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TK

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Insgesamt 108 Bewertungen
Bewertung vom 14.05.2023
Männer sterben bei uns nicht
Reich, Annika

Männer sterben bei uns nicht


sehr gut

Erbe der Matriarchin

"Für meine Großmutter war Nähe keine relevante Kategorie. Sie hatte kein emotionales Verständnis von Familie, sondern eher ein dynastisches, auch wenn das Wort zu pompös war für den Haufen, den wir darstellten. Sie wies jeder von uns einen Platz und eine Aufgabe zu, und wenn wir diesen Platz einnahmen und die damit verbundene Aufgabe erfüllten, lief alles glatt, wenn nicht, wurden wir aussortiert wie verschlossene Muscheln."

Die Beziehungen in dieser Familie von Frauen, zwischen Müttern und Töchtern, Enkelinnen und Großmutter, Schwestern, Nichten und Tanten, Hausherrin und Angestellter, sind unheimlich eindrücklich charakterisiert.
Über allem die Großmutter, die Matriarchin, die entscheidet, wer welche Rolle zu spielen hat, oder wer keine Rolle spielt, und die nicht nur die Beziehungen aller zu sich selbst kontrolliert und bestimmt, sondern auch die aller anderen untereinander.
Mit dem Tod der Großmutter ist dieses Netz gekappt, und alle Frauen finden sich komplett haltlos wieder, müssen sich neu orientieren und ihre Rollen definieren. Und sie erkennen, wie viel Leid ihnen durch diese familiäre "Stille Post", die Menschen in Thronfolger und Verräter einteilte, zugefügt wurde, "dieses Geraune, wie es mit Stolz und Härte, Scham und Sorge daherkam, wie es unterschiedliche Verkleidungen trug", bei dem auch das vermeintlich goldene Kind nicht unbeschadet davon gekommen ist.

Leider bleiben die Figuren und eine ganze Weile auch die Familienverhältnisse, dadurch dass alle vor allem durch das Epizentrum der Großmutter wahrgenommen werden, eher schwer greifbar. Das ist zwar ein sehr treffendes Symbol für die Dynamik der Charaktere, macht das Einfinden in der Geschichte aber nicht so einfach. Sprachlich ist "Männer sterben bei uns nicht" jedoch großartig formuliert und insgesamt ein spannendes Familienportrait.

Bewertung vom 11.05.2023
Als Großmutter im Regen tanzte
Teige, Trude

Als Großmutter im Regen tanzte


gut

Interessante Geschichte, leider nicht so stark wie sie sein könnte

Frauen, die sich mit Besatzungssoldaten eingelassen haben, hatten in allen Ländern ein schwieriges Schicksal, so auch die Norwegerin Tekla, die sich im Zweiten Weltkrieg in den deutschen Soldaten Otto verliebt, ihn heiratet und ihm nach Deutschland folgt. Dass dieser Roman in Norwegen jahrelang auf den Bestsellerlisten stand, überrascht mich nicht, die gesellschaftliche Aufarbeitung des Umgangs mit diesen Frauen und auch ihren Kindern ist ja ein andauerndes Thema. Die Beschäftigung damit in Deutschland ist bei diesem Teil der deutsch-norwegischen Geschichte nur folgerichtig. Während die Schicksale der Deutschenmädchen in Norwegen für mich tatsächlich kein unbekanntes Kapitel der Geschichte waren, wusste ich von den Ereignissen in Demmin 1945 wirklich noch nichts.

Die verknüpften Handlungsstränge von Großmutter und Enkelin, Vergangenheit und Gegenwart zeigen, wie Familiengeheimnisse und nicht überwältigte, verschwiegene Traumata von Generation zu Generation nachwirken und das Leben und die Beziehungen von Menschen beeinflussen.

