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Benutzername: 
helena
Wohnort: 
Potsdam

Bewertungen

Insgesamt 119 Bewertungen
Bewertung vom 15.01.2020
Leo Nilheims Geschichte
Agren, Leo

Leo Nilheims Geschichte


ausgezeichnet

Ein tragischkomischer Roman über Krieg und Humanismus

Das ist Weltliteratur! Ein tragischkomischer Antikriegsroman, der sehr berührt und voller humanistischem Gedankengut steckt.

Beigefügt ist ein gelungenes Nachwort des Übersetzers, der Einblicke in das Leben des Autors gewährt. Dieser fühlte sich den Russen verbunden, von seiner Frau wurde er auch als "Dostojewskimensch" bezeichnet - und das spürt man auch deutlich bei der Lektüre des Romans.

Leningrad 1958. Der finnische Ich- Erzähler trifft den Russen Leo Nilheim. Dieser beginnt ihm seine Kriegserlebnisse während des 2. Weltkrieges zu erzählen, die ihn auch in den Heimatort des Ich- Erzählers führten. Er berichtet vom müden und hungrigen Soldatenleben, von der tödlichen Front, von der entbehrungsreichen Lagerhaft sowie der Zwangsarbeit bei einer finnischen Bauernfamilie.
Seine Erzählung ist zu Tränen rührend und dann wieder urkomisch. Sie steckt zudem voller philosophischer humanistischer Gedanken, die auch heute relevant bzw. einfach allgemeingültig sind. "Im Prinzip spricht auch nichts dafür, dass unsere Soldaten ein größeres Überlebensrecht haben als die des Feindes. Wir sind alle junge Männer, die herausgerissen wurden aus einem zivilen Leben, das wir vielleicht hassten, dass aber auf alle Fälle viel besser war als das an der Front, wo wir nur Tiere sind. Noch schlimmer: Wir sind Tiere mit dem Bewusstsein, dass wir am nächsten Tag vielleicht tot sind."

Ich hab geweint, ich hab gelacht, ich wurde sehr bewegt. Zudem erfreute ich mich an der wunderbaren literarischen Romangestaltung, der Sprache und der Komposition. Es liest sich poetisch, spannend, pointiert – jeder Satz sitzt hier perfekt!

Das ist Weltliteratur!

Bewertung vom 04.01.2020
Goldkind
Adam, Claire

Goldkind


sehr gut

Sehr interessantes und aufwühlendes Familiendrama auf Trinidad

Trinidad der 80er Jahre. Clyde und Joy leben in armen Verhältnissen in einem kleinen Haus auf Stelzen, "da, wo es nichts gibt außer Busch und Banditen". Die beiden Söhne Peter und Paul, 13 jährige Zwillinge, müssen mittlerweile einen sehr weiten Schulweg auf sich nehmen. Während Peter hochbegabt ist, fällt Paul das Lernen in der Schule schwer und auch sonst ist sein Verhalten nicht immer "normgemäß". Die Katastrophe bricht aus, als Paul entführt wird und eine immens hohe Lösegeldsumme gefordert wird.

In einem Rutsch las ich dieses Buch, weil es spannend wie ein Thriller geschrieben war. Auch konzeptionell überzeugte es mich, so wurde nicht linear erzählt, sondern immer wieder sequenzweise und mit Rückblenden. Die Stimmung ist oft unheilvoll, düster, traurig, es gibt aber auch hellere Abschnitte. Der Verlauf schockierte mich sehr und brach mir das Herz. Es passt aber gut in den Roman, der ja auch die Realität spiegeln möchte. Am Ende war ich ziemlich erschöpft und desillusioniert.

Das großartige Highlight dieses Buches sind die sehr anschaulichen Schilderungen Trinidads. Eine völlig andere Wirklichkeit, ein ganz exotisches Ambiente entfaltete sich vor mir, das ich gebannt und staunend aufnahm. Der Busch mit all seinem Getier, die bellenden Hunde, die Hitze des tropischen Klimas, die Strassenatmosphäre, die stets drohende Gefahr überfallen zu werden, all das wurde sehr lebendig beschrieben. Es inspirierte mich zudem, mehr über dieses Land und die Einwohner (Hindus, Moslems, Christen) zu erfahren.

