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ins_lebenlesen
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Schleswig-Holstein

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Insgesamt 64 Bewertungen
Bewertung vom 23.09.2023
Kontur eines Lebens
Robben, Jaap

Kontur eines Lebens


ausgezeichnet

„Ich kann an nichts anderes denken. Immerzu sehe ich die blassen Füße von Louis vor mir. Wie sie unter der Rettungsdecke hervorragen. So schutzlos. Seine Pantoffeln, verloren in dem ganzen Durcheinander, der Panik. Seine Füße, so verletzlich, während er in den Krankenwagen geschoben wird.“

Nach den ersten Zeilen schaudere ich, fühle mich von dem brutalen und gleichzeitig zarten Bild in einem sehr empfindsamen Punkt getroffen. Nach den letzten Zeilen brauche ein paar Minuten. Sammeln, fühlen, staunen und langsam wieder in die Realität auftauchen. Was ist es, das mich an diesem wahnsinnig guten Buch so begeistert?

Es ist nicht allein die bewegende Geschichte über den schweren Weg einer jungen Frau in den Niederlanden der frühen 60er Jahre, deren erste große Liebe ein verheirateter Mann ist, von dem sie bald schwanger wird. Für die Entscheidungen, die sie aus Liebe trifft, wird sie mit der vollen Wucht der vom Katholizismus bestimmten Normen und gesellschaftlichen Regeln ihrer Zeit bestraft.

Es sind auch nicht allein die langsam aufbrechenden Charaktere, besonders der weiblichen Ich-Erzählerin Frieda, die wir kennenlernen als sie bereits 81 ist und die sich nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes Louis in einer Einrichtung für betreutes Wohnen zurechtfinden muss. In der Eintönigkeit des Heimalltags wird sie auf ihre Erinnerungen zurückgeworfen beginnt sich dem Trauma ihrer Jugend – dem Verlust der ersten Liebe und des ersten Kindes – zu stellen. Sie beschließt, ihre letzten Kräfte in die Suche nach Otto, dem Mann, mit dem alles verbunden ist, zu investieren. Und während sie sucht, erinnert sie sich an diese erste Liebe, ungestüm und unbeholfen, leidenschaftlich und schambehaftet und an den tiefen Schmerz und die große Tragödie, die aus ihr erwachsen sind. Schicht für Schicht fügt sich die junge Frieda in die Form der 81jährigen, so dass sich ein Leben voller Verletzungen, Gräben, Liebe, Aufopferung, Verschweigen, Schönheit und Vergänglichkeit vor unserem Blick aufblättert.

„Ich hoffte, er würde etwas über uns sagen. Einen Satz, der mit „Du und ich …“ anfing, dass auch er und ich ein Wir waren. Dass er sagte: „Unser Kind.“ Aber diese Worte fielen nicht, die ganze Nacht nicht.“ (S. 154)

Es ist auch nicht allein wegen der Komplexität der Beziehungen, die mit starken Bildern und Dialogen plastisch herausgearbeitet werden – zu ihrer ersten Liebe Otto, zu ihren Eltern, zu ihrem verstorbenen Mann Louis, ihrem Sohn Tobias, der mit seiner Frau gerade sein erstes Kind erwartet.

Vor allem Inhaltlichen beeindruckt mich die Intensität. Wie eindrücklich, sprachlich präzise, ergreifend, melancholisch, fesselnd all das ausgedrückt ist. Kein Wort zu viel, keins zu wenig. Wie kann ein MANN/AUTOR so mit seiner WEIBLICHEN Hauptfigur verschmelzen, so gleichermaßen authentisch aus der Seele der jungen wie auch der alten pflegebedürftigen Frau sprechen? Wie kann gleichzeitig ein so spannender Erzählfluss entstehen und eine so breite Gefühlswelt aufgemacht werden, in der ich mit der Protagonistin durch tiefe Einsamkeit, sozialen Abstieg, Existenzängste, Trauer und Verlust, große Liebe, Muttergefühle und die ganze weibliche Existenz schwimme.

In der Danksagung hab ich gelesen, dass Jaap Robben bei einer Psychologin eine Familienaufstellung seiner Figuren machen lassen hat! Was für eine geniale Idee und ich behaupte, genauso ist dieser Roman! Genial!
Ich bin erschöpft und glücklich und empfehle: Lest dieses Buch!

