Allgemein sind die Freund*innenschaften im Buch ein sehr positives Element und auch die Eltern empfand ich als wholesome.

Manche Dinge haben mich im letzten Drittel des Buches dann aber doch gestört. Die Streits und Missverständnisse gingen mir allmählich etwas auf die Nerven und auch, dass sie dann so urplötzlich aus der Welt geschafft werden konnten, war für mich nicht ganz rund. Außerdem hätte ich persönlich auf ein paar Klischees (die dümmliche Fashionista etwa oder dass die Mädchen sich besonders schön machen müssen vor einem Date) verzichten können.

Davon abgesehen aber ein wirklich schönes Jugendbuch zum Abschalten.

Bewertung vom 15.08.2024
Wir treffen uns im nächsten Kapitel (MP3-Download)
Bickers, Tessa

Wir treffen uns im nächsten Kapitel (MP3-Download)


ausgezeichnet

RomCom mit innovativer Storyline, viel Tiefe und komplexen Charakteren

Zum Hörbuch: Ich fand die beiden Sprecher*innen grundsätzlich angenehm, habe aber, was Stimmvarianz angeht, auch schon bessere Hörbücher gehört. Andere Stimmen, besonders die von Kindern, kamen mir oft ziemlich aufgesetzt vor. Ganz am Ende hat Anna-Lena Zühlke meinen eigenen Tränenfluss dank der großartigen Umsetzung einer Schlüsselszene aber ordentlich angeregt. 🥺
Mich hat leider auch ziemlich gestört, dass die beiden unterschiedlich schnell gesprochen haben. Da ich Hörbücher immer deutlich schneller höre, ist das stark aufgefallen. Die Übergänge zwischen den Kapiteln fand ich wiederum optimal lang. Alles in allem ein gutes Hörbuch.

Zum Buch selbst: Ich mochte die RomCom vor allem für ihr Anschneiden so wichtiger Themen, den sehr angenehmen Lesefluss und die tiefgehende Liebe zu Büchern.

Erin und James waren einmal befreundet bis ein Bruch durch die Beziehung geht. Viele Jahre später treffen sie sich wieder. Allerdings nicht direkt und anfangs auch unbewusst. Denn über einen Bücherschrank tauschen „Kritzelqueen“ und „Mystery Man“ Bücher aus und kommunizieren in diesen über Randnotizen. Allein diese Storyline, dieser anonyme Buddy-Read innerhalb des Buches quasi, macht die RomCom zu einer ganz besonderen. Die Autorin lässt ihre Liebe zu Büchern, hier vor allem Klassiker, in die Handlung einfließen. 💚

Doch es geht um viel mehr als nur die Second-Chance-Romance. Es geht um den Verlust eines Herzensmenschen, Vergebung, den Umgang mit psychischen Erkrankungen und vor allem um loyale Freund*innenschaften. Tatsächlich finde ich sogar, dass der Romance-Aspekt recht kurz gehalten wird und der Humor hätte für mein Empfinden noch präsenter sein können. So können aber die ernsteren Themen besser wirken.

Im Verlauf der Geschichte zeigt sich, dass Erin und James sich ziemlich ähnlich sind und sie beide mit vergleichbaren Dämonen kämpfen. Das macht sie zu vielschichtigen, ambivalenten Figuren, was ich sehr gern mag. Ihre Beziehung entwickelt sich organisch, glaubwürdig und ohne Pathos. Stattdessen liefert Tessa Bickers hier auch Einiges an Impulsen und hat mich am Ende von Herzen weinen lassen. 😭

Manche Elemente fand ich etwas unrealistisch, darunter auch das Ende. Aber wer damit kein Problem hat, bekommt hier einen flüssig lesbaren Roman mit vielen tollen Figuren und einem großen Herzpflaster zum Schluss.

4,5 ⭐️

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TW:
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Krebserkrankung, bipolare Störung, Depression, Mobbing, Tod, Suizid

Bewertung vom 15.08.2024
Ava liebt noch
Zischke, Vera

Ava liebt noch


ausgezeichnet

Eine unkonventionelle Beziehung zwischen Mutterschaft und Selbstbestimmung

Ich mochte „Ava liebt noch“ richtig gern, auch wenn die Protagonistin einen Lebensstil fern meines eigenen hat. Der Roman dreht sich vor allem um Mutterschaft, das Verschwinden einer Mutter in ihrem Kümmern um andere und die Frage, wo die Grenze verläuft zwischen eigenen Bedürfnissen und der Verantwortung für (erwachsene) Kinder.