Ebenso berührten mich die Geschehnisse um die Familie sehr. Das Familiengeflecht, auch über die Kernfamilie hinaus, wurde interessant gezeichnet. Näheren Einblick erhält man vor allem in die Gedanken von Clyde und Paul. Beide Figuren sind vielschichtig und widersprüchlich angelegt. Clydes Handlungen, wenn gleich vielleicht nicht auf den ersten Blick nachvollziehbar, sind es bei genauerem Überlegen durchaus. Er versucht ein guter Vater, ein ehrlicher Mann zu sein. Er versucht langfristig seiner Familie das Beste zu ermöglichen. Natürlich würde ich selbst anders entscheiden, aber ich habe auch eine andere Sozialisation und Bildung genossen, lebe mit sehr viel mehr Sicherheit und Privilegien.
Ich wurde tatsächlich sehr angeregt nachzudenken, da es einiges gab, was mich irritierte, ich wurde quasi gezwungen, mich mit den Figuren tiefer auseinander zu setzen. Dadurch traten natürlich auch für mich relevante Fragen auf: Welche unhinterfragten Glaubenssätze gibt es in meiner Familie? Welche Bilder habe ich von meinen Kindern? Sind die eigentlich wahr? Liebe ich ein bestimmtes Kind mehr, und mit welchen Folgen?

Dennoch habe ich auch Kritikpunkte: Die Mutter sowie Peter gerieten viel zu blass, hier hätte noch mehr ausgearbeitet werden müssen, zudem zum Ende hin die Passivität der beiden ganz und gar nicht überzeugte.
Darüberhinaus erschien mir der vorletzte Satz des ganzen Romans etwas unklar und auch ärgerlich. Hier kommt dem Pater Kavanagh (Pauls Nachhilfelehrer) ein Gedanke in den Sinn, der suggerieren könnte, dass es tatsächlich Menschen gibt, die wertvoller sind als andere. Und sorry, nein, so etwas möchte ich weder lesen oder unterstützen! Dafür hätte ich dem Roman fast 0 Sterne gegeben. Aus Clydes Sicht kann man das alles verstehen, aber wenn der Pater so etwas denkt, hat das eine völlig andere Gewichtung und wird quasi allgemeingültig. Damit wird aber leider der Roman letztendlich zerstört und zeigt zudem ein Menschenbild, das ich völlig inakzeptabel finde. Vielleicht kann man das Ende aber auch ganz anders deuten...

Eine Bewertung fällt mir ziemlich schwer. Ich vergebe 4 Punkte, da die positiven Dinge doch sehr stark waren und ich sehr angeregt wurde, mich auseinanderzusetzen.

Bewertung vom 27.12.2019
Was ist Liebe, Sokrates?
Kreft, Nora

Was ist Liebe, Sokrates?


gut

Guter Einblick in die Lehren von 8 PhilosophInnen zum Thema "Liebe"

Kant läd zu sich nach Königsberg ein, um über die Liebe zu diskutieren. Sokrates, Augustinus, Sören Kierkegaard, Sigmund Freud, Max Scheler, Simone de Beauvoir und Iris Murdoch - sie hören einander zu, streiten, widersprechen, befragen und ergänzen sich.
Diskutiert werden z.B. folgende Fragen: Was ist Liebe? Welche Arten von Liebe gibt es? Worauf bezieht sie sich? Wovon hängt sie ab? Ist der Geliebte eigentlich unersetzlich? Wie verhält es sich mit der Moral und der Liebe und wie stehen das Glück und die Liebe zueinander? Wie wird die Liebe vom Kapitalismus geprägt und was geschieht mit ihr in patriarchalischen Strukturen? Fördern Dating Apps die Liebe und kann man eigentlich Roboter lieben?