Ich kann noch nicht genau sagen warum, aber mich hat die Geschichte nicht so bewegt, wie ich das bei der Thematik erwartet hätte. Es war gut wegzulesen und historisch interessant, aber mir hat einiges an Tiefe gefehlt. Junis Geschichte wirkt im Vergleich zu Teklas Leben eher flach und recht klischeemäßig abgehandelt, ich denke mir hätte ein tieferer Einblick in Teklas Erfahrung und Wahrnehmung, eine längere Begleitung auf ihrem Lebensweg mehr gegeben.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 06.05.2023
Elternabend
Fitzek, Sebastian

Elternabend


ausgezeichnet

Großartig genialer Nicht-Thriller

[TW: Gewalt, Mobbing, Depression, Suizid]

An den Anfang der Rezension eines tatsächlich so witzigen Romans derartige Triggerwarnugen zu stellen, scheint nicht sehr intuitiv, doch kann man, muss man, wie auch das Vorwort andeutet, derartige Themen genau so behandeln.
So hat diese Geschichte, bei der durch herrlich absurde Verstrickungen zwei sich völlig fremde Menschen auf dem längsten Elternabend aller Zeiten untertauchen müssen, wonach die herrlich absurden Verstrickungen noch lange nicht enden, erstaunlichen emotionalen Tiefgang, vor allem auch durch Fitzeks fein charakterisierte Persönlichkeiten. Die verschiedensten Charaktere, die auf einem Elternabend zusammentreffen, sind wunderbar gelungen portraitiert, aber auch die zwei Polizeibeamten, Grosny-Mario und die Hilde sind fantastische Figuren.

Die von Synchronsprecher Simon Jäger perfekt eingelesene Hörbuchversion fängt alle diese verschiedenen Persönlichkeiten stimmlich passend ein, trifft die verschiedenen emotionalen Töne der Geschichte und liefert Humor, Beobachtungen und trockene Kommentare auf den Punkt pointiert ab - eine Freude zu hören und absolut zu empfehlen!

Bewertung vom 04.05.2023
Als wir Vögel waren
Banwo, Ayanna Lloyd

Als wir Vögel waren


sehr gut

Karibischer magischer Realismus

Zwischen der traumartigen Magie der karibischen Mythen und Legenden, und dem städtischen Alltag von Lärm, Schmutz, Armut, Arbeitslosigkeit, Alkohol, Gewalt und Kriminalität, zwischen den Lebenden und den Toten bewegt sich dieser Roman. Der Schauplatz Trinidad ist auf allen Seiten sehr intensiv spürbar, mit seinen Farben, Gerüchen, Klängen, dem Licht, der Temperatur, dem Wind.

Hier begegnen sich Darwin, ein entwurzelter junger Mann, aus der finanziellen Not heraus von seiner Rastafari-Identität entfernt, und Yejide, die das Matriarchat ihrer Familie um mehrere Generationen zurückverfolgen kann und in der Familie und ihrer weitergegebenen Gabe fest verwurzelt sein sollte, aber trotzdem irgendwie verloren ist. Sie beide sind auf der Suche, geleitet von einer geheimnisvollen Verbindung, die zwischen ihnen besteht. Die beiden Protagonisten haben für mich erst im Moment ihres Aufeinandertreffens wirklich Gestalt angenommen. Das Cover finde ich daher absolut gelungen und sehr ausdrucksstark: die zwei Schatten, die sich zwischen der tropischen Farbigkeit einander annähern.

Im Klappentext des Buches, der an sich auf die Atmosphäre sehr gut einstimmt, irritiert mich ein Satz, der definitiv nicht den Fakten der Handlung entspricht. Auch hat mich die Zusammenfassung einen anderen Fokus erwarten lassen, so hat die Geschichte eine ganze Weile gebraucht, um mich tatsächlich zu fesseln und bis alle Handlungselemente zusammenkommen, um ihre Bedeutung zu erfassen.
Ich hätte mir für einige auftauchende Wörter des Trinidad-Creolischen ein Glossar gewünscht, um mich besser in den Text einfühlen zu können. Sicher kann man auch anderswo nachschlagen, aber ich bleibe eigentlich gern so nah wie möglich im Lesefluss.

Ein sprachlich wunderschön poetisches und atmosphärisch unglaublich dichtes Buch, mit einer Handlung, die im Verlauf eine immer stärkere emotionale Wirkung entwickelt.

Bewertung vom 02.05.2023
Institut für gute Mütter
Chan, Jessamine

Institut für gute Mütter


ausgezeichnet

Erschütternd

Auch Tage nach dem Beenden dieses Romans gehen mir viele Szenen und ausgelöste Gedanken noch immer im Kopf herum. Die Vision von einer Welt, in der zum Wohl und Schutz der Kinder immer stärker durchgegriffen wird, was auf den ersten Blick und in vielen Fällen natürlich wichtig und gerechtfertigt ist, hat in den erreichten Extremen eine unheimlich beunruhigende, verstörende Wirkung.
Als jemand mit einem schon immer sehr stark ausgeprägtem Gefühl für Ungerechtigkeiten haben mir viele der Schikanen, denen Frida ausgesetzt wird, Situationen in denen sie gar keine Chance hat, zu bestehen, emotionales und sogar körperliches Unwohlsein bereitet.