Die Protagonistin Ava hat drei Kinder in einer eingeschlafenen Ehe und beginnt im Alter von 43 Jahren eine Affäre mit dem 19 Jahre jüngeren Kieran. Ich hatte vor der Lektüre Bedenken, dass der Altersunterschied eine Machtdynamik mit sich bringen könnte, aber Vera Zischke hat das für mein Empfinden sehr gut umgesetzt. Die Beziehung der beiden erstreckt sich über einen großen Zeitraum, sodass auch Liebe und Sexualität im Alter eine Rolle spielen, was ich großartig fand.

Es ist spürbar, dass die Autorin weiß, von was sie schreibt. Sie schafft es, Ava ihre Enttäuschung über Mutterschaft ausdrücken zu lassen ohne ihren Kindern daran die Schuld zu geben. Sie zeigt, wie leicht Mütter innerhalb heterosexueller Beziehungen wieder in eine Rollenaufteilung aus den 50ern verfallen, weil es anders so viel herausfordernder ist und von den dazugehörigen Männern auch nichts proaktiv dagegen getan wird (bei manchen Äußerungen des Ehemannes hätte ich fast ins Buch gebissen 🤬). Und sie zeichnet Ava als eine vielschichtige Figur, die in der Gratwanderung zwischen eigenen Bedürfnissen und Verantwortlichkeit unterschiedliche Entscheidungen trifft. Nicht immer konnte ich sie persönlich nachvollziehen, jedoch immer respektieren.

In manchen Kapiteln kommt auch Kieran zu Wort und das hat mich manchmal etwas aus dem Lesefluss gebracht, weil alles aus der Ich-Perspektive geschrieben ist, der Wechsel der Sichtweise sich jedoch nur aus dem Kontext erschließt. Trotzdem mochte ich es, sein Leben dadurch noch etwas besser kennenzulernen und halte den Wechsel für absolut notwendig im Verlauf der Handlung.

Ich fand den Debütroman total authentisch und wichtig darin, Müttern einen Handlungsraum außerhalb von und parallel zur Mutterschaft zu geben. Er war total leicht zugänglich, emotional vielschichtig und einfach eine wirklich schöne Lektüre.

4,5 Sterne

Bewertung vom 13.08.2024
Der Bademeister ohne Himmel
Pellini, Petra

Der Bademeister ohne Himmel


ausgezeichnet

Eine Fünfzehnjährige mit Suizidgedanken trifft auf einen dementen Rentner und es entsteht die allerschönste Beziehung

[TW: Demenz, Suizid(-gedanken), Unfall, Tod]

Zum Hörbuch: Das war die bislang beste Sprechperson für mich! Marie-Isabel Walke ist unfassbar talentiert darin, ihre Stimme für die einzelnen Charaktere zu verändern. Ob der polnische Akzent Ewas oder der etwas knurrige Tonfall Huberts - alle kann sie perfekt einfangen, was das Hören zu einem so angenehmen Erlebnis macht. Ich hatte nur bei den erwachsenen Frauen wie Lindas Mutter, dem Nachtfalter oder Kevins Mutter manchmal Schwierigkeiten, sie auseinanderzuhalten. Sie spielen ja aber auch keine so große Rolle. Die Übergänge zwischen den Kapiteln waren flüssig, allerdings hätte es mir geholfen, wenn die Kapitel auch sprachlich benannt worden wären, um organisch Hörpausen einlegen zu können. Alles in allem aber ein echter Hörgenuss und ich muss als Vielleserin zugeben, dass das Erlebnis beim Lesen weniger gut gewesen wäre, weil ich die Stimmen selbst nicht variiert hätte.

Zum Buch selbst: „Der Bademeister ohne Himmel“ ist ein Wohlfühlroman, obwohl er so viele traurige Elemente in sich trägt. 🥺

Die fünfzehnjährige Linda hat konkrete Suizidgedanken, doch Hubert und Kevin halten sie im Leben. Hubert ist dement und wird zuhause von Ewa gepflegt. Die Polin hat ein großes Herz und kümmert sich mit viel Hingabe um ihn. Manchmal scheint sie jedoch Huberts Bedürfnissen in einer Welt, die ihm zunehmend fremd wird, mit ihrer direkten Art nicht ganz nachkommen zu können. Hier kommt Linda ins Spiel, die mit ganz viel Herz, Ernsthaftigkeit und Respekt eine enge Bindung zu ihm aufbaut. Ihr Freund Kevin wiederum leidet unter Weltschmerz und verbringt sehr viel Zeit zurückgezogen vor dem PC.