Zu Beginn werden die PhilosophInnen kurz mit ihren Werken und Hauptgedanken vorgestellt. Dann folgen 10 Kapitel, in denen zu bestimmten Themen diskutiert wird. Jeweils am Ende fasst einer der GesprächsteilnehmerInnen das Gesagte zusammen, was sehr hilfreich ist, um die Übersicht zu wahren.
Innerhalb der Gespräche gibt es zudem immer wieder Kurzerklärungen zu bestimmten Begriffen oder Personen, wie z.B. was Gedankenexperimente sind, was der Turing Test ist, wer Aristophanes war uvm.

Die Sprache ist einfach, modern und leicht verständlich gehalten. Lediglich die Gedanken Kierkegaards hätte ich mir noch etwas klarer dargestellt gewünscht. Die Dispute empfand ich an einigen Stellen sehr interessant, so z.B. dass Kant die (erotische) Liebe aus moralischen Gründen ablehnte, weil sie nicht mit der "Gerechtigkeit" vereinbar sei. Außer Iris Murdoch waren mir die Lehren ganz gut bekannt, so dass es viel Bekanntes gab. Dennoch waren einige neue Aspekte dabei bzw. wurde Altbekanntes in für mich neue Zusammenhänge gesetzt. Spannend fand ich zudem, wie die Autorin die PhilosophInnen zu den modernen Themen positioniert hat.

Leider störte mich jedoch die Rahmenhandlung sehr. Ich mochte es zum einen nicht, dass die PhilosophInnen stets mit Vornamen benannt wurden. Zum anderen fand ich es irgendwie geschmack- und respektlos wie besonders Sören Kierkegaard beschrieben wurde. Er wurde sehr lächerlich dargestellt. Mindestens dreimal fielen ihm Dinge aus der Hand, dann kniete er "sich hilflos vor die Scherben". Zudem stiegen ihm mehrfach die Tränen in die Augen, oder "sah erschrocken auf" oder er "zuckte zusammen" als ihm jemand eine Gegenrede gibt oder er klang "kläglich" und "schüchtern". Max Scheler hingegen wurde oft polternd oder aufbrausend beschrieben. Im Kontext solch einer Arbeit fand ich es irgendwie unangemessen und oft sehr albern. Diese Rahmenhandlung nimmt zwar keinen großen Raum ein, irritierte mich aber immer wieder und lenkte damit ab.

Inhaltlich ist es wahrscheinlich eher für Menschen geeignet, die sich noch nicht so viel mit den genannten PhilosophInnen beschäftigt haben. Hier erhält man einen einfachen Zugang und einen gelungenen Einblick. Aber auch Kenner können durchaus neue und interessante Gesichtspunkte innerhalb dieser Dispute entdecken.

Bewertung vom 07.12.2019
Die Träume der anderen
Harrower, Elizabeth

Die Träume der anderen


gut

Tiefe Beschreibung einer (Co-) Abhängigkeit sowie ein Plädoyer für Gleichberechtigung

Titel, Cover, Klappentext und Leseprobe machten mich sehr neugierg und liessen in mir Erwartungen erwachsen, die dann nicht gänzlich zum tatsächlichen Inhalt passten. Der Roman ist viel heftiger, als ich dachte...

Oh mein Gott. Die Autorin schafft ein eindrückliches, sehr beklemmendes Psychogramm einer teils schwer gestörten Familie. Sie zeigt welche Strukturen und Befindlichkeiten, welche Grausamkeiten und Schrecklichkeiten in solch kaputten Beziehungen entstehen können. Felix ist alkoholabhängig, narzisstisch gestört und sadistisch. Laura ist das passende depressiv gefärbte Pendant, die irgendwann stark co- abhängig wird und sich selbst verliert. Clare wird in die Dynamik hineingezogen und es wird ihr nicht erlaubt, das System zu verlassen. Die Opfer werden zu Tätern.