Bewertung vom 17.09.2023
Liebe Kinder oder Zukunft als Quelle der Verantwortung
Gabriel, Markus

Liebe Kinder oder Zukunft als Quelle der Verantwortung


sehr gut

Der Blick eines weltweit anerkannten Philosophen auf die Frage des Kinderwahlrechts
„Wie wir von unseren Kindern lernen, wie Zukunft geht“

Ich möchte Euch den zweiten Band aus der Reihe „Briefe an die kommenden Generationen“ aus dem Kjona Verlag vorstellen. In dieser Reihe entwerfen AutorInnen optimistische Zukunftsszenarien für wichtige gesellschaftliche Fragestellungen.

Der weltweit anerkannte Philosoph Markus Gabriel nähert sich hier der Frage des Kinderwahlrechts und entwickelt gleichzeitig ein Plädoyer gegen einen strukturellen Adultismus und für die Integration einer Gesellschaftsschicht, der wir alle einmal angehört haben, in (politische) Entscheidungsprozesse.

Dabei untersucht er zunächst aus philosophischer und wissenschaftlicher Sicht Unterschiede des kindlichen und des erwachsenen Bewusstseins. Er zieht große Philosophen heran, um seine Thesen zu untermauern, betrachtet juristische Aspekte, schaut in die Kunst als Ausdrucksform kindlicher Anteile im Menschen und lässt auch sehr entspannt und nahbar persönliche Erfahrungen und Blickwinkel einfließen.

Gabriel legt schonungslos offen, wie Adultismus unsere Gesellschaft beschränkt. „Als ob Erwachsensein die Norm der Menschheit wäre!“ (S. 14) Und doch lehren wir unsere Kinder vor allem eins: endlich erwachsen zu werden.

Schade, dass er der Briefform nicht treu geblieben ist. Es beginnt nämlich mit „Liebe Kinder, …" und ich dachte: "Wow, da richtet ein gestandener Philosoph wirklich einen Brief an Kinder über das Kinderwahlrecht und spricht die Betroffenen direkt an. Das wird interessant!" Es wurde auch interessant, aber es ist weder ein Brief und als Essay auch nicht unbedingt für Kinder geschrieben. Doch wir haben ja auch noch nicht über die Definition von „Kind“ gesprochen. UND der Essay gehört in die politische Diskussion und muss vor allem dort Gehör finden. Es bleibt - auch literarisch - ein sehr lesenswerter Text, über den man viel diskutieren kann und muss.

„Denn die Zukunft der Kinder ist offen, offen für ein anderes Erwachsensein, das noch nicht auf eine Illusion festgelegt ist, dass die Zukunft bereits feststeht.“ (S. 61)

Bewertung vom 07.09.2023
Die Unvollständige
Bäuerlein, Valerie

Die Unvollständige


ausgezeichnet

„Die Unvollständige“. Es hätte auch „Die Unvollständigen“ heißen können, denn im Mittelpunkt stehen ZWEI Frauen. Da ist Tala, die Schauspielerin, mit deren vermutlichem Suizid die Geschichte mit wenigen nüchternen Worten beginnt. Und da ist die Ich-Erzählerin, die die Todesnachricht aus ihrer Wohnung und in unruhigen, mäandernden Bewegungen durch die Straßen von Berlin treibt. Sie versucht, dem Ort der Nachricht so weit wie möglich zu entfliehen und gleichzeitig ihrer Bedeutung so nah wie möglich zu kommen.

Valerie Bäuerlein lässt in ihrem Debüt die beiden Frauen auf mehreren Zeitebenen auf Spurensuche gehen. Die namenlose Erzählerin, eine Regisseurin, die mit Tala eigentlich einen Film drehen wollte, streift stattdessen nun durch Berlins Straßen und versucht Bruchstücke zusammenzusetzen. Von der Tala ihrer Erinnerungen, der Tala die in Briefen von ihrer letzten abenteuerlichen Reise zu den entlegensten Orten Asiens berichtet. Auch Tala schien eine Suchende gewesen zu sein. Als Tochter einer iranischen Mutter und eines griechischen Gastarbeiters wurden ihr Entwurzelung und Entfremdung in die Wiege gelegt.