Petra Pellini hat hier eine so feinfühlige Erzählung geschaffen, die Würde in der Pflege sowie ganz besondere Verbindungen in den Fokus nimmt. Ewa ist bereits eine tolle Pflegerin und wirklich absolut herzliche Figur. Linda hat aber einfach einen so ehrlichen Kontakt auf Augenhöhe zu Hubert, dass ich immer wieder den Eindruck hatte, sie kann auf diesem Wege mehr zu ihm durchdringen. Wenn Hubert sich nicht mehr an seine Hochzeit erinnert, ändert Linda die Strategie und führt ihn mit eigenen Erzählungen wieder auf sicheres Terrain. Befindet sich Hubert wieder in seiner Zeit als Bademeister, bläst sie eben mit ihm Schwimmflügel auf. Nie vermittelt sie ihm das Gefühl, schockiert zu sein über seine Gedächtnislücken und genau das gibt ihm wohl ein Maximum an Sicherheit in dieser für ihn so beängstigenden Welt.

Nebenbei passiert aber auch noch viel mehr. Kevin hat zu kämpfen mit all den immer größer werdenden Krisen. Lindas Mutter hat einen neuen Partner, mit dem diese so gar nichts anfangen kann. Ewa lernt endlich ihre „zweite Hälfte“ kennen. Und Linda läuft tatsächlich vor ein Auto, doch am Ende kommt alles ganz anders als erwartet..

Der Schluss hat mich schockiert, weil ich ihn nicht habe kommen sehen. Dann geht auch alles recht schnell, während die Geschichte vorher deutlich langsamer war. Das passt für mich aber sehr gut, denn die intensive Zeit mit Hubert bewegte sich eben irgendwie in einer anderen Dimension.

Ein wirklich liebevolles Buch zu so schmerzhaften Themen, die von einer Autorin mit viel Erfahrung auf diesem Feld aber hervorragend eingepackt werden. Es hat mich viele Emotionen fühlen lassen und mir wieder bewusst gemacht, wie wichtig menschliche Verbindungen sind.

„Wir gleichzeitig Lebenden sind füreinander von geheimnisvoller Bedeutung.“ ❤️‍🩹

Bewertung vom 09.08.2024
Taumeln
Scherzant, Sina

Taumeln


ausgezeichnet

Ein Buch voller Sensibilität, Schmerz und Loyalität von einer unfassbar begabten Autorin

Ich bin komplett geflasht von „Taumeln“, obwohl ich anfangs aufgrund des wechselnden Erzähltempos nicht unbedingt damit gerechnet habe, dass es so ein Highlight wird. Aber was Sina Scherzant hier geschrieben hat, ist einfach nur bemerkenswert.

Zuerst einmal finde ich das Buch selbst wunderschön und haptisch richtig besonders. 💚
Inhaltlich geht es primär um die Suche nach Hannah, die seit 2 Jahren verschwunden ist. Und genauso lange begibt sich eine Gruppe von einander eigentlich fremden Personen rund um ihre Schwester Luisa jeden Samstag in den Wald und sucht sie.

Im Laufe der Handlung wird aber zunehmend klar, dass es gar nicht so sehr um Hannahs Verschwinden geht. Vielmehr dreht sich die Geschichte um die einzelnen Personen dieser Zweckgemeinschaft und darum, warum sie trotz aller Aussichtslosigkeit so beständig zusammenkommen. Scherzant stellt mit ganz viel emotionaler Sensibilität menschliche Einzelschicksale heraus, sodass die anfänglichen Nebenfiguren immer mehr zu Protagonist*innen werden.

Die Sprache des Romans ist bildlichen, manchmal metaphorischen Weg, die Tempi wechselnd und der Schreibstil phasenweise ausschweifend - Sätze über eine Seite sind keine Seltenheit. Das machte es mir mitunter schwer, gedanklich nicht den Faden zu verlieren, daher gebe ich auch nicht ganz die volle Punktzahl. Doch gleichzeitig bekommt das Buch dadurch an den richtigen Stellen eine Atemlosigkeit, die mich in die Handlung hineingesaugt hat.

Zu den Figuren konnte ich unterschiedlich viel Nähe aufbauen, aber wenn, dann war sie zerschmetternd. Die Autorin beschreibt die schlimmsten Zustände im Leben mit so viel Feingefühl, dass ich mehrfach zu Tränen gerührt war. Parallel dazu werden aber auch moralische Fragen universellen Mitgefühls und gesellschaftlicher Verantwortung behandelt.

Das Buch thematisiert die ganz verschiedenen Formen von Einsamkeit in unserer Gesellschaft, bietet aber auch Momente der Loyalität an, die richtig heilsam wirken. Achtet auf die Triggerwarnungen, aber lest „Taumeln“ unbedingt, wenn ihr euch emotional mitnehmen lassen wollt von einer Geschichte mit viel Aua-Aua, aber auch ein bisschen Heile-Heile. 🥺

4,5 ⭐️

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TW:
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häusliche Gewalt, Panikattacken, Depression, Vernachlässigung von Kindern