Die Autorin beschreibt dies herausragend realistisch, gleich einer psychologischen Fallstudie. Sie geht dabei tief in die menschliche Seele und zeigt die Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen der Beteiligten in all ihrer Dynamik innerhalb dieses Dreiersystems. Sie nimmt mal Clares und mal Lauras Perspektive ein. Sie zeigt die Entwicklung der Personen über einige Jahre hinweg. Die Schwestern entfremdem sich immer mehr – einander und sich selbst.
Ich litt mit den Schwestern mit, die sich immer wieder einredeten, vor allem natürlich Laura, dass sich Felix ändern wird, auch ich glaubte daran... bis doch wieder eine Schrecklichkeit geschah.
Die Atmosphäre ist beklemmend, häufig auch dumpf und niederdrückend. Erst zum Ende gelangt wieder etwas Leichtigkeit in den Roman.

Das alles geschieht vor der Kulisse des 2. Weltkrieges. Die Autorin verbleibt nicht nur auf der persönlichen Ebene, sondern zeigt immer wieder die ungleichen Bildungs-, Arbeits- Entwicklungs- und Lebenschancen von Frauen auf. Auch wird deutlich, wie soziale Zwänge, Armut und Not mögliche Handlungsspielräume einengen.

In der ersten Hälfte musste ich mich sehr zwingen weiter zu lesen, ich schleppte und quälte mich so dahin. Der Stil war mir irgendwie zu holprig, zu sprunghaft und gefiel mir häufig nicht. (Lag das an der Autorin oder an der Übersetzung?) Auch thematisch bot der Roman wenig Erhellendes, wenig Spannendes. In der zweiten Hälfte änderte sich das ein wenig. Hier wurde ich mehr gefesselt und war sehr erstaunt über die tiefe und erbarmungslose Beschreibung dieses kranken Familiensystems. Die Autorin nutzte oft Clares Stimme, um einiges zu erklären. Besser hätte mir jedoch gefallen, hätte sie die Dinge mehr gezeigt.

Fazit. Stilistisch und inhaltlich macht dieser Roman nicht immer Spass. Er fasziniert jedoch durch die ungewöhnlich tiefe Psychologie eines Co-abhängigen Familiensystems, zeigt deutlich soziale Misstände, insbesondere die Diskriminierung der Frau auf und beinhaltet viele kluge Gedanken.

Bewertung vom 27.11.2019
Freefall - Die Wahrheit ist dein Tod
Barry, Jessica

Freefall - Die Wahrheit ist dein Tod


ausgezeichnet

Fesselnd geschrieben, aber recht vorhersehbar mit wenig Thrill

Allison überlebt den Absturz des Privatjets ihres Verlobten in den Rocky Mountains. Sie flüchtet daraufhin aus Angst – wovor und vor wem, das ergibt sich im Laufe des Lesens.
Abwechselnd wird aus ihrer Perspektive sowie aus der Perspektive ihrer Mutter Maggie erzählt. Die beiden haben keinen Kontakt mehr. Nach dem Tod ihres Vaters vor zwei Jahren brach Allison den Kontakt zu ihrer Mutter ab.
Nach dem Absturz hält diese, wie alle anderen auch, Allison für tot. Sie beginnt nachzuforschen und versucht herauszubekommen, wie Allison gelebt hat, mit wem sie Kontakt hatte und wer dieser reiche Verlobte war, der mit seinem Pharmaunternehmen Medikamente gegen postpartale Depressionen herstellte. Was war bloß mit ihrer Tochter passiert? Sie hatte sich so verändert, dass Maggie sie kaum mehr wieder erkannte. Sie möchte sie nur nicht im Stich lassen, wie sie es schon einmal tat.
Allison indes kämpft in den Bergen um ihr Überleben und würde die letzten zwei Jahre am liebsten ausradieren. Zwei Jahre, in denen sie "nutzlos und dekorativ" war, "nur für eins zu gebrauchen".