„War es vielleicht so, […] dass Tala versucht hatte, in der Geschichte ihrer Eltern ihre eigene Identität zu finden, während ich zugleich mich von meiner endlich abzutrennen versuchte, und gab es wohl so etwas wie ein kollektives Gedächtnis, dem wir angehörten, waren Orte und Geschichte und Menschen untrennbar miteinander verstrickt, oder waren es nur wir selbst, die nach einer Auflösung, einer Erklärung suchten, während alles naturgemäß Chaos war, ohne tieferliegende Struktur oder Ordnung, ohne Sinn?“ (S.26)

Die „Unvollständige“ setzt sich klug und differenziert mit der Suche nach der inneren Vollständigkeit und nach Erklärungen für die Unmöglichkeiten unserer Zeit auseinander. Kann es Vollständigkeit geben? Oder stellt man am Ende doch immer nur wieder fest, dass man bestenfalls auf Fragmente trifft, die sich zusammensetzen lassen und sich sofort wieder auflösen und verlieren?

Der Ton des Textes, die Gedanken der durch die Stadt tigernden Erzählerin wirken nüchtern, kühl, distanziert. Sie wechseln sich mit Talas Briefen ab, so dass wir der Beziehung und den Protagonistinnen langsam auf die Spur kommen. Die Autorin schafft in jeglicher Hinsicht ständig Gegensätze – Ordnung und Chaos, Identifikation und Abtrennung, Traum und Wirklichkeit, Erinnerung und Interpretation. Manchmal dachte ich an Paul Auster und an etwas avantgardistisches. Es sind 150 Seiten, die man nicht einfach so weg liest. Ich habe mir auf fast jeder Seite etwas angestrichen, das mich aufhorchen ließ, sprachliche Schönheit in mir erzeugte oder an etwas rührte, das ich nicht sofort benennen konnte. Valerie Bäuerlein ist eine vielseitige Künstlerin, die Fotografie, Bildende Kunst und Filmregie studierte und u.a. als Filmkritikerin und Dokumentarfilmerin arbeitete. Ihre vielseitigen künstlerischen Perspektiven drücken sich auch in diesem Buch aus. Es hat mich ins Denken und Reflektieren gebracht und wird sich noch lange in mir bewegen.

Bewertung vom 01.09.2023
Frau Komachi empfiehlt ein Buch
Aoyama, Michiko

Frau Komachi empfiehlt ein Buch


sehr gut

In fünf Kapiteln begegnen wir fünf verschiedenen Ich-ErzählerInnen und ihren Lebensgeschichten. Alle befinden sich auf unterschiedliche Weise in einer Sackgasse und hängen in ihren Mustern und von Selbstzweifeln geprägten Glaubenssätzen fest. Der Knotenpunkt ist die Bibliothekarin Sayuri Komachi, zu der alle auf magische Weise gelangen. Frau Komachi wird äußerlich als massiv und einschüchternd beschrieben. Doch sobald sie einen anschaut und spricht, strahlt sie etwas sehr Wohlwollendes, Verständnisvolles und Ruhiges aus. Wie sie da sitzt mit ihrer Bonbon-Dose, ihrer Strickjacke und ihren gefilzten Figürchen und für jeden Suchenden das besondere Buch und das passende Orakel bereithält, wünsche ich mir sofort durch ihre Augen gesehen zu werden und zu erfahren, welches Buch sie für mich ausgesucht hätte.

Es ist eine sehr japanische Geschichte – Parabel würde ich fast sagen - in einer einfachen, nüchternen Sprache erzählt, die sich sehr leicht lesen lässt. Die geheimnisvolle Person der Frau Komachi fügt ihr das Mystische hinzu und zieht uns aus der Realität in eine innere Welt. Es geht vor allem darum, den Blick offen zu halten für das Verborgene, das in allem schlummert und das wir vor lauter Angst und Zweifeln oft nicht sehen. Die Protagonisten sind eher zurückhaltende, schüchterne Personen, die durch die Begegnung mit Frau Komachi ihr Potenzial entfalten.