Während der Lektüre ist man ständig gezwungen, die eigenen (Vor-)Urteile zu hinterfragen. Zu Fridas Alleinlassen ihrer Tochter kann man stehen wie man möchte, aber wie man an den Vergehen einiger der anderen zur Besserung geschickten Mütter sehen kann, könnte man in der (definitiv nicht fernen) Welt des Roman auch selbst aufgrund ganz alltäglicher Selbstverständlichkeiten ins Visier der Behörden kommen. Die Wirkung dieser Handlung auf das Publikum in den USA, wo zum Teil tatsächlich das Jugendamt informiert oder die Polizei gerufen wird, wenn ein achtjähriges Kind einen ihm bekannten, kurzen, sicheren Weg alleine zurücklegt, ist sicher noch viel prägnanter als aus europäischer Perspektive.

Die Handlung macht, den Gegebenheiten entsprechend, viele soziale und gesellschaftliche Missstände unmittelbar spürbar: verdeckten und offenen Rassismus, Sexismus, Klassenunterschiede, den Umgang mit Mental Health, aber ganz konkret auch die sehr unterschiedlichen Standards und Erwartungen, die an Mütter im Vergleich zu Vätern gestellt werden, vor allem auch von Frauen an andere Frauen. Muss man eine perfekte, unfehlbare Mutter sein, um eine gute Mutter zu sein? Und kann das überhaupt irgendjemand erfüllen?

Jessamine Chans Roman ist großartig erzählt, unglaublich emotional aufwühlend und stellenweise sehr schwer zu ertragen, aber es absolut wert, dies auf sich zu nehmen. Ein wirklich beeindruckendes Debüt!

Bewertung vom 01.05.2023
Von Ameise bis Wombat: Tierisch geniale Bautricks für unsere Zukunft
Dorion, Christiane

Von Ameise bis Wombat: Tierisch geniale Bautricks für unsere Zukunft


ausgezeichnet

Tierische Baumeister, Architekten, Künstler und Ingenieure

Ich als Erwachsene liebe gut gemachte Kinderbücher, die nicht nur für Kinder aller Altersgruppen etwas Interessantes bereithalten, sondern bei denen auch man selbst noch viel erfahren kann.

Dieses Buch ist wunderschön einladend gestaltet und fühlt sich schon von außen durch den leinenartigen Einband super angenehm an. Das Highlight sind natürlich die absolut niedlich und mit witzigen Details gezeichneten Tiere.

Die kurzen Texte zu den Fähigkeiten und Techniken der Tiere sind genau richtig, um jüngere Kinder nicht zu überfordern und inspirieren gleichzeitig dazu, selbst mehr über das jeweilige Thema herauszufinden, wecken Neugier und Interesse zur eigenen weiteren Beschäftigung.

Besonders die Gegenüberstellung von real existierenden Bauwerken und ihren jeweiligen Vorbildern in der Natur finde ich sehr gelungen, gerade auch den Aspekt wie man sich Nachhaltigkeitstaktiken von Tieren abschauen kann.

Ich bin sehr gespannt, wozu dieses Buch die ArchitektInnen und IngenieurInnen von morgen inspirieren wird!

Bewertung vom 01.05.2023
Going Zero
Mccarten, Anthony

Going Zero


ausgezeichnet

Spuren verwischen im Überwachungszeitalter

Zu beschreiben, was genau diesen Roman so absolut spannend und genial macht, wäre in sich schon ein riesiger Spoiler und würde anderen Lesenden sicher das Erlebnis verderben. Daher nur so viel: Aus der relativ direkt wirkenden Handlung eines sozialen und technologischen Experiments wird durch unglaublich geschickt eingebaute Twists und Switches ein zunehmend schneller, atemloser Polit- und Agententhriller, bei dem immer schwerer wird, zwischen Jägern und Gejagten zu unterscheiden.