Allison und Maggie stehen sehr im Fokus dieser Geschichte. Die Figur Allison hat mich dabei leider nicht so recht überzeugen können. Ihr Lebenswandel kam mir irgendwie zu unglaubwürdig vor, irgendwie passte das nicht zusammen mit der Art und Weise wie sie aufgewachsen ist. Auch das Verhalten zu ihrem Verlobten fand ich merkwürdig. Erst so devot und infantil, gleichzeitig auch sehr verliebt ... und dann... (will jetzt nicht spoilern). Sie war mir einerseits irgendwie unsympathisch, aber andererseits auch wieder sympathisch, weil mir schon gefiel, wie sie sich Gedanken um ihre Mutter machte und wie taff sie sich durch die Berge schlägt, von dem Wissen ihres Vaters profitierend.
Ihre Mutter hingegen war mir gleich sympathisch. Mir gefielen ihre Gedanken und wie sie sich auf den Weg machte und unbedingt wissen wollte, was passiert ist. (Allerdings finde ich es etwas komisch, dass sie ihre hochbetagte Katze zwei Tage, ohne dass sich jemand um sie kümmert, im Haus lässt.)
Die Mutter- Tochter-Beziehung und die Familiengeschichte, über die man in Rückschauen einiges erfährt, nehmen einen recht großen Raum ein. Insgesamt eher seicht, manchmal etwas kitschig, manchmal aber auch berührend und herzerwärmend.

Der Schreibstil ist einfach, anschaulich und sehr flüssig lesbar. Der stete Perspektivenwechsel bringt Dynamik in die Story, die ansonsten recht vorhersehbar und mit kaum einer überraschenden Wendung daher kommt. Als Thriller würde ich diesen Roman eher nicht bezeichnen, vielleicht als rasanten Familienroman oder Spannungsroman. Nur das Ende, ein Wettlauf gegen die Zeit, liess vielleicht noch das Herz etwas schneller schlagen. Insgesamt war mir leider zu fast jeder Zeit klar, was passieren würde, so dass keine Hochspannung aufkam. Dennoch las ich den Roman in einem Rutsch, da eine ganz gute Unterhaltung geboten wurde, wenngleich auch klar war, dass hier nach Schema F konzipiert und das Rad nicht neu erfunden wurde.

Wenn man leichte Unterhaltung und Übersichtlichkeit mag und außerdem an den Thrill nicht zu hohe Ansprüche stellt, wird man hier auf seine Kosten kommen.

Bewertung vom 21.11.2019
Jesolo
Raich, Tanja

Jesolo


sehr gut

Rund, gefühlvoll, eindrücklich

Andi, Anfang 30, ist ungewollt schwanger. Eigentlich möchte sie das Kind nicht oder zumindest nicht so richtig und von Georg möchte sie sich eigentlich auch trennen. Seit frühester Jugend sind sie ein Paar, sie kennen sich in- und auswendig. Mittlerweile ist ihr Umgang geprägt von Desinteresse und Gemeinheiten. Aber ohne einander geht es irgendwie auch nicht. Das Verhältnis zu den übergriffigen Schwiegereltern ist für Andi ebenfalls schwierig. Wenn sie nun zu Georg ziehen sollte, würden sie alle miteinander unter einem Dach leben...Würde das gut gehen?
Andi kommt, nachdem sie die Schwangerschaft entdeckt, in keinen rechten Handlungsmodus. Sie denkt viel über ihre Beziehung nach, über ihre Schwiegereltern und über all die Dinge, die sich verändern werden, wenn sie das Kind bekommt, über all ihre Zweifel sowie ihre eigene Geschichte. Sie selbst wurde von ihrer Mutter verlassen, als sie 10 Jahre alt war. Sie wuchs bei ihrem Vater auf und hat irgendwann den Kontakt zu ihm abgebrochen. Sie vertraut sich selbst nicht, vertraut nicht darauf, dass sie das Kind lieben kann, dass sie (es) nicht aufgeben wird.
In ihrer Beziehung zu Georg schwankt sie zwischen Angst vor Nähe und Verbindlichkeit und der Angst vor Verlust und Einsamkeit. Sie sitzt gefühlt in einer Falle und kann den Konflikt nicht lösen.
Georg und sie haben ganz unterschiedliche Ziele. Er möchte Kinder, Haus, Familie. Sie nicht unbedingt. Was möchte sie denn eigentlich? Das weiss sie auch nur so ungefähr.
Tag für Tag entgleiten ihr die Dinge etwas mehr, wie im Traum, sie will die Dinge nicht wahrhaben, sie kann nicht Stopp sagen, "mit jedem Ja rutsche ich weiter in die Scheiße hinein." und in die Depression, das "schwarze Loch" und keiner merkt es. Hin und wieder raucht sie sogar und nippt am Sekt. Gleichzeitig erfährt man Monat für Monat, wie der Embryo sich entwickelt.