Ich mag diese unaufgeregten, parabelhaften japanischen Geschichten und bin noch in einer weltvergessenen Urlaubsstimmung. Beste Voraussetzungen, in diese warmherzige Atmosphäre mit den naiv liebenswürdigen, nachdenklichen Personen abzutauchen. Auch wenn ich literarisch gern mehr gefordert werde und die Erkenntnisse, die die Protagonisten gewinnen vielleicht ein bisschen profan und abgenutzt wirken, findet Michiko Aoyama einfühlsame und lebenskluge Worte, die mich sogar motivieren meine Energien neu auszurichten. Ein Ergebnis ist, dass ich heute Morgen nach langer Zeit meine Yoga-Übungen wieder aufgenommen habe.

Die Übersetzerin ist Sabine Mangold, die u.a. auch Murakami und Ogawa übersetzt und 2019 mit dem Übersetzerpreis der Japan Foundation geehrt wurde.

Bewertung vom 31.08.2023
Und hinter mir das Nichts
Obermanns, Berthe

Und hinter mir das Nichts


ausgezeichnet

„Den Schreck dieses Augenblicks werde ich nie vergessen.“ „Du wirst ihn vergessen, es sei denn, Du errichtest ihm ein Denkmal.“

Berthe Obermanns erzählt in ihrem zweiten Buch UND HINTER MIR DAS NICHTS von der Suche nach einem neuen Leben, wenn nach einer schweren mentalen Erschütterung spürbar wird, dass das alte auf Lügen gebaut ist.

„Das Lügen war ich gewohnt. Ich log, um der Wirklichkeit Sinn zu geben und weil die Lügen es leichter machten. Ich log, um dieses bessere Leben, das ich mir noch immer wünschte, zumindest in einer erfundenen Realität vor mir zu sehen.“ (S. 32)

Im Falle von Sara, der jungen Psychologin, ist diese Erschütterung der Suizid ihres ERSTEN Patienten. Es gab keine Anzeichen, es gibt keine Erklärung, es wird keine Absolution geben. Alles, was ihr bis zu diesem Punkt Halt im Leben gab, erscheint plötzlich fremd und unpassend. Ihr Leben wird zu einer Schussfahrt ins Bodenlose, auf der sie jeden Anker zum Alltag von sich stößt. Was folgt ist eine schmerzhafte Suche nach Erklärungen, dem Sinn, der Wahrheit, dem Grund zu leben. Den Schmerz, den diese Suche auslöst, kann sie kaum ertragen und doch ist jede Umkehr ausgeschlossen.

Sarah bewegt sich fiebernd, getrieben und verzweifelt durch eine surreale Wirklichkeit voller traum- und albtraumhafter Begegnungen. Die Autorin spart nicht mit Methaphern und Symbolik und doch trifft sie mit jedem Wort den Kern. 🩶

Es fühlte sich an wie eine Tiefenbohrung in meine Seele. Als hätte Berthe Obermanns mit Worten, die ICH fühlte, aber nicht formen konnte, einen Teil meiner Geschichte erzählt. Ich möchte darüber reden, das Buch Freunden und Familie entgegen strecken und sagen: Lest! Das war ich! Das sind WIR, die aus einer tiefen Krise wieder auferstehen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 31.08.2023
So weit der Fluss uns trägt
Read, Shelley

So weit der Fluss uns trägt


sehr gut

Shelley Reads Debüt SO WEIT DER FLUSS UNS TRÄGT wurde hier schon oft mit dem GESANG DER FLUSSKREBSE von Delia Owens verglichen, das ich in sehr guter Erinnerung habe. Ich bin gespannt ob der Vergleich trägt.

Die 17jährige Victoria wächst in den 40er Jahren auf einer Pfirsichplantage in den Bergen Colorados auf. Dort beherrschen Angst vor Veränderungen und Ausgrenzung das dörfliche Zusammenleben. Nach einem schrecklichen Unfall, der die Familie zerstört hat, sieht Victoria sich als einzige Frau im Haus schon früh in die Rolle des Mädchens für alles und der Versorgerin gedrängt. Als sie sich – zwischen Gehorsam und Auflehnung – erstmals verliebt, ist es auch das erste Mal, dass sie sich gesehen fühlt und spürt, dass sie ihren eigenen Weg gehen muss.

