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Tsubame

Bewertungen

Insgesamt 55 Bewertungen
Bewertung vom 01.03.2020
Das Evangelium der Aale
Svensson, Patrik

Das Evangelium der Aale


ausgezeichnet

Faszination Aal

Seit es mit unserem Planeten immer weiter bergab geht, erscheinen immer öfter Bücher, die sich mit den Wundern unserer Erde auseinandersetzen - nicht in Form eines rein wissenschaftlichen Textes, sondern in Form einer fiktionalen oder nicht-fiktionalen Naturbeschreibung. Während ich Sachbücher oft als etwas trocken empfinde, vereint das so genannte "nature writing" interessante Fakten mit persönlichen Erfahrungen, Erlebnissen und Gefühlen des Autors. Wenn sich dann ein so begnadeter Schreiber wie Patrik Svensson dem Thema Aal annimmt, dann bekommt dieser auf den ersten Blick wenig sympathische Fisch einen Fürsprecher, dem es gelingt auch aus dem größten Aal-Skeptiker einen frisch gebackenen Aal-Fan zu machen.

Ich selbst kannte den Aal bisher hauptsächlich aus der bekannten und extrem abstoßenden Szene in der "Blechtrommel" und habe mir sonst keine weiteren Gedanken um diesen Fisch gemacht. Jetzt, wo ich um die "Aalfrage" weiß und um die Strapazen, die der Aal auf sich nimmt, um sich fortzupflanzen, bin ich fasziniert von diesem Wesen, gleichzeitig aber auch traurig, dass es ihn wahrscheinlich bald schon nicht mehr geben wird.
"Das Evangelium der Aale" ist Zeugnis eines faszinierenden Wasserbewohners, der die Menschheit lange Zeit an der Nase herumgeführt hat, sich in Gefangenschaft nicht züchten lässt und der sogar vom Tode auferstehen kann.
Ein tolles Buch! Von mir eine ganz klare Leseempfehlung.

Bewertung vom 25.02.2020
Rote Kreuze
Filipenko, Sasha

Rote Kreuze


ausgezeichnet

In einem Mietshaus in Minsk treffen der junge Alexander und die über neunzigjährige Tatjana Alexejewna aufeinander. Die alte Dame hat ein rotes Kreuz auf seine Tür gemalt, mit Hilfe dessen sie sich im Haus orientiert. Tatjana Alexejewna hat Alzheimer und möchte ihrem Nachbarn ihre Geschichte erzählen, solange sie sich noch an diese erinnern kann.
Alexander, Vater einer kleinen Tochter, folgt seiner Nachbarin zunächst widerwillig in deren Wohnung, hört ihr dann aber doch mit zunehmendem Interesse zu, während diese ihm die unsagbaren Schrecken schildert, die ihr unter Stalin widerfahren sind.
Doch auch Alexander hat eine Vorgeschichte, die er Tatjana Alexejewna allmählich offenbart...

Der Autor Sasha Filipenko ist ein umtriebiger Mensch. Er arbeitete bereits als Journalist, Drehbuchautor, Gag-Schreiber für eine Satire-Show und als Fernsehmoderator. Nun liegt mit "Rote Kreuze" der erste von vier Romanen erstmals auch auf deutsch vor und ich habe mich gefragt, warum ich mit dieser Geschichte, die so vielversprechend begann, eigentlich nicht warm geworden bin.
Vielleicht liegt es ja gerade an dieser Vielseitigkeit des Autors, dem es meiner Meinung nach nicht so recht gelingt, seine Figuren mit echten Gefühlen auszustatten. Ich konnte mich in die Personen nicht einfühlen, zu stark die Distanz und der Anspruch des Autors, die recherchierten historischen Dokumente lückenlos in die Geschichte einzufügen. Briefe und Telegramme lesen sich in etwa so spannend wie eine x-beliebige Gebrauchsanweisung, weshalb ich sie auch einfach überlesen habe.
Alles in allem fand ich die Geschichte um Tatjana Alexejewna gelungener als die um ihren Nachbarn Alexander, doch obwohl das Thema "Leben unter Stalin" eigentlich sehr interessant und zweifellos wichtig ist, hat mich die Geschichte nicht berühren können. Ich glaube, um ein richtig guter Schriftsteller zu sein, braucht es eben doch etwas mehr als nur eine "gute story".