Wir folgen Andis innerem Monolog die gesamte Schwangerschaft, ausgehend von der Zeugung bis zur Geburt. Man ist daher ihren Gedanken und Gefühlen sehr nah, die echt, realistisch und schlüssig dargestellt werden. Ich konnte ihre Ablehnung und Zerrissenheit, ihre Wut und ihr Unglücklichsein sehr gut nachempfinden. Ihre fehlende Bereitschaft wirklich ehrlich mit sich zu sein und die Vermeidung wichtige innere Baustellen zu bearbeiten, konnte ich jedoch nicht in Gänze nachvollziehen bzw. gutheißen.
Das komplexe Portrait dieser Frau mit ihren Rissen in der Biographie und dem fehlenden Vertrauen in das Konstrukt "Familie" sowie der fehlenden Priorisierung des "Mutter- Seins", hat mir sehr gut gefallen, mich bewegt und bot Identifikationspotential. Nicht zuletzt auch deswegen, weil auch die schwierigen Seiten einer Mutterschaft beleuchtet werden, die oftmal nur hinter vorgehaltener Hand besprochen werden (wie z.B. Einsamkeit, Verlust bzw. Veränderungen des Arbeitsplatzes etc.). Gefehlt hat mir nur das Thema Schwangerschaftsabbruch. Die Gedanken darüber, das Abwägen hätte unbedingt mithineingehört.
Insgesamt würde ich tatsächlich gern wissen wollen, wie es mit Andi weiter geht..:)

Fazit: Ein runder, eindrücklicher und gefühlvoller, durchaus melancholischer Roman über den Schwangerschaftsverlauf einer Frau, die dem Kinder- Bekommen ambivalent gegenüber steht.

Bewertung vom 17.11.2019
Die Tankstelle am Ende des Dorfs
Mytting, Lars

Die Tankstelle am Ende des Dorfs


sehr gut

Erik Fyksen oder Ein Männerroman nicht nur für Männer

Hier liegt Myttings Debütroman in Neuauflage und Neuübersetzung vor. Erstmalig erschien er 2007 in Deutschland. Beide Auflagen wurden übersetzt von Günther Frauenlob.

Vorab: Der Klappentext weckt leider falsche Erwartungen. Auf jeden Fall sollte man sich darauf einstellen, dass es etliche Passagen gibt, in denen Autos im Mittelpunkt stehen. Für sie schlägt nämlich Erik Fyksens Herz, um den es hier vorrangig geht. Anfang 30, von Frauen zweimal heftig enttäuscht, betreibt er im kleinen Annor eine Tankstelle mit einer angeschlossenen Autowerkstatt. Mit Hingabe und Einfallsreichtum tüftelt er hier mit Vorliebe an amerikanischen Autos, hat stets passende Ersatzteile zur Hand (manche über recht außergewöhnliche Wege) und fährt regelmäßig die Bergpässe ab, um eventuell liegengebliebenen Autos zu helfen.
Auf Betreiben seines langjährigen Feindes Jotul, der im Ort hochanerkannt ist, soll nun aber die Strassenführung geändert werden. In Folge dessen würde seine Tankstelle im Nichts stehen. Doch so leicht gibt Erik nicht auf, er ist findig und verfügt ebenfalls über einige Verbündete...

Fyksen ist interessant gezeichnet. Er lebt nostalgisch und mit festen, durchaus auch starren Grundsätzen. Er lässt sich nicht unterkriegen und ist recht schlau. Ein wenig eigenbrötlerisch, doch mit dem Herzen am rechten Fleck. Da er nicht so viele Kontakte pflegt, lernt man auch nicht so viele Menschen kennen. Es ist aber interessant zu sehen, wie hier jede(r) seine eigene Agenda verfolgt. Insgesamt schienen manche der Figuren etwas eigen, aber so soll es wohl sein in norwegischen Dörfern..:)
Ich kam Norwegen generell ein wenig näher und erfuhr einiges Interessantes, z.B. über das Bestehen öffentlich zugänglicher Steuerlisten oder auch warum Autos besonders für junge Erwachsene so wichtig sind.