Victoria gerät in eine Spirale tragischer Ereignisse und muss schwerwiegende einsame Entscheidungen treffen. Instinktiv findet sie ihren Weg, indem sie sich in die Natur zurückzieht und genau wie der Gunnison River, der das Leben dieses Landstrichs bestimmt, unbeirrt ihrem Fluss überlässt.

„Ich krümmte meine Zehen um die glitschigen Steine unter meinen Füßen und musste gegen die Strömung das Gleichgewicht halten, und dann schloss ich meine Augen und lauschte. Ich kann nicht genau sagen, was dieses klare Wasser mir mitteilte. Ich weiß nur, dass mir die reine Wahrheit sagte.“

Man spürt in jedem Satz, dass die Autorin in dieser Landschaft in Colorado tief verwurzelt und durchdrungen von einer großen Liebe für ihre Eigenheiten ist. Mit großer sprachlicher Kraft wird die Natur lebendig, der Saft der Pfirsiche tropft förmlich durch die Finger.

Die Geschichte wird einfühlsam aus der Perspektive von Victoria erzählt. Ihre Naturverbundenheit erinnert mich tatsächlich an „Der Gesang der Flusskrebse“. Doch hat mich Shelley Reads Geschichte nicht so tief berühren können. Dafür hätte ich weniger Adjektive und Pathos und mehr Kanten und Tiefen in den Charakteren gebraucht. So bleibt es mir ein schönes Leseerlebnis, das aber auch bald wieder verblassen wird.

Übersetzung von Wibke Kuhn.

Bewertung vom 20.08.2023
Der Tanz der Frauen
Hargrave, Kiran Millwood

Der Tanz der Frauen


sehr gut

Von dem Cover ging etwas aus, dem ich mich nicht entziehen konnte, die Farben, der Blick, die mittelalterliche Kulisse.

Die britische Lyrikerin und Romanautorin Kiran Millwood Hargrave entführt uns in ein Dorf in der Umgebung Straßburgs um 1518, wo die schwangere Lisbet mit ihrem Mann und ihrer Schwiegermutter in bescheidenen Verhältnissen lebt. Sieben Jahre der einsamen Trauer um ihre fehl- und totgeborenen Kinder haben Lisbet zermürbt. Sie lebt in einer Zeit, in der der Wert einer Frau an ihrer Gebärfreudigkeit gemessen wird und Frauen, die keine Kinder austragen können als verflucht gelten. Ihre Verzweiflung trägt sie im Inneren verschlossen und erlaubt sich hin und wieder den Rückzug zu einem verlassenen Tanzbaum, wo sie einen Schrein für ihre verlorenen Kinder errichtet hat. Doch so weit wie jetzt hat sie noch keine Schwangerschaft gebracht. Nun muss ihr Mann das Dorf verlassen, die Schwägerin Nethe kehrt aus der Verbannung zurück und auf dem Marktplatz im nahen Straßburg beginnen die Frauen zu tanzen. Erst eine, dann mehr und immer mehr. Die Tänzerinnen scheinen in einer Massentrance gefangen, ohne Pause, ohne Musik, mit blutenden Füßen.

Lisbet gerät in den Strudel der Ereignisse, in einen Kampf auf Leben und Tod, um Freundschaft, Liebe und ihr ungeborenes Kind. Der Tanz wird zum Symbol der Selbstbehauptung, des leisen, aber kraftvollen Aufbegehrens der Frauen.

Die Sprache ist so opulent wie das Cover, manchmal auf einem schmalen Grat zum Kitsch. Doch ist sie eben sehr bildhaft, sinnlich, zeitweise lyrisch, mit starken Bildern der Menschen, der Landschaft, der mittelalterlichen Verhältnisse. Auch wenn ich mir mehr historischen Tiefgang gewünscht hätte, die Geschichte schreitet mit dramatischen Wendungen sehr spannend voran. Ich habe mitgefühlt, gehofft und gebangt und mich sehr gut unterhalten.