Bewertung vom 25.02.2020
Ein wenig Glaube
Butler, Nickolas

Ein wenig Glaube


sehr gut

Mit "Ein wenig Glaube" rührt Nickolas Butler an ein Thema, bei dem man sich in heutiger Zeit leicht in die Nesseln setzen kann. Ich hatte zunächst die Befürchtung, dass die Geschichte ins Schwülstige abrutschen könnte, doch Nickolas Butler ist ein guter Erzähler, der all seinen Figuren ihr Recht auf Glaubensfreiheit lässt, sich aber dennoch nicht scheut, Religion und Glauben in Frage zu stellen und wenn nötig auch zu kritisieren.
Der Roman beginnt mit einer Szene auf dem Friedhof. Lyle Hovde, Hauptprotagonist der Geschichte, ist mit seinem Enkel Isaac unterwegs, um sich um das Grab seines Sohnes zu kümmern, den er in jungen Jahren verloren hat. Enkel und Großvater haben eine harmonische und innige Beziehung, nichts kann den Frieden trüben, so scheint es. Allmählich erfährt man, dass Isaac der Sohn von Lyles und dessen Frau Pegs Adoptivtochter Shiloh ist, die übergangsweise wieder bei ihnen eingezogen ist. Shiloh hat sich einer religiösen Sekte angeschlossen und verliebt sich schon bald in deren charismatischen Führer. Sie überredet ihre Adoptiveltern, ebenfalls mit in das Gebetshaus, ein ehemaliges Kino, zu kommen, und obwohl Lyle und seine Frau eigentlich viel lieber in ihre eigene Kirche gehen würden, stimmen sie dem Vorschalg ihrer Tochter zu.
Lyle jedoch bleibt der skeptische Beobachter und Zweifler und bekommt schon bald die Sanktionen seiner Tochter zu spüren, die ihm schließlich den Umgang mit seinem Enkel verbietet.
Nickolas Butlers Kunst besteht darin, nicht nur die fortschreitende Entfremdung zwischen Eltern und Tochter darzustellen, sondern auch die Liebe und Ohnmacht zu vermitteln, mit der Lyle und Peg auf ihre eigene Art versuchen, diesen Prozess aufzuhalten. Im Gegensatz zu der Sekte, die Liebe predigt, sind sie es, die Liebe praktizieren – nicht nur im Umgang mit ihrer Tochter und ihrem Enkel, sondern auch im Umgang mit den Menschen, die sie ihr Leben lang begleitet haben wie der an Krebs erkrankte Hoot oder das Ehepaar Otis und Mabel. Und am Ende ist es Lyle, der Skeptiker, der die Entscheidung trifft, seinen Enkel aus den Fängen der Sekte herauszuholen ...
Fazit: Die Geschichte entfaltet sich gemächlich und lässt Gläubige und Nicht-Gläubige aufeinandertreffen. Das führt zu interessanten Fragestellungen, die einem jedoch nicht das Gefühl geben, der Autor wolle einem etwas "überstülpen". Da die Geschichte zudem an eine wahre Begebenheit angelehnt ist, behandelt sie ein Thema, über da es sich definitiv nachzudenken lohnt.

Bewertung vom 28.01.2020
All unsere Jahre
Page, Kathy

All unsere Jahre


ausgezeichnet

Ich hätte nie gedacht, dass ein "Eheroman" mich so begeistern könnte. Berührend, spannend, gut geschrieben - 6 Sterne, wenn es sie gäbe

Bewertung vom 28.01.2020
Long Bright River
Moore, Liz

Long Bright River


ausgezeichnet

Streets of Philadelphia

1994 erschien das Lied 'Streets of Philadelphia' von Bruce Springsteen zu dem HIV-Film “Philadelphia” mit Tom Hanks und Denzel Washington. Schon damals ahnte man, dass unter der Oberfläche der amerikanischen Millionenstadt, in der am 4. Juli 1776 die Unabhängigkeitserklärung beschlossen und verkündet wurde, wohl längst nicht alles so strahlt, wie es der äußere Anschein vielleicht glauben machen will.
Nun hat die Amerikanerin Liz Moore Philadelphia in ihrem Roman 'Long Bright River' erneut zum Schauplatz gemacht und führt den Leser mitten hinein in die Opioid-Krise der Stadt. Millionen Amerikaner sind süchtig, der Stadtteil Kensington steht in Philadelphia für das ganze Elend derer, die nur noch dafür leben, den nächsten Schuss aufzutreiben.
Die beiden Hauptpersonen des Romans sind Mickey und Kacey, die bei ihrer harschen Großmutter aufwachsen mussten, da sie schon früh ihre Eltern verloren haben. Mickey, die Ältere, bekommt schon in jungen Jahren die Aufgabe übertragen, auf ihre kleine Schwester aufzupassen, die die Fähigkeit hat, sich jede Menge Schwierigkeiten einzuhandeln. Sie selbst ist eine Einzelgängerin, die lieber liest und nur schwer Anschluss findet. Doch trotz ihrer Unterschiede halten die beiden Schwestern zusammen, bis es mit einem Male zum Bruch kommt.
Als Leser(in) erfährt man bereits sehr früh, dass die beiden seit 5 Jahren nicht mehr mit einander gesprochen haben. Mickey ist inzwischen Streifenpolizistin, hat einen Sohn und schlägt sich mit den Problemen einer alleinerziehenden Mutter und berufstätigen Frau in einer Männerdomäne herum. Kacey ist abgerutscht, drogensüchtig und geht auf der Kensington Avenue anschaffen. Doch obwohl zwischen den beiden Schwestern Funkstille herrscht, hat Mickey nie aufgehört, heimlich über ihre Schwester zu wachen. Als sich die Morde an jungen Prostituierten häufen und Kacey mit einem Male verschwunden ist, muss Mickey ihr Schneckenhaus verlassen und begibt sich auf die Suche nach ihrer Schwester.
Meine Meinung: Nein, das Buch ist kein Thriller, auch wenn ein Serienmörder darin vorkommt. Aber es gibt sich ja auch gar nicht als solcher aus, sondern als Roman und dieser ist so spannend geschrieben, dass mich die Geschichte sofort in ihren Bann gezogen hat. Die Kapitel springen zwischen 'damals' und 'jetzt' hin und her und so taucht man immer tiefer ein in die Geschichte der Geschwister, verschüttete Familiengeheimnisse, die Stadt Philadelphia mit ihrem Drogenproblem und - ganz nebenbei - den Kriminalfall um einen Prostituiertenmörder.
Besonders berührt haben mich die Schilderungen der Säuglinge von heroinabhängigen Müttern und deren schmerzhaften Entzugserscheinungen. Ich kenne sonst kein Buch, das diesen kleinen und so hilflosen Opfern bisher eine Stimme gegeben hätte.
Für mich war der Roman "Long Bright River" ein ganz großes Leseerlebnis, das mich nicht nur gefesselt, sondern auch zum Nachdenken gebracht hat.