Die Sprache ist poetisch, manches wird nur angedeutet. Ein feiner Humor, aber auch Traurigkeit und Ernst durchziehen den Roman. Hin und wieder sind Songtitel aufgeführt, da Fyksen die Musik liebt. Es gibt ganz realistische Szenen (Marketinggespräch für moderne Tankstellen) und wieder etwas mystische Szenen (ein mehrfach auftauchender weißes Cadillac).
Die erste Hälfte verläuft recht ruhig, in der zweiten Hälfte wird man emotional ziemlich durchgerüttelt. Manches wirkte zwar etwas vorhersehbar und auch klischeehaft, das Meiste jedoch unterhielt mich sehr gut. Ich war gefesselt und sehr gespannt, es gab unerwartete Wendungen, ich wurde berührt, vergoss Tränen und erhielt Einiges zum Nachdenken.

Neben der inneren Entwicklung von Erik geht es vor allem auch um gesellschaftliche Prozesse. Eindrücklich wird ganz realistisch am Beispiel der Umstrukturierung von Tankstellen dargestellt, wie Profitstreben und Konsumwille die Natur, die Menschen und das nahbare Miteinander kompromisslos vertreiben. Ebenso wird die eigene Machtlosigkeit deutlich gemacht, dieser allgegenwärtigen Entwicklung etwas entgegenzusetzen. Man kann letztlich nur sich selbst flicken und reparieren, um zu heilen und zu gesunden, so die pessimistische (oder realistische?) Überlegung.

Alles in allem ein sympathischer, norwegischer Männerroman, der mir sehr gut gefiel, wenngleich er in seiner Konzeption insgesamt nicht so ganz rund erschien. Definitiv hat er mir aber Lust gemacht hat, mehr von Mytting zu lesen!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 17.11.2019
Alles okay
LaCour, Nina

Alles okay


sehr gut

Gelungenes Jugendbuch über Trauerbewältigung

Malin ist nach dem Tod ihres Grossvaters, bei dem sie aufgewachsen ist, Hals über Kopf in ihr College geflüchtet, das nun nach dem Schulende für sie erstmalig beginnen soll. Den Kontakt hat sie zu allen abgebrochen. Vier Monate sind vergangen, ihre beste Freundin Mabel kommt sie dennoch kurz vor Weihnachten besuchen.

Dieser Jugendroman, aus Malins Sicht in der Ich-Perspektive erzählt, umfasst 4 Tage. In Rückblenden erfährt man dabei stückchenweise, wie ihr Großvater starb, wie der Alltag mit dem geliebten Großvater aussah, was mit ihren Eltern geschah und wie ihre enge Beziehung zu Mabel langsam immer inniger wurde...

Der Schreibstil ist ruhig, poetisch, gefühlvoll und anschaulich. Es gibt einige Stellen zum Schmunzeln und noch mehr Stellen zum Weinen. Man ist sehr dicht dran an Marins Gedanken und Gefühlen und kann sich wunderbar hineinversetzen. Sie reflektiert ihre Beziehung zum Großvater und was für ein Mensch er war. Auch über ihre Freundin Mabel und deren Familie sowie über sie selbst erfahren wir einiges. Malin liebt z.B. Literatur sehr, ganz besonders "Jane Eyre", aber auch "Hundert Jahre Einsamkeit".