Auch die Themen und aufgeworfenen moralischen und ethischen Fragestellungen machen "Going Zero" so fesselnd und einnehmend:
Wie viel Überwachung sollten Menschen zum Wohle der Gesamtheit, für ein "Greater Good" akzeptieren, wie viel Privates auf- und preisgeben müssen, ja sogar wollen, wenn sie ja als die "Guten" nichts zu verbergen haben?
In einer Welt, in der sich immer mehr Menschen den technischen Möglichkeiten der Beobachtung und Datensammlung bewusst sind und auf Privatsphäre bedacht sind, gleichzeitig aber eine nie dagewesene Menge an Daten bereitwillig der ganzen Welt zur Verfügung stellen - wer sollte da über diese Daten verfügen? Der Staat und seine Organe sollten es nach Meinung der Meisten nicht sein, aber warum sollten diese Informationen in der freien Wirtschaft besser aufgehoben sein? Und selbst wenn man wollte, kann man überhaupt noch komplett unsichtbar sein, keine Spuren hinterlassen?

Hochaktuelle Thematik zum Mitdenken, mit eher skizzierten, aber psychologisch faszinierenden Charakteren, und absolut spannend aufgebaut: Ein echter Pageturner!

Bewertung vom 01.05.2023
Wolf
Stanisic, Sasa

Wolf


ausgezeichnet

Andersiger sein und gemacht werden

Der erste Roman für Kinder von Saša Stanišić erzählt vom Dazugehören und Nichtdazugehören, von Außenseitern und Freundschaft.
Die typische Gruppendynamik in Schulklassen und Ferienlagergruppen ist sehr einfühlsam beobachtet und beschrieben, und unter den Charakteren und Verhaltensweisen der Jugendlichen gibt es sehr viel aus eigener Erfahrung wiederzuerkennen.
Auch die verschiedenen Erwachsenen in ihrer Beziehung zum Erzähler Kemi und zu Jugendlichen im Allgemeinen sind fantastisch dargestellt. Kemis eigene, jugendliche Stimme, Redeweise und Sicht auf die Ereignisse sind sehr gelungen und wirken nachvollziehbar und sympathisch.

Meiner 12-jährigen Tochter ist allerdings in der Handlung des Buches zu wenig passiert. Obwohl oder gerade weil sie auch selbst etwas ein Außenseiter ist, war ihr die Geschichte zu nah an der alltäglichen Realität, wohingegen sie sich beim Lesen lieber in aufregendere Geschichten begibt. Von der Idee und dem Wort "andersiger" war sie jedoch sofort schwer beeindruckt.
Tatsächlich spielt sich der Schwerpunkt der Handlung in zwischenmenschlichen Situationen, Dialogen und Gedanken ab. Auch die Symbolik des Wolfes ist bei meinen beiden Kindern nicht so richtig gelandet. Meine 11-jährige Tochter mochte die Geschichte trotz einiger Verwirrung um Hirsche und Wölfe, die sie schwer einordnen konnte. Für mich können Kinder aber durchaus auch beim Lesen herausgefordert werden und den verschiedensten Ideen und Ausdrucksformen begegnen, somit würde ich der Altersempfehlung zustimmen.
Für mich als erwachsene Leserin ist "Wolf" jedenfalls sehr stark erzählt. Zum einen in seiner vordergründigen Thematik, "Das Gesagte aller Ferienlager. Die Geheimnisse aller Ferienlager. Die Freuden, die Ängste, die Splitter im Finger. Das Heimweh. Die Unsicherheiten." - eine Woche fürs Erwachsenwerden. Aber vor allem auch in seiner wunderbaren Sprache.

Die Illustrationen von Regina Kehn gefallen mir in ihrer Bildsprache und der Farbgebung in gelb, schwarz und weiß ausgesprochen gut. Sie fangen die Charaktere und die Stimmung sehr gut ein, sind abwechselnd beschreibend mit witzigen Details und sehr symbolisch und tiefgründig. Einzelne Abbildungen würde ich mir tatsächlich auch einrahmen wollen.
Einzig das Layout hätte ich mir stellenweise ein bisschen passender gewünscht, etwa in Bezug auf die betreffende Textstelle oder so, dass eine doppelseitige Illustration nicht mitten in einem Satz steht.

Eine Geschichte, die vor allem eine menschliche Botschaft über das Zusammenleben erzählt, über Mobbing, Ausgrenzung, über Wut und Mut und die Überwindung von Angst, über Akzeptanz und das Füreinandereinstehen, aber vor allem auch das Zu-Sich-Selbst-Stehen, wie Jörg es in all seiner Andersigkeit tut.

"Wir haben komplett Glück oder gar nicht oder manchmal. Alle hinterlassen wir unsere Spur."