Bewertung vom 13.08.2023
Tasmanien
Giordano, Paolo

Tasmanien


sehr gut

Paolo Giordano ist nicht nur Schriftsteller, sondern auch promovierter Physiker. Schon in seinem Debüt „Die Einsamkeit der Primzahlen“ gießt er Fiktion und Wissenschaft mit Poesie in eine literarische Form, in der sich menschliche Kraft in ganz besonderer Weise ausdrückt.

Auch in TASMANIEN sind die Protagonisten, allen voran der Ich-Erzähler Paolo, überwiegend Wissenschaftler und auch hier verwebt Giordano das literarische Erzählen mit Elementen aus der Physik, womit er der Fiktion etwas sehr Gegenwärtiges und Greifbares hinzufügt.

Paolo hat der Forschung den Rücken gekehrt und ist Schriftsteller und Wissenschaftsjournalist. 2015, mit Anfang 40 steckt er in einer Krise, ausgelöst durch die Entscheidung seiner 10 Jahre älteren Frau, das Bemühen, um eine Schwangerschaft zu beenden. Dem Riss, den diese Entscheidung auch durch die Beziehung zieht, entzieht sich Paolo durch Flucht. Als ein Mann der verpassten Gelegenheiten, der sich zurückzieht, anstatt zu konfrontieren, reist er nach Paris, das gerade unter dem Einfluss schwerer Terroranschläge steht. Er unterstützt Freunde bei ihren privaten und beruflichen Problemen, fängt an sich mit Wolkenforschung zu beschäftigen, verstrickt sich in eigene amouröse Begegnungen und nimmt die Arbeit an seinem Buch über die Atombombe wieder auf. Doch unbewusst, indem er sich all den Facetten der krisengeschüttelten privaten und globalen Umgebung zuwendet, geht er doch auf die Suche nach SEINEM Platz in der Welt.
Ich mag den Schreibstil sehr: etwas lakonisch, manchmal poetisch und vereinzelt selbstironisch. Die Handlung mäandert durch viele Schauplätze, Zeitebenen und Themen. Ich muss aufpassen, dass ich den Faden nicht verliere. Wörtliche Rede ohne Anführungszeichen macht es mir nicht leichter. Das ist ein Buch, das man nicht einfach weg liest und das auch nicht auf jede Frage eine Antwort gibt. Vielleicht hat es mich am Ende sogar etwas ratlos zurückgelassen. Doch es wirkt nach, denn es erzeugt einen Klangteppich unserer Zeit, der genau meinem Gefühl entspricht: wir leben in einer durch die Klimakrise, unübersichtliche Kriegsgeschehen und extreme politische Entwicklungen höchst komplexen und beängstigenden Zeit. Eigentlich scheint die Menschheit diesem Planeten nicht zumutbar. Das führt auch im Privaten zu Brüchen. Doch sind wir auch Schönheit, Liebe, fühlende Wesen und durch etwas verbunden, das stark und uralt ist, das uns in die Lage versetzt, das Ruder doch noch irgendwie rumzureißen.

Für mich ein unbedingt lesenswertes Buch, das mich inhaltlich den Faden von T.C.Boyles „Blue Skies“ hat aufnehmen lassen und das mit ihm zusammen weiter in mir rumoren wird.

Bewertung vom 01.08.2023
Reine Farbe
Heti, Sheila

Reine Farbe


ausgezeichnet

Was zur Hölle ist das? Ich stolpere durch die ersten Zeilen und sehe mich erstaunt um. Was ist das für eine Form, was für ein Genre? Was erwartet mich hier? Auf jeden Fall etwas Anderes, Intensives, das langsam und mit voller Aufmerksamkeit gelesen werden will.
Zunächst erscheint Gott und tritt an Tag 6 seiner Schöpfung einen Schritt zurück, um sein Werk auf sich wirken zu lassen. Dieser Moment, in dem er seinen ersten Entwurf begutachtet dauert schon die Ewigkeit auf dieser Erde. Vielleicht ist dieser Entwurf nicht gut genug und es wird einen Zweiten geben.