Thematisch geht es um den Verlust der unschuldigen Kindheit, den Übergang zum Erwachsensein, die erste Liebe, Freundschaft und Familie. Die Frage, wie gut wir andere eigentlich wirklich kennen, wird aufgeworfen. Vor allem aber geht es um den Trauerprozess bei Verlust eines geliebten Menschen. Hier wird zum Einen gezeigt, wie man auf Dauer nicht mit Trauer umgehen sollte. Schweigen und Verdrängen sind keine guten Optionen. Und zum Anderen wird gezeigt, was wirklich helfen kann: z.B. darüber reden und Hilfe annehmen.
Das sind recht schwierige Themen, da auch noch die Thematik psychische Erkrankung hinzu kommt. Ich finde aber die Umsetzung für Jugendliche sehr gut gelungen. Man nimmt zwar die ganzen traurigen Gefühle wahr, wird aber nicht heruntergezogen und es gibt ein versöhnliches Ende. Ja, und sicher sind da einige etwas kitschige, vielleicht unrealistische Szenen, aber das stört überhaupt nicht, da mir eher wichtig erscheint, gerade im Rahmen eines Jugendbuchs, Hoffnung und Trost zu spenden!

Fazit: gelungenes Jugendbuch zu den Themen Verlust, Trauerbewältigung und Freundschaft.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 13.11.2019
Alles, was wir sind
Prescott, Lara

Alles, was wir sind


gut

Schmökeriger Unterhaltungsroman mit interessanten Themen und amerikanischem Patriotismus

Dieser Roman erzählt abwechselnd von den Geschehnissen in der CIA sowie von den Geschehnissen um Olga, der Geliebten Pasternaks, die zur Erscheinung des Romans "Doktor Shiwago" führten, für den Pasternak den Nobelpreis erhielt. Der erzählte Zeitraum umfasst die Jahre 1949 – 1961.

Der Erzählstrang um die Stenopistinnen der CIA und die weiblichen Spione gefiel mir ausnehmend gut. Die Anekdoten und Beschreibungen der Frauen fand ich wirklich toll, auch die Verwebung der ganz modernen Stoffe wie Frau -Sein, Machtgefälle Mann -Frau, Gewalt gegen Frauen und Homosexualität fand ich sehr gelungen. Hier zeichnete sich ein feiner weiblicher Humor ab und es wurde gefühlvoll erzählt.
Allerdings wurde auch ein gewisser Patriotismus deutlich, da die CIA doch recht positiv geschildert wird: stets im Auftrag schreckliche Diktaturen zu stürzen und Menschen die Freigheit zu bringen. Nun ja.

Der Part um Olga und Pasternak nimmt weniger Raum ein und ich fand ihn weit weniger gelungen. Beide waren mir weder sympathisch noch nahbar. Es fehlte hier die Tiefe der Figuren und auch der genauer gezeichnete Kontext, in dem sich beide bewegten. Natürlich war die Zeit unter Stalin düster, aber irgendwie wurde alles recht schwarz und stereotyp gezeichnet.

Der Roman ist in einer einfachen Sprache verfasst und wartet mit vielen Details, leider auch häufig Belanglosigkeiten auf. Somit gerät die Lektüre recht anschaulich, aber hin und wieder auch langweilig. Die Detailfülle macht es zudem schwer zu erkennen, was nun Fiktion und was Nonfiktion ist. Die Charaktere bleiben insgesamt eher flach und ein wenig Kitsch findet man auch.
Ein richtiger Lesesog konnte sich leider nicht entfalten, wenn gleich es durchaus recht spannende und auch interessante Abschnitte gab. Der Weg, wie "Doktor Shiwago" veröffentlicht werden konnte, ist sehr genau und aufschlussreich beschrieben. Zudem erhält man einige Denkanstöße. An vielen Stellen wird nämlich deutlich, welche Folgen Entscheidungen für das eigene Leben, aber auch das Leben anderer haben können. Sichtbar wird, wie beschränkt Handlungsmöglichkeiten in einer Diktatur sind und wie Menschen zu reinen Marionetten im Ränkespiel der Staaten und Geheimdienste werden. Sehr faszinierend fand ich, wie hoch damals die Bedeutung eines Buches gewichtet wurde, welches als "Waffe" gesehen wurde und es die Überzeugung gab, "dass Literatur den Lauf der Geschichte ändern kann".

Insgesamt hat sich die Autorin sehr große Themenkomplexe vorgenommen, deren Umsetzung ihr jedoch nur teilweise gelang. Ich denke, sie hätte sich auf einen Erzählstrang konzentrieren und diesen tiefgründiger beleuchten sollen.