Mira ist Kunststudentin an der Akademie der Kritiker. Eine von uns in DIESER Welt des ersten Entwurfs. In dieser Welt erschafft die Kunst eine zweite, in der wir (Gott) „zeigen, wie die nächste Version unserem Wunsch nach aussehen sollte.“ Mira erzählt von ihrer Ausbildung zur Kunstkritikerin, ihrem Job als Lampenverkäuferin, von der Liebe zu einer Freundin, ihrem Leben. Sie wirkt seltsam fremd, kontur- und orientierungslos, bis ihr Vater stirbt. Als seine Seele sich mit ihrer verbindet, erfährt sie den friedlichsten Moment ihres Lebens, in den sie das Bedürfnis hat, noch tiefer einzutauchen.

Es geht um Glauben, Spiritualität, Philosophie, Psychologie, Klimakrise und vieles mehr. Alles wird verwoben zu einer Art neuer Schöpfungsgeschichte mit Mira im Mittelpunkt, die nach einer Daseinsform sucht, in der sie das Menschsein erträgt.

Der Ton ist getragen, mystisch, distanziert. Doch kommt er aus tiefster Seele mit bedeutungsvollen Sätzen. Aus den kurzen Kapiteln (manchmal nur ein Satz) hängen offene Enden. An denen ich zeitweise verzweifel, weil ich sie nicht verstehe und gleichzeitig erglühe, weil sie sich auf einer höheren gefühlsmäßigen Ebene doch erschließen.

Dieser Text erfordert ein Einlassen sowie das Loslassen von Erwartungen. Er schenkt im Gegenzug Schönheit, Neudenken, manchmal auch ein Hineinfließen. Mich hat er in seiner Komplexität, besonderen Form und Sprache beglückt.

Bewertung vom 16.07.2023
Koller
Büsing, Annika

Koller


ausgezeichnet

Jahrelang dümpelst Du durch Deinen Teich mit all Deinen Grenzen, Glaubenssätzen und Schutzmauern und plötzlich – in diesem Fall in einem Park in Leipzig – tritt jemand in Deinen Weg und alles ist anders. Du lässt alles stehen und liegen und tust das Mutigste, was Du je getan hast. Es sind die Zufälle, das Unbeabsichtigte, sagen wir einfach DAS LEBEN, das die tiefsten Spuren hinterlässt.

Koller platzt mit seiner ganzen Präsenz, mit seiner behinderten Schwester, mit einer Ex-Freundin, die aber doch noch irgendwie seine Freundin ist, mit seiner ganzen brachialen Unbefangenheit und Unmittelbarkeit in das eher introvertierte Leben von Chris. Doch dass auch so einer mit überwältigenden Gefühlen und Unaussprechlichem zu tun hat, drückt sich in einer Flut von Tränen aus, die Kollers Gesicht in jedem stillen Moment überschwemmt.

Von Chris, dessen Perspektive wir einnehmen, erfahren wir nicht viel. Er ist verschlossen, nachdenklich, voller Skepsis und Selbstzweifeln und VERLIEBT. Gegensätze ziehen sich bekanntlich an und schwupp, sitzen die beiden in einem alten VW Polo und wollen eigentlich ans Meer. Doch da im Leben selten das passiert, was der Plan ist, beginnt ein wilder Roadtrip auf den Spuren von Kollers Leben durch Deutschland ohne Navi, Karte und Kompass.

Wow! Annika Büsing hat mich schon mit ihrem Debüt NORDSTADT überzeugt. Hier packt sie noch einen drauf. Sie übertrifft sich an Leichtigkeit, mit der sie spielerisch in Nebensätzen große Worte unterbringt. Während die Story scheinbar mühelos und mit viel Humor an Fahrt und Dynamik aufnimmt, gewinnen die Protagonisten mit jeder Seite an Tiefe. Wir driften von einer unerwarteten Wendung zur nächsten, teilweise wird es etwas absurd, aber das passt zu dem Trip. Gleichzeitig erzählt sie aber auch voller Wärme und Tiefe mit zarten Untertönen von Familie, Freundschaft, Geschwisterliebe, Homosexualität, Fragen von Schuld und Reue und von der langsam keimenden Liebe zwischen Chris und Koller.

Wer NORDSTADT geliebt hat, wird KOLLER lieben, vielleicht sogar mehr. Wer beide nicht kennt: das müsst Ihr